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Der Kaktus




In der Küche


Susan stand am Fenster. In der rechten Hand hielt sie eine Schere umklammert, deren Klinge beängstigend im Licht reflektierte. Vor ihr auf dem Fensterbrett stand der kleine Kaktus. Seit ihrem vierten Lebensjahr widmete Susan ihm ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte ihn als Ableger von ihrer Oma bekommen und bisher hat er ihr gesamtes Leben begleitet.
Heute, gut zwanzig Jahre später, zeigte er sogar die Spuren ihres Lebens an. Ein misslungenes Leben, gezeichnet von Trauer, Angst und Leid. Und dieser Kaktus zeigte die unsichtbaren Spuren auf Susans Seele: Die Pflanze hatte Risse, vertrocknete Bruchstellen oder faule Stellen – wie Susans Seele.
Ihr Blick fuhr vom Kaktus auf die Schere in der Hand.
„Scharf!“, dachte Susan, „Eine scharfe Schere!“
Anschließend sank die junge Frau auf die Knie, stütze sich mit den Ellenbogen am Fensterbrett ab. Leise summend betrachtete Susan den ersten Riss an ihrem Kaktus.
„Der erste Riss von vielen!“, murmelte sie, „Wie bei mir!“
In ihrem Blick lag etwas Irres, etwas, das man nicht deuten konnte. Es sagte etwas, aber was?
Ohne es zu bemerken, versank Susan in einer langgehegten Erinnerung, von der sie nie jemandem berichtet hatte...


Der Tod


Am liebsten spielte die kleine Susan mit ihrer Mutter im Garten. Ohne sie konnte sich Susan kein Leben vorstellen. Warum sollte sie das überhaupt? Ihre Mutter war immer für sie da.
„Du lässt mich nicht allein, Mami?“, fragte Susan jedes Mal den Tränen nahe, wenn ihre Mutter wegfuhr.
„Aber natürlich nicht, meine Kleine!“, bekam Susan dann zu hören und ihre Mutter nahm das Mädchen in den Arm.
Heute noch erinnert sich Susan an den leichten Geruch nach Lavendel, wenn ihre Mutter sie umarmte oder mit ihr abends im Bett noch kuschelte. Denn in der Dusche stand ein kleines Fläschchen mit Lavendelöl, das ihre Mutter einst von einer Reise mitgebracht hatte und es jeden Tag beim Duschen benutzte.
Ja, sie hatte die beste Mami auf der Welt! Sie versorgte die Familie mit all ihrer Liebe. Vater war stolz auf seine Frau. Die beiden liebten sich und Susan.
Manchmal träumte Susan davon, später einmal wie ihre Mami zu werden. Sicherlich würde sie ihr Kind ebenfalls so lieben! Aber, würde sie das heute wirklich noch wollen? Ihre Mutter hatte sie verlassen, als sie fünf war! Auch jetzt, mit fünfundzwanzig, glaubte Susan noch daran!
Eines Tages, es war mitten im Winter, fuhr ihre Mutter wieder einmal allein in die etwas entferntere Stadt, um einzukaufen. In der Nacht zuvor hatte es ununterbrochen geschneit und die Straßen lagen voller Schnee. Es würde eine Rutschpartie werden, hatte ihre Mutter vor dem Aufbrechen gesagt, als Susan sie zum Auto begleitete und sich von ihr verabschieden wollte. Bevor ihre Mami ins Auto stieg, fragte Susan voller Vorfreude: „Mami! Wenn du wiederkommst, dann fährst du mit mir Schlitten, ja?“
„Sicher, mein Schatz!“, hatte ihre Mutter ihr gesagt und war verschwunden.
Den gesamten Vormittag wartete Susan ungeduldig auf ihre Rückkehr. Allein auf sich gestellt, weil ihr Vater auf der Arbeit war, saß Susan am Fenster. Bei jedem Auto, das in ihre Straße bog, blickte sie erfreut auf, um jedes Mal festzustellen, dass es jemand fremdes war.
Wo blieb ihre Mutter nur? Sie wollte doch nur schnell einkaufen fahren. Das kleine Mädchen wunderte sich...
Inzwischen hatte Susan keine Lust mehr, am Fenster zu sitzen und beschäftigte sich mit ihrer Puppe, als sie einen Schlüssel in der Haustür hörte. Mit einem lauten Freudenschrei rannte Susan die Treppe hinunter. Erschrocken blieb sie am Treppenfuß stehen und fragte: „Papi, was machst du denn hier?“
Es war gerade mal kurz nach zwölf Uhr Mittag, das wusste Susan genauso, wie sie wusste, dass ihr Vater niemals vor vier Uhr nachmittags nach Hause kam.
Ohne ein Wort nahm er sie in den Arm und Susan wehrte sich etwas.
„Wo ist Mami?“, wollte sie wissen, „Sie wollte nur einkaufen!“
„Mami kommt nicht mehr!“, hörte sie ihren Vater sagen.
Darüber musste Susan herzhaft lachen. Weshalb sollte sie nicht zurückkommen. So oft ihr Vater es auch sagte, desto mehr musste Susan lachen. Für sie erschien das alles wie ein großer Witz...
Doch ihre Mutter kehrte nie zurück. Man erzählte ihr, sie sei bei den Engeln im Himmel. Jahrelang überlegte Susan, warum ihre Mami bei ihnen war. Sie sah nicht ein, dass ihre Mutter einen tödlichen Autounfall hatte...
Langsam kehrte Susan in die Wirklichkeit zurück. Sie hatte den Tod ihrer Mutter nicht verkraftet, das wusste sie heute. Aber es sollte nur der Anfang sein. Ihre Augen klebten regelrecht auf einer abgebrochenen und vertrockneten Stelle ihres Kaktusses. Die zweite Stelle...


Der Alkohol


Überall blaue Flecken. Verheilte und frische Wunden auf ihrem Körper. Und bei jedem Wort die Angst, etwas falsches zu sagen.
Fünf Jahre nach dem „Verschwinden“ ihrer Mutter versuchte ihr Vater den Kummer zu ertränken. Schon beim Frühstück leerte er die ersten Gläser, mittags nahm er höchsten eine Flasche Korn zu sich und abends beim Fernsehen steigerte er sich mit einer Flasche Wein und mehreren Dosen Bier. Manchmal auch Schnaps aus Bechern...
Als Susan mit sechszehn Jahren aufs Gymnasium wechselte, ging sie nebenbei auch noch arbeiten, weil ihr Vater den Job verloren hatte. Er selber sah nicht ein, dass er ein Alkoholiker war. Während andere es für besser hielten, dass Susan auszog, war sie diejenige, die die Familie versorgte.
Wie oft wurde sie nach dem Essen geschlagen, da es ihm angeblich nicht geschmeckt hatte. Wie oft brüllte er sie an, wenn kein Alkohol mehr im Haus war. Wie oft steckte Susan all den Frust ihres Vaters ein?Obwohl es aussichtslos war, blieb Susan. Sie wollte all den Schmerz in ihrer Seele nicht spüren und betäubte ihn mit arbeiten...
Richtige Freunde hatte Susan nicht. Entweder wollten ihre Mitschüler von Anfang an nichts mit ihr zu tun haben, oder sie verschwanden, wenn sie merkten, was für ein Typ ihr Vater war.
Wie gesagt, Susan hielt es bei ihm zu Hause aus. Trotzdem kam es selten vor, dass sie sich den Tod wünschte. Dann schloss sie sich im Badezimmer ein, auf dem Waschbecken eine Rasierklinge ihres Vaters und daneben eine Packung Schlaftabletten. Eines von beiden würde den Schlussstrich setzen. Aber Susan brachte es nie übers Herz...
Bis irgendwann ihr Vater nachts aus der Kneipe kam. Er war voll bis oben hin, das hörte Susan bereits, als er das Haus betrat. An seinen Schritten merkte sie, dass er wütend war. Nach einem Blick auf ihren Wecker neben dem Bett wunderte sie sich über das frühe Erscheinen von ihm. Meistens kehrte er erst um drei Uhr nachts zurück, aber doch nicht bereits um zwölf! Während die junge Frau nachdachte, riss ihr Vater von draußen ihre Zimmertür auf und brüllte: „Komm her, du Miststück!“
„Papa, was ist los?“, fragte Susan und setzte sich im Bett auf.
Sie war den Ton gewohnt und dachte sich nichts dabei, als ihr Vater plötzlich auf ihr Bett zustürzte. Susan wollte schreien, brachte nur kein Wort heraus. Überrascht und vor Schreck wie gelähmt spürte sie, wie ihr Vater ihr das Nachthemd hochschob, seine Hand zwischen ihre Beine schob und an ihrem Slip nestelte. Erst jetzt kapierte sie, was er wollte! Mit allerletzter Kraft stieß sie ihren Vater von sich, der inzwischen seine Hose bis an die Knie runtergezogen hatte und trat nach ihm aus. Stumme Tränen der Angst und Verzweiflung liefen ihr übers Gesicht. Sie roch die Alkoholfahne und starrte den Mann am Boden an. So einer sollte ihr Vater sein? Und sie hatte jahrelang zu ihm gehalten? Das war nun vorbei...
Geschockt und zitternd verschwand Susan für immer aus seinem Leben. Noch in der gleichen Nacht rief sie die Polizei und tauchte in einem Frauenhaus unter...
„Gelandet in der Gosse!“, flüsterte Susan und schnitt sich mit der Schere in den Finger.
Das Blut rann aus der kleinen Wunde auf das Fensterbrett. Susan verfolgte die Spur eine zeitlang und wandte sich wieder ihrem Kaktus zu. Und schon erkannte sie eine verfaulte Ecke an einem seiner Arme...


Die Enttäuschung


Gleich nach ihrem achtzehnten Geburtstag zog Susan in ihre erste eigene Wohnung. Zwei Jahre im Frauenhaus halfen ihr, wieder einen Sinn im Leben zu finden. Außerdem fand sie ihre erste große Liebe. Alex – ein Traum von Mann. Sie liebte alles an ihm. Er konnte zuhören, nahm sie in den Arm, wenn sie traurig war oder brachte sie nur mit einem Blick zum Lachen. Das Wichtigste an ihm war Susan, dass er es respektierte, dass Susan nicht mit ihm schlafen wollte. Sie hatte ihm von dem Erlebnis mit ihrem Vater erzählt.
„Lass nur etwas Zeit verstreichen!“, hatte sie ihn gebeten.
Und er sah es ohne Kompromisse ein.
Susan schaffte mit Anfang neunzehn ihr Abitur mit Bestleistung und begann ein Studium. An der Uni fand sie eine erste Freundin, mit der sie die Zeit verbrachte, wenn Alex arbeitete.
An einem Abend saßen die beiden aneinandergekuschelt auf dem Sofa in Susans kleinen Wohnung. Susan genoss den Moment, als Alex plötzlich aufsprang und sagte: „Schatz, ich muss leider los!“
„Warum?“
„Weil ich noch etwas erledigen muss!“, sagte Alex und verschwand.
Den restlichen Abend verbrachte Susan mit fernsehen. Um kurz nach halb elf klingelte ihr Telefon. Es war ihre Freundin, Jana. Aufgeregt wollte sie wissen, ob Alex bei ihr sei. Susan konnte es nur verneinen und erwähnte seinen plötzlichen Aufbruch.
„Susan, ich komm zu dir!“, sagte Jana und legte auf.
Nur wenige Minuten später schellte es an der Tür. Die beiden machten es sich auf dem Sofa gemütlich. Während sie ein paar Kekse aßen, erzählte Jana bedrückt von einer Geschichte, die sie erlebt hatte. Sie handelte von Alex.
„Als ich vor vier Wochen an dem Bordellviertel in der Stadt vorbeikam, kam gerade ein junger Mann aus einem dieser Freudenhäuser. Er bedankte sich bei der Frau, die ihn hinausbegleitete, für den schönen Abend und versprach, bald wiederzukommen. Ich dachte mir nichts dabei, als ich erkannte, wer dieser Mann war. Susan,“, Jana nahm Susans Hand und sah ihr in die Augen, „genau dieser Mann lief mir vorhin wieder über den Weg. Kurz bevor ich dich anrief, ging er wieder in diesen Laden hinein. Susan, es war Alex!“
Schlagartig stiegen Susan Tränen in die Augen. Das durfte nicht wahr sein! Jana musste sich einfach geirrt haben! Alex würde das niemals tun! Oder doch? Erschüttert rief Susan sich Dinge in Erinnerung, die ihr bis jetzt nicht merkwürdig erschienen waren. Ab und zu war Alex, wie heute, plötzlich arbeiten gegangen und kam ein paar Stunden später fröhlich nach Hause. Oder er ging mit ihr essen, bezahlte und hatte anschließend noch mehrere hundert Euro in der Tasche. Er begleitete Susan nach Hause, um die Nacht bei ihr zu verbringen. Aber direkt am nächsten Morgen befanden sich nur noch ein paar Münzen in seinem Portmonee. Es war Susan einmal aufgefallen, als sie morgens Kleingeld für den Bäcker brauchte und in Alex’ Geldbörse nach Münzen suchte, während er noch schlief. Aber damals wunderte sie sich für ein paar Sekunden und vergaß die Sache. Jetzt, nachdem Jana ihr das erzählt hatte, erkannte sie, dass Alex nachts heimlich aufgestanden sein musste, um –
Laut aufschluchzend warf sich Susan in Janas Arme...
Natürlich bestritt Alex alles, schwor Susan absolute Liebe, als sie ihn darauf ansprach. Doch so sehr sie in liebte, sie trennte sich von ihm. So einen Vertrauensbruch konnte die junge Frau nicht verkraften...
Ohne dass sie es gespürt hatte, hatte Susan sich ein zweites Mal mit der Schere geschnitten. Dieses Mal in den Handteller. Erschrocken starrte Susan auf den tiefen Schnitt und wischte das Blut an der Fensterbank ab. Gleichzeitig sah Susan eine neue verfaulte Stelle an der stacheligen Pflanze vor ihr...


Die Schläge


Es dauerte, bis sich Susan neu verliebte. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag zog ihr zweiter Freund Felix bei ihr ein. Sie liebte ihn fast so sehr wie Alex, zu dem jeglicher Kontakt abgebrochen war. Auch er respektierte Susans Enthaltsamkeit im Bett. Trotzdem bemerkte Susan schon wenige Wochen nach seinem Auszug eine schwere Schwäche an Felix: Er rastete manchmal ohne Vorwarnung aus. Ein verschüttetes Glas reichte schon aus, damit er vollkommen austickte.
Das erste Mal fiel Susan es auf, als sie gemeinsam eine DVD gucken wollten, Susan aber die Hülle nicht öffnen konnte. Ungeduldig riss Felix ihr die Hülle aus der Hand und schrie: „Du bist doch zu allem zu blöde!“
Zunächst dachte sie, er wäre nur ungeduldig. Aber vier Tage darauf schlug er sie zum ersten Mal. Wegen eines vergessenen Messers am Abendbrottisch. Er gab ihr eine schmerzvolle Ohrfeige.
Überrascht begann Susan zu weinen und verließ das Zimmer. Minutenlang saß sie im Badezimmer. Schließlich klopfte es an der Tür. Leise entschuldigte sich Felix bei ihr. Am ganzen Körper zitternd, ließ Susan ihn ins Bad und er nahm sie in den Arm.
Von da an tickte er fast regelmäßig aus. Allmählich unternahm Susan nichts mehr in ihrer Freizeit. Sie ging nur noch zur Uni, kam aber gleich nach Lesungsschluss nach Hause. Alles nur, weil Felix sie unter Druck setzte. Sie musste alles machen, was er tat. Sie musste dann ins Bett, wenn auch er ging. Sie musste das im Fernsehen anschauen, was er sah. Wollte sie etwas unternehmen, redete er kein Wort mehr mit ihr, beachtete sie kaum. Erst, wenn Susan ihre Unternehmung unterließ, versöhnte er sich mit ihr. Jeden Abend, sobald Felix im Bett schlief, stand Susan auf und weinte sich im Badezimmer aus.
Jana bemerkte während den ganzen Monaten natürlich Susans Veränderungen. Sie ahnte, dass es eben an Felix lag. Ein halbes Jahr nach dem Einzug und dem Beginn von Susans Wandlung besuchte Jana die beiden unangemeldet. Irgendwo gab es eine Möglichkeit, Susan zu helfen. Alleine würde sie noch in hundert Jahren mit Felix zusammenleben.
Wie immer erreichte Felix die Tür als erster. Inzwischen machte Susan sich keine Mühe mehr, an ihm vorbeizukommen. Er würde vorher zuschlagen. Freundlich begrüßte Jana ihn mit den Worten: „Hi, ist Susan da?“
„Nein!“, entgegnete Felix schroff und knallte Jana die Tür vor der Nase zu.
Aus dem Wohnzimmer hatte Susan gelauscht und war entsetzt darüber, dass Felix nicht wollte, dass Jana mit ihr sprach. Endlich verspürte sie den Drang, dem ganzen Dilemma ein Ende zu setzen und stürmte auf Felix zu, der noch an der Tür stand. Schluchzend hämmerte Susan mit ihren Fäusten gegen die starke Brust des Mannes. Sie kreischte: „Ich hasse dich! Ich hasse dich und will dich nie wieder sehen! Du machst mir mein Leben kaputt! Warum tust du das?“
Brutal stieß Felix sie von sich weg. Susan fiel gegen den Türrahmen und schlug mit dem Kopf gegen das Holz. Jammernd tastete sie nach ihrem Hinterkopf. An ihrer Hand fühlte sie Blut.
„Ich will dich nie wiedersehen!“, schrie sie Felix ein letztes Mal an, schlug mit der Faust in sein Gesicht, woraufhin er bewusstlos zusammensackte.
Susan riss die Wohnungstür auf und fiel der davor wartenden Jana in die Arme...
Auf dem Boden in der Küche liegend, kamen Susan die Erinnerungen wie ein schlechter Film vor. Das konnte nicht alles passiert sein. Damals hatte sie Felix fast umgebracht. Mit ihrem Schlag hatte sie ihm den Schädelknochen gebrochen. Zu ihrer Verwunderung zeigte er sie nicht an...
„Vielleicht wäre ich dann gar nicht hier!“, sagte Susan wie ihm Wahn und richtete sich auf, sodass sie den Kaktus erneut im Blick hatte.
Zwischen den alten verfaulten Stellen und den Rissen fiel ihr ein weiterer Makel auf...


Der Unfall


Dank Jana lernte Susan schon bald das Leben wieder zu lieben. Susan zog aus ihrer Wohnung in Janas und die beiden gründeten sozusagen eine WG. Im Studium kam Susan gut voran, doch ihr fehlte etwas: Einen Menschen, der sie liebte und den sie lieben konnte.
Ein Jahr nach dem Auszug aus ihrer Wohnung war es endlich soweit: Sie verliebte sich in einen Freund von Jana. Sein Name war Christian. Bei der ersten Begegnung verstanden sich die zwei gut und es dauerte nicht lange bis zum ersten Kuss. Aus reiner Vorsicht zog Susan aber nicht mit ihm zusammen. Die Erinnerungen an Alex und Felix hielten sie davon ab.
Aber mit ihm ging Susan weiter. Bei ihm konnte sie sich vollkommen fallen lassen, brauchte keine Angst zu haben, etwas falsch zu machen. Seine Einstellung: „Jeder macht mal Fehler – aber wen interessiert’s?“
Über jeden noch so großen Fehler, den Susan versehentlich begann, lachte er herzhaft darüber und nahm sie anschließend in den Arm.
Manchmal, meistens nachts, überlegte Susan, was für einen Fehler Christian haben könnte. Irgendwie verstand sie nicht, dass ein Mensch so perfekt sein konnte wie er.
An ihrem Jahrestag fuhr Christian mit Susan nach Italien in ein Hotel am Comer See. Für Susan war es der erste Urlaub in ihrem Leben. Vielleicht lag es daran, dass sie in der letzten Nacht zum ersten Mal ihr Erlebnis mit ihrem Vater vergaß und es geschehen ließ. Oder es lag doch an Christian, der sie niemals zu etwas gedrängt hatte. Zum aller ersten Mal verspürte Susan seit dem Tod ihrer Mutter Lebensfreude, Spaß am Dasein.
In dem kleinen Hotelzimmer schien nur noch dämmriges Licht. Susan schmiegte sich an Christian an, der schweigend neben ihr im Bett lag.
„Susan,“, flüsterte er ihr ins Ohr und strich über ihre Wange, „Wenn wir morgen zurückfahren, werde ich dich fragen, ob du mich heiraten willst!“
Zunächst verstand Susan nicht viel und nickte matt.
„Hast du verstanden? Ich will dich heiraten!“
Jetzt verstand Susan es richtig. Ihre Augen leuchteten, sie starrte Christian erfreut an und umarmte ihn fest. Nach einem Kuss hauchte sie: „Ich will dich auch heiraten!“
Am nächsten Morgen fuhren sie mit Christians Auto wieder Richtung Heimat. Weil Susan vor Aufregung die ganze Nacht wachlag, holte sie auf der Fahrt ihren Schlaf nach.
Als sie erwachte, hörte sie ein gleichmäßiges Piepen. Über ihr strahlten längliche Lampen von der Decke. Entsetzt schlug sie ihre Augen ganz auf. Mit wild klopfendem Herzen setzte sie sich im Bett auf und sah sich um. Um ihrem Bett herum standen Messinstrumente, einige piepten, andere gaben keinen Ton von sich. Rechts von der Tür war eine große Scheibe eingelassen, hinter der Menschen mit weißen Kitteln standen. Was war passiert?
Wie zur Antwort betrat ein junger Mann mit ebenfalls weißem Kittel das Zimmer. Er schenkte Susan einen beruhigenden Blick. Bevor er sich an ihr Bett stellte, kontrollierte er ein paar der Geräte.
„Was ist passiert?“, fragte Susan unablässig.
Seufzend nahm der Mann ihren Puls und erklärte dabei: „Sie hatten einen Unfall auf der Landstraße. Zum Glück haben Sie nur ein paar Prellungen abbekommen. Sie wurden bewusstlos eingeliefert und waren es bis gerade, daher liegen Sie auf der Intensivstation. Aber wir werden Sie noch heute auf die Normale verlegen!“
Das alles interessierte Susan wenig. Ihr war wichtiger, zu wissen, was mit Christian passiert war. Hatte auch er nur Prellungen? Ging es ihm gut?
„Wie geht es meinem Freund? Er saß mit im Auto!“, fragte Susan, als der Arzt eine Schwester rief, die sie verlegen sollte.
Ein Blick des Arztes genügte, damit sie verstand...
Einen Tag später holte Jana ihre Freundin aus der Klinik an der Deutsch-Österreichischen Grenze. Auf der Fahrt nach Hause machte Susan sich immense Vorwürfe. Wenn sie gefahren wäre, wäre das vielleicht niemals passiert! Womöglich würde Christian dann jetzt noch am Leben sein! Zu den Vorwürfen kam die große Trauer. Der erste Mensch, der sie wirklich geliebt hatte, wollte sie heiraten und starb einen Tag nach seinem Antrag. Es musste wahrscheinlich so kommen, dachte Susan, warum sollte ich einmal Glück im Leben haben?
Vier Wochen nach Christians Tod normalisierte sich Susans Leben in kleinen Schritten. Doch ihre Regel blieb aus – wegen dem Kummer und dem Stress...
„Ja, warum?“, knurrte Susan und stach die Spitze der Schere in den Kaktus.
Die weiße Milch tropfte aus der Wunde der Pflanze. Wie im Bann fing Susan das Weiße auf. Es klebte an ihrem Finger...


Das Ende


Jetzt waren alle Makel des Kaktusses aufgezählt.
Der erste der Tod ihrer Mutter, der zweite ihr Vater als Alkoholiker, der dritte für Alex, der vierte gehörte dem brutalen Felix und den fünften widmete sie ihrem geliebten Christian.
Bisher war ihr Leben die reinste Folter.
Susan betrachtete die frische Wunde an ihrem Pflänzchen. Krampfhaft überlegte sie, welches Erlebnis in ihrem Leben zu dem Riss passen könnte. Eigentlich war alles aufgezählt worden. Die kleinen Situationen zwischen den Traumata zählten zwar auch nicht zu den Schönsten, aber sie waren zumutbar.
Vielleicht war die Wunde auch nur eine Art Vorhersage. Sie deutete auf etwas hin, das Susan noch bevorstand.
In diesem Moment kam die Sonne hinter einer Wolke hervor und das Licht streifte die Schere in Susans Hand.
„Ja, das wird es wohl sein!“, überlegte sie laut, „Das muss es einfach sein!“


Der Anfang


Mit zitternden Fingern öffnete Susan die Schenkel der Schere. Ihr trat kalter Schweiß auf die Stirn, als sie die Klinge auf ihre Handgelenke legte, unter deren Haut der Puls jagte.
Nur ein kleiner Schnitt, überlegte Susan, ein kleiner Schnitt statt eines langen Decklebens!
So groß ihr Groll auf ihre Vergangenheit auch war, sie ritzte nur vorsichtig in ihre Haut hinein. Das erste Blut trat aus dem Ritz heraus und befleckte die Klinge. Ein letztes Mal in ihrem Leben warf Susan mit tränengeröteten Augen einen Blick auf ihren Kaktus.
„Ich bin gleich bei euch! Oma, Mama!“, sagte Susan und machte sich somit Mut für den letzten Schritt.
Aber was war das? Der Kaktus, der ansonsten voller Risse, verfaulten und abgebrochenen Stellen war, trieb an seinem Stamm einen neuen Arm aus. Überrascht davon nahm Susan die Klinge aus ihrem Fleisch und trat an die Fensterbank. Sie hinterließ Blutspuren auf den weißen Fliesen, doch es war ihr egal. Der neue Trieb nahm sie mehr in Anspruch. Warum war ihr das nicht eher aufgefallen? So einen schönen Trieb hatte Susan noch nie zuvor gesehen. Neben den vielen Rissen stach er regelrecht aus dem Kaktus heraus.
Wie schön es wäre, wenn es in meinem Leben auch so wäre, dachte Susan melancholisch, wenn etwas wunderbares geschehen würde!
Für einen Augenblick hielt Susan inne. Was, wenn es wirklich so sein könnte? Was, wenn ihr Leben bergauf und nicht zu Ende gehen sollte?
Plötzlich schrak die junge Frau auf. Es hatte an der Tür geklingelt. Obwohl sie am Handgelenk, an den Fingern und der Handfläche blutete, ging sie schwankend zur Tür.
Blass öffnete sie sie. Vor ihr stand die Tochter von Janas älteren Schwester. Sie trug eine Art großen Korb mit sich und guckte Susan verdutzt an.
„Was ist mit dir los, Susan?“, erkundigte sich das Mädchen besorgt, „Du bist so blass und blutest!“
Susan wehrte ab und meinte, sie wäre ausgerutscht und auf Scherben gelandet. Anschließend nahm sie dem Kind den Korb ab, sagte: „Bis nächste Woche zur gleichen Zeit!“ und schloss die Tür.
Im Flur warf Susan einen Blick in den großen Korb. Schlagartig fiel ihr ein, weshalb der Kaktus einen neuen Trieb hatte. Er wollte sie an das erinnern, was in dem großen Korb lag und ihr gehörte.
Und plötzlich schluchzte Susan laut auf, stellte die Schale auf den Boden und schmiss sich hemmungslos weinend daneben.
In ihrem Weinkrampf hörte Susan das Baby in dem Korb leise giggeln...

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Tag der Veröffentlichung: 11.10.2008

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