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Warum einfach?

„Ach Gott, ich fass' es nicht. Was zum Teufel machst du denn hier?“
„Keine Namen, bitte. Außerdem könnte ich dich dasselbe fragen.“
„Nun, ich …“
„Ich habe aber nicht gefragt. Also verschon mich mit deinem Sermon.“
„Okay. Auch 'nen Whisky?“
„Deshalb bin ich hier.“

Ein einzelnes Haus mitten auf einer Wiese nahe der Bahnlinie. Es war früher Tag, der Morgennebel umspielte noch das feuchte Gras, als eine einsame Gestalt den Fußweg entlang ging. Ihr gewölbter Leib ließ sie schwerfällig einen Fuß vor den anderen setzen, während die Zeit in ihrem gewohnten Tempo voran schritt und der Bus bereits am Ende der schnurgeraden Straße in Sicht kam.
Ein Rabe kreiste über dem Weg und ließ sich auf dem untersten Ast eines Baumes in der Nähe nieder. Seine schwarzen Augen beobachteten die Gestalt, während er scheinbar unbeteiligt sein Gefieder putzte.
Jäh blieb die Frau stehen, ihre Hände fuhren an ihren Bauch und ein Aufschrei verließ ihre Lippen. Mit gekrümmtem Rücken atmete sie hastig, derweil der Bus an der wenige hundert Meter entfernten Haltestelle vorbei fuhr.
Der Rabe unterbrach seine Federpflege, sah hinüber zu dem stillen Haus und zurück zur Frau, die sich bereits wieder aufrichtete. Mit einem Seufzen machte sie sich auf den beschwerlichen Weg zurück zum Haus.
Solange sie sich vorwärts schleppte, hüpfte der Rabe auf dem Ast hin und her, doch kaum hatte sie die Haustür erreicht, erhob er sich in die Luft und flog in einem Bogen auf das Hausdach, tippelte umher und legte schließlich den Kopf schief, um zu lauschen. So verharrte er eine Weile, ehe er sich erneut in die Luft schwang, um auf einem Fensterbrett zu landen.
In dem Zimmer hinter dem Fenster schloss ein Mann soeben einen großen Koffer, zog seine Jacke an und sah sich im Zimmer um. Auch zum Fenster wanderte sein Blick, so dass der Rabe zur Seite huschte, denn er wollte ungesehen bleiben.
Der Mann atmete noch einmal tief durch, nahm den Koffer und ging zur Tür.
Ein Schrei durchschnitt jäh die Stille, die Stimme einer Frau kündete von Verzweiflung, Trauer, Schmerz, und der Mann ließ sein Gepäck fallen, riss die Tür auf und rannte hinaus.
Der Rabe breitete die Flügel aus und flog krächzend ums Haus, bis er sich schließlich ein weiteres Mal auf einem Fensterbrett niederließ, doch die Scheibe war schmutziger, so dass er nicht genau erkennen konnte, was in dem Raum passierte. Nur ein Bett sah er deutlich, mit blutgetränkten Laken, auf dem die Frau lag, die er auf dem Weg beobachtet hatte, leblos und ohne die Wölbung ihres Leibes. Erneut schrie eine Frau, unterbrochen von einer lauten Männerstimme – und Babygeschrei. Eine Zeitlang lauschte der Vogel mit schräg gelegtem Kopf, ehe er seinen Posten verließ und zu dem Ast auf dem Baum zurück kehrte. Und wartete.

„Du erzählst mir da nichts Neues.“
„Das dachte ich mir. Aber ich bitte dich – warum eine Fruchtwasserembolie?“
„Auch da gibt es Statistiken zu erfüllen.“
„Ja, von mir aus – aber das war ja längst nicht alles.“

Nach einiger Zeit kam der Mann aus dem Haus, im Arm ein zappelndes Bündel, den Koffer in der anderen Hand, hastete er den Weg entlang vor zur Straße, wo bereits ein Taxi wartete.
Ausgerechnet. Der Rabe startete die Verfolgung und als das Taxi auf den Autobahnzubringer auffuhr, krächzte er böse. Doch er blieb unbeirrt hinter dem Taxi, mit Flügelschlägen, die jedem Kolibri zur Ehre gereicht hätten.
Die Grenze überquerte er ebenso problemlos wie das Taxi, das kurz danach auf einen Parkplatz einbog. Dort wartete bereits ein dunkler Wagen, und als sich das Taxi näherte, öffnete sich die Fahrertür und eine Frau stieg aus.
In Erwartung eines besonderen Schauspiels landete der Rabe auf dem Autodach – er wusste, dass ihm keiner Beachtung schenken würde.
Lief die Frau zunächst noch freudig auf den Mann zu, als dieser aus dem Taxi stieg, so entbrannte bald ein lauter Streit, als er ihr das Bündel präsentierte. Recht bald mischte sich auch der Taxifahrer ein, dem eine Rolle zugewiesen werden sollte, die diesem eindeutig nicht gefiel. Schließlich stieg er schimpfend in seinen Wagen und verließ den Parkplatz.
Der Streit zwischen dem Mann und der Frau ging derweil unvermindert weiter, begleitet von dem lauten Geschrei des Babys, und der Rabe schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seinem Gefieder, wohl wissend, dass der Taxifahrer eine Lawine losgetreten hatte. Und wieder wartete er.
Doch er wurde überrascht, denn der Mann stieg plötzlich in das Auto und knallte lautstark die Tür, so dass der Rabe erschreckt aufflatterte. Die Frau schaffte es gerade noch, ebenfalls einzusteigen, bevor der Mann losfuhr. Und noch einmal durfte der schwarze Vogel einem Auto folgen, zunächst weg von der Grenze, durch mehrere Ortschaften, und dann – in einem weiten Bogen – zu einer anderen Grenzstation.
Und am Ende dieser Odyssee waren sie wieder bei dem Haus auf der Wiese angelangt. Erschöpft landete der Rabe nun schon zum dritten Mal auf dem Ast und haderte mit sich, ob seine Neugier größer als seine Lustlosigkeit war.
Kaum stieg das Paar aus dem Auto, kam eine Frau aus dem Haus gerannt. Erneut entbrannte heftiger Streit, noch lauter als auf dem Parkplatz hinter der Grenze – kein Wunder, denn die Frau aus dem Haus schrie in bekannter Manier. Als der Mann ihr jedoch das ebenfalls schreiende Bündel in den Arm legte, verstummte sie unvermittelt. Dafür begann die andere Frau zu schreien, denn der Mann holte seinen Koffer aus dem Auto und betrat wortlos das Haus.
Nun hatte der Rabe endgültig genug und trollte sich.

„Das war doch Schwachsinn.“
„Nun, rein statistisch waren es eine Geburt, ein Todesfall, zwei Leute, die ausgereist, und drei, die eingereist sind. Okay, da war noch der Taxifahrer …“
„Jetzt hör mir mal zu – das ist verdammter Bockmist. Klar, ich kenn die Statistik, mir sind die Anforderungen durchaus bewusst, und abgesehen davon, dass hier noch niemand ein- oder ausgeWANDERT ist – wie es die Statistik eigentlich fordert – warum zur Hölle muss das Ganze so bescheuert konstruiert werden?“
„Nun ja, die Stelle musste doch neu besetzt werden …“
„Ja, auch das weiß ich – leider war ja dieses Mal nicht ich mit der Auswahl dran. Wohin das führt, sieht man ja.“
„Lass ihm Zeit, er muss sich doch erst an den Job gewöhnen.“
„Mein lieber Gevatter, er macht das Ganze bereits seit einhundert Jahren. Es sind genug Beschwerden gekommen – ich kann mich erinnern, dass auch du dich nicht gerade begeistert geäußert hast. Das heute war nur eine kurze Stippvisite meinerseits – man sollte für die Klagen seiner Untertanen stets ein offenes Ohr haben. Auch in meiner Position. Und dazu gehört nun mal, sich Klarheit zu verschaffen.“
„Ja, ich weiß, aber jetzt haben wir ihn nun mal an der Backe. Und letzten Endes erfüllt er doch das Soll. Nur eben auf … eigenwillige Art und Weise.“
„In der Tat. Soll ich dir mal was sagen?“
„Nur zu.“
„In neunhundert Jahren, wenn die Stelle neu besetzt werden wird, da obliegt mir die Auswahl. Und eins weiß ich mit Sicherheit: Mein Schicksalsschreiber wird kein ehemaliger Romanautor sein.“

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Tag der Veröffentlichung: 22.06.2010

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