Als Egon Ihmenkamp am Morgen des 08. April nichtsahnend die Augen aufschlug, war es 8.14 Uhr.
Zumindest war dies die Zeit, die sein Wecker anzeigte. Da es sich jedoch nicht um einen Funkwecker handelte, konnte es genauso gut 8.13 oder 8.15 Uhr sein. Da die Kenntnis der exakten Uhrzeit jedoch keinen Einfluss darauf hatte, dass Egon nichtsahnend die Augen aufschlug, kann diese Angabe auch weggelassen werden. Also, noch mal von vorn:
Am Morgen des 08. April schlug Egon Ihmenkamp nichtsahnend die Augen auf.
Zumindest war dies das Datum, dass der Abreiß-Tageskalender in der Küche anzeigte. Da jedoch nicht bekannt ist, wann genau Egon das entsprechende Kalenderblatt abzureißen pflegte, konnte es genauso gut der 09. oder der 10. April sein. Da die Kenntnis des exakten Datums jedoch keinen Einfluss darauf hatte, dass Egon nichtsahnend die Augen aufschlug, kann auch diese Angabe weggelassen werden. Also, noch mal von vorn:
Am Morgen schlug Egon Ihmenkamp nichtsahnend die Augen auf.
Er wusste nicht, was der Tag für ihn bereithielt, deshalb war er nichtsahnend, was sehr schade war, denn hätte er gewusst, was ihn erwartete, hätte er anders reagieren können. Ohne diese Kenntnis jedoch handelte er genau so, wie Egon Ihmenkamp nun einmal handelte. Und begann den Tag damit, dass er sich wusch und anschließend frühstückte.
Danach räumte er das Frühstücksgeschirr in die Spüle, wusch ab und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo er sich ans Fenster setzte und hinaussah.
Seit einem Jahr tat er das jeden Morgen, seit er von seiner Großtante einen ordentlichen Batzen Geld geerbt, seine Stelle als Hausmeister an einem Gymnasium aufgegeben und sich dieses Häuschen auf dem Land gekauft hatte. Er hatte genug Geld, um für den Rest seines Lebens nichts anderes mehr zu tun, als aus dem Fenster zu gucken und sich an der selbstgewählten Einsamkeit und Ruhe zu erfreuen.
Es war ein sonniger Tag, nur eine leichte Brise strich ums Haus und die Linde auf der vorderen Wiese wiegte ihre Krone bedächtig im Takt mit dem Lied des Windes. Egon seufzte.
Plötzlich erschien jemand auf der anderen Straßenseite, ein junger Mann, der zügig die Straße überquerte, zu der Linde trat, sie mit den Armen umschlang und seine Wange an die Rinde schmiegte.
Jäh setzte Egon sich kerzengerade auf. Was, um Himmels willen, sollte denn das? Und warum ausgerechnet seine Linde? Vor seinem Haus?
Der Fremde stand eine Weile einfach nur da, den Baum liebkosend. Oder liebkoste der Baum ihn?
Egon schüttelte den Kopf. Welch schwachsinniger Gedanke. Doch wer wusste schon, was diesen jungen Mann umtrieb? Es gab ja derartige Therapien, wo die Patienten in den Wald gingen, um dort Bäume zu umarmen oder zu schreien oder sonstwas zu tun. Jedenfalls hatte Egon davon schon gehört, und es störte ihn auch nicht weiter, solange diese Leute das im Wald taten. Aber doch nicht hier, vor seinem Haus, mit seiner Linde.
Zögernd erhob er sich, dabei den jungen Mann genau im Auge behaltend, und überlegte, was er tun sollte. Vielleicht ging dieser ja auch, sobald des Schmusens genug war …
Und richtig ließ der Unbekannte endlich den Baum los, nur um gleich darauf auf allen Vieren darunter herumzukriechen und immer wieder den Kopf zu senken. Wenn Egon es nicht besser wüsste, hätte er geschworen, der junge Mann graste. So aber … Stirnrunzelnd fragte Egon sich, ob er es denn tatsächlich besser wusste, und musste sich eingestehen, dass dem nicht so war. Entschlossen krempelte er die Ärmel hoch. Mit seiner Linde kuscheln, das ging ja noch so gerade an, doch grasen? Nie und nimmer!
Und so stürmte Egon aus dem Haus, geradewegs auf den Mann zu.
„He, du, Bursche, verschwinde von meinem Grundstück!“
„Wie bitte?“ Der junge Mann richtete sich auf und zupfte sich ein paar Grashalme von seinen Lippen.
„Du hast schon richtig gehört, ich sagte: Verschwinde von meinem Grundstück.“
„Oder?“
„Oder was?“
„Na, 'Verschwinde von meinem Grundstück oder …'?“
„Verschwinde von meinem Grundstück oder ich hol den Hund.“ Dies war das erste, das ihm in den Sinn kam, obwohl er gar keinen Hund sein eigen nannte.
Der Mann setzte sich bequem hin. „Welche Rasse ist es denn?“
„Rasse?“ Egon kratzte sich verwirrt am Kopf.
„Na, Ihr Hund.“ Der Fremde lächelte.
„Ach so, der, das ist ein … na, wie heißen die denn jetzt …“ Egon hatte sich nie etwas aus Hunden gemacht, doch das brauchte dieser Kerl ja nicht zu wissen. „Ein … äh, ein … Doberweiler.“
Der Mann hob eine Augenbraue. „Doberweiler?“
„Ach, Quatsch, ich meine natürlich einen Rottmann“, schnaubte Egon. „Jedenfalls ist er ziemlich wild und bissig.“
„Und stumm.“
„Stumm?“ Egon spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief.
„Nun, man hört ihn nicht bellen.“
„Er bellt ja auch nur auf Befehl. Und noch hab ich es ihm nicht erlaubt.“ Einen kurzen Moment lang überlegte Egon, ins Haus zurückzugehen, sich hinter die Tür zu stellen und laut zu bellen. Dann jedoch schüttelte er entschieden den Kopf. „Ich rate dir also noch mal im Guten, Bürschchen: Verschwinde!“
„Nö.“ Der junge Mann legte sich rücklings auf die Wiese, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Mir ist mehr nach einem Nickerchen. Zur Verdauung.“
„Verdauung?“ Egon schwirrte der Schädel.
„Ja klar – obwohl … das Gras ist wirklich lecker hier, vielleicht sollte ich erst noch einen Nachschlag …“
„Nix da! Das ist meine Wiese, mein Gras, und da kann nicht jeder Dahergelaufene …“
„Oh, wo bleiben nur meine Manieren, ich hab glatt vergessen, mich vorzustellen.“ In einer einzigen raschen Bewegung stand der Mann auf und hielt Egon eine Hand entgegen. „Theoderich Gnotus.“
Blinzelnd starrte der ehemalige Hausmeister sein Gegenüber an, das ihn um mehr als einen Kopf überragte, und unvermittelt wünschte er sich, er besäße wirklich einen Hund. „Gnotus. Theoderich.“
„Ich weiß“, der Mann verzog das Gesicht, „meine Eltern besaßen bei der Namensgebung einen seltsamen Humor, doch es hätte auch schlimmer kommen können. Sie hätten mich zum Beispiel auch Ignaz nennen können. Ignaz Gnotus. Wäre das nicht schrecklich? Aus Theoderich kann man wenigstens noch Theo machen, aber Ignaz? Nee, geht gar nicht.“
„Runter …“, krächzte Egon, räusperte sich und setzte noch einmal an. „Runter von meinem Grundstück oder ich hole …“
„Meinen Hund, ich weiß. Doberweiler oder Rottmann, was ist es denn nun?“
„DIE POLIZEI!“, schrie Egon. „RUNTER VON MEINEM GRUNDSTÜCK ODER ICH HOL DIE POLIZEI! Ich muss mir dieses dumme Gequatsche auf meinem eigenen Grund und Boden nicht anhören. Kopuliere meinetwegen mit allen Bäumen, die dir begegnen. Friss Gras, bis dein Bauch bläht wie ein Gasballon. ABER NICHT HIER!!!“ Und damit drehte sich Egon um und stapfte zurück zu seinem Haus, fest entschlossen, die Polizei zu rufen, wenn dieser Nichtsnutz nicht endlich …
Die Haustür war nur angelehnt. Sollte Egon wirklich im Eifer des Gefechts vergessen haben, die Tür zu schließen? Vorsichtig schob er sie auf, während er sich noch einmal nach diesem Gnotus umdrehte. Der natürlich verschwunden war.
Im Haus war alles ruhig. Und leer. Jedenfalls leerer als üblich. Dafür standen Schranktüren und Schubladen offen, und ohne nachgesehen zu haben, wusste Egon, dass seine Briefmarken fehlten. Und seine Münzen. Die Erstausgaben. Seine Geldkassette. Er seufzte.
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2011
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Beitrag zum 29. Wortspiel - Thema: 'Verschwinde(t) von meinem Grundstück oder ich hol den Hund'