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Der alte Vertraute

Brrrrrrrrrrrrr! Mein scheußlicher Wecker ratterte los. So wie jeden Morgen um 7 Uhr. Und wie jeden Tag glitt ich aus meinem Bett. Komplett zerzaust und noch verschlafen wandelte ich ins Bad, um zu duschen. Um exakt sieben Uhr zwanzig war ich fertig im Bad und schlurfte die Treppen hinunter in die Küche. Ein Toast, ein Kaffee aus dem Automaten. Dann nahm ich meine Tasche – wie jeden Tag – und ging zur Bushaltestelle. Um sieben Uhr fünfundvierzig kam die Line 56. Heute jedoch sollte sich etwas verändern.

Als ich an der Bushaltestelle ankam, wartete dort schon der Junge mit dem blauen Schulrucksack. Er war dick und stand immer allein dort. Sein Blick ging immer nach Unten gerichtet auf die Straße. Als ob er nicht wollte, dass man ihn sieht. Fast immer im gleichen Moment wie der Junge kam sonst immer ein alter, freundlicher Mann mit Gehstock an die Haltestelle. Er war stets gut gekleidet und sehr gepflegt. Doch heute kam der alte Mann nicht.

Der alte Mann saß sonst jeden Tag neben mir im Bus. Ich blickte auf meine Uhr. Sieben Uhr und vierundvierzig. Unruhig blickte ich mich um, ob der alte Herr wohl noch kommen würde. Wir hatten uns jeden Tag über Kleinigkeiten unterhalten. Er hatte mir von seinen Enkeln erzählt, die in der Stadt wohnten und die er einmal die Woche besuchte. Er selbst fuhr jeden Tag mit diesem Bus, weil er jeden Tag einen langen und ausgiebigen Spaziergang zu machen pflegte. Er stieg immer eine Station vor meiner aus und ging dann langsam in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Sieben Uhr fünfundvierzig. Der alte Mann war nicht da. Ich blickte mich noch einmal um, aber er kam nicht. Der Bus fuhr heran und ich stieg ein, setzte mich und fuhr allein zur Arbeit. Vielleicht hatte er einen Schnupfen. Oder er war mit seinen Enkeln in Urlaub gefahren. Wer weiß. Doch so ganz konnte ich den alten Mann Tagsüber nicht vergessen.

Die kommenden drei Tage war er morgens auch nicht im Bus. Auch so hatte ich ihn nicht gesehen. Ich machte mir viele Gedanken über den Mann. Ich wusste nicht einmal wie er hieß. Oder wo er wohnte. Ich wusste, dass seine Frau Magret vor drei Jahren an Krebs gestorben war. Sie war sein ein und Alles gewesen und er hatte viele schöne Jahre mit Ihr erlebt. Er hatte Ihre Hand gehalten, als sie ihren letzten Atemzug im Hospital machte. Sie hatten sich im Krieg kennen gelernt. Er war in Russland fast gestorben und hatte eine Granate abbekommen. Seit dem war sein Bein verletzt. Er hatte nie viel vom Krieg erzählt. Aber ich konnte Tränen in seinen Augen erkennen, als er mir die Geschichte erzählte. Ich musste dann an meine Großeltern denken.

Seine Enkelkinder hießen Kai und Sandra. Seine Tochter Maria. Ich wusste so viel über ihn und doch so wenig. Was wäre, wenn er weggezogen war? Oder gar schlimmeres? Nach zwei Wochen entdeckte ich dann das, was ich eigentlich nie hätte entdecken wollen. Eine Todesanzeige in der Zeitung.

Franz Meyer – Du hast gekämpft aber doch verloren! Wir vermissen dich!
Deine Tochter Maria und Ehemann Sven mit deinen Enkelkindern Kai und Sandra.

Das musste er gewesen sein. Franz Meyer. Es stand keine Telefonnummer oder Adresse da. Gerne hätte ich den Angehörigen mein Beileid ausgesprochen. Gekämpft, ja as hatte er. Er musste wohl krank geworden sein. Es tat mir unendlich leid. Gerne hätte ich Herrn Meyer – meinem Busnachbarn – noch einmal auf wieder sehen gesagt. Und danke für die netten Gespräche und die spannenden Geschichten gesagt. Sein nettes Lächeln und einfach nur, weil er meinen grauen Alltag ein bisschen bunt gemacht hat.

Heute versuche ich nicht mehr blind durch die Welt zu gehen. Überall stehen Menschen. Heute Morgen habe ich den kleinen Jungen angesprochen. Er heißt Lars und er wird von seinen Mitschülern gemobbt. Deswegen nimmt er immer den allerletzten Bus der geht. Dann ist er alleine. Aber ab heute nicht mehr. Da bin ich sein Busnachbar und unterhalte mich mit ihm.

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Tag der Veröffentlichung: 29.07.2009

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