Er stand hinter der Gardine und spähte hinaus. In dicken Flocken fiel Schnee, Menschen hasteten vermummt am Haus vorbei und durch die Fensterritzen pfiff ein kalter Wind. Die Welt da draußen war in vielerlei Hinsicht befremdlich und er wünschte sich nichts sehnlicher, als hier auf sie warten zu können, denn früher oder später musste sie ihn bemerken. Doch ihm hatte das Geld für Übergepäck gefehlt, also musste er hinaus. Er seufzte.
Als Sascha den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, wurde die Tür bereits von innen aufgerissen.
„Oh, du bist ja schon daheim.“
„Schon? Als ich dich kurz vor Feierabend angefunkt habe, wolltest du nur kurz einkaufen gehen. Das war vor zwei Stunden.“ Giselgund klopfte den Schnee von seiner Jacke.
„Ich weiß, ich wollte ja auch eigentlich nur Streusalz kaufen.“
„Und uneigentlich?“
„Gab's keins.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Wie – es gab keins? Ich denke, nach dem letzten Winter haben die sich mengenmäßig darauf eingestellt.“
„Dachte ich auch, aber ich war bestimmt in zehn Geschäften und es gab nirgends welches.“
Giselgund runzelte die Stirn. „Seltsam – und was hast du in der Tasche?“
„Naja, ich wollte dann normales Kochsalz kaufen, denn im Streusalz ist ja auch nix anderes drin, glaub ich, aber …“, erneut zuckte er mit den Schultern, „Kochsalz gab's auch nicht. Aber dafür hatten die in dem letzten Laden so herrliche Orangen im Angebot, die hab ich dann für … Giselgund?“
Doch Giselgund hatte sich abrupt umgedreht und lief die Treppe hinauf.
„Da oben wirst du auch kein Salz finden … falls du überhaupt welches suchst … ich frag mal bei den Nachbarn, ob die aushelfen können“, rief er ihr hinterher. Dann kratzte er sich am Kopf. „Mit wem red' ich überhaupt … Na, ich geh einfach rasch, wird ja nicht lange dauern.“
Als es klingelte, schlich er zur Haustür. Er kannte niemanden hier, wer also sollte was von ihm wollen? Den Mann, der vor der Tür stand, kannte er nicht, sah somit keinen Grund zu öffnen. Doch der Unbekannte verlegte sich nun zusätzlich aufs Klopfen und Rufen. „Hallo? Niemand zu Hause?“
Was für ein geistiger Tiefflieger war das, dass er darauf ernsthaft eine Antwort erwartete.
„Halloho! Ich bin ihr Nachbar von schräg gegenüber und wollte sie nur kurz was fragen.“
Besser er machte auf, ehe der Kerl die gesamte Straße zusammenbrüllte.
Sascha zuckte zusammen, als unvermittelt die Tür aufgerissen wurde. „Hallo, Herr …“, er suchte nach dem Namensschild, doch es war keins angebracht, „… Nachbar“, sagte er deshalb lapidar. „Mein Name ist Sascha Lehmann, ich wohn' in dem weißen Haus da drüben auf der anderen Seite und wollte Sie fragen, ob Sie mir vielleicht mit Streusalz aushelfen können.“ Sascha versuchte sich an einem gewinnenden Lächeln, doch der andere schüttelte nur stumm den Kopf.
Ein seltsamer Mann war das, er wirkte seltsam eckig und seine Augenfarbe war nahezu weiß, wie durchsichtig. Und aus dem Haus roch es irgendwie nach Meer. Außerdem stellte er sich so demonstrativ in den Türrahmen, um den Blick ins Hausinnere zu verstellen, dass Sascha erst recht versuchte, einen näheren Blick zu erhaschen. Und das erste, das er entdeckte, war ein Sack Streusalz.
„Hey, Sie haben ja wohl welches. Da haben Sie aber echt Glück gehabt, denn momentan scheint in der näheren Umgebung Salznotstand zu herrschen. Ich bräuchte wirklich nicht viel, nur ein paar Handvoll, ich muss doch räumen.“
„Räumen“, murmelte der Mann heiser.
„Ja, den Schnee. Und streuen. So als Hausbesitzer muss man das ja. Sollten Sie übrigens auch. Hier liegt ja beinahe kniehoch der Schnee. Ich könnte das natürlich auch gern dieses Mal für Sie übernehmen, als Gegenleistung für das Salz.“
„Salz“, flüsterte der Mann.
„Streusalz, ja. Da drin liegt doch welches.“ Sascha deutete mit der Hand auf den Sack, den er gesehen hatte.
Im selben Moment packte der Nachbar zu und zog Sascha ins Haus hinein.
Giselgund saß an ihrem Schreibtisch, den Kopf in beide Hände gestützt, und starrte auf den PC-Monitor. Diese Idioten vom A.U.W.E.I.A.! Ständig lag man ihr in den Ohren, dass sie auf ihren Katastrophenfreund aufpassen soll, man könne keine weiteren unsachgemäß verursachten Dimensionsrisse mehr gebrauchen. Und dann hielt man es nicht für nötig, ihr die Informationen über einen genehmigten Dimensionsübertritt zukommen zu lassen. Nicht erst seit heute kamen ihr Zweifel, ob diese perfekte Welt mit ihren perfekten Menschen wirklich so perfekt war.
Egal, sie musste so schnell wie möglich handeln, ehe es zur Katastrophe kam. Und dieses Mal hatte Sascha garantiert nicht seine Finger im Spiel. Sie lächelte.
Sascha war nicht im Haus gewesen, doch Giselgund hatte nicht die Zeit, nach ihm zu suchen, hoffte nur, er stellte nichts Unüberlegtes an. Im dicken Pelzanorak, mit Schal und Mütze, glaubte sie sich gut maskiert. Die Überraschung sollte auf ihrer Seite sein.
Das Haus lag auf der anderen Straßenseite und wirkte ruhig, doch es gab Fußstapfen, die zum Haus hin, aber nicht wieder wegführten, ein Umstand, der die Ruhe trügerisch machte. Zhalx hinterließ niemals Spuren, Menschen von dieser Welt allerdings schon, und Giselgund ahnte, dass Saschas Abwesenheit zu Hause und diese Spuren etwas miteinander zu tun haben könnten. Wollte er nicht bei Nachbarn nach Salz fragen? „Mein ahnungsloser Engel, du …“, murmelte sie, ehe sie den Universaldietrich aus ihrer Jackentasche zog und zur Haustür schlich.
Sascha lag auf dem Boden direkt hinter dem Eingang, fachgerecht verschnürt und geknebelt, auf der Stirn eine dicke Beule. Als er Giselgund erkannte, bekam er große Augen.
Sie legte einen Finger an ihre Lippen, ehe sie ein Kästchen in ihrer Hand auf seine Fesseln richtete, einen Knopf drückte – und seine Fesseln lösten sich.
„Was ist das denn?“, fragte er leise, nachdem er sich von dem Knebel befreit hatte.
„Ein Universaldietrich – mit dem bekommt man einfach alles auf“, grinste Giselgund.
„Du bist einfach bestens ausgestattet.“ Er rieb sich die Handgelenke. „Wie kommst du überhaupt hierher? Ich wusste doch selber nicht, wo ich hingehe, als ich wegging.“
Sie legte ihm eine Hand auf die Wange und lächelte.„Später, mein Schatz – wo ist er?“
„Im Keller. Der ist irre. Ich wollte doch nur etwas Streusalz von ihm, hätte sogar für ihn den Gartenweg freigeräumt, da zieht der mich plötzlich ins Haus und zack!“
„Schschsch – nicht jetzt. Ich muss mich erst um diesen Kerl kümmern. Geh nach Hause, Mausebär, ich erklär dir dann alles. Und ich bring dir Salz mit, versprochen.“
Sascha nickte und sah Giselgund hinterher. Wenn sie glaubte, er ließe sie jetzt einfach im Stich, nachdem sie ihn aus der Bredouille geholt hatte, dann täuschte sie sich. Quid pro quo. Er wartete ein paar Minuten, ehe er ebenfalls in den Keller schlich.
Sie fand ihn im Keller, den er beinahe komplett ausgeschachtet hatte. In diesem Moment war er dabei, die Grube mit Salz zu füllen.
„Kompliment, Zhalx“, sagte sie laut, „du hast es fast geschafft, meiner Aufmerksamkeit zu entgehen.“
Der Angesprochene ließ den Sack fallen, den er gerade aufgerissen hatte, und fuhr herum. „Giselgund! Welche Überraschung.“ Laut klang seine Stimme, als rieben Steine gegeneinander.
„Heuchler! Du wusstest doch, wo ich wohne. Warum sonst solltest du in dieser Dimension deinen Aufenthalt beantragt haben? Und dann noch in meiner Nachbarschaft.“
„Die Sehnsucht, Giselsteinchen. Du weißt, was ich für dich empfinde.“
„Du kannst überhaupt nichts empfinden.“ Sie zog den Anorak aus, denn es war heiß im Keller. Außerdem brauchte sie mehr Bewegungsfreiheit, als die Jacke bot.
„Immer noch so schön wie damals.“ Sein Blick zeigte deutlich, dass er ihr mehr auszog als nur die Jacke.
Flüchtig bereute sie, nicht ihre Dienstkleidung angezogen zu haben, ehe ihr der Einfall kam, auch noch ihr T-Shirt auszuziehen. Darunter trug sie ein Nichts von BH, Spitze, durchsichtig. Und er verfehlte seine Wirkung nicht.
Zhalx' Augen hingen an ihren Brüsten, so dass er nicht darauf achtete, dass sie aus ihrer Hosentasche einen Interdimensionstransmitter zog.
„Du weißt, dass du in meiner Nähe nichts zu suchen hast. Und nur du weißt, auf welche Art du die Dumpfnasen vom A.U.W.E.I.A. und vom I.K.E.A. Übertölpelt hast, aber ich weiß, dass es höchste Zeit wird, dass du hier wieder verschwindest.“
„Nein, ich werde hier nicht verschwinden, denn ich habe eine offizielle Genehmigung. Mein Schwager arbeitet bei der I.K.E.A. - es geht doch nichts über Gefälligkeiten innerhalb der Familie.“ Er grinste.
„Irrtum. Deine Genehmigung ist nur gültig, wenn du dich in der gewählten Dimension unauffällig verhältst. Und du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass einen Dimensionsbewohner niederzuschlagen, zu fesseln und zu knebeln, unauffällig ist.“
„Er kam in mein Haus und hat mich bedroht.“
„LÜGE!“, klang es von der Kellertreppe her.
Giselgund und Zhalx wirbelten beide herum.
„Sascha! Was machst du denn noch hier? Du solltest doch …“, rief Giselgund und achtete nicht mehr auf Zhalx.
Dieser sprang vor und schlug Giselgund den Interdimensionstransmitter aus der Hand. Im hohen Bogen flog das Gerät in die Salzgrube.
„Danke, Jungchen“, lachte Zhalx. „Giselsteinchen, gleich kümmere ich mich um dich, aber erst ist dieser Hampelmann dran.“ Langsam schritt er auf Sascha zu, der nervös die Fäuste hob.
„Keine Chance, Sascha, dem ist mit bloßen Fäusten nicht beizukommen“, rief Giselgund, ehe sie in die Grube sprang und nach dem Transmitter wühlte.
„Na dann …“, murmelte Sascha, rannte an Zhalx vorbei und sah sich hastig um. „Du willst Salz, du Arsch?“, er griff nach einem der Streusalzsäcke, „Hier hast du!“ Der Sack landete nach Saschas Wurf genau in Zhalx Armen.
„Danke, Idiot!“ Der Kerl holte aus, um den Sack zurückzuschleudern, doch just in dem Moment tauchte Giselgund wieder aus der Grube auf, den Transmitter in der Hand. Als der Strahl ihn traf, löste Zhalx sich umgehend in Luft auf.
„Ist er …?“ Sascha schluckte.
„Aber nein, du Dummerchen, er ist nur wieder zurück in seiner Dimension.“
Als Sascha nach dem Schneeschippen wieder ins Haus kam, wartete in der Küche ein Cappuccino auf ihn. Und Giselgund im Bademantel.
„Die Badewanne wartet auf uns.“
„Hoffentlich kein Totes-Meersalz-Bad“, murmelte Sascha.
„Nein, irgendwas Blumiges.“
„Warum war der Kerl jetzt hier?“
„Er ist ein Ex, der einfach nicht wahrhaben will, dass es aus ist.“
„Naja, irgendwie verständlich – einerseits. Andererseits allerdings … und wofür brauchte der jetzt das ganze Salz? Doch hoffentlich nicht, um dich zu mumifizieren.“
„Nein. In seiner Welt ist Salz lebensnotwendig. Eigentlich besteht sie hauptsächlich aus Salz. Und die Menschen, die dort leben, auch. Deshalb benötigen sie in anderen Welten eine Salzgrube, in der sie sich regenerieren können. Er hatte nur nicht die Möglichkeit, soviel Salz hierher mitzubringen, weil er sich das Visum unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen hat. Eigentlich achten die beim I.K.E.A. darauf, dass keine zwei Dimensionsfremden gemeinsam eine fremde Welt bewohnen. Und wenn doch, dann muss das mit allen Beteiligten abgesprochen sein. Das haben diese Idioten in diesem Fall allerdings versäumt.“
„Und was bitte haben schwedische Möbel damit zu tun?“
„Schwedische Möbel?“
„Na, Ikea, so heißt doch die Firma, die Billy und Co. verkauft.“
Giselgund biss sich auf die Lippen. „Ich meine das Interdimensionäre Kontrollgremium für Einreise-Angelegenheiten. Kurz I.K.E.A.“
„Ach so.“
„Danke übrigens, dass du dich für mich prügeln wolltest.“ Sie stand auf und zog den Bademantel aus. „Ich geh jetzt allerdings in die Badewanne. Kommst du?“
„Kein Meerwasser-Bad UND keine Ikea-Badewanne, dazu die schönste Frau aller Dimensionen – und ob ich komme …“
Bildmaterialien: Urs Flükiger / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum 39. BookRix-Wortspiel - Thema: "Salz"