Micky Maus war ein sechsjähriger Junge, der noch an die Kraft der Wünsche glaubte.
Er war neu in der Stadt und zum ersten Mal in seinem Leben in der Schule, allein mit einer netten Lehrerin und viel zu vielen völlig fremden Kindern, die sich untereinander schon längst kannten. Und an seinem Platz in der letzten Reihe machte Micky sich ganz klein, fühlte sich übersehen und allein gelassen, wünschte sich zurück in seine alte Stadt, zu seinen alten Freunden, und wollte doch einfach nur dazu gehören. Er hatte Angst vor allem Neuen, verkroch sich und wartete ab. Das war einer der Gründe, warum er Maus genannt wurde. Der andere Grund waren zwei sehr stattliche Schneidezähne. Mausezähne halt. Und Micky kam von Michael.
Der erste Schultag war nur kurz, und zurück in den Armen seiner stolzen Mutter wurde er wieder zu ihrem großen Jungen, fühlte sich wohl und getröstet, voller Zuversicht für den nächsten Tag. Außerdem hatte er ja noch seine Wunschzettel.
Vor dem Zubettgehen setzte er sich an seinen neuen Schreibtisch und holte aus der Schublade einen Notizblock. Auf das oberste Blatt malte er seinen Wunsch für den nächsten Tag, malte sich selber und ein paar Kinder aus seiner Klasse vor dem Klettergerüst auf dem Schulhof. Und in jedes Gesicht malte er ein fröhliches Lachen, und alle hielten sich an den Händen. Er arbeitete konzentriert und sorgfältig, die Zungenspitze im Mundwinkel. Erst als er völlig zufrieden war, legte er die Stifte beiseite. Micky nahm den Zettel und drückte ihn an sein Herz, schloss die Augen und dachte ganz fest an seinen Wunsch, stellte sich vor, wie er gemeinsam mit den Kindern am nächsten Tag spielen würde. Dann riss er den Wunschzettel entzwei, zerriss ihn in klitzekleine Schnipsel. Schließlich ging er zum Fenster, öffnete es weit und warf die Schnipsel nach draußen, wo sie vom Wind rasch in alle Richtungen verteilt wurden. Micky grinste. Nun konnte der nächste Tag kommen, er war bereit.
Am Morgen gab ihm seine Mutter einen wunderschönen roten Apfel für die Pause mit. Damit setzte Micky sich auf die kleine Mauer neben dem Klettergerüst, wo auch viele Kinder aus seiner Klasse herumtobten. Er wollte gerade hinein beißen, als eine große Hand seine Schulter packte. Vor Schreck ließ Micky den Apfel fallen, direkt vor seine Füße, und sein Herz klopfte laut und schnell.
„’n töften Appel haste da.“ Ein fremder Junge nahm die Hand von Mickys Schulter und bückte sich schnell nach der Frucht. „Is’ jetzt meiner.“ Grinsend schob er den Schirm seiner Baseballkappe in den Nacken, rieb den Apfel an seinem T-Shirt sauber und biss hinein. Micky stiegen Tränen in die Augen und er wollte dem Jungen
am liebsten auf den Fuß stampfen, ganz fest, aber der Kerl war so groß, viel größer als eine kleine, verängstigte Maus, und so biss Micky sich nur auf die Unterlippe und tat gar nichts.
„Bist du ’n Weichei.“ Der Junge lachte böse. „Also, pass gut auf, du Wurm.“ Er packte Micky am Kragen. „Ich will morgen wieder einen Apfel. Jeden Tag wirst du mir jetzt einen bringen, ist das klar?“ zischte er.
Micky nickte schluchzend und wünschte sich, er wäre nicht Micky die Maus sondern Micky der Löwe, aber leider besaß er nun mal nur ein Mäuseherz – und das tat gerade ziemlich weh, weil der große Junge im Weggehen nur noch einmal abbiss und den Apfel dann achtlos in die Büsche warf.
„Das war der fiese Max“, sagte eine Stimme hinter ihm leise. „Der größte und stärkste Junge der ganzen Schule – und ’n Schwachkopf. Der ist schon zweimal sitzen geblieben.“ Ein Mädchen aus seiner Klasse grinste ihn verlegen an und hielt ihm ein Taschentuch hin. „Putz dir die Nase und komm spielen. Wenn du Frau Döring alles erzählst, kriegt der Blödmann schon seine Strafe. – Ich heiß’ übrigens Lisa.“ Und dann verbrachte Micky die erste Pause mit Lisa und den anderen.
Frau Döring erzählte er natürlich nichts von dem Vorfall. Er schrieb lieber einen Wunschzettel.
Am nächsten Morgen war Micky in der Pause der Erste auf dem Schulhof und wartete auf Max, einen riesigen roten Apfel in den schweißnassen Fingern. Endlich kam der Kerl.
„Ich wusste, dass du spurst, du Wurm.“ Er grapschte sich den Apfel und wog ihn grinsend in der Hand. „Der is’ ja voll groß. Klasse!“ Wieder rieb er den Apfel an seinem T-Shirt sauber. „Der wird besonders gut schmecken.“ Und er biss kräftig hinein.
Atemlos beobachtete Micky den kauenden Jungen. Max schlang den Bissen rasch hinunter und wollte gerade wieder abbeißen, als sich sein Gesicht plötzlich grün färbte. „Uääh!“ sagte er nur, ließ den Apfel fallen und schüttelte sich heftig. Dann verschwand er würgend in Richtung Toiletten, während Micky sich den Bauch vor Lachen hielt. Max hatte ein ziemlich großes Stück Apfel abgebissen, bevor er sehen konnte, was Micky sich gewünscht hatte: Einen ungewöhnlich dicken, langen Wurm, von dem jetzt nur noch eine Hälfte im Apfel steckte.
Texte: Cover: http://www.gratis-foto.eu
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2009
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