Die Geschichte der Minna Tennenhaus
Bukarest, Rumänien, 1960. Sie stand immer bereit, die offene Tasche, und lauerte auf das Alarmklingeln des Telefons. „Bauchkrämpfe, Übelkeiten - bitte kommen Sie sofort, Herr Doktor“, flüsterte demütig eine matte Frauenstimme. Vorsichtig schob Doktor Isidor Tennenhaus sein Bücherregal von der Wand, holte aus dem Versteck die nötigen Schweizer Medikamente hervor, packte sie in die wartende Tasche und rief ein Taxi, um seine Patientin aufzusuchen. Ohne Erfolg, es gab um diese Zeit keine freien Wagen. Auf der Straße würde er schon einen finden, dachte der gute Doktor und verließ sogleich seine Wohnung. Besetzt rasten die Autos an ihm vorbei. Im Fluge gelang es ihm jedoch, einen flatternden Mantelzipfel aus einem vorbei- fahrenden Bus zu erwischen; wie ein Seiltänzer sprang er auf das Trittbrett der offenen Autobustür, auf dem sich noch andere fünf oder sechs Fahrgäste befanden, schlängelte sich mit seinen Beinen zwischen weiblichen und männlichen Waden und hoffte so, bald sein Ziel zu erreichen.
Eine turbulente Arbeitsnacht hatte er schon hinter sich. Zwei unerfahrene „Jungfrauen“ musste er auf seinem gynäkologischen Tisch von ihrer Liebesfrucht befreien - und das nach Mitternacht, damit die gütigen Nachbarn nicht die Polizei benachrichtigten. Immer hilfsbereit und voll menschlichem Verständnis, versuchte Isidor, die drastischen sozialistischen Gesetze in seinem und seiner Patienten Interesse wie ein Sophist zu verdrehen. Verbotene westliche Medika- mente, die er geschickt über Beziehungen beschaffte, linderten so manches Menschenleid... Nach der wagemutigen Fahrt auf dem Trittbrett erreichte er schließlich, wie durch ein Wunder unversehrt, das Haus der Unglücklichen. Die junge Frau öffnete ihm die Tür, brach aber gleich aus Schwäche vor ihm nieder. Die geschickte Magendurchspülung und seine Tabletten beruhigten die Patientin und retteten ihr Leben. „Wie soll ich Ihnen bloß danken, lieber Herr Doktor? Es war mir doch so elend. Ich sah schon den Tod vor Augen, und meine Schwester ist gerade verreist.“ „Was hatten Sie eigentlich gegessen oder eingenommen?“, fragte der Arzt. „Nichts, außer zwei Kopfschmerzpillen, und gegessen hatte ich auch nur, was wir beide selbst zubereiteten“, beruhigte sie ihn.
Doktor Tennenhaus wollte sogleich wieder gehen. Er wollte noch andere Patienten besuchen. „Bitte bedienen Sie sich doch noch von dem guten Kirschkuchen, den meine Schwester vor ihrer Abreise für mich gebacken hat, er schmeckt vorzüglich.“ Schnell verschlang Isidor ein Stück, nahm sein Honorar, seine Tasche und zog von dannen.
Nach einigen Minuten aber fiel er vor Schmerzen auf der Straße um. Ein Krankenwagen brachte ihn ins Hospital. Man stellte eine Arsenvergiftung fest. Die Magendurchspülung half leider nicht, denn durch seine Bewegung beim Gehen hatte sich das Gift im ganzen Körper verteilt. Qualvoll erlag er nach wenigen Stunden im Alter von nur 30 Jahren.
...
Und so blieb seine Mutter, Minna Tennenhaus, allein in ihrem Schmerz, allein mit ihren Sorgen. Sie versuchte das Leben auf ihre Art und Weise zu meistern und gewöhnte sich an das Ungewöhnliche, an die Umwertung der Werte in der neuen Gesell- schaftsordnung. Auch staunte sie nicht mehr über das ungerechte Gerichtsverfahren. Genosse Popescu, ein angesehener Funktionär des Zentralkomitees der KP, suchte außer einem marxistischen Erfahrungsaustausch auch die dialektisch-erotischen Vertiefungen beider Schwestern. Wie ein Gruppensex-Avantgardist perfektionierte er mit ihnen seine proletarische Moral. Leider verfügte die eine der beiden Schwestern nicht über ein so hohes Niveau und versuchte, diese Bigamie zu beenden. Mit viel Liebe und Arsen backte sie den Kirschkuchen für ihre Nebenbuhlerin, um endlich allein, ganz allein ihren Genossen Popescu genießen zu dürfen. Dank dessen Position und politischen Einfluss wurde die sentimen-tale Alchemistin für psychisch gestört erklärt, nach nur vierwöchiger sanfter Behandlung in einer Nervenklinik als gesund entlassen und freigesprochen ... und das Leben ging trotz alledem weiter.
Nun wurde Minna Tennenhaus gezwungen, das Zimmer ihres Sohnes dem Wohnungsamt abzutreten. Sie musste mit viel Mühe einen Teil seiner Möbel in ihrem Schlafzimmer unterbringen...
Ohne Einkommen geblieben, versuchte sie auf verschiedenen Wegen, ihre Not zu lindern. Sie teilte ihr Boudoir, um eine Hälfte an zwei Studentinnen zu vermieten. Als Trennwand stellte sie einige Schränkte quer durch das Zimmer; dabei musste sie aus Platz- mangel einen der Schränke als Eingangstür herrichten. Wollten die Studenten ihren Wohnraum betreten, mussten sie durch die Schranktür in den Schrank hineinsteigen und dann durch die Hinterwand, in die Frau Tennenhaus fachgemäß eine Öffnung hinein- gesägt hatte, bequem in ihre Zimmerhälfte treten. Das Mobiliar der neu entstandenen Studentenstube erschöpfte sich in zwei betten, zwei Stühlen und einem Tisch.
Ihre eigene Zimmerhälfte sah ungefähr so aus: In der Ecke links eine Nähmaschine und ein Bügeleisen. Der gynäkologische Tisch war zu Einbauküche und Esstisch verwandelt, er besaß einen Petroleumkocher, eine Babywaage und einen rotbraunen Karton mit Lebensmitteln. Als Schlafstätte hatte sich Minna Tennenhaus vor dem Fenster zwei große Holzkisten mit einer Strohmatratze eingerichtet. Symbolisch lag daneben ihr „Baderaum“: eine Waschschüssel mit Wasserkanne und Eimer. Aus einem spaltbreit geöffneten Spiegelschrank strömten saure Düfte aus einem versteckten Krautfass. Viele vollgestopfte Lumpensäcke, kreuz und quer über den Boden verteilt, dienten als Sitzgelegenheiten. Es war eine Parterre- wohnung in einem armen Bukarester Judenviertel. Die enge Straße führte zum Markt, auf dem die vielen Rumänen, Juden, Polen, Ukrainer und Zigeuner ehrliche und unehrliche Geschäfte abwickelten. Man handelte mit Ikonen, getragenen und abgetragenen Kleidern, falschen und echten Kokotten, Goldmünzen und Teppichen. Fast jeder Passant wurde angehalten, im Flüsterton befragt, aus welcher Branche er sei und was ihn interessiere. Täglich wurde aber auch Razzien durchgeführt, die Schreien und ängstliches Umherlaufen auslösten.
Auf ihr Fenster hatte Minna Tennenhaus mehrere Annoncen geklebt:
1. Vermiete an zwei anständige Studentinnen (die keine Männer brauchen), komfortables billiges Zimmer.
2. Ändere schnell und geschmackvoll Bettwäsche, Damenkleider und Kindergarderobe.
3. Verkaufe eingelegtes gesundes Fasssauerkraut für Kohlrouladen an sozialistische Frauen.
4. Biete zu günstigen Preisen guterhaltene Damen- und Herrenoberbekleidung an.
5. Wiege auf präziser medizinischer Waage Säuglinge, Kräuter, Klamotten, Obst und alles, was Sie sonst noch haben.
6. Ihre Zukunft lese ich aus Karten, Kaffeesatz oder aus der Hand.
Minna Tennenhaus trug immer schwarz - ein schwar- zes Kleid von unten, darüber zwei schwarze breite Röcke, passende schwarze Blusen und eine schwarze Schürze mit zwei großen leeren Taschen. Um ihren Hals hingen drei Schnüre mit drei verschiedenen Lederbeuteln; der eine unter der ersten Bluse bis zum Busen mit klirrenden Münzen, die an die Glocken von Tiroler Kühen erinnerten; die beiden anderen Beutel reichten unter den Röcken bis zum Bauchnabel, gefüllt mit Geldscheinen und Wertpapieren - „man kann ja nie wissen - Fliegeralarm, Erdbeben, Raubüberfall oder Hausdurchsuchung“, meinte die schwer geprüfte Frau. Ihr schwarz-ergrautes lockiges Haar wuchs unter einer schwarzen Mütze, die sie Tag und Nacht trug - ein Ausdruck ihres großen Leides. Das Ziel ihres jetzigen Lebens bestand darin, ein Denkmal auf dem Grab ihres Isidor zu errichten, ein Monument aus echtem Marmor mit vergoldeten Buchstaben:
Hier liegt mein einzig geliebter Sohn.
Mein Wunsch ist es, dass ich, seine Mame,
ihm bald folge und ihn mit meiner Liebe
in der schwarzen, kalten Erde erwärme.
Dafür musste sie sich von früh bis spätabends auf dem Flohmarkt und zu Hause plagen, darüber hinaus noch Zeit finden, täglich das Grab zu besuchen und im Tempel zu beten.
Ich brachte ihr öfters meine alten Kleider zum Verkauf; jedesmal wurde das ein Erlebnis für mich. Ihr Art, ihr Jargon und ihr dramatisch-pathetisches Talent lösten bei mir erst Mitleid, dann lebhafte Begeisterung aus.
„Guten Tag, Frau Tennenhaus. Wie geht es Ihnen, was machen Sie?“ „Was kann ich schon machen, und wie kann es mit schon gehen, meine Teire! Mein Kind, mein einzig geliebtes Kind, liegt im Grab, und ich, ich lebe.“ „Eine Tafel Schokolade habe ich Ihnen mitgebracht. Ich weiß, Sie essen wenig, und vielleicht mache Ich Ihnen damit eine kleine Freude.“
„Danke scheen, meine Teire, heit hab ich Milch- nuderln gegessen, morgen werd ich Schmalznudern und ibermorgen werd ich Zimtnuderln essen. Und wenn ich so an ihn denke, an mein Kind, wie scheen er war, so jung, so gesund wie eine Blume, seine goldenen Lockern, seine blauen Augerln und die kleintschige Nase - niemand merkte, dass er a Jid ist. Ich wollt er soll studiern im Ausland und werden ein berihmter Mann. Erst dacht ich, in Deitschland, aber da war der verfluchte Hitler. Dann dacht ich, in Esterreich, aber da kam auch der verfluchte Hitler. Und so studierte mein Isi in Italien. Die Italiener taten den Juden nichts, und die Papiere wurden auch nicht so streng kontrolliert wie bei den Deitschen. Mit seinem italienischen Doktorat kam er stolz nach Hause, und diese Banditen, diese Kommunisten, diese Bolsche- wiken haben ihn getetet. Ich werde ihm aber ein Grabmal errichten, das allerscheenste aus der ganzen Welt!“
„Frau Tennenhaus, ich habe Ihnen etwas zu verkaufen mitgebracht.“
„Meine Teire, wenn ich Sie so sehe, ein so fesches und junges Weib aus einem so herrschaftlichem Hause - ich sehe noch vor mir ihre scheenen großen vier Heiser in Czernowitz auf der Franzensgasse 56a, 56b, 56c und 56d. Und Ihre Frau Mutter fuhr täglich auf einem scheenen großen Fiaker mit zwei weißen Pferden - solche schimmlige, oder wie man sagt, zwei Schimmel - und sie war so elegant! Ihre Kleider bestellte sie in Paris mit Schwänzen vorne und hinten von Füchsen, rote Schwänze, Silberschwänze, Blaufuchsschwänze, und die lange Schleppe hinten am Kleid hatte kaum Platz im Fiaker, und der Hut hatte so viele Federn! Sie sah wie eine Keenigin aus. Ihre Finger und Arme glänzten von die Brillanten... und Sie, ihre Tochter, kommen zu mir, mit einem Tichelchen am Kopf und mit e-nem bescheidenen Kleidchen wie ein ganz armes Mädchen. Pfui, eine Schande, diese Bolschewiken, was sie von so feine Leit gemacht haben. Jetzt leben Sie mit ihrem italienischen Guiseppe - er ist doch nicht a mal a Verdi - no, was ist er, ein armer Mathematik- lehrer, der Ihnen gar nichts gibt. Wissen Sie, was Sie brauchen: a Jid; die sind gescheit am Kopf, die machen noch Geschäfte und verstehen sich zu drehen. A Jid bleibt a Jid, sie verwehnen die Frauen - heit a Goldketterl, morgen a Rubinringerl und ibermorgen a Brillant.“
„Frau Tennenhaus, Sie haben vielleicht Recht, aber ich liebe den Guiseppe.“ „Was ist Liebe? Heit ist sie da, und morgen vergeht sie. Aber ein Brillant ist immer da. Den kennen Sie verstecken wo Sie wollen vor den Bolschewiken, vor den Dieben. Der verlässt Sie nie, den kennen Sie gut verkaufen. Aber zeigen Sie mir, was Sie mir gebracht haben.“ „Ein Kleid, das ich nicht viel getragen habe. Bitteschön.“ „Wieviel wollen Sie dafür?“ „Neu hat es dreihundert Lei gekostet, jetzt möchte ich dafür hundert Lei.“ „Hundert Lei, meine Teire? Wer soll das bezahlen? Wie kann ich mein Monument bauen, wenn ich Ihnen für so eine alte Schmatte hundert Lei geben soll? Was soll ich dabei verdienen?“ „Gut, Frau Tennenhaus, wieviel geben Sie mir?“ „Zwanzig Lei. Weil Sie es sind, weil ich Ihre Familie kenne und weil mir leid um Sie ist.“ „Das Kleid ist doch aus echter Schurwolle. Und nur zwanzig Lei dafür?“ „Meine Teire, Wolle hin, Wolle her. Die Motten kommen gleich in den Stoff und machen eine Menge Lecher. Ich muss alles einkalkulieren. Fir die zukinftigen Lecher kann ich nicht mehr bezahlen.“ „Für zwanzig Lei kann ich mir genau zwei Tafeln Schokolade kaufen.“ „Was, sind Sie verrückt, zwei Tafeln Schokolade zu kaufen und so dick zu werden? Für zwanzig Lei kaufen Sie sich zwanzig Brezerln und essen täglich eine.“ „Also gut, einverstanden“, sagte ich.
„Maria, Maria“, schrie plötzlich Frau Tennenhaus, und eilte zum offenen Fenster. Ich erschrak zuerst und fragte sie, wieso sie, ohne aufzublicken, plötzlich „Maria“ schreit und zum Fenster läuft. „Jedes Bauern- oder Dienstmädel heißt doch Maria. Verzeihen Sie, ich muss doch a neues Gscheft abwickeln.“
Ein junges, verschüchtertes Mädchen namens Maria trat herein.
„Mein scheenes Kind. Ich hab aus dem Fenster bemerkt, dass Dich was bedrickt, dass Du hast a Kummer. Ich alte Babe werde Dir Deine Zukunft prophezeien und Dein Schicksal ändern. Wie willst Du die Wahrheit erfahren, aus Karten oder aus dem Kaffeesatz? Oder soll ich Dir aus der Hand lesen?“
„Aus Kaffeesatz“, bat Maria, und trank sogleich den kleinen Mokka, den Frau Tennenhaus schon vorbereitet hatte.
„Oh, meine Arme, was ich sehe, wenn ich Deine Tasse drehe. Der Gheorghe, Dein Freind, hat eine andere. Er liebt Dich nicht, und Du, Du weinst wegen Ihm Deine scheenen Augen aus.“ „Es stimmt“, sagte Maria, „aber er heißt Ionel und nicht Gheorghe.“ „Bevor er zu Dir kommt“, begann Frau Tennenhaus, „musst Du Ihm ein Süppchen mit Deinen Tränen kochen, denn Du weinst sowieso den ganzen Tag. Durch Deine Tränen, wenn er sie isst, wird er ewig mit Dir verbunden sein und Dich nie verlassen.“ „Ist das wahr,“ fragte Maria, „wie kann ich Ihnen dafür danken?“ „Zehn Lei musst Du mir bezahlen und nach zehn Tagen wieder kommen; dann sage ich Dir noch mehr über Deine Zukunft.“ Maria hatte nur einen Fünfzig-Lei-Schein und wartete auf den Rest. „Was seh ich, mein Kind“, sagte Frau Tennenhaus, „Dein Röcklein ist so verknittert. Zieh es gleich aus, ich muss es bigeln - so kannst Du doch nicht zum Markt gehen.“ Maria fügte sich. Dann bemerkte Frau Tennenhaus, dass Maria einen schmutzigen und altmodischen Unterrock trug. „Ich gebe Dir aus meinem Sack ein scheenes schwarzes Unterkleid mit schwarzer Spitze. Wenn Ionel zu Dir kommt, wird er Dich sofort bewundern.“ „Wieso?“, liebe Frau, sagte Maria, „ich empfange ihn doch nicht im Unterrock?“ „Gescheit am Kopf musst Du sein! Das Leben ist doch ein Theater! Die Männer sind alle bled wie die Kinder. Also hör zu, was Du machst: Erst bereitest Du ihn die Suppe mit Deinen Tränen, dann effnest ihm die Tir, hast aber ein Glas Wasser in der Hand, und unwillkirlich schittest Du das Glas Wasser auf Dein Kleiderl. 'Oh Jesus Maria', beginnst Du zu schreien, 'ich bin ja ganz nass. Ich muss mein Kleiderl ausziehen, sonst verkiehl ich mich. Aber mache bitte die Augen zu, denn ich geniere mich vor Dir'. 'Ach, das macht nichts', wird der Ionel antworten, 'am Strand sehe ich doch auch fast nackte Mädchen.' Du bleibst dann so vor ihm stehen in Deinem schwarzen Spitzenunterrock, kommst mit dem Teller Suppe zu ihm, dabei bewegst Du Deine Hüften mal links, mal rechts und verdrehst Deine Augen, wie Du nur kannst, und Deine Briste müssen wackeln wie beim Rock and Roll. Hast Du alles verstanden? Jetzt machen wir die Rechnung: Fir das Wahrsagen zehn Lei, fir das Rockbigeln zehn Lei, fir den Unterrock mit Spitze zwanzig Lei, macht schon vierzig Lei, und hier hast Du noch eine Tafel Schokolade fir zehn Lei, sind fünfzig Lei, und alles ist in Ordnung. Geh, mein Kind, der liebe Gott soll Dich segnen iberall.“
Später kam eine Frau, um Sauerkraut zu kaufen. Minna tauchte ihre Hand bis zum Ellbogen ins Fass hinein, holte einen Krautkopf heraus, legte ihn triefend auf die Babywaage und kassierte seinen Wert. Die Tür wurde aufs Neue geöffnet. Ein schreiendes Baby in den Armen seiner Mutter wollte sein Gewicht prüfen. Nach dem Abwiegen roch sein Po etwas eigentümlich nach Sauerkraut mit frisch produzierten Säuglings- exkrementen, was jedoch weder das Baby, noch die Waage, noch seine Mutter, noch Frau Tennenhaus störte.
Einige Wochen später besuchte ich Minna Tennen- haus erneut und fand sie so vor: am Kopf trug sie wie immer ihr schwarzes Käppi, diesmal aber mit einem roten Tüchlein, und ihr Gesicht war braungebrannt.
„Sie schauen so gut aus, ihr Gesicht ist so schön braun, haben Sie eine Erholungsreise gemacht?“, fragte ich.
„Ja, ich habe eine politische Reise unternommen, sagte Frau Tennenhaus. Ein kleiner Funktionär hat mir erzählt, dass die großen Kommunisten zum Schwar- zen Meer gefahren sind um Kuren zu machen wegen der ultravioletten Strahlen, die so gesund sind. In der Nacht bin ich mit dem Zug gefahren und genau in der Frih mit den ultravioletten Strahlen bin ich am Meer angekommen. Die Heiser und der Strand waren abgesperrt mit einem großen Zaun. Ich begann laut zu schreien 'Es lebe der Kommunismus, es lebe Ceauşescu!'“ Der rumänische Wachbote hat mich zurückgehalten, aber wahrscheinlich habe ich so laut geschrieen, dass ein Minister mit einem dicken gebräunten Bauch auf mich zukam und mich fragte 'Was willst Du, alte Frau, von uns?'. Ich gab ihm schnell meinen Bittbrief und verschwand zufrieden. Und was glauben Sie - nach zehn Tagen habe ich die Nachricht erhalten, dass ich eine Rente rückwirkend von dem Tag bekommen werde, als mein armer Isidor starb. Sehen Sie, die Kommunisten sind auch Men- schen, man muss nur verstehen, sie zu nehmen. Deswegen trage ich mein rotes Tüchlein weiter, ich bin aber im Herzen keine Kommunistin, ich liebe noch unseren gottseligen Kaiser Franz Joseph - der war a guter Mensch. Das ganze Leben ist ein Theater, meine Teire, Jetzt kann ich ein großes Denkmal fir meinen Isidor bauen.
Nach vielen Jahren, 1966, bevor ich Bukarest end- gültig verlassen hatte, um Heinz zu heiraten, ging ich zu Frau Tennenhaus, um mich von ihr zu verab- schieden. „Frau Tennenhaus, ich fahre nach Deutschland, wo ich heiraten werde, und will mich von Ihnen verabschieden.“
„Nach Deitschland? Welches Deitschland? Das reiche oder das arme kommunistische Deitschland?“ „Ins arme Deutschland, Frau Tennenhaus.“ „Oh, meine Teire, warum wieder ins arme Deitschland? Der liebe Gott hat Sie iberall gesegnet, nur am Kopf nicht. Aber vielleicht heiraten Sie einen reichen kommunistischen Chef?“ „Nein, mein Mann ist Kunstmaler.“ „Was, ein Maler?! Oh, Jesses Maria, Maler hin, Maler her, ein Malheur wird es bestimmt sein. Ich kisse Sie, der liebe Gott soll Ihnen Glick und Verstand geben.“
... und heute liegt sie unter dem schweren Marmor- monument neben Isidor. Wir aber sollten Ihr in memoriam ein Denkmal der guten Erinnerung errichten, denn es ist eine Geschichte einer tapferen Frau. die intelligent und mit viel Phantasie die Komik und die Tragik des Lebens erkannt hat und in sich vereinte... die Geschichte der Minna Tennenhaus.
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2010
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