18.50 Uhr. Ich sitze im Bus nach Buer. Endlich! Länger hätt' ich's zuhause nicht mehr ausgehalten. Mann, bin ich aufgeregt! Um 19.15 Uhr bin ich nämlich mit Sebastian an den Hollywood-Kinos verabredet. Die Flucht ins Ungewisse wollen wir anschauen. Das heißt, Sebastian will den Film anschauen - er hat eine Nase für gute Filme. Ich geh' nur mit, um mit Sebastian zusammenzusein. Und was anderes als Kino läuft da leider nicht. Ich hoffe, das ändert sich. Am liebsten gleich heute. Aber wie oft hab' ich das schon gehofft: letzte Woche, die Woche davor, die Woche davor gleich zweimal, und und und. Meine Ma schüttelt nur den Kopf und hat mich längst für verrückt erklärt. Na, wenigstens kenn' ich jetzt fast alle Filme, die in den letzten Monaten im Kino liefen. Ist doch auch was, oder?
19.15 Uhr. Sebastian ist pünktlich. Gut sieht er aus. Schwarze Lederjacke, schwarz-weißer Pulli - kenn' ich noch gar nicht, hat er den neu? -, dunkelgraue Hose und schwarze Schnürschuhe. Innerlich seufzend begrüße ich Sebastian mit einem strahlenden Lächeln. Er strahlt zurück.
Als erstes werden die Kinokarten gekauft. Ein Blick auf die Uhr: 19.20 Uhr. Wir gehen wieder raus, Richtung Hochstraße. Uns kommen etliche Pärchen entgegen, Arm in Arm oder Hand in Hand. Ich schließe kurz die Augen. Ach, wär' das schön, wenn Sebastian jetzt meine Hand nehmen würde. Vielleicht sollte ich? Ich schiele zu ihm 'rüber - keine Chance, er hat beide Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Also vergrab' ich meine Hände auch.
Sebastian grübelt. "Reicht die Zeit noch für einen Apfelstrudel mit Vanillesauce?" Er schaut mich abwartend an.
Jetzt ins Café? Ich würd' ja viel lieber mit ihm spazieren gehen. Es ist grad' so schön dunkel in Buer. Aber ich weiß ja, wie gerne Sebastian Apfelstrudel mit Vanillesauce isst. Also nicke ich ergeben. Wir gehen ins Café Crème.
Nach kurzer Verzögerung - die Bedienung wollte unsere Bestellung zweimal aufnehmen - bekommen wir unsere Teller vorgesetzt. Auf die Plätze, fertig, los! Sebastian und ich hauen 'rein. Nach dem ersten Stück Strudel erscheint ein zufriedenes Strahlen auf Sebastians Gesicht. Das entschädigt mich dafür, dass ich eigentlich gar keinen Hunger habe. Und nach der Hälfte kapituliere ich dann auch. Ich lege den Löffel beiseite, meine Hände neben den Teller und sehe Sebastian bei der Strudelvertilgung zu.
Nach dem letzten Bissen schaut er mich fragend an. Seine rechte Hand nähert sich meiner linken. "Du hast ja kaum was gegessen", sagt er. "Was ist bloß los?"
Mein Herz klopft bis zum Halse, meine Finger zucken. "Keinen Hunger", antworte ich.
Seine Hand hat meine fast erreicht. "Du" Wie er mich anschaut! "darf ich" Alles, was du willst! "dann dein Stück Strudel auch noch essen?"
Wie bitte?! Ich starre ihn an. Seine Hand umfasst bereits den Rand meines Tellers. "Na?"
Ich falte meine Hände in meinem Schoß und nicke mechanisch. Und während sich Sebastian über meinen Strudel hermacht, verpasse ich mir geistig eine Ohrfeige nach der anderen. Ich bin ja so was von blöd!
Na, wie dem auch sei, um 19.45 Uhr traben wir zurück zum Kino. Einlass soll um 19.50 Uhr sein. Wir sind pünktlich - der Einlass nicht.
Sebastian lässt sich auf einen Stuhl nieder, langsam und genießerisch. Ich bleibe vor ihm stehen und meine nur: "Jaja, alter Mann muss sitzen."
Auf Sebastians Gesicht erscheint sein unwiderstehliches Grinsen. "Jaaa", entgegnet er gedehnt. Ich schlucke nur.
Dann heißt es: "Kino 1 ist Einlass!"
Husch! Ehe ich mich versehe, springt Sebastian auf, legt seinen Arm um meine Schulter und zieht mich Richtung Eingang. Und plötzlich finde ich mich auf einem Sitzplatz in der letzten Reihe wieder.
'Hoppla', denke ich, 'das ging aber schnell!'
Bis der Film beginnt, unterhalten wir uns. Sebastian erzählt von seinem Studium. Irgendwann frage ich: "Wann hast du denn das nächste Mal Zeit?"
Er zieht die Nase kraus. "Ja, mal sehen. Wann kommt immer das neue Kinoprogramm? Donnerstags?"
Ich verdrehe die Augen. "Es muss doch nicht immer Kino sein. Wir können doch auch mal was anderes machen, zum Beispiel..."
"Ja", Sebastians Miene hellt sich auf, "na klar, du könntest zu uns kommen", meine Miene hellt sich ebenfalls auf, "und wir gucken uns den Blade Runner auf Video an." und verfinstert sich gleich wieder.
"Ich dachte eigentlich mehr an etwas anderes."
"Ach", Sebastian schaut mich verdutzt an, "du bist doch so'n Kinofan."
"Ja, durch dich geworden."
Er schweigt und sieht mich nur an. Sein Blick geht mir durch und durch. "Wir können ja auch Tee trinken und Schach spielen."
Endlich hat er's kapiert!
"Wie wär's am Samstag? Und anschließend gehen wir in die lange Filmnacht. Alle drei Teile von Star Wars. Na, wie wär’ das?"
Ich kapituliere. Also weiter ins Kino. Aber das Teetrinken und die Partie Schach lass' ich mir nicht entgehen. Also stimme ich zu. "Das wird schön", sage ich, "so viel Zeit miteinander zu verbringen."
"Ja", sagt er eifrig, "und Star Wars ist das Beste, was an Science Fiction geboten wird. Das wird einfach toll!"
Ich muss ihn mit dem Lattenzaun k. o. geschlagen haben, dass der nix merkt!
Endlich beginnt der Film. Wir setzen uns bequem hin. Bei der Szene, wo Danny und Lorna sich zum ersten Mal küssen, berührt plötzlich Sebastians Bein meins. Nanu?! Ein Schauer durchläuft mich. Ich wüsste eine Alternative zum Film. Warum gibt es eigentlich keine Logen mehr? Immerhin - er scheint verstanden zu haben. Behutsam drücke ich mein Knie gegen seinen Oberschenkel.
"'tschuldigung", murmelt Sebastian und zieht sein Bein wieder weg.
Das darf doch nicht wahr sein! Ist er denn wirklich so blöd? Oder will er gar nicht? Aber warum rennt er dann ständig mit mir ins Kino? Nur, damit er nicht alleine gehen muss?
Ich versuche, mich stärker auf den Film zu konzentrieren. Ab und zu tauschen Sebastian und ich Kommentare aus. Dabei kommen wir uns sehr nahe, fast Nase an Nase. Mir fällt eine gute Möglichkeit ein, diese Nähe auszunutzen, bei den Eskimos wär' das eh fast ein Kuss gewesen.
Aber Sebastian tut es nicht, und ich trau' mich nicht. Ganz schön blöd! Vielleicht müsste ich ihn wirklich überrumpeln. Meine Ma meint immer: "Wenn ich einen Jungen haben wollte, hab' ich ihn auch gekriegt. Du musst an den Typen 'rangehen, dass ihm keine Zeit zum Überlegen bleibt." Sie hat gut reden, aber ich bring's einfach nicht!
Der Schluss des Films nimmt mich doch arg mit. Da verlässt Danny seine Eltern und seinen Bruder Harry, um bei seiner Lorna bleiben zu können, und Sebastian, der es da viel einfacher hat, macht keine Anstalten, mit mir was anzufangen.
Als das Licht angeht, muss ich blinzeln. Sebastian schaut mich an. "Warum weinst du? War doch 'n Happy-End."
Im Film, ja. "Ich hab' was im Auge", entgegne ich nur.
Wir gehen raus, zum Parkplatz, und steigen in Sebastians Auto. Er schwärmt von dem tollen Film, von dem ich kaum was mitgekriegt habe.
Zuhause angekommen, will ich aussteigen, aber Sebastian hält mich an meiner Hand zurück. Er sieht mich an. "Weißt du, das du mindestens ebenso süß wie Lorna bist?" Ehe ich etwas sagen kann, beugt er sich zu mir rüber und gibt mir einen Kuss.
Ich starre ihn an, unfähig etwas zu sagen.
Er lacht. "Ich hole dich Samstag um drei ab, okay?" Er gibt mir noch einen Kuss, dann startet er wieder den Wagen.
Ich stehe in der Haustür, sehe ihm nach und denke: 'Wunder gibt es immer wieder - manche brauchen nur etwas länger.'
Texte: Foto: creativity103.com
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2009
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Widmung:
Für Ingo