Prolog
Es war ein Wintertag wie aus dem Bilderbuch. Die ergiebigen Schneefälle der vergangenen Nacht hatten die weite Landschaft des Allgäus strahlend weiß eingefärbt. Und bei knackig kalten Temperaturen sollte uns diese zauberhafte Winterlandschaft wohl noch ein paar Tage erhalten bleiben. Dazu strahlte die Sonne von einem makellos blauen Himmel. Ein Tag, wie sich ihn nicht nur die Wintersportler wünschen. Die Menschen hier in der Region durften auf ein Weihnachtsfest vom Feinsten hoffen. Nur noch fünf Tage bis Heiligabend. Viele der Häuser und Vorgärten waren bereits festlich geschmückt.
Ich saß im Taxi, das mich von Wangen im Allgäu nach Lindau bringen sollte. Als der Fahrer in die Hauptstraße einbog, warf ich noch mal einen Blick auf das architektonisch anspruchslose Gebäude am Rande der Stadt, das so gar nicht in diese harmonische und sehr naturhafte Landschaft passte. Hier im Krankenhaus des Allgäu-Städtchens hatte ich die letzten beiden Wochen verbracht, davon mehrere Tage auf der Intensivstation. Vorausgegangen war ein knapp dreiwöchiger Aufenthalt in einer Fachklinik auf der anderen Seite von Wangen. Ich bin 1958 in Mainz geboren – und fast wäre ich 2009 in Wangen gestorben. Ohne Vorwarnung, ohne Vorerkrankung, also aus absoluter Gesundheit heraus, hatte ich ein Rendezvous mit dem Tod.
Den Kampf der zurückliegenden Wochen, den Kampf um mein Leben, hatte ich gewonnen. Zumindest dieses Mal. Ich fühlte mich noch schwach, hatte mich mühsam zum Taxi geschleppt, aber ich war froh, das Krankenhaus verlassen zu dürfen. Wie oft hatte ich diesen Moment herbeigesehnt. Der Taxifahrer brachte mich nach Lindau. Am Tag darauf sollte es zurück gehen in meine Heimatstadt Mainz, etwa 450 Kilometer vom Bodensee entfernt. Insgesamt sieben Wochen war ich nicht mehr in meiner Wohnung. Ein Bekannter hatte meine Post entgegengenommen – inzwischen füllte sie einen ganzen Weinkarton. Darunter zahlreiche Rechnungen von einem Labor, das in den zurückliegenden Wochen immer wieder versucht hatte, den Erreger zu finden, der mich fast umgebracht hätte. Gefunden hat man nichts. So werden die Ursachen meiner Erkrankung wohl für immer rätselhaft bleiben – und genau dies macht sie so unberechenbar.
Mittlerweile sind viele Monate vergangen. Gesundheitlich geht es mir relativ gut, ich bin wieder in vollem Umfang berufstätig und konnte bereits zahlreiche Pläne verwirklichen, die krankheitsbedingt auf der Strecke blieben. Doch die Tage zwischen Leben und Tod, der unheimliche Herbst im Allgäu – es waren Schlüsselerlebnisse für mich, die sich tief einprägten und mein Leben veränderten. Vor allem aber: In der kritischen Phase meiner Krankheit hatte ich mehrfach Nahtod-Erfahrungen. Es waren sehr seltsame Wahrnehmungen, aber sie flößten mir keine Furcht ein. Im Gegenteil, ich empfand sie eher als entspannend. Als würde ich nach einem langen und harten Arbeitstag endlich zur Ruhe kommen und ganz sanft einschlafen.
Mit esoterischen Themen habe ich mich nie beschäftigt, vieles erschien mir reichlich suspekt. Und auch die vielen Nahtod-Erfahrungen, über die immer mal wieder in den Medien berichtet wird, hinterließen bei mir einen zwiespältigen Eindruck. Als Finanzjournalist und Sachbuchautor sind mir ein gesundes Misstrauen und ein an nachvollziehbaren Fakten orientiertes Denken zueigen. Für Übersinnliches oder Paranormales war da lange Zeit kein Platz. Doch meine mehrwöchige Gratwanderung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits haben auch meine Einstellung zu diesem Thema verändert. Ich berichte seit Jahrzehnten über Geld, Banken und Börsen, über Immobilien, Währungen und Steuern. Dies ist das erste Mal, dass ich über ein Thema schreibe, das ich noch vor einigen Monaten belächelt hätte. Und ich muss gestehen, dass ich lange zögerte, bevor ich den Entschluss fasste, meine Erfahrungen und Erinnerungen an jenen Allgäuer Herbst 2009 in dieser Form zu veröffentlichen. Es sind sehr subjektive Eindrücke, wissenschaftlich nicht fundiert, und deshalb habe ich mit den Ärzten darüber nie gesprochen. Die Mediziner bestätigten mir, dass es gleich zweimal sehr ernst um nicht gestanden habe. Und meinen Angehörigen war bedeutet worden, sie müssten „mit allem rechnen“, wie das so einfühlsam heißt. Ich habe diesen Bericht trotzdem veröffentlicht, weil er Mut machen und Ängste nehmen soll. Und weil er vielleicht sogar bei dem einen oder anderen Leser dazu führen mag, über das Leben und dessen wahre Prioritäten nachzudenken. Vielem, was mich früher aufregte, gar wütend machte, begegne ich heute mit einer großen Portion Gelassenheit. „Das ist nicht von Dauer“, unkte ein Kollege, den ich gleich nach meiner Rekonvaleszenz traf und ihm über meine Krankheit berichtete. „Ein paar Wochen Arbeit – und schon bist Du wieder im ganz normalen Alltagsstress und setzt die gewohnten Prioritäten“. Er irrte. So wie bei diesem Thema jeder irren muss, der nicht schon selbst einmal dem Tod in die Augen schaute.
Die Krankheit bricht aus
Die letzten Tage im Oktober 2009 waren so wie eigentlich immer in dieser Jahreszeit: viele Termine, viel Stress, häufige Reisen. In der Woche, bevor ich erkrankte, war ich gleich zweimal nach Hamburg gefahren, hatte dort Veranstaltungen besucht und darüber berichtet. Einmal musste ich sogar eine Nachtschicht einlegen. Allerdings empfand ich diesen Stress niemals als belastend oder gar gesundheitsschädigend. Im Gegenteil, ich bin mit meinem Beruf sehr zufrieden und kann mir keinen schöneren vorstellen, auch wenn dies vielleicht ein wenig pathetisch klingen mag.
Dennoch war ich froh, Ende Oktober ein paar Tage ausspannen zu können. Ich besuchte meine Mutter am Bodensee. Von dort aus fuhr ich am Sonntag nach München, um an einer Messe teilzunehmen. Es war der Feiertag Allerheiligen, als ich in die bayerische Metropole aufbrach. Föhneinfluss sorgte für einen herrlichen und außergewöhnlich milden Herbsttag. Ich fühlte mich schwach, rechnete mit einem grippalen Infekt. Während eines Termins auf der Messe wurde mir plötzlich schwindelig und kalter Schweiß trat auf meine Stirn. Ich führte dies zunächst auf die ungewöhnlich milden Temperaturen und die stickige Luft in der Hotelhalle zurück. Ich ging nach draußen, lief ein paar hundert Meter durch die Münchner City. Doch das Krankheitsgefühl wurde immer stärker. Mir war, als würde nun auch meine Körpertemperatur steigen. Ich kehrte in die Hotelhalle zurück, absolvierte noch meinen letzten Termin und fuhr mit dem Zug nach Lindau. Ich beschloss, einen Tag länger am Bodensee zu bleiben, um mich etwas auszuruhen. Kurz hinter Kempten begann mein Körper zu vibrieren. Ich fror, obwohl das Zugabteil gut geheizt und die Außentemperatur – wie gesagt – recht mild war für einen 1. November. Dieser Schüttelfrost signalisierte mir, dass ich mir wohl doch etwas Ernsteres eingefangen hatte als einen harmlosen Schnupfen. Sollte es am Ende gar die Schweinegrippe sein, die in diesen Wochen Schlagzeilen machte? Eine ziemlich unangenehme Vorstellung. Allerdings: Es kam viel schlimmer. Ein bis heute unbekannter Erreger hatte sich in meinem Organismus breitgemacht und bedrohte mein Leben.
Doch wer denkt in dieser Situation an solche Konsequenzen? In Lindau eingetroffen, schluckte ich fiebersenkende Medikamente, verbrachte eine ruhige Nacht und begann am Montagmorgen damit, die mitgebrachten Manuskripte zu bearbeiten. Richtig gut fühlte ich mich zwar nicht, aber immerhin besser als am Tag zuvor in München. Gegen Abend besorgte ich mir mein Zugticket für die Rückfahrt nach Mainz, dann traf ich mich – wie immer am Vortag meiner Abreise – mit meiner Mutter in unserem Stamm-Restaurant unweit der österreichischen Grenze. Business as usual eben.
So halbwegs gut der Tag verlaufen war, so schlimm sollte die Nacht werden. Gegen 3 Uhr hatte ich massive Atembeschwerden, verbunden mit erneut hohem Fieber. Ich fühlte mich wie ein Ertrinkender, der nach Luft rang. Und dann dieser elende Husten. Gegen 5 Uhr traf die Notärztin ein, gab mir fiebersenkende Medikamente, konnte nach einer ersten Untersuchung jedoch nichts Ernsthaftes feststellen. Auch sie tippte zunächst auf einen fieberhaften Infekt.
Ich blieb noch zwei Tage in Lindau, doch mein Allgemeinbefinden besserte sich leider überhaupt nicht. Im Gegenteil. Sobald die Wirkung der Medikamente nachließ, schoss das Fieber wieder in die Höhe. Der Husten und die Atembeschwerden wurden immer heftiger. Am Donnerstagabend suchte ich einen Internisten auf, der mich umgehend mit dem Verdacht auf Lungenentzündung ins örtliche Krankenhaus einwies. Dort verbrachte ich vier Tage – bei sich ständig verschlechterndem Gesundheitszustand. Zwar hatte sich der Verdacht auf Schweinegrippe nicht bestätigt, doch die neue Diagnose klang keineswegs besser: Ich litt an einer doppelseitigen Lungenentzündung, die auf die konventionellen Behandlungsmethoden nicht ansprach. Vermutlich habe man es mit Viren zu tun, wurde mir gesagt. Dann, am vierten Tag, erschien der Chefarzt an meinem Bett, seltsam ratlos wirkend: „Wir machen uns Sorgen um Sie“, teilte er mir mit. Genau das ist es, was ein Patient in dieser Situation hören möchte... Später erfuhr ich, dass zu diesem Zeitpunkt meine Angehörigen bereits informiert worden waren, meine Erkrankung sei ernst, selbst das Schlimmste sei nicht auszuschließen. Gleichzeitig teilten mir die Ärzte mit, sie könnten nichts mehr für mich tun, deshalb werde man mich in eine Fachklinik ins 30 Kilometer entfernte Wangen überstellen.
In Wangen im Koma
Mit Blaulicht und in Begleitung einer Notärztin wurde ich in das Allgäu-Städtchen transportiert. Entlang herbstlich goldener Landschaften, die ich durch die schmalen Fenster des Rettungswagens vorbeihuschen sah. Allmählich wurde mir klar: Meine Erkrankung war nicht nur ernster als bislang gedacht – sie war lebensgefährlich. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis blieb ich bemerkenswert ruhig, fast schon lethargisch. Ich ließ alles über mich ergehen. Von Aufregung oder Panik keine Spur.
Die ersten Tage in der Fachklinik kann ich nur noch bruchstückhaft rekonstruieren. Meine Erinnerung gleicht einem Film, aus dem man mehrere Sequenzen herausgeschnitten hat. Ich erinnere mich, dass ich zunächst über eine Maske mit Sauerstoff versorgt wurde, später trug ich einen überdimensionalen blauen Helm, der in Mundhöhe eine kleine Öffnung aufwies, durch die ich über einen Trinkhalm mit Wasser versorgt wurde. Irgendwann erschien dann das Ärzteteam an meinem Bett und eröffnete mir, dass man mich ins künstliche Koma legen und beatmen wolle. Ich stimmte zu, wohl weil ich mir der Alternativlosigkeit im Klaren war. „Bitte ziehen Sie Ihren Ring noch aus“, bat mich einer der Ärzte. Und als er sah, wie ich vergeblich versuchte, mir den zu eng gewordenen Ring vom Finger zu streifen, fügte er scherzend hinzu: „Aber vorsichtig, ein gebrochener Finger ist das Letzte, was wir jetzt brauchen können“.
Was danach geschah, weiß ich nur aus den Schilderungen der Ärzte und meiner Angehörigen. Sechs Tage lag ich im künstlichen Koma, wurde beatmet. Doch zunächst war keine Besserung in Sicht. Wieder hieß es von den behandelnden Ärzten, meine Angehörigen sollten sich auf das Schlimmste vorbereiten.
Ich habe von diesen dramatischen Tagen nichts mitbekommen. Präsent ist mir lediglich die Erinnerung an eine Art Traum. Ich spürte plötzlich eine große Erleichterung. Da war es zum ersten Mal – dieses Gefühl der Schwerelosigkeit. Scheinbar schwebte ich in einem Raum. Mir war in diesem Moment klar: Du wirst sterben! Aber das schreckte mich nicht, ich hatte keine Schmerzen, fühlte mich nur unendlich müde. Wie ein Außenstehender sah ich mich im Bett liegen – mit einem zufriedenen Lächeln. Ich genoss es, scheinbar durch den Raum zu schweben. Dann näherte ich mich einem Tunnel. Doch eigenartig, er war nicht dunkel und furchterregend, sondern blendete mich mit gleißendem Licht. Die Müdigkeit überwältigte mich.
Später wurde mir berichtet, während der ersten vier Tage meines künstlichen Komas habe akute Lebensgefahr bestanden, die Ärzte hätten meinen Angehörigen kaum noch Hoffnung machen können. Erst ab dem fünften Tag klang die Entzündung ab und mein Zustand stabilisierte sich. Von all dem bekam ich natürlich gar nichts mit. Irgendwann kehrte ich aus dem Koma zurück, öffnete die Augen und sah in Gesichter, die ich nicht kannte. Neugierig beugten sich die Ärzte über mich, murmelten etwas, das ich nicht verstand. Wo war ich? Ich hatte den Eindruck, in einem riesigen runden Saal zu liegen mit farbigen Wänden und einer knallroten Decke. Tatsächlich lag ich in einem kleinen Zimmer auf der Intensivstation. Ich schloss die Augen und hatte noch stärkere Farbeindrücke: tiefes Blau, leuchtendes Gelb, aggressives Rot. Mir war, als würden draußen Flugzeuge landen. Eine reine Halluzination, denn die Klinik ist von einer parkähnlichen Anlage umgeben. Es dauerte mehrere Stunden, bis ich mich wieder einigermaßen orientieren konnte. Schonend brachte man mir bei, was geschehen war und dass ich nur dank einer starken körpereigenen Abwehr und viel Glück überlebt habe.
Der zweite Schlag: Notoperation!
Ich erholte mich sehr schnell, konnte wieder klar denken und schmiedete bereits Pläne für die Zeit nach meiner Krankheit. Jetzt kam es darauf an, schnellstmöglich meine Kunden zu informieren, um nicht noch mehr Aufträge zu verlieren. Nach weiteren vier Tagen auf der Intensivstation war der erste Schritt in die Normalität geplant. Ich sollte montags in die Pflegestation verlegt werden und dort noch ein paar Tage zur Beobachtung bleiben. Ich war glücklich, ja fast schon euphorisch: Bald würde ich mein normales Leben fortsetzen können. Immer wieder verfolgten mich jedoch die Nahtod-Erfahrungen. War es wirklich ein Blick ins Jenseits? Oder hatten mir einfach nur die starken Medikamente einen makabren Streich gespielt? Immerhin war es kein quälender Alptraum gewesen, und ich hatte mich durchaus entspannt gefühlt. Nach meiner Erinnerung war ich bei klarem Verstand, konnte scheinbar rational denken, als ich glaubte, schwerelos durch das Zimmer zu schweben.
In der Nacht vor der geplanten Verlegung in die Pflegestation setzte dann wieder starkes Fieber ein. Unerklärlich, schließlich hatte ich mich in den Tagen zuvor relativ wohl gefühlt, und auch meine Lungen arbeiteten wieder leidlich. Eine eingehende Untersuchung am nächsten Morgen brachte dann einen niederschmetternden Befund: „Sie haben freie Luft im Bauch. Und die gehört da nicht hin“, eröffnete mir der Oberarzt. Im Grunde gebe es nur zwei Möglichkeiten – entweder ein Loch im Magen oder im Darm. In beiden Fällen drohe eine Bauchfellentzündung. „Und das ist durchaus eine lebensgefährliche Erkrankung. Wir raten Ihnen dringend, sich noch heute operieren zu lassen“.
Nun befand ich mich in einer Lungen-Fachklinik. Die geplante OP, für die immerhin die Bauchdecke geöffnet werden musste, konnte hier nicht vorgenommen werden. Kurzfristig wurde in Erwägung gezogen, mich per Hubschrauber in eine Mainzer Klinik fliegen und dort operieren zu lassen. Doch selbst mit einem Helikopter wäre ich wohl zwei Stunden unterwegs gewesen. Außerdem war eine Operation am selben Tag in Mainz nicht sichergestellt. Die Ärzte empfahlen mir dringend, die OP in einer benachbarten Klinik vornehmen zu lassen: „Ein Transport nach Mainz wäre mit einem hohen Risiko verbunden“. Wer kann bei einer derart klaren Aussage anders, als der Empfehlung zuzustimmen?
Die ersten Stunden auf der Intensivstation des für mich neuen Krankenhauses waren von Bangen und Hoffen geprägt. Untersuchungen ergaben zunächst keinen Hinweis auf eine ernsthaftere Erkrankung. Kein Loch im Magen, auch der Zwölffingerdarm war in Ordnung. Wieder zurück ins Krankenzimmer. Erneut wurde mein Bauch abgetastet. Ich spürte keinerlei Schmerzen. Wieder zapfte mir der Pfleger Blut ab, das gleich zur Untersuchung ins Labor gebracht wurde. Dann – es war schon gegen 17 Uhr – wurde ich noch einmal in die Röntgenabteilung gefahren. Der Befund deckte sich mit dem der Ärzte aus der Fachklinik. Mit großer Wahrscheinlichkeit sei der Dickdarm porös, teilte mir der Chirurg mit. Und er warnte mich schon einmal vor: Möglicherweise müsste ich vorübergehend mit einem künstlichen Ausgang leben. „Das wollen wir natürlich unbedingt verhindern, aber ich kann es nicht ausschließen“.
Die Notoperation begann um kurz nach 20 Uhr – und dauerte knapp vier Stunden. Ich erwachte am nächsten Morgen auf der Intensivstation. Rund 20 Zentimeter Dickdarm hatte mir das OP-Team entfernt. Aber immerhin: Kein künstlicher Ausgang! Ich war wieder tubiert, schließlich galt ich als Hochrisiko-Patient für eine abermalige Lungenentzündung. Und ob sich dann mein Glück noch einmal wiederholen würde, war mehr als ungewiss.
Immer wieder wurde ich in den folgenden Tagen von heftigen Fieberschüben erfasst. Ich erinnere mich sehr genau an eine Nacht, in der ich wiederum sonderbare Wahrnehmungen hatte. Der Abend war vergleichsweise gut verlaufen. Ich las in der Lokalzeitung. Morgen würden die ersten Weihnachtsmärkte eröffnen, erfuhr ich dort. Ach ja, nächsten Sonntag war der erste Advent. Fast vier Wochen hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt in drei Krankenhäusern verbracht. Im Laufe des Abends stieg das Fieber wieder: 38 Grad, 39 Grad, 40 Grad. Ich bekam fiebersenkende Medikamente und schlief irgendwann ein. Mitten in der Nacht wachte ich schweißgebadet auf, wollte nach einem Glas Wasser greifen, das auf dem Tischchen neben mir stand. Mein Gott, was war das? Ich sah einen geschlossenen Sarg neben meinem Bett. Menschen klagten und weinten laut. War einer der Patienten gestorben? Oder sollte ich es sein, der bald in diesem Sarg liegen würde? Ich bildete mir ein, aufzustehen und den Sarg zu berühren. Es war eine Einbildung, denn ohne fremde Hilfe war ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht in der Lage, mich aufzurichten, geschweige denn, das Bett zu verlassen. Vor meinem Bett glaubte ich einen Handwerker im „Blaumann“ zu sehen, der irgendwo Maß nahm. Dann schlief ich wieder ein
Aufgrund des hohen Fiebers folgte am Morgen die nächste Untersuchung. Nun rebellierten auch die Galle und die Milz. Mein ganzer Organismus war gleichsam in Aufruhr. Und die Ärzte erschienen mir beunruhigend ratlos: „Sie geben uns Rätsel auf“, lautete die wenig motivierende Aussage einer jungen Ärztin. Möglicherweise sei nun der Dünndarm betroffen, und eventuell müsse man dann noch einmal operieren. Ein neuer Tiefschlag. Dabei hatte ich fest darauf vertraut, zumindest an Weihnachten wieder zu Hause zu sein.
In den folgenden 48 Stunden besserte sich mein Zustand allmählich, das Fieber ging zurück, und ich konnte am Abend des ersten Adventssonntags zum ersten Mal wieder feste Nahrung – wenngleich auch in sehr geringem Umfang – zu mir nehmen. Dann, am darauffolgenden Dienstag, die erlösende Nachricht: Ich könne nun die Intensivstation verlassen, müsse aber zur Sicherheit noch mindestens eine Woche auf der Pflegestation bleiben. Endlich, ein Lichtblick. Und das war durchaus wörtlich zu nehmen, immerhin hatte ich zehn Tage in einem fensterlosen Raum auf der Intensivstation gelegen.
Jetzt ging es deutlich aufwärts. Ich konnte wieder langsam laufen, dann sogar Treppen steigen. Freunde aus Mainz besuchten mich. Wir trafen uns im Café des Krankenhauses. Ich hatte den Eindruck, mein Anblick schockte sie zunächst. Kein Wunder, schließlich hatte ich 13 Kilo abgenommen und als Folge der starken Medikamentenzufuhr reichlich Haare verloren. Aber zum ersten Mal war ich sicher: Das Schlimmste war überstanden. Dann die frohe Botschaft des Chefarztes: „Wir können Sie übermorgen entlassen“.
Nun saß ich also im Taxi von Wangen nach Lindau. Wer auch immer dafür verantwortlich ist oder war – man hatte mir ein zweites Leben geschenkt.
Nachwort
Mittlerweile sind viele Monate vergangen. Ich arbeite fast wieder wie früher, habe vier Kilo zugelegt, und sogar die Haare sind nachgewachsen. Doch meine Erlebnisse und Erfahrungen in Wangen haben sich tief eingeprägt. Ebenso wie die Warnung eines Arztes kurz vor der Entlassung: „Sie werden bestimmt bald wieder ein ganz normales Leben führen können. Doch seien Sie auf der Hut. Sie sind aus völliger Gesundheit heraus innerhalb von vier Wochen zweimal lebensgefährlich erkrankt. Und wir wissen noch nicht einmal, warum“.
Ich werde es nicht vergessen!
Kontakt zum Autor: embeli@gmx.de
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2010
Alle Rechte vorbehalten