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Leseprobe

 

Mitternacht.

Er saß auf einer Felskante oberhalb des Gullfoss und genoss dessen kraftvollen Lärm. Die Gischt benetzte sein Gesicht, Eiskristalle glitzerten in seinem Haar, auf seiner Kleidung, Wind umtoste ihn, doch der alte Mann verspürte nur friedvolle Wärme in seinem Inneren. Er lächelte.

In einiger Entfernung löste sich eine Gestalt aus den Schatten und kam behutsam näher.

Dunkelheit.

Die Polarlichter schwiegen in dieser mondlosen Nacht, dicke Wolken verbargen den Sternenreichtum des Nachthimmels und selbst das Eis an den Felswänden hatte seine Leuchtkraft verloren.

Das Tosen des Wassers umtrieb die Gedanken des Alten und mehr und mehr verspürte er Gewissheit. Noch vor dem Morgengrauen würde er seine Entscheidung kundtun. Er atmete tief durch und erhob sich.

„Ich dachte schon, du willst hier festfrieren“, erklang kaum vernehmlich eine Stimme hinter ihm.

Das Herz des alten Mannes setzte einen Schlag aus, er schloss die Augen. „Du.“ Mehr vermochte er nicht zu sagen.

Der Andere nickte. „Ja, ich.“ Er lachte leise. „Hast du allen Ernstes geglaubt, niemand von uns hätte dein Fehlen in so vielen Neumondnächten bemerkt?“

„Nun“, langsam drehte der Alte sich um, „zumindest scheint keiner deiner Brüder sich daran zu stören.“

„Ja, weil sie dumm sind. Sie vertrauen dir blind in allem, was du tust oder auch nicht tust, und übersehen dabei, dass ihr feðgar ein alter Narr ist.“

„Was erdreistest du dich?“, entrüstete sich der Alte. „Die Tradition gebietet …“

„Tradition.“ Der Andere spuckte dem alten Mann das Wort entgegen. „Was kann Tradition schon einem Volk bedeuten, dessen Geschichte in den Strudeln der Zeit verloren gegangen ist.“

„Alles, mein Sohn, denn mehr haben wir nicht.“

„Falsch! Wir haben die Zukunft. Es gibt einen Grund, warum wir anders sind. Warum wir besser sind.“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein, nein, nein“, beharrte er, „das Warum ist nicht wichtig. Es ist, wie es ist, und es ist an uns, das Beste daraus zu machen. Damit das Zusammenleben mit den Menschen harmonisch erfolgen kann.“

„Ich sagte doch, du bist ein alter Narr. Wenn es nach dir ginge, würden wir auf ewig hier in diesem unfreundlichen Land dahinvegetieren, aber ich weiß, dass andere Länder auf uns warten. Und dort werden wir Könige sein.“

„Ohne die fjör können wir nicht lange genug überleben. Wir können nicht fort“, entgegnete der alte Mann seufzend.

„Irrtum.“

Der feðgar schrak zusammen. „Was …“

„Ich weiß, was nötig ist.“

Angst glomm in den Augen des Alten auf. „Das kannst du nicht tun.“

„Ich habe immer gewusst, dass du nicht der richtige Mann in deiner Position bist“, höhnte der Andere. „Ein feðgar kennt keine Angst. Zeit für einen Wechsel an der Spitze.“ Rasch trat er auf den Alten zu.

Dieser wich langsam zurück. „Du machst einen großen Fehler. Ich allein habe zu entscheiden und deshalb …“

„Nein, alter Mann“, zischte der Andere, „dieses Mal nicht. Du bist längst Vergangenheit.“ Er trat näher. „Zeit zu sterben.“

„Unsinn, wir können nicht …“ Der Alte versuchte auszuweichen, doch der Andere trieb ihn beharrlich auf die Felskante zu.

„Doch, wir können. Ich weiß um das Geheimnis des Gullfoss …“ Ein Flüstern im Rauschen des Wasserfalls, dann stießen zwei Hände kraftvoll zu.

Der feðgar taumelte rückwärts, vergeblich suchten seine Füße Halt auf dem vertrauten Boden. Noch ehe er über die Felskante stürzte, warf er dem Anderen einen letzten Blick zu. Dann stürzte er lautlos in seinen Tod.

Der Mörder runzelte die Stirn. Er hatte mit mehr Gegenwehr gerechnet. Und dieser Blick … darin hatte keine Angst mehr gelegen, eher Zufriedenheit, und für einen Moment befielen ihn Zweifel. Hatte er wirklich alles bedacht? Oder … er schüttelte den Kopf. Der feðgar war tot, nun war es an ihm, das Schicksal seiner Brüder in die Hand zu nehmen. Er lächelte.

 

 

Ich

 

Er hatte erwartet, mehr Zeit zu haben, doch der Schmerz in ihm ließ sich nicht länger im Zaum halten. Stöhnend krümmte er sich, flüchtete vor den rücksichtslosen Rempeleien der unzähligen Passanten in einen Hinterhof.

 

Habe

 

Einem scharfen Messer gleich wühlte es in seinen Eingeweiden. Er biss sich auf die Unterlippe. Wieso jetzt schon? Es war viel zu früh.

 

Hunger

 

Er holte tief Luft, versuchte den Schmerz noch einmal zurückzudrängen, als jemand zu ihm trat.

„He, Kumpel, geht’s dir nicht gut?“, hörte er eine heisere Stimme mit einem leichten Lispeln fragen und sah auf.

Ein wettergegerbtes Gesicht, strubbelige blonde Haare, stoppeliger Bart, ein müder Blick aus warmen braunen Augen.

„Ja, alles gut, ich …“ Er keuchte, denn der Schmerz wütete unbezähmbar und tödlich. „… muss essen“, stieß er hervor. Ein Blick aus wasserhellen Augen tauchte ein in braune Augen, die kaum wahrnehmbar schielten.

Ein Lächeln huschte über Lippen, die beinahe im gleichen Moment in einem Kuss verschmolzen.

Wenig später lag ein alter Mann mit strubbeligen weißblonden Haaren hinter einer der Mülltonnen und seine braunen Augen erblickten die Ewigkeit.

 

 

 

Schmerz legte sich wie ein Schleier über seinen Blick. Sie strömte nicht nur diesen Geruch aus, sondern war darüber hinaus auch sehr hübsch, hatte eine tolle Figur und war zudem angenehm jung. Und vor allem: Sie ging alleine zur Toilette, widersprach damit einem Klischee, dass er heute Abend mehr als bestätigt gefunden hatte. Es wäre der ideale Zeitpunkt, sie anzusprechen, aber er musste erst seinen Hunger stillen, bevor er … Das Öffnen der Saaltür und leise Schritte ließen ihn in den Gang zur Treppe huschen. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Ein Mann kam näher, jung, gutaussehend, mit einem Tattoo am Hals. Warum nicht? Mit der Aussicht auf den Fortgang des Abends tat es auch ein Mann, auch wenn er sich etwas einfallen musste, um dann das neugewonnene Aussehen zu kompensieren. Egal. Er lächelte, trotz des Feuers in seinen Eingeweiden.

 

In den Toilettenräumen war es angenehm kühl und nach dem Händewaschen ließ Anna noch eine Zeitlang kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Wangen waren gerötet und ihre kunstvoll hochgesteckten Haare lösten sich allmählich aus der Frisur. Kein Wunder nach dem Tanzmarathon. Und aus ihrer Sicht war noch lange nicht Schluss damit. Also löste sie kurzerhand alle Klammern und Spangen, schüttelte über Kopf ihre langen blonden Haare aus und zupfte sie mit den Fingern zurecht. Eine Spange benutzte sie noch dazu, die Haare aus dem Gesicht zu halten, dann lächelte sie ihrem Spiegelbild verschwörerisch zu und zwinkerte. Noch etwas Lippenstift, Parfum aufs Dekolleté und es konnte weitergehen.

 

Vor der Tür wartete Jonas auf sie.

„Schatz!“, rief sie überrascht und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Ist die Party nicht herrlich? Und nette Kollegen hast du, nicht so Tanzmuffel wie ein gewisser Herr Heidtfeldt.“ Leise summend drehte sie sich im Kreis.

„Schön, dass du Spaß hast“, murmelte Jonas und verzog das Gesicht.

„Du könntest auch Spaß haben – tanz mit mir, ich bestelle uns auch einen extra langsamen Song.“ Sie schmiegte sich an und schlang ein Bein um ihn, doch er winkte ab.

„Ich will nicht tanzen. Lass uns heimgehen.“

„Wie bitte?!“, entrüstete sich Anna. „Jetzt schon? Es ist doch noch viel zu früh!“

„Es ist spät genug. Außerdem bin ich müde.“ Er hatte gewusst, es würde nicht leicht.

„Vielleicht solltest du auch nicht nur dumm in der Ecke ’rumstehen und dich langweilen, du Spaßbremse“, schnaubte sie. „Man muss schon mitmachen, um Spaß zu haben.“

Er verdrehte die Augen. „Komm schon, Anna, ich hab’ keine Lust auf Grundsatzdiskussionen oder Rumgezicke. Ich geh’ jetzt. Es war ein langer Tag und ich bin geschafft. Wir könnten den Abend gemeinsam mit einem Glas Wein und Kuscheln auf der Couch ausklingen lassen.“ Obwohl du besser nichts mehr trinken solltest. Doch er hütete sich, die letzten Worte laut auszusprechen. „Also, was ist? Kommst du?“ Er sah sie abwartend an.

Anna musterte ihn von Kopf bis Fuß, schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht, alter Mann“, höhnte sie, „mit dir auf der Couch zu kuscheln hört sich zwar ungemein reizvoll an und ich nehme dein Angebot liebend gerne an, solltest du mich in zwanzig Jahren oder so noch einmal fragen, aber hier ist jetzt und ich lasse fürs Couchkuscheln garantiert keine geile Party sausen. Weißt du was? Geh du nur, ich kann mich auch alleine amüsieren. Zum Beispiel mit Tanzen.“ Hocherhobenen Hauptes rauschte sie an Jonas vorbei. An der Tür zum Ballsaal drehte sie sich noch einmal um. „Ich drück’ dir die Daumen, dass du wirklich mal so alt wirst, wie du dich ständig gibst.“ Damit verschwand sie durch die Tür.

Jonas sah ihr seufzend nach. Dass sie aber auch immer so biestig werden musste, wenn sie zu viel trank. Morgen täte ihr alles wieder leid, wie immer. Na egal, jetzt konnte er jedenfalls gehen. Im Stillen schickte er ihr noch ein 'Viel Spaß!' hinterher, drehte sich um – und sah sich einem wirklich alten Mann gegenüber.

„Entschuldigen Sie, bitte.“ Die Stimme des Mannes war nur ein heiseres Flüstern, brüchig wie altes Pergament.

Jonas war irritiert, denn er hatte nicht bemerkt, dass sich hier noch jemand aufgehalten hatte, runzelte die Stirn und fragte sich, wie viel dieser von dem Streit vorhin mitbekommen und warum er sich nicht eher bemerkbar gemacht hatte. Es sei denn, er hätte lauschen wollen. Daher musterte er ihn mit zusammengezogenen Brauen, auf dem Sprung, ihn einfach stehenzulassen. Dann jedoch besiegte seine Neugier die Skepsis, denn er hatte nie zuvor einen so uralten Menschen gesehen.

Der Mann hatte schütteres Haar, schlohweiß, stellenweise noch von einem fahlen Gelb, das sehr dünn und wirr vom Kopf abstand. Gesicht und Hände waren übersät von zahllosen Altersflecken, ansonsten war die Haut extrem blass, fast durchsichtig. Jonas sah das darunterliegende, feine Geäst der Blutgefäße und fühlte sich plötzlich an ein Foto erinnert, das er vor Jahren einmal gesehen hatte: Ein zugefrorener See, unter der klaren Eisdecke ein aufgedunsener Körper, das Gesicht dem Himmel zugewandt, die blicklosen Augen voller Pein. Ein toter Taucher, der beim Eistauchen die nötige Vorsicht außer Acht gelassen und sein Einstiegsloch verfehlt hatte, gestorben im Angesicht der so dringend benötigten Atemluft, gefangen bis zum nächsten Frühling, bis Tauwetter das Opfer freigeben würde. Unvermittelt schauderte es Jonas. So weit im Leben ist zu nah am Tod, ging ihm eine Gedichtzeile durch den Kopf. So alt wie dieser Mann war er dann zum Glück doch noch nicht.

„Bei ihr hast du heute wohl kein Glück mehr“, wisperte der Alte, „bei mir schon.“

Jonas fuhr zusammen. So sehr war er in seinen Erinnerungen und Gedanken verloren gewesen, dass er vergessen hatte, dass der Mann ihn vorhin angesprochen hatte. „Wie bitte?“

Der Alte hob eine Hand, mager und faltig, mit gekrümmten Fingern. Einer davon war jetzt auf Jonas gerichtet. „Deine hinreißende Freundin hat dir gerade einen Korb gegeben, aber mir kommst du gerade recht.“ Er kicherte leise und Jonas lief bei diesen unangenehm hohen Tönen eine Gänsehaut über den Rücken. „Und glaub mir, ich brauche dich dringend.“

„Jetzt reicht’s“, fuhr Jonas den Alten an, „ich bin müde und habe nicht die geringste Lust, mir Ihr salbaderndes Gequatsche anzuhören!“ Er wollte den Alten beiseiteschieben und gehen, da schlossen sich ein paar harte Finger um sein Handgelenk.

„Nicht so schnell, Jungchen, du kannst nicht eher gehen, als bis ich meinen Hunger gestillt habe. Wenngleich du danach kaum noch gehen können dürftest.“ Wieder erklang dieses schreckliche Kichern.

Jonas wand sich im Griff des Alten, erstaunt über die Kraft, die in diesen alten Knochen steckte. Obwohl er regelmäßig Sport trieb und ein gewisses Maß an Kraft aufbieten konnte, war er dennoch unterlegen. „Dann gehen Sie doch zum Büffet, da gibt’s reichlich zu essen!“, keuchte er und bemühte sich, seiner aufsteigenden Panik Herr zu werden.

„Aber nicht doch“, lachte der Alte leise, „ich benötige eine gänzlich andere Art von Nahrung. Komm mit, dann wirst du verstehen.“

Ehe Jonas sich versah, zerrte der Alte ihn in die Herrentoilette und schleifte ihn in eine der Kabinen, die er verriegelte. Dann packte dieser seinen Kopf mit beiden Händen und zog ihn zu sich heran. Das nächste, was er noch bewusst wahrnahm, waren die Lippen des Alten auf seinen eigenen. 'Ein Kuss?', dachte er noch, verwirrt, überrumpelt, als ihm jäh die Luft zum Atmen genommen wurde. Sein Herz begann zu rasen, seine Beine zitterten und knickten ein, aber die Hände des Alten hielten ihn aufrecht. Des Alten? Ungläubig glotzte Jonas sein Gegenüber an und sah, wie dieser sich veränderte. Die Haut wurde dunkler, gesünder, Falten und Flecken verschwanden, die ganze Gestalt des Mannes straffte sich, schien zu wachsen, die Haare wurden dunkler, voller – Schwindel überkam Jonas, er begann zu zittern und versank schließlich in einer abgrundtiefen Schwärze und glitt zu Boden.

Der jetzt gutaussehende und vor allem sehr junge Mann beugte sich zu ihm hinunter, legte eine Hand auf Jonas’ Schulter und brachte seine Lippen noch einmal nahe an sein Gesicht. Noch war Leben in Jonas, doch das sollte sich ändern. Er umfasste beinahe liebevoll das Gesicht, als sich die Tür zur Herrentoilette öffnete.

 

Schwankend betrat Björn Grauert die Herrentoilette und stützte sich einen Moment am Türrahmen ab. Irgendetwas war ihm nicht bekommen, entweder das Essen oder er hatte doch schon zu viel getrunken. Auf jeden Fall konnte er sich nicht mehr so gut auf den Beinen halten; er sollte also lieber eine der Kabinen aufsuchen.

Die erste war besetzt, und Björn wollte gerade weitergehen, als er ein paar Beine in dunklen Hosen sah, die ein Stück weit unter der Tür der Kabine hervorragten.

„Hallo?“, rief er unsicher, mit klopfendem Herzen. „Geht es Ihnen gut?“

Dass keine Antwort erfolgte, bedeutete wohl das Gegenteil. War auch eine blöde Frage. Wer legte sich schon freiwillig auf den Boden einer öffentlichen Herrentoilette, Schlosstoilette hin oder her.

Er holte tief Luft und sah sich kurz um – nein, er war allein und hier war schnelle Hilfe gefragt. „Ist Ihnen schlecht?“, fragte er, während er versuchte, die Tür zu öffnen. Abgeschlossen.

„Mist!“ Er trat vor die Tür und überlegte. „Ich hol Sie da raus, keine Angst.“

Er bückte sich und griff nach den Füßen, um die Person unter der Tür hindurchzuziehen. Aber der Spalt war zu schmal, und außerdem überkam ihn in der Hocke leichter Schwindel, so dass er sich abstützen musste, um nicht umzufallen. Langsam richtete er sich wieder auf. So ging es nicht.

„Keine Angst, ich hol schnell Hilfe“, rief er durch die geschlossene Tür. „Irgendjemand wird die Tür schon öffnen kö…“

Er hatte die Luft angehalten und sich nicht bewegt, in der Hoffnung, dass da einer nur pinkeln musste und schnell wieder verschwand. Leider kam der Mann aber genau zu den Kabinen und blieb unvermittelt vor der einzigen besetzten stehen. Was zum … Sein Blick fiel auf Jonas’ Beine, die aus der Kabinentür hinausragten, und Wut stieg in ihm hoch. Verdammt – da wich er einmal von seinem Schema ab und dann so was. Und alles nur wegen des verdammten Weibchens. Noch immer roch er ihren Duft, wusste, es war genau der richtige Zeitpunkt, nicht mehr lange, dann … er musste sich beeilen, wer weiß, wie lange sie noch blieb. Wäre sie erst einmal gegangen, fände er sie womöglich nicht mehr wieder.

„… ich hol schnell Hilfe …“ NEIN! Das durfte nicht sein! Mit einem Ruck riss er die Kabinentür auf und packte den überraschten Björn, noch ehe der seinen nächsten Satz beenden konnte.

 

 

 

Laura saß auf der Fensterbank, beobachtete die Morgendämmerung, das Rot der aufgehenden Sonne, das die wenigen Wolken färbte. Ihr Magen knurrte leise. Zeit fürs Frühstück. Und weil sie wusste, dass die nächste Zeit nicht leicht werden würde, beschloss sie, sich etwas Gutes zu tun und auswärts zu frühstücken.

Sie sprang von der Fensterbank – elegant war anders, jeder Muskel jammerte in einem beginnenden Muskelkater, und sie schlich ins Badezimmer um zu duschen.

Das Badfenster lag ebenfalls nach Osten und war in das Licht der Morgensonne getaucht. Rote Fliesen, rote Duschkabine, rot – Blut, Blut auf hellen Fliesen, Blut an Wänden, Fußboden, eine zusammengekrümmte Gestalt am Boden inmitten einer Blutlache, Hektik außerhalb ihres Blickfeldes, dass sich auf die Gestalt fokussiert, über die sie hinweg gleitet, Blut, so viel Blut, im Gesicht schließlich hängen bleibt. Laura taumelte, klammerte sich an den Türrahmen. Ein altes Gesicht, so alt, blutverschmierter Mund, lächelnd, Augen, weit offen, glückselig, höchst willkommener Tod.

Ein Schluchzen entschlüpfte ihrer Kehle und ihr Badezimmer sah aus, wie ihr Badezimmer nun mal aussehen sollte: sauber, sonnig und silberblau gefliest. Zitternd sank Laura zu Boden und weinte laut schluchzend.

Nach einer heißen Dusche fühlte sie sich besser, spazierte durch die Straßen der neuen Stadt und sah sich immer wieder um, bemüht, jede noch so unscheinbare Kleinigkeit zu entdecken. Mittlerweile knurrte ihr Magen über die Maße laut, aber noch hatte sie keine Lokalität für ein Auswärtsfrühstück gefunden. An der Straßenecke befand sich die Polizeiwache und auf der anderen Straßenseite – wo war denn jetzt noch mal die Fußgängerzone? Sie drehte sich um die eigene Achse, während sie langsam weiterging. Irgendwo musste die sein, und da würde es dann auch ein Café geben oder eine Bäckerei oder gleich mehrere. Wo sonst, wenn nicht in der City?

Laura gelangte gerade wieder in Laufrichtung, als sie mit jemandem zusammenstieß. Bilder drangen auf sie ein: Ein gutaussehender Mann in den Dreißigern, im dunklen Anzug, ein uralter Mann, ebenfalls im dunklen Anzug, beide küssen sich, ein alter Mann auf dem Boden einer Toilettenkabine – Laura blinzelte und sah mitten in das Gesicht des alten Mannes, den sie gerade noch neben einer Toilettenschüssel gesehen hatte. Und er trug den Anzug des jüngeren Mannes. Er murmelte eine Entschuldigung und ging hastig weiter. Laura starrte ihm verwirrt hinterher. Ganz kurz, einen flüchtigen Moment lang hatte sie in seine Augen blicken können. Junge Augen in einem alten Gesicht.

Dieser Blick fraß sich in ihr Inneres und löste Übelkeit aus. Übelkeit und Angst. Dann meldete sich wieder der Hunger und sie verdrängte das Erlebte. Nicht zum ersten Mal und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal. Sie straffte die Schultern, legte ein Lächeln auf und eilte weiter.

Endlich. Eine der Bäckereien am Goldbergplatz verhieß das gewünschte Frühstück und Laura beschleunigte ihre Schritte. Vor der Tür hatte sie dann den nächsten Zusammenstoß. Dieses Mal war es ein junger Mann, blond, attraktiv, mit eisblauen Augen. Wieder ein gemurmeltes „Entschuldigung“, wieder fraß sich ein Blick in ihr Inneres, sie fühlte Schmerzen, Tod, Bilder zogen vorbei, Frauen, Männer, jung, hübsch, tote Gesichter, alt, voller Entsetzen, grauenvolle Gier überschwemmte sie, unendlicher Hunger, sie streckte die Hand nach der Eingangstür der Bäckerei aus und sank zu Boden.

 

Jan eilte weiter ohne sich noch einmal umzusehen. Diese Frau – im Augenblick der Berührung war da etwas gewesen, etwas, das in seinen Kopf kroch, seine Gedanken, Erinnerungen, sein Herz. Aber vor allem war es etwas, das ihn verunsicherte, und jäh empfand er Angst. Tote Augen im Wasser …

 

 

 

 

 

 

JAGD

von Claudia Starke

ISBN: 978-3745065923

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.10.2017

Alle Rechte vorbehalten

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