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1. Brief

Liebste Laura,

wie lange bist du nun fort? Ich habe keine Ahnung, wie viele Tage seit deinem Fortgehen verstrichen sind. Nur weiß ich, dass es zu viele sind. Es vergeht wirklich keine Sekunde, in der ich mich nicht nach dir sehne und einfach in deiner Nähe sein möchte. Immer wieder denke ich an dich. An all unsere Tage, die wir miteinander verbracht haben. Selbstverständlich auch an den Tag unserer ersten Begegnung. Erinnerst du dich?
Ich saß alleine in einer Bar, niemand sonst befand sich dort. Vor mir auf der Theke stand ein leeres Glas. Eines von vielen, die ich an diesem Abend schon geleert hatte. Den Grund dafür kenne ich noch zu gut: An diesem Tag wurde mir gekündigt. Hätte ich in dem Moment nur gewusst, dass ich durch diesen Schicksalsschlag jemanden kennen lerne, der mich so sehr verändern, mir die reinste Liebe meines Lebens schenken und mich alles andere unwichtig erscheinen lassen würde – ja, dann hätte ich gejubelt. Aber so weit ist es noch nicht. Ich saß immer noch an der leeren Bar, der Zeiger meiner Uhr überschritt gerade die elf, als ich einen sanften Luftzug spürte, der von der Tür kam. Mit müden Augen blickte ich kurz auf. In


dem trüben Licht der Stätte erkannte ich zunächst nur einen Umriss, der auf die Theke zu kam. Ich versenkte meinen Blick wieder in mein leeres Glas, überlegte, ob ich mir noch eines bestellen sollte, als du in mein Leben tratst. Der Barhocker neben mir wurde zurückgeschoben, was meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Und in der Sekunde, in der ich dich erblickte, geschah das wunderbarste in meinem bisherigen Leben: Ich verliebte mich so, wie niemals zuvor. Es war nicht nur deine Erscheinung – nein, es war deine Ausstrahlung. Du blicktest mich mit sanften blauen Augen an. Voller Unschuld, Freude und Wärme. Ich versank in ihnen, erkannte eine ganz andere Welt in ihnen. Eine Welt voller Glück, Seeligkeit und Geborgenheit. Durch deine Anwesenheit verlor ich die Beherrschung über meinen Körper. Ungeschickt wollte ich den Barkeeper darauf aufmerksam machen, dass ich noch etwas bestellen wollte und stieß dabei mein leeres Glas um. Klirrend fiel es vom Tresen auf den Boden, wobei der noch nasse Strohhalm auf deine Jeans fiel. Sofort breitete sich ein großer roter Fleck auf deinem rechten Bein aus. Meine Zunge gehorchte mir nicht und ich lallte mehr, als das ich mich bei dir entschuldigte. Es war mir so unendlich peinlich, du kannst es mir glauben, Liebste.
Du aber sahst mich nur an, nahmst eine Serviette und hast dir den Fleck selber etwas entfernt. Ich saß neben


dir auf meinem Stuhl und guckte zu. Hättest du nur in mein Inneres hineinblicken können, hättest du mein Herz schreien hören können. Schreie nach dir, Schreie nach Sehnsucht, Schreie nach Liebe...
Ich lallte wieder unverständliche Worte. Du sagtest: „Es ist nicht schlimm. Die Hose sollte so wieso in den Altkleidersack.“
Deine Stimme hallte in meinen Ohren. So sanft wie die eines Engels, der einem eine frohe Botschaft überbringt. Eine helle, weiche und reine Stimme.
Mein Gott, Laura, ich hasste mich in diesem Moment dafür, so viel getrunken zu haben. Ich konnte kein Wort heraus bringen. Saß nur regungslos auf meinem Stuhl und starrte dich an. Noch heute könnte ich mich dafür ohrfeigen. Seit dem, das weißt du, trinke ich nicht mehr. Obwohl ich sicher bin, eine solche Frau wie dich niemals wieder in einer Bar zu treffen. Solch eine Frau, die mein Leben bestimmt und erhellte. Erst durch dich erfuhr ich, wie es ist, wirklich zu leben und zu lieben.
Nach einiger Zeit des Schweigens sprachst du mich wieder an. Ich merkte es leider spät. Ich glaubte, als der größte Depp der ganzen Nation vor dem Engel Gottes zu sitzen. Du wolltest von mir wissen, welchen Drink ich dir empfehlen könnte. In meinem Gehirn spielten sich bedeutungslose Szenen ab, die ich gar nicht einzuordnen vermochte. Das einzige, was ich von mir gab, war ein gelalltes: „Den Trank der Liebenden!“


Ich wusste, mit diesem Satz verbaute ich mir die noch so kleinste Chance, dich in ein ernsthaftes Gespräch zu verwickeln, was von meinem Suff schon erschwert wurde. Aber du schienst ein solches Getränk zu kennen und bestelltest dir einen „Eckes Likör“. Ich sah dir dabei zu, wie du vorsichtig an deinem Gläschen nipptest, so als hättest du Angst dich an ihm zu verbrennen. Deine roten Lippen berührten den Glasrand nur sachte. Es war ein wundervolles Bild. Niemals werde ich es vergessen, wie du in der dunklen Bar neben mir saßt, deine blauen Augen strahlten und du nipptest an deinem Likör. Dieses Bild, Laura, habe ich sicher in meinem Herzen eingeschlossen. Nur du besitzt den Schlüssel für diesen Schatz. Und nur du kannst es wieder aus meinem tiefen Herzen befreien.
Die Zeit schritt weit fort, wir saßen immer noch schweigend nebeneinander in dieser Bar. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, da ich Angst hatte, etwas falsches zu sagen. Ich genoss einfach nur diese Geborgenheit, die du ausstrahltest, als du plötzlich bezahltest und aufstandst. In meinem Inneren zog sich alles zusammen. Am liebsten hätte ich dir nachgerufen, du solltest bleiben, aber ich blieb regungslos auf meinem Hocker sitzen und starrte in mein Glas, kämpfte mit den Tränen. Ich dachte „Jetzt ist sie weg!“, als plötzlich deine engelsgleiche Stimme ertönte: „Und bitte, trinken Sie nicht mehr so viel! Sie sind schon betrunken wie eine Kneipe!“


Ich drehte mich um, entdeckte dich direkt hinter meinem Stuhl. Du lächeltest mich an, ließt deine Augen für mich strahlen und gingst dann hinaus. Du, meine Liebe des Lebens, gingst hinaus in die Nacht.
Laura, ich vermisse dich so sehr. Dein Bild erscheint immer wieder vor meinen Augen. Warum nur bist du von mir gegangen? Ich verstehe es einfach nicht. Aber sei versichert: Ich liebe dich in Ewigkeit, egal wo du bist!

In tiefgründiger Liebe,
Sebastian


2. Brief

Liebste Laura,

wieder Tage ohne dich. Diese schweren Stunden fressen mich von innen her auf. Die Frage, warum du gegangen bist, dreht ihre Runden beharrlich in meinem Kopf. Überall sehe ich dich. Kein Ort, an dem du nicht allgegenwärtig bist. Es ist schrecklich. Und dann erinnere ich mich daran, wie wir uns zum zweiten Male trafen.
Ich war noch Tage später von dieser Frau, von dir Laura, fasziniert, die ich eines Abends in einer Bar


getroffen hatte. Obwohl wir nicht miteinander gesprochen und uns somit auch nicht richtig kennen gelernt hatten, wollte ich in deiner Nähe sein. Nachts träumte ich von dir. Keine großen Sachen, sonder nur davon, dass du neben mir in einer Bar saßt und einen „Eckes“ bestelltest. Immer wieder und wieder dieser Traum. Jeden Abend wenn ich im Bett lag, hoffte ich inständig, dich in meinen Träumen zu sehen. Niemals passierte etwas. Niemals sprachen wir dann miteinander. Nein, wir saßen nur nebeneinander. Wie damals in der Bar.
Und eines Morgens wachte ich auf. Ich erinnerte mich an den wundervollen Traum. Wusste ich an diesem Morgen, dass ich dich wiedersehen würde? Wissen ist vielleicht das falsche Wort – spüren, das ist richtig. Ich spürte genau, dass heute etwas besonderes geschehen sollte. Nicht einmal der Besuch auf dem Arbeitsamt, der heute anstand, machte mir etwas aus, obwohl ich dieses Amt niemals mochte. Immer solche Typen, die zwar hingingen, aber trotzdem gar keine Arbeit wollten. Solche Typen konnte ich noch nie leiden. Ohne die wäre die Wartezeit niemals so lang!
Ich betrat das Arbeitsamt mit relativ guter Laune, zog einen dieser Nummernzettel und suchte mir einen Platz weit außerhalb der wartenden Menschen. Gerade noch so, dass ich die Aufruftafel im Blick hatte.
Wie lange ich nun schon auf dem harten Plastikstuhl meine Zeit verbracht hatte, weiß ich nicht mehr, Laura,


aber dann spürte ich etwas. Eine ungeahnte Kraft lenkte meinen Blick von der Tafel direkt zur Tür hin. Noch verdeckte mir das spiegelnde Glas die Sicht hinter die Tür, aber dann wurde sie geöffnet. Von dir, meine Liebste Laura. Du erhelltest den dunklen, tristen Raum mit deiner unglaublich warmen Ausstrahlung. Deine Schritte schwebten über den grauen Linolboden hin zum Nummernzettelspender. Mit elfengleichen Bewegungen hast du dir einen Zettel abgerissen, blicktest mit genervtem Blick auf ihn, dann zur Aufruftafel. Anschließend, ich ließ dich keine Sekunde aus den Augen, schautest du dich um. Alle Wartenden, etwas weiter von mir entfernt, waren Männer. Männer, die abends ihre Frauen zum Bierholen in die Küche schickten und sich dann nicht einmal dafür bedankten, wenn sie es geöffnet in die Hand gedrückt bekamen. Und eben diese Männer gafften dich mit offenen Mündern an. Einige richteten sich gerade auf den Plastikstühlen auf und strichen sich über ihr fettiges Haar. In irgendeiner Weise erinnerten mich diese Typen an fortpflanzungsfreudige Hähne. Du aber würdigtest ihnen keinen Blickes. Ohne die Typen zu beachten, gingst du an ihnen vorbei und – kamst direkt auf mich zu. Mein Herz vollführte einen Salto. Meine Beine begannen zu zittern und ich konnte nicht mehr klar denken. Und in diesem Moment entdeckte ich die Leidenschaft zur Poesie, die tief verborgen in mir ruhte und sich nun in mein Bewusstsein drängte. Ohne nachzudenken, brachtest du mich dazu, ein Gedicht zu


verfassen, dass mich immer wieder an diesen Moment deines „Auf-mich-zu-kommens“ erinnern wird:

Träume

Immer wenn du bei mir bist,
Weiß ich, es ist alles gut.
Wenn ich dich sehe,
Vollführt mein Herz einen Salto,
Werden meine Beine schwach,
Beginne ich zu zittern.
Mein größter Wunsch ist es,
Dass wir einmal alleine sind,
Dass wir dann miteinander reden,
Dass du mich dann nur festhältst.
Vielleicht würde ich dir dann sagen,
Wie ich für dich empfinde.
Leider wird es aber nie kommen,
Dass wir alleine sind,
Und das macht mich traurig.
Drum werde ich weiter zittern,
Wird mein Herz Saltos schlagen,
Werden meine Beine schwach,
Ohne dass du weißt,
Dass es wegen dir passiert.
Und ich werde dich lieben,
Ohne meine Gefühle,
Die von dir erwidert werden.

Ich weiß, es mag ein wenig voreilig klingen, dass ich so stark für dich empfinde. Möglicherweise denkst du, ich fühle gar nichts für dich und spiele mich nun nur so auf. Immerhin kannten wir uns zu dem Zeitpunkt noch gar nicht. Aber Laura, ich wusste, ich empfinde etwas für dich. Lies dir das Gedicht doch nur durch. So wirst du erkennen, dass ich wirklich für dich fühlte. Und es noch immer tue und es immer werde...
Du kamst direkt auf mich zu. Mir fiel vor Aufregung das Atmen schwer und wünschte mir sogar, du würdest dich nicht neben mich setzen. Doch plötzlich fiel dein Blick auf mich. Sofort umspielte ein kleines Lächeln deinen Mund. Ich konnte nicht anders und lächelte trotz meiner Nervösheit.
„Na, diesmal können Sie ja kein Glas umkippen!“, sagtest du zu mir, als du dich auf den Stuhl neben mir setztest.
Ich erkannte diese Anspielung natürlich augenblicklich, immerhin hatte ich mir unsere erste Begegnung oft vor meinem inneren Auge abgespielt. Ich fasste erst meine Stimme, bevor ich antwortete: „Nein, allerhöchstens Blumenkästen.“
Ich deutete auf die hässlichen Blumenkästen in diesem Raum. Du meintest, das sei nicht schlimm, da die Dinger eh hässlich seien. Darauf musste ich herzlich lachen. Noch nie hatte ich eine Frau getroffen, die über Blumenkübel solche Argumente hervorbrachte, wie du.
„Diese Dinger nehmen doch nur Platz weg. Außerdem


stauben sie und die Blumen darin voll. Manchmal haben sie unten ein Loch, so dass das Wasser, das man oben hinein gießt, unten aus dem Loch wieder heraus kommt. Dann muss man das ganze Wasser wieder aufwischen. Hat man dann auch noch Teppich, gibt es eine große Sauerei!“
Denke ich jetzt daran zurück, schmunzele ich spontan. Aber dank des Blumenkastens vertieften wir uns so sehr in ein einigermaßen ernsthafteres Gespräch. Allerdings fragte ich mich, ob du dich noch an das Kneipenfiasko erinnern konntest. Hast du es getan? Das frage ich mich heute auch noch so wie damals.
Du saßt so dicht neben mir, dass deine nackten Knie gegen meine in der Jeans stießen. Du hattest diesen knielangen Schottenrock an, dazu ein dünnes schwarzes T-Shirt. Deine schulterlangen blonden Haare trugst du als Pferdeschwanz, der beim Lachen immer hin und her schlenkerte. Und wie immer stand ich vollkommen im Bann deiner Augen. Sie fesselten mich einfach. Dachte ich an meine grünen Augen, wurde mir wieder ganz anders. Sie hatten die Ähnlichkeit von einem Tümpel voller Entengrütze. Kein Schimmern, kein Leuchten, Nichts. Bei dir anders. Funkeln, Wärme, Leuchten, Geborgenheit, Liebe – alles, was man nur in zwei wunderschönen Augen erkennen kann.
Plötzlich, du sprachst gerade von einem ganz alten Blumenkübel deiner Großmutter, den du als kleines Mädchen einmal auf den Zeh bekommen hattest,


sprang die Zahl auf der Tafel um. Nur aus den Augenwinkeln hatte ich es mitbekommen. Mit einem großen Entsetzen stellte ich fest, dass es meine Nummer war. Ende unseres Gesprächs. Finito. The end.
So dachte ich zumindest. Mit schweren Bewegungen schaffte ich es, von meinem Platz aufzustehen, mein Magen und meine Seele rebellierten regelrecht dabei, als du plötzlich sagtest: „Es war nett mit Ihnen zu reden! Vielleicht einmal wieder?“
Dieser Satz brachte mich außer Fassung. Vor meinen Augen blitzte es, mein Herz setzte für ein paar Schläge aus und ich starrte dich ungläubig an. Hattest du es wirklich gesagt? Ich konnte es wirklich nicht glauben. Du, Frau meines Herzens, fragtest mich, ob es ein Wiedersehen geben werde. Und was, was machte ich? In meinem Taumel gab ich gluckernde Laute von mir. Kein einziger Laut entsprach dem, was er eigentlich sagen sollte. Ich kam mir vor wie der größte Depp, aber du lächeltest mich an. Mit einer solch weichen Stimme meintest du, ob ich immer solch eine Sprache spreche und ob ich gerade eben bei unserem Gespräch mein Fremdsprachengedächtnis genutzt habe. Mir war das ganze so peinlich, dass ich einfach nur nickte.
Laura, glaubst du etwa, ich stellte mich nur aus Albernheit so an? Glaubst du es? Nein, Laura, ich habe es nicht getan! Es lag einfach nur an dir. Mein


Herz begehrte dich (was es immer noch tut), wünschte sich die Wärme deiner Augen zu spüren. Alles andere setzte in dem Moment nur aus.
Mein Nicken brachte dich zum Lachen. Mich eher zu dem Wunsch im Boden versinken zu können. Einfach weg, einfach verschwinden, einfach das Geschehene ungeschehen machen. Blamiert, zum zweiten Mal. Nein, nein, nein! Ich dachte immer wieder nur „Nein“. Wie oft? Tausend Mal? Zehntausend? Eine Million Mal? Nur so oft, wie man es bei einer verpatzten Chance zu lieben nur „Nein“ sagen kann.
Ich stand da, vor dem Stuhl auf dem du saßt und zu mir empor blicktest. Deine Augen strahlten wieder so freundlich und voller Lebensfreude, dass ich meinen Aufruf vollkommen vergaß. Was brachte mir ein Job, den ich nicht wollte, wenn ich hier das einzig Wahre im Leben spüren konnte: Liebe.
Ein leises Knacken brach zu mir hindurch. Ich nahm es kaum wahr, hatte nur Augen für dich. Und du hast an mir vorbei gesehen, ein verdutztes und gleichzeitig schadenfrohes Gesicht gezogen und schmunzelnd gesagt: „Jetzt müssen Sie noch mal so lange warten, bis Sie wieder aufgerufen werden. Das war gerade Ihre Nummer!“
Egal, egal, egal, Laura! Egal! Ich hatte dich bei mir. Nicht so nah, wie ich es mir wünschte, aber ich hatte dich in meinem Herzen und vor meinen Augen. Das schönste Gefühl meines Lebens. Einen Menschen zu


kennen, der einem so viel bedeutete wie nichts anderes auf der Welt.
Ganz langsam fasste ich mich wieder, setzte mich zurück auf meinen Stuhl. Ich versuchte all meine Gefühle in meinen Blick zu legen und fragte fast flüsternd: „Ich möchte Sie wiedersehen!“
Deine erste Reaktion stach in meinem Herzen. Anstatt ebenfalls so gefühlvoll zu sagen, dass du es ebenfalls wolltest, brachst du in schallendes Gelächter aus. Die Typen in einiger Entfernung verdrehten sich die Hälse, um zu sehen wer dich zum Lachen brachte. Dein Lachen erfüllte zwar die Beerdigungsatmosphäre im Arbeitsamt, aber nagte an meiner Seele. Ich offenbarte meinen größten Wunsch seit unserer ersten Begegnung und du lachtest mich regelrecht aus. Es dauerte lange, fast zu lange für mich, bis du dich wieder im Griff hattest. Noch von einigem Glucksen geschüttelt fragtest du mich, fest mit den Augen am Platz haltend: „Ich fragte mich schon die ganze Zeit, während wir hier saßen, wann Sie das sagen würden!“
Ich verstand kein Wort. Du sprachst in Rätseln für mich, Laura. Einfach nur in Rätseln. Ich möchte von dir wissen, warum hast du dich das die ganze zeit gefragt! Sag es mir bitte, mich quält die Frage so sehr!
Mir fiel ein Stein vom angenagten Herzen. Du hattest mich nicht wegen der Frage ausgelacht, sondern nur durch die Verspätung. Ich hatte es noch nicht ganz verarbeitet, als du mir sagtest: „Bitte, mein Herr, ich möchte Sie auch gerne wieder treffen! Mit Ihnen zu


reden ist so befreiend. Es sei denn...“
Es sei denn was? Ich fragte dich nur mit einem Blick, der direkt in deine blauen Augen endete.
„Na ja, es sei denn, Sie sprechen wieder in Ihrer Muttersprache!“
Nun packte mich dein Humor und ich begann hemmungslos und laut zu lachen. Was nahmst du eigentlich ernst, Laura? Jeder Patzer von anderen war in deinen Augen nur ein Grund, einen Witz zu machen, ohne dass er den Geschädigten verletzte. Diese Eigenart liebe ich so sehr an dir, mein Stern.

Und Sterne spenden Licht in der Dunkelheit!
Sebastian


3. Brief

Liebste Laura, mein Stern am dunklen Horizont,

Sekunden, Minuten, Stunden, Tage wie Blei dahingeflossen. Zäh, schwer und grau. Ohne Licht am Horizont, keine Freude in meinem Herzen. Ohne dich, Laura! Ich sehe kaum einen Grund hier an diesem Ort zu verweilen, da ich weiß, du bist woanders. Liebe kann schmerzen wie ein Fall auf Millionen von spitzen Nadeln. Sie bohren sich in deinen Körper, hinterlassen


große Narben und erinnern dich an eine schlimme Erfahrung. So ist es bei mir. Du bist nicht da, ich bin allein mit einer unausgelebten Liebe. Keine Gefühle die erwidert werden können. Dabei sagte jemand: Unerwiderte Liebe ist die schönste Liebe. Derjenige muss niemals geliebt haben wie ich. Niemals einen Menschen so sehr begehrt, so verehrt haben wie ich es tue. Mir kommen Tränen, denke ich an unseren Unternehmungen.
Nach der Begegnung im Arbeitsamt hattest du mir auf dem Weg nach draußen vorgeschlagen, ob wir nicht zum Freizeitpark hier in der Nähe fahren könnten. Du wolltest mich auf dem Wege kennen lernen.
„Und ich kann einfach abhauen und mich allein amüsieren, wenn Sie mir nicht gefallen!“, so hattest du es weiter begründet, einen Abstecher dorthin zu machen.
Ich musste wieder lachen. Du tatst es oft. Nur ein Wort oder ein Blick reichte, um mich zum Lachen zu bringen. Keiner hatte es vor dir geschafft. Vor dir war ich ein mürrischer Kerl, der kaum lachte, nur die wirklichen Dinge in der Welt wahrnahm, für Komik und Humor kein Auge hatte. Und jetzt? Ich kann an keinem Straßenclown mehr vorbeigehen, muss stehen bleiben und ihn bei seinen Späßen beobachten. Dank dir, Laura. Nur dank dir, meine Liebste Laura.
Wir verabredeten uns für das folgende Wochenende. Ich wundere mich heute, wie ich die vier Tage bis dahin nur überstehen konnte. Die Zeit kroch nur so


hinweg, dass ich dachte, man habe eine Sekunde zur Stunde gemacht. In meiner Liebe spürte ich keinerlei Bewegung der Zeit. Nur eins: Begehren und Ungeduld.
Diese Ungeduld brachte mich sogar so weit, dass ich abermals zum Arbeitsamt ging. Ohne Erfolg. Den einzigen Beruf, den man mir hätte vermitteln können, war Kassierer im Supermarkt. Für einen Journalisten, der immer auf Tour ist und Abwechslung sucht, ein unmögliches Angebot. Ich schlug den Job ab, obwohl ich einen Job brauchte. Doch das war mir egal. Nur zwei Tage später solle ich dich wiedersehen, Laura. Nur das zählte. Die Tage bis dann überstehen, ohne verrückt zu werden. Ich räumte meine Wohnung sieben Mal am Tag auf, trank unendlich viel Tee, sah stundenlang fern, nur um die Zeit tot zu schlagen. An dem Abend vor unserem Treffen war ich so aufgewühlt, dass ich nicht schlafen konnte. Am nächsten Morgen wachte ich nach nur drei Stunden Schlaf auf. Und trotzdem fühlte ich mich wie nach einer ausreichenden Dosis Schlaf. Alles nur wegen dir, meine Laura.
Wir trafen uns am Eingang zum Park. Schon von weitem konnte ich dich sehen. Du standst vor dem Springbrunnen, dein Haar wehte in dem leichten Wind, der an diesem Tag herrschte. Die khakifarbene Hose mit den kleinen Taschen an den Seiten passte hervorragend zu dem beigen T-Shirt, das du trugst. Ich war einfach nur von deiner Einfachheit begeistert.


Andere Frauen hätten sich aufgedonnert, geschminkt bis zum Abwinken, ihre Reize spielen lassen. Und du standst da, ungeschminkt, normal gekleidet und froh, mich zu sehen.
„Da sind Sie ja! Ich habe schon Karten für uns besorgt!“, so hast du mich damals begrüßt.
In deiner Hand schlenkertest du zwei Eintrittskarten. Eine von ihnen hast du mir übergeben. Deine Hand berührte meine nur ganz kurz, aber durch meinen gesamten Körper fuhr eine gewaltige Welle von Freude und Wärme. Es durchflutete mich wie ein aufgestauter See ein Tal. Es fühlte sich so gut an. Weiche, zarte warme Haut. Deine weiche, zarte warme Haut. Auf meiner… Unsere erste Berührung. Ich wollte mehr. Hielt meine Gefühle allerdings zurück, da du zum Eingang vorgingst und mich nach gewunken hast. Ich lief schnell zu dir herüber, stellte mich ganz dicht hinter dich in die kurze Warteschlange vor dem Drehkreuz, das nur durch das Einschieben der Karte geöffnet wurde. Stell dir vor, Laura, ich besitze dieses Stück Papier heute immer noch. Nur eine kleine, benutzte und somit wertlose Eintrittskarte für einen Freizeitpark. Doch dieses, für viele Menschen wertlose, Papier ist für mich Erinnerung an einen wundervollen Tag, den wir zusammen verbrachten. Ich weiß noch genau, wie wir am Anfang des Parkgeländes in dieses Kaffeetassenkarussell gingen. Mir war gar nicht wohl bei dem Gedanken,


mich auf dem Boden und auch noch mit der Tasse zu drehen. Nur du hast mich dazu gebracht, in dieses Monstrum einzusteigen. Mein Herz flatterte ganz wild, als sich das Karussell in Bewegung setzte. Weil du neben mir saßt, Liebste. So dicht neben mir… Laura, ich gehe heute immer noch in das Karussell, wenn ich in dem Park bin, nur um mir vorzustellen, du sitzt neben mir, dein Knie an meinem. Niemals vergesse ich es, das verspreche ich dir!
Nach dieser wilden Fahrt zogst du mich zur Wildwasserbahn. Deine Hand in meiner – einfach nur ein Traum? Nein, du hast wirklich meine Hand genommen und mich mit dir gezogen. Willig ließ ich es geschehen. Am Einstieg der Boote sagtest du zu mir, ich sollte mich nach hinten setzten. Du würdest dann vor mir sitzen. Mit rasendem Atem setzte ich mich in en hinteren Teil des Bootes (ich verschwieg dir, dass ich Wildwasserbahnen hasste). Und was machtest du? Du setztest dich vor mich, rücktest ganz dicht an mich heran, saßt zwischen meinen Beinen und lehntest dich mit dem Rücken an meiner Brust an. Ich möchte dir nur sagen, dass ich zu dem Punkt nicht an das dachte, an das manche Männer in dem Moment gedacht hätten. Nein, ich fühlte in mir drinnen nur Seeligkeit, dich bei mir zu haben und den Duft deiner Haare einatmen zu können.
Während wir nach oben zum Rundkurs gezogen wurden, hast du mich gefragt, ob wir uns nicht duzen


wollten. Und diesmal tat ich es dir wie im Arbeitsamt gleich und sagte: „Ich fragte mich schon die ganze Zeit, wann du das sagen würdest!“
Du lachtest los, ich stimmte mit ein. Leicht schaukelnd bahnten wir uns den Weg durch den Kanal der Bahn. Immer wieder leicht an den Wänden des Kanals anstoßend, schipperten wir dahin. Und der Wasserfall kam näher. Ich weiß nun nicht, warum mein Herz so klopfte. Wegen dir oder wegen dem Wasserfall? Das einzige, was mir Mut machte, warst du, Laura! Ohne dich wäre ich niemals in die Wildwasserbahn mit 30 Meter Schussfahrt eingestiegen. Nur meine Liebe zu dir ließ es zu…
Auf dem Weg zum Wasserfall redeten wir viel. Nicht an alles kann ich mich jetzt noch erinnern, es würde dich wahrscheinlich gar nicht mehr interessieren.
Doch dann hörte ich ein lautes Rauschen. Das Rauschen der Schussfahrt. Ich hielt den Atem an. Du merktest es, drehtest dich zu mir um und sahst mich an.
„Was ist?“, hast du gefragt.
„Ich mag keine Schussfahrten in der Wildwasserbahn!“, war meine Antwort. Sie kam kleinlaut und genuschelt herüber. Ich fand es wahnsinnig peinlich als Mann Angst vor einer Wildwasserbahn zu haben. Doch du nahmst meine Hände, hieltst sie vor deinem Bauch zusammen und meintest: „Ich halte dich fest, dann passiert nichts. Vertrau mir!“


Vertrauen. Vertrauen. Vertrauen. Ich vertraute dir. Ich vertraute dir mehr als mir selbst. Nichts hätte mich davon abgebracht, dir nicht zu vertrauen. Laura, ich vertraue dir noch jetzt…
Deine Hände waren warm, wie vorhin. Sie umschlossen meine schweißnassen Finger sanft, gaben mir Mut. Ich glaubte, zu spüren, wie ein Teil deiner Mut in mich überging, denn der nahende Abfall flößte mir nicht mehr so viel Angst ein. Als er dann vor uns auftauchte, klopfte mein Herz zwar schnell, aber ich blieb ruhig. In den Sekunden, in denen das Boot kurz vor dem Abfall stehen blieb, blieb auch für mich die Zeit stehen. Deine Finger verankerten sich in meinen, ich fuhr vorsichtig mit meinen über deine, die es auch leicht erwiderten. Diese Berührungen waren so gut, so vorsichtig und doch gingen wir weiter als ich dachte.
Leise knarrend rutschte das Boot nun weiter nach vorne, verlor die Haftung und jagte in einem wahnsinnigen Tempo die Schussfahrt hinunter, dass mir mein Herz nun doch stehen blieb. Obwohl wir zwei schon erwachsene Menschen waren, schrien wir so laut, dass man es im gesamten Park hätte hören können. Dieses Schreien war so befreiend, alle Anspannungen in mir lösten sich und mich durchströmte ein Glücksgefühl, das ich noch nie gespürt hatte. Dank dir, mein Engel!
Platschend kamen wir unten an. Unser Boot schaukelte mächtig hin und her, Wasser spritzte auf,


traf uns im Gesicht. Wir lachten nun nach den Schreien, freuten uns auf eine weitere Tour. Ich hatte endlich die Angst vor der Wildwasserbahn verloren!
Auch der Rest des Tages war einfach nur wundervoll. Kannst du dich noch erinnern? Ich hoffe es inständig.

Du bist mein Leben, Laura.
Sebastian


4. Brief

Liebste Laura,

geht es dir gut, dort wo du bist? Behandelt man dich anständig? Hast du Freunde? Bitte, lass es mich wissen. Ich zermatere mir den Kopf mit solchen Fragen. Ohne zu wissen, wie es dir geht, kann ich kaum schlafen. Mein Herz ist hungrig nach deiner Liebe, Laura. Liebe, die nur du mir geben kannst. Ich will keine andere Frau haben außer dich! Keine ist wie du! So einfach, liebevoll und voller Geheimnisse, die ich erkunden möchte. Warum bist du gegangen? Ich vermisse dich. Meine Tage verbringe ich mit Erinnerungen an dich und mich. Nach unserem Tag im Freizeitpark kamen noch viele andere Tage an denen wir uns trafen. Ich freute mich auf jeden. Dich in meiner


Nähe zu haben war unglaublich. Erst dann lebte ich. In der Zeit zwischen unseren Treffen versteckte ich mich in meinem Inneren, ließ nur eine Hülle in der Außenwelt. Ohne dich hatte ich keine Lust etwas zu unternehmen, Laura. Ohne dich war alles nicht lebenswert. Die Welt schien farblos ohne dich. Kein Baum, der grün leuchtete. Keine Blume, die ihre strahlenden Farben schenkte. Kein Himmel, der sein Blau über unseren Köpfen ausbreitete. Alles nur ein Grau.
Eines Morgens, ich stand in der Küche, betrachtete den Himmel, der für mich grau erschien und dachte darüber nach, wann ich dich endlich wieder sehe, als es an der Tür klingelte. Schlurfend ging ich zur Tür, öffnete sie und stieß einen ungewollten Schrei aus.
„Hi!“
Du standst vor mir, mitten in der Woche, morgens um halb zehn. Und das ohne Grund! Meine Verwunderung wechselte sofort in große Freude um. Innerhalb von Sekundenbruchteilen schlug meine depressive Laune um. Du kannst dir kaum vorstellen, wie ich mich gefreut habe. Die Frau, die ich so sehr begehrte, verehrte, vermisste, liebte, stand vor mir und strahle mich mit großen Augen an. Endlich! Als hättest du meinen stillen Hilferuf erhört. Laura, dafür liebe ich dich!
„Hi!“, brachte ich nach Stunden des Schweigens vor der Tür heraus. „Was... was machst du denn hier?“


Ich muss zugeben, dein plötzliches Auftauchen brachte mich sehr durcheinander, Laura. Ich verstand nicht, weshalb du bei mir warst, ohne vorher bescheid zu sagen. Bisher trafen wir uns nur nach Absprache. Und wenn, dann auch nur außerhalb unserer Wohnungen. Wir liebten unsere Freiheit – und ich jedes Zusammensein mit dir! Daher freute ich mich auch unbändig, dich nun zu sehen. Ich bat dich zuerst herein und fragte dann, weshalb du so unverhofft aufgetaucht warst.
„Langeweile und Lust mal wieder mit dir zu reden!“, so lautete deine Antwort.
Du setztest dich an den völlig überfüllten Küchentisch, mit leeren Marmeladengläsern, benutzten Kaffeetassen und meinem halbaufgegessenen Frühstück. Schnell beseitigte ich mein Chaos, das nur durch die Sehnsucht zu dir entstanden war. Mein Laptop stand aufgeklappt auf der Küchenzeile, ein alter Artikel über Liebe auf den ersten Blick flimmerte auf dem Bildschirm. Ich sollte ihn kurz vor meiner Entlassung für die Zeitung erarbeiten. Natürlich interessiertest du dich für diesen halben Artikel, in dem es darum ging, ob man sich wirklich auf den ersten Blick verlieben konnte. Bisher stand in dem Bericht, dass es schon möglich sei, allerdings nur sehr selten passierte. Beziehungen, die daraus entstanden, gingen oft wieder in die Brüche. Du warst da ganz anderer Meinung.


„Und, was hältst du nun davon? Das ist doch nur die Meinung von irgendwelchen Sozialwissenschaftlern, die du da wiedergibst.“, das sagtest du zu mir, nachdem du dir den halben Artikel durchgelesen hattest.
Ja, ich hätte jetzt die Wahrheit über dich erzählen können, war mir aber nicht sicher, ob du es so aufnehmen würdest, wie ich es mir von ganzem Herzen wünschte. Unsere Beziehung bestand für dich nur platonisch. Mehr als eine freundliche Umarmung, oder ein kurzes mutspendendes Händchenhalten wie damals im Freizeitpark, das gab es nicht bei uns. Und ich war trotzdem glücklich mit dir. Du entwickeltest dich innerhalb von Minuten zu meiner allerbesten Freundin. Auch wenn ich dich so sehr liebte, ich stellte mir nichts vor. Keine wilden Träume, Wünsche oder Phantasien. Meine Liebe beruhte darauf, mit dir zusammen zu sein und die Zeit mit dir zu verbringen. Zwar wünschte ich mir einen Kuss, Zärtlichkeiten, aber nicht das, was sich viele Männer mit dir wünschten.
Daher schwieg ich. Ich versuchte deinem wachsamen Blick auszuweichen, überlegte, was genau ich dir nun sagen sollte. Viele Überlegungen stellte ich zusammen und sagte: „Weißt du, es ist mir schon passiert.“
Mit dieser Antwort warst du zufrieden. Du stelltest keine weiteren Fragen, wer oder wie, sondern lächeltest mich an und strichst mir über die Hand. Eine unserer kostbaren und seltenen Berührungen. Ich


versuchte mein Herz zu beruhigen, indem ich ihm einredete, wir seien so am besten beholfen. Doch sein Flehen nach deiner Liebe war so laut, dass du es hättest hören müssen. Dennoch blieb mein Verstand dabei, dir nichts von meinen Gefühlen zu erzählen. Ich traute mich nicht, den ersten Schritt zu tun. Sollte es eine Ewigkeit so gehen, Hauptsache, du warst bei mir...
Laura, du warst für mich da. Hörtest mir nur zu, ohne mich mit Fragen zu überschütten. Andere Frauen wollen einem helfen, indem sie einem viele Fragen stellen. Nur damit machen sie es meist nur schlimmer. Wir Männer schweigen lieber, als unsere Probleme mit anderen zu teilen. Das, was wir in solchen Momenten brauchen, ist jemand, der einfach nur da ist, dich ohne Worte versteht und dich vielleicht in den Arm nimmt. Aber niemanden, der nur redet, versucht, alles aus dir heraus zu bekommen. Laura, du warst nicht so. Niemals stelltest du unnötige Fragen. Hattest du ein Problem, brauchte ich dich nur ansehen und verstand alles. Genauso war es anders herum. Ohne Worte zu kommunizieren schaffen nur Seelenverwandte oder Menschen, die sich lieben und es vielleicht nicht einmal genau wissen. So wie bei uns. Ich wusste ganz genau, dass ich dich über alles liebe. Nur du spürtest „nur“ Freundschaft. Ich wahre Liebe...
Kannst du dich an den Tag erinnern, an dem ich wieder einmal ohne Job vom Arbeitsamt zurückkam


und bei dir anrief? Du sagtest, du kämst sofort zu mir her. Keine viertel Stunde war vergangen, da klingeltest du an der Tür. Ich öffnete und du hieltst mir zwei Pizzakartons unter die Nase. Ja, du wusstest, wie man einen deprimierten Menschen wieder auf die Beine brachte. Wir setzten uns auf mein Sofa, ich schaltete ein Video ein und wir aßen die Pizzen bis auf den letzten Rest auf. Dabei sprachen wir höchstens fünf Sätze miteinander. Du hattest deinen Kopf auf meine Beine gelegt und hattest dich auf dem Sofa ausgestreckt.
„Was hast du eigentlich damals auf dem Arbeitsamt gemacht?“, wollte ich dann von dir wissen, während du mich mit deinen blauen Augen anlächeltest.
Du hast dir mit der Antwort Zeit gelassen. Du hast dir deine Finger angesehen, einen Krümel unter dem Fingernagel weggeholt und dann eine Gegenfrage gestellt: „Warum willst du das denn wissen? Hast du Angst, du bist mit einer finanziell schwachen befreundet?“
Daraufhin musste ich wieder lachen. Du hast es wieder verdreht, dass etwas nicht witziges zum Lachen ansteckte. Dein Humor, Laura, einfach nur liebenswert.
Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, erzähltest du, dass du für eine Freundin, die krank im Bett lag, einen schnellen Gang zum Arbeitsamt machen musstest. Dein Job war der einer jungen Polizistin.


Damals hattest du gerade frei, daher hattest du so viel Zeit für mich. Ich genoss es, mit dir auf dem Sofa zu sitzen. Deinen Kopf auf meinen Beinen zu spüren und zu wissen DU BIST DA!
Die nächsten Tage verbrachten wir damit, dass wir uns gegenseitig besuchten. Ich entdeckte die Liebe zu Gesellschaftsspielen, die ich zuvor immer verabscheut hatte. Miteinander am Küchentisch sitzend, haben wir eine gesamte Nacht bei mir verbracht. Die ganze Nacht Monopoly spielend. Ich bestellte uns zwei Pizzen, machte Orangensaft mit meinem neuen Entsafter, den ich mir trotz Geldknappheit zugelegt hatte und wir redeten wieder über Gott und die Welt. Über deine Schulzeit, in der du die Leidenschaft zu helfen in dir gefunden hast. Oft, so erzähltest du, hättest du dich auf dem Schulhof gegen ältere Schüler für die kleineren durchgesetzt. Dir war es egal, ob dein „Gegner“ nun zwei Köpfe größer war oder eben nicht. Du wolltest nur, dass jeder gerecht behandelt wurde und keine Nachteile erfuhr. Deshalb hattest du früh den Entschluss gefasst, zur Polizei zu gehen. Du liebtest deinen Job über alles. Blühtest in ihm auf.
Nur ich konnte es nicht. Mein Job war Geschichte. Nirgends eine Stelle für mich, nur Jobs als Kassierer oder Möbelpacker. Keiner suchte einen begabten Journalisten. Ich war deprimiert.
Du bautest mich auf, nahmst mich freundschaftlich in den Arm. Auch in unserer ersten „gemeinsamen


Nacht“. Du legtest mir den Arm um die Schultern und meintest: „Du wirst sehen, es wird alles wieder gut!“
Dann legte ich meinen Kopf an deine Schulter. Ich spürte wieder diese unbeschreibliche Liebe zu dir, die mir Kraft gab, nicht aufzugeben. Laura, ich liebte dich so sehr.

Liebe zeichnet ein Leben lang,
Sebastian


5. Brief

Liebste Laura,

ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende. Alles ist unnütz. Nichts ist mir mehr wert. Du fehlst mir. Warum, Laura, warum bist du nur gegangen? Gib mir doch eine winzige Antwort darauf. Laura! Ich bin so allein. Verloren ohne dich. Tief in meinem Herzen bist du da, aber ich sehne mich nach deiner Nähe. Sehne mich nach deinen aufbauenden Worten. Nach den Worten, die du mir immer sagtest, wenn es mir schlecht ging.
„Es wird gut!“
„Nach jedem Regen kommt Sonne!“
„Aufgeben ist ein Zeichen von Schwäche! Und du bist


stark!“
Ich vermisse diese Worte so sehr, wie ich dich vermisse. Letzte Nacht wachte ich auf, da ich dachte, deine Stimme zu hören. Doch es war nur der Wind, der leise um die Häuser pfiff. Ich lag wach, in der Hoffnung du würdest kommen. In dieser schlaflosen Nacht kamen die Bilder unseres ersten Urlaubs wieder hoch. Inzwischen kannten wir uns seit einem halben Jahr. Du hattest einen Urlaub in London gewonnen. Für zwei Personen im weltberühmten Ritz. Ich wollte nicht mit, da ich mich davor ängstigte, was wohl geschehen würde. Es war ein Wochenende in einem Doppelzimmer. In einem Doppelzimmer, Laura! Wir sollten in einem gemeinsamen Bett schlafen! So weit sind wir bisher nicht gegangen. Ich hatte Angst, dass aus unserer Freundschaft mehr werden würde. Mein Herz wollte, aber mein Verstand wehrte sich. Wie oft habe ich dir schon geschrieben, dass ich unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen wollte? Aber kannst du mich denn verstehen? Solch eine Freundschaft, wie wir sie erlebten, findet man nur einmal im Leben. Und wir erlebten dieses EINE MAL gerade jetzt. Das wollte ich nicht dafür aufs Spiel setzen, Laura. Ich nicht... Aber was tatst du? Als ich sagte, ich wollte nicht nach London fliegen, da meintest du: „Bitte, ich möchte mir dir nach England! Ich möchte nur mit meinem besten Freund dorthin! Du musst mit mir kommen!“


Ich gab nach, auch wenn mir nicht dabei wohl war. Ein paar Tage später stand ein Taxi vor meiner Tür, in dem du schon auf mich wartetest. Ich hievte meinen Koffer in den Kofferraum, wo schon deiner lag und stieg zu dir auf die Rückbank des Wagens. Bisher kannte ich dich zwar schon sehr lebensfroh, aber deine Aufgeregtheit, die du an diesem Freitagmorgen an den Tag legtest, kannte ich noch nicht. Deine Wangen waren vor Aufregung ganz rosig, deine Augen strahlten noch mehr als sonst und du redetest mehr als gewöhnlich. Ich dagegen schwieg nur. Was würde an diesem Wochenende nur geschehen? Es machte mich ganz fertig, Laura, meine Liebste. Nur sobald ich neben dir im Taxi saß, legte sich diese Angst. Du hast mich mit deiner Nervosität angesteckt und ich freute mich nun ebenfalls auf drei wunderschöne Tage in London – mit dir an meiner Seite. Ich schob den Gedanken an das Doppelzimmer einfach beiseite. Laura, ich liebte dich so sehr, dass ich dir die Vorfreude nicht verderben wollte.
Wir erreichten den Flughafen nach einer viertel Stunde. Bis jetzt war ich noch nie geflogen und ich muss zugeben, dass ich eine gewaltige Angst vor dem Flug hatte.
„Hey, es wird schon nicht so schlimm sein!“, beruhigtest du mich mit deiner lockeren Art.
Und ich vertraute dir wieder einmal.
Ich überließ dir den Fensterplatz im Flugzeug, setzte


mich in den mittleren Sitz. Neben mir nahm ein dicklicher Mann Platz. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er schnaufte, nachdem er sich in den Sitz hatte fallen lassen. Auf seiner Stirn glänzte der Schweiß seiner Anstrengungen. Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er versuchte, den Gurt um seinen massigen Bauch zu bekommen. Keuchend rief er nach der Stewardess, die ihm beim Anlegen des Gurtes behilflich sein musste. Während die schlanke junge Dame den Gurt befestigte und sich dabei über den Mann beugte, saugte sich dessen Blick regelrecht im Ausschnitt der Flugbegleiterin fest. Mir kam es übel hoch, als ich das so mit ansah.
Keine zehn Minuten später hoben wir ab. In meinen Ohren drückte es ein wenig. Du bemerktest meinen bedrückten Gesichtsausdruck, suchtest in der Tasche deiner Jeansjacke nach etwas und drücktest mir einen Kaugummi in die Hand. Dankend faltete ich den Streifen aus dem Papier. Plötzlich schnaufte der Mann neben mir: „Ach, Fräulein, haben Sie eventuell auch einen Kaugummi für mich? Ich habe meine in der Eile vergessen. Und dieser Druck...“
Ich blickte nach links, wo der Mann sich an mir vorbei lehnte. Du, Liebste, hast ihn nur angesehen, ließt deine Augen extrem funkeln und sagtest mit deinem süßesten Engelston: „Eventuell sollten Sie sich aufschreiben, was Sie einzupacken haben, bevor Sie sich in ein Flugzeug setzen!“
Der Mann glotzte dich danach verständnislos an und


lehnte sich überrumpelt in seinem Sitz zurück. Laura, ich bewunderte deine Art, so offen und ehrlich zu den Menschen zu sein. Ich traute mich niemals, in einem Kaufhaus eine Angestellte nach der besten Zahnbürste zu fragen. Und du, meine Elfe, du sagtest deine Meinung zu anderen Leuten einfach gerade heraus. Ich konnte einfach nicht mehr, als dich zu bewundern.
Wir hatten unsere maximale Flughöhe erreicht, der Kerl neben mir murmelte immer wieder etwas vor sich hin und warf dir wütende Blicke zu. Ich musterte dich unauffällig von der Seite. Du hast deinen Blick aus dem Fenster schweifen lassen. Die Sonne schien durch das kleine Fenster herein und umspielte deine Silhouette. Es schien, als strahltest du ein Licht aus, das dich nun malerisch ummalte. Ich hielt einen Moment den Atem an. Wie selig war ich in dieser Sekunde. Allein mit der Frau meiner Träume in einem Flugzeug Richtung London. Mit einem Mal war die Angst verschwunden, die in mir steckte. Kein einziger Gedanke mehr daran, dass mehr geschehen könnte. Nur noch ein Gefühl durchfloss meine Seele: Liebe...
Laura, ich werde niemals vergessen, wie du im Flugzeug neben mir saßt, umschienen von dem hellen Licht der Sonne. Niemals...
Dein Haar glänzte in dem hellen Licht, umspiele deine zarten Züge. Ich konnte den Blick nicht von dir wenden. Plötzlich hast du dich dann umgedreht, mich angelächelt und gesagt: „Ich bin froh, bei dir zu sein!“


Wie meintest du das? Du seiest froh, bei mir zu sein? Meintest du es freundschaftlich, oder empfandest du das gleiche wie ich für dich? Ich traute mich damals, nicht zu fragen. Ich spürte nur, wie mir mein Herz sagte, dass ich dich niemals in meinem Leben verlieren möchte. Es schrie meinen Verstand fast an, dich niemals aufzugeben. Es würde ohne dich verenden...
Und jetzt hier ohne dich fühle ich, dass es Recht behält. Es verdirbt ohne dich, verendet und gibt auf...
Und als du mir es sagtest, wusste ich nichts besseres, als zu entgegnen: „Das freut mich!“
Laura, bitte verzeih mir, aber ich konnte meine Gefühle nicht anders zurückhalten. Wie sehr bin ich dir dankbar, da du meintest: „Na, dann ist ja alles in Ordnung bei uns.“
Für den Rest des Flugs genossen wir den Ausblick, hinunter auf die Welt. So klein und unbedeutend sie für mich erschien. Hier oben, dort, wo wir den Himmel berühren konnten, wollte ich für immer bleiben. Hier oben, wo man frei und grenzenlos ist, wollte ich nur mit dir bleiben. Hier konnten wir hinabsehen auf eine Welt, auf der wir uns kennen lernten, zusammen fanden und uns verstanden. Jetzt konnten wir hinabsehen auf die Welt, ohne die wir uns niemals begegnet wären. Wie froh war ich, geboren zu sein. Geboren, um dich zu treffen. Mein Leben hatte erst jetzt begonnen. Ich lebte erst seit einem halben Jahr, vorher galt nicht. Seit


sechs Monaten spürte ich das Leben in mir pulsieren, sah den Grund des Lebens: Lieben...
Wir setzten zur Landung an. Wieder schnaufte der Typ neben mir die Stewardess herbei, der er wieder im Ausschnitt „hing“. Diesmal ging er mir absolut zu weit, als er sagte: „Haben Sie denn einen Freund, der Ihren Körper verwöhnen kann?“
Das junge Mädchen, höchstens 23, erschrak regelrecht. Es ließ den Verschluss des Gurtes los, richtete sich schnell auf. Ängstlich und erschrocken sah es den Mann an, der sie belästigt hatte. Laura, nur du hast mir gezeigt, wie man in solchen Situationen handelt. Ich drehte mich zu dem Mann um, suchte seinen Blick und meinte ernst: „Eventuell sollten Sie mal einen Psychologen aufsuchen, der Ihre Seele verwöhnen kann!“
Das Mädchen musste sich ein Lachen verkneifen, zeigte mir somit, dass es mir dankbar war, ihr so zu helfen. Der Kerl allerdings glotzte mich regelrecht an. Ich wunderte mich, ehrlich gesagt, selber über meinen Ausspruch und grinste den Mann an. Laura, nur du brachtest mich dazu, meine Meinung nun öffentlich zu machen. Seit diesem Erlebnis im Flugzeug redete ich jeden x-beliebigen Menschen an. Sogar die Angestellte im Kaufhaus...
Wir stiegen aus dem Flugzeug. Ich erwartete Regen, der typisch für England war. Daher überraschte mich der strahlende Sonnenschein, der uns willkommen hieß. Schien die Sonne nur für dich? Wollte England


dir zeigen, dass es für den liebenswerten Engel der Welt auch den Regen gegen Sonne tauschen konnte? Bist du dir dessen bewusst? Ich hoffe, mein Engel.
Im Gebäude warteten wir am Rollband auf unser Gepäck, dass nach wenigen Minuten kam. Ich wollte deinen Koffer vom Band nehmen. Du ebenfalls. Gleichzeitig ergriffen wir den Griff. Obwohl wir uns schon oft berührt hatten, durchschoss ein Blitz meinen Körper, als ich deine Hand an meiner spürte. Leicht erschrocken blickten wir uns an. In deinen Augen lag ein Schimmer, den ich noch nie gesehen hatte. Ich konnte ihn auch nicht deuten, da er wieder erlosch, als ich meine Hand wegzog. Was, Laura, was hatte es zu bedeuten?
Von meinen Gefühlen verwirrt suchten wir zwei ein Taxi auf, das uns zum Ritz bringen sollte. Vor dem Flughafen fanden wir eines. Ich verstaute unser Gepäck, während du den Fahrer fragtest, ob er zuerst eine kleine
Sightseeing-Tour durch London machen könnte.
„But just the important sights, please!“, sagtest du, da der Fahrer auf eine ausgiebige, und somit teure, Fahrt spekulierte. „Like Big Ben, Tower Bridge and Buckingham Palace.“
Ich saß neben dir im hinteren Teil des Taxis. Während wir durch halb London kurvten, erzähltest du mir, dass du schon immer mal hier her wolltest. Du wolltest nur ein einziges Mal Weltatmosphäre schnuppern und erfahren. Ich hatte mich vorher nie für London


interessiert. Für mich war es die Hauptstadt Englands, mehr nicht. Doch in diesem Moment merkte ich, dass London mehr war. Es war deine Stadt! Die Stadt deiner Träume. Es war für dich wie für Verliebte Venedig. Und es steckte mich an. Von einer Sekunde auf die andere verliebte ich mich in diese Metropole. Fand einen Reiz an allem. An den roten Doubledeckerbussen, an den runden, roten Postkästen, an den Bobbys, den berühmten Polizisten Londons, an den verrückten Leuten, an den Pubs – an allem. Dank dir, mein größter Engel im Leben.
Nach der kleinen Rundfahrt erreichten wir das Ritz. Ich half dir beim Aussteigen, so wie es sich für einen echten Gentleman gehörte, und rief nach einem Pagen, der unser Gepäck auf unser Zimmer bringen sollte. Und das war ein Traum! Eine geräumige Suite mit weißen Seidenvorhängen, riesigen Fenstern, dem feinsten Teppich, den ich je unter meinen Füßen spüren durfte. Alles hier war so fein. Es war auf eine Königin abgestimmt. Es reichte gerade für dich, meine Königin. Goldene Armaturen und Marmorboden im Bad. Fernseher, Hausbar, einfach königlich. Du warst ganz aus dem Häuschen. Vor lauter Freude fielst du mir um den Hals. Niemals vorher waren wir uns so nah. Bisher umarmten wir uns nur flüchtig. Das heißt: Arme schnell um die Schultern des anderen – das war es. Aber diesmal war es vollkommen anders. Du legtest einen Arm um meinen Nacken, zogst


meinen Kopf zu dir herunter. Deine Brust schmiegte sich an meine. Ich fühlte deinen Atem an meinem Hals, deine Knie an meinen. Ich fragte mich, warum du das getan hast. Es tat so gut und machte mir gleichzeitig wieder Angst. Was würde passieren?
Ehe ich diese Umarmung richtig erwidern konnte, ließt du mich wieder los. War es nur ein Überschwang der Gefühle? Laura, du hast mich wieder mal verwirrt. Mein Herz klopfte so wild und pochend. Es verlangte nach mehr. Mein Verstand wehrte sich. Beide lieferten sich ein Duell, das der Verstand gewann. Zerbrochen und enttäuscht zog sich mein Herz zurück. Laura, hättest du damals gewusst, was ich durchmachte, als du mich das erste Mal „richtig“ umarmt hast. Hättest du es dann auch getan? Hättest du meine Gefühle dann auch so durcheinander gebracht?
Du ließt von mir ab, durchstreiftest das Zimmer zum hundertsten Male. Ich stand nur in dem Wohnzimmer und versuchte, meine Gefühle wieder einigermaßen ins Lot zu bekommen.
Du kamst aus dem Bad zurück, blicktest auf die goldene Kaminuhr und fragtest mich mit strahlendem Lächeln: „Und, was hat der Herr heute Abend vor?“ Was meintest du? Ich verstand die Frage falsch. Ich dachte, du meintest...
„Also...“, begann ich zögernd und suchte nach einer Antwort. „Ich würde gerne ins Londoner Nachtleben stürzen!“, jubeltest du, jagtest ins Schlafzimmer und


sprangst mit einem Satz aufs Bett. Zwischen den Kissen und Decken herumspringend saßt du aus wie ein Engel. Ein Engel auf einer Wolke. Ein Engel, der sich freut, zu leben. Du, mein Engel, Laura.

Engel sind kostbarer als alles andere.
Sebastian


6. Brief

Liebste Laura,

denkst du in diesem Moment auch an London? Ich kann es nicht vergessen. Welchen Spaß wir hatten. Und – welche Liebe spürte ich in dieser blühenden Stadt.
Als wir am Abend das Ritz verließen, sagte der Portier zu uns: „You and your wonderful wife will have a nice time in London.“
Mein Gott, er glaubte, du seiest meine Frau. Tief in meinem Herzen wünschte ich es mir. Ich konnte mir ein Leben ohne dich schon gar nicht mehr vorstellen. Dem Portier schenkte ich ein Lächeln und meinte: „Thank you, I’m sure we’ll have it.“
Mit diesen Worten verließen wir das Ritz. Du legtest


deinen Arm um meine Taille und zogst mich einfach in die Dunkelheit, erhellt durch die vielen Lichter der pulsierenden Stadt. Immer wieder blieben wir stehen, sahen in die erleuchteten Schaufenster edler Boutiquen, stellten uns vor, dort einzukaufen. Ich hätte dir alles gekauft, nur damit ich weiß, du bist glücklich, meine Elfe.
Eine Sekunde, in der du traurig bist, werde ich nie überleben. Mein Engel darf nicht traurig sein. Ich wünsche ihm nur das Beste auf der Welt. Auch dort, wo du nun bist.
Wir setzten unseren Weg durch London fort. Ein laues Lüftchen zog durch die Straßen, spielte mit deinen Haaren. Ich legte meinen Arm um deine Schultern und so schlenderten wir, bis wir an ein Lokal gelangten. Du bliebst plötzlich stehen, sahst mich kurz an und risst mich hinein. Zunächst mussten sich meine Augen an das Dämmerlicht hier drinnen gewöhnen. Ich ließ mich daher einfach nur von dir führen. In diesem Moment hätte ich dir selbst mein Leben anvertraut. Du führtest mich an der Hand zu einem Tisch mit zwei Stühlen in einer ruhigen Ecke. Kaum, dass wir saßen, kam ein älterer Herr zu uns, der vermutlich der Besitzer des Lokals war.
„What can I do for you?“, fragte er uns mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.
Laura, jeder dachte von uns, wir seien ein Paar. Ein Paar, meine Laura. Ein Paar...


Ich wusste nicht, was du möchtest und überließ es dir, deinen Wunsch zu äußern. Nach kurzem Überlegen sagtest du: „I’d like to have a wine. Do you have white wine?“
“Yes, we have. Dry?”
“No, not dry, please.”
Dann wandst du dich an mich: “Was möchtest du?”
„I’d like to have a beer.“, sagte ich.
Laura, immerhin wolltest du an diesem Wochenende alles bezahlen. Verstehe, ich wollte dich nicht ausnutzen! Liebste...
Der Herr sah dich noch einmal fragend an. Du schütteltest den Kopf über mich, was mir für eine Sekunde einen Stich ins Herz versetzte, und meintest: „He’s a bit confused. He’d like to have a wine, too.”
“White wine?”
“Yes.”
“No!”, schaltete ich mich dazwischen. „Laura, ich will nicht, dass du wegen mir unnötig Geld ausgibst!“
Das Funkeln in deinen Augen erlosch. Der Herr trat einen Schritt zurück. Die Englische Diskretion...
„Sebastian, ich bekomme alles zurück, was ich für dich tue. Nicht in Geld oder sonst was... Versteh mich einfach...“
Du bekommst alles zurück? Ich verstand nichts von dem, was du mir sagtest. Wie wolltest du es nur


zurückbekommen, Liebste? Was gab ich dir?
Ich gab nach. Mit einem dankbaren Blick gab ich dir zu verstehen, dass es mir Recht war. Der Herr nickte und eilte zur Theke, um den Wein zu holen. Deine Augen gewannen ihr Leuchten wieder. Ich hoffte, du nahmst es mir nicht übel, dass ich so ruppig geworden war. Du weißt, ich bin nun mal ein Dickkopf, wenn es um Geld geht.
Der Wein kam. Nachdem uns der Herr eingeschenkt hatte, wünschte er uns einen schönen und gemütlichen Abend. Er glaubte immer noch, wir seien ein Paar.
Wir stießen an. Ich hatte mir nie viel aus diesen Anstoßsprüchen gemacht. Nur du sagtest: „Auf dass unsere Zeit für immer währt!“
Dieser Satz berührte mich tief im Herzen. Es war wieder ein Beweis von dir, dass dir viel an unserer gemeinsamen Zeit lag. Nur in welcher Beziehung, das war eine Frage die ich nicht zu stellen wagte, mein Engel.
Du nipptest wieder so vorsichtig an deinem Glas, genauso wie bei unserer ersten Begegnung in der dunklen Bar. Ich im Gegensatz trank den Wein fast wie ein Glas Limonade. Neben dir, so strahlend, lebensfroh und graziös du warst, kam ich mir vor wie ein streunender Hund neben einem wohlerzogenen Pudel. Deine Anwesenheit erregte Aufsehen, die Leute drehten sich auf der Straße nach dir um. Mich bemerkten sie nicht einmal. Unter einer Millionen


Menschen würde ich dich mit geschlossenen Augen erkennen. Du zogst mich einfach an. Ich spürte, dass du bei mir warst, obwohl du an einem anderen Ort verweiltest. Es war ein unsichtbares Band zwischen uns. Oder ist es das noch immer, meine Laura? Besteht dieses Band noch immer? Das Band, das uns niemals trennen sollte, existiert es noch immer? Jetzt, wo du fort bist? Laura, du fehlst mir so...
Wir verbrachten einen wunderschönen Abend in dieser Bar. Du fragtest mich, was wir am nächsten Tag erleben wollten.
„Was immer du willst!“, hatte ich geantwortet.
Laura, es war schließlich dein Wochenende in London! Ich begleitete dich nur, wollte dir nichts vorschreiben sondern nur mit dir zusammen sein. Somit hakten wir das Thema ab. Ich trank den letzten Schluck meines Weines, blickte dir in die Augen. Wieder hattest du dieses Schimmern in den Augen, das du schon vorhin im Hotel hattest. Ein seltsames Lächeln umspielte deinen Mund, das ich bisher nicht kannte. Lag es an dem Alkohol? Ich war unsicher.
„Ich möchte jetzt zurück!“, sagtest du plötzlich, während du den netten Herren herbeiwinktest, um die Rechnung zu bezahlen.
Du gabst ihm ein ansehnliches Trinkgeld (drei Pfund, das sind gut 4,50 Euro mein Liebstes!), dann verließen wir das kleine Lokal. Wir gingen den Weg zurück, machten einen Umweg über die Tower Bridge.


Auf der Mitte des großen Bauwerks bliebst du stehen, lehntest dich über das Geländer und blicktest auf das Wasser hinunter.
„Es fließt seit Jahrhunderten und hört nicht auf.“, flüstertest du mit dem Blick auf dem Wasser der Themse, „Ist es nicht ein wunderbares Schauspiel der Natur?“
Ich stellte mich neben dich an die Brüstung. Ja, du hattest Recht. Es ist wunderlich, dass der Kreislauf der Natur immer wieder funktioniert. Es sei denn, der Mensch greift ein...
Wir standen einfach nur da und beobachteten den Lauf der Themse. Ein silbernes Band, das mitten durch London läuft. Beruhigend.
Ich fühlte die Wirkung des Alkohols langsam in mir aufsteigen. Meine Augenlider wurden mir schwer, ich fühlte mich schlapp.
„Wollen wir nicht weiter?“, fragte ich nach gut zehn Minuten. „Ich falle gleich tot um, Laura!“
Du richtetest deinen Blick auf mich. Er durchfuhr mein Herz. Deine blauen Augen leuchteten in der Dunkelheit. Glitzernd spiegelte sich das schwache Licht der Laternen in ihnen. Und in diesem Moment wollte ich mehr von dir. Ich wollte dich spüren. Ich wollte dich begehren. Ich wollte nur noch dich. Du sahst in dieser Sekunde so verführerisch aus. Ich konnte meine Gefühle zu dir nicht länger verbergen. Heiser begann ich: „Laura...“


Mit fragenden Augen blicktest du mich an.
„Laura, ich...“
„Ja?“, flüstertest du mir zu.
In deiner Stimme lag etwas fremdes, etwas, das ich nicht kannte. Vielleicht war es das, was mich wieder so verwirrte. Während du mich so ansahst, verließ mich der Mut und ich sagte ein wenig wütend auf mich selber: „Lass uns gehen...“
Ich vergrub mein Gesicht im Kragen meiner Jacke. Mit energischen Schritten machte ich mich auf den Weg.
Laura, ich glaubte, ich könnte es dir jetzt sagen! Jetzt, in deiner Stadt! Ich glaubte, du würdest mich jetzt verstehen! Doch dann hast du mich so angesehen. Ich wusste nicht, wie ich diesen Blick deuten sollte. Wusstest du damals schon, wie ich für dich fühle? Konntest du es ahnen, dass ich dich liebe?
Hinter mir hörte ich deine eilenden Schritte auf mich zu kommen. Mit einer Hand hieltst du mich an der Jacke fest. Dann nahmst du meine Hand, drücktest sie fest und sagtest: „Ich bin so froh, dich zu kennen!“
Ja, mein Engelchen, ich war es auch! Ich war es verdammt noch mal auch! Froh, froh, froh... Einfach nur froh, Laura! Du kannst es dir nicht vorstellen! FROH!!!
Hand in Hand bahnten wir uns den Weg durch das nächtliche London. Meine gedrückte Stimmung legte sich wieder und ich konnte schon wieder lächeln. Wenn du da warst, konnte ich gar nicht betrübt sein.


Im Ritz begrüßte uns der Portier mit den Worten: „Did you enjoy the nightlife?“
„Yes, it is wonderful!“, schwärmtest du. Abermals drücktest du meine Hand.
Der Portier lächelte uns zu. Immer noch Hand in Hand betraten wir den Lift, fuhren in den dritten Stock. Als wir oben ankamen, hieltst du meine Hand immer noch, die vor Aufregung schon ganz nass war. Meine Angst vor der Nacht kam zurück. Jetzt, wo ich vor nur wenigen Minuten mehr wollte, wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Würde etwas passieren?
Du hast die Suite aufgeschlossen, warfst den Schlüssel auf das kleine Schränkchen neben der Tür und verschwandst im Schlafzimmer. Meine Müdigkeit war mit einem Mal verschwunden. Ich fühlte mich besser als nach einer erholsamen Nacht mit viel Schlaf. Unschlüssig ging ich ins Wohnzimmer der Suite. Gedankenverloren schaltete ich den Fernseher ein. Ich fragte mich, was du im Schlafzimmer machtest.
Meine Neugier wuchs, übertraf sogar meine riesige Angst. Was machte mein Engel im Schlafzimmer? Laura, in den zehn Minuten wurde ich fast verrückt. Du nicht in meiner Nähe und doch so nah. Ich hielt es fast nicht aus. Dabei wollte ich doch nicht, dass etwas passierte.
Und dann betratst du das Wohnzimmer. Nur bekleidet mit einem kurzen Seidenhemdchen. Die dünnen


Träger überspannten deine schutzlosen Schultern. Langsam und mit bedächtigen Schritten kamst du auf mich zu. Und in deinen Augen erkannte ich wieder dieses Schimmern. Ich stand mitten im Zimmer, du nähertest dich mir vorsichtig. Was sollte ich tun? Wenn du wüsstest, wie sich nun Herz und Verstand duellierten. Mein Herz schrie so laut wie nie nach dir, mein Verstand wehrte sich mit allen Mitteln. Was geschah, nachdem wir uns darauf einließen? Würde unsere Freundschaft dadurch zerbrechen? Keiner konnte mir diese Fragen beantworten. Nicht einmal du, mein Stern.
Und dann standst du direkt vor mir. Mit dem Zeigefinger strichst du mir sanft und vorsichtig über die Wange. Meine Sehnsucht nach dir wuchs immer weiter an. Sollte ich es wagen?
Dein Finger fuhr meinen Hals entlang.
Was sollte ich nur machen?
Und dann schrie mein Herz auf. Der Verstand verstummte, gab ganz auf.
Ich umschlang dich, du legtest deine Arme um meinen Nacken. Meine gesamte Leidenschaft eröffnete sich mit diesem Kuss. Deine Lippen brannten auf meinen. Ein ungeahntes Gefühl durchströmte mich. Wir küssten uns hemmungslos. Deine Hände glitten über meinen Rücken, ich versuchte die Träger deines Hemdes von den Schultern zu streifen. Lautlos glitt das Hemd zu Boden, enthüllte deinen Körper. Dich immer noch


küssend streichelte ich deinen nackten Rücken. Du stöhntest leise auf. Und plötzlich holte mich etwas in die Wirklichkeit zurück. Erschrocken ließ ich von dir ab, setzte mich aufs Sofa, das direkt hinter mir stand. Was hatte ich getan? Warum hatte ich es soweit kommen lassen?
Laura, verzeih mir dafür. Nimm es auf, wie du willst. Ob für meinen Abbruch oder für mein ungehemmtes Verlangen in der Sekunde.
Du standst vor mir. Nackt und ratlos. Sicher, du dachtest, du hättest etwas falsch gemacht. Und ich saß auf dem Sofa, Tränen liefen mir übers Gesicht. Warum?
Schweigend zogst du dich wieder an. Dann setztest du dich neben mich. Mir war klar, dass du bemerkt hattest, dass ich weinte.
„Warum weinst du?“, wolltest du wissen.
Ich sagte nur: „Es tut mir leid!“
Dann stand ich auf, verließ das Wohnzimmer und ging ins Bett. Sofort nachdem ich mich hingelegt hatte, schlief ich ein.
Heute Laura, tut mir alles so wahnsinnig leid. Ich wusste einfach nicht, wie ich es dir erklären sollte. Jetzt aber: Ich hatte Angst! Die Angst, von der ich im gesamten Brief redete. Angst vor dem „Danach“. Angst vor der Zukunft. Bitte verstehe mich! Liebste, ich liebte dich einfach zu sehr, um so weit gehen zu können. Liebe, die einen an der Liebe hindert.


Verzeih meiner starken Liebe,
Sebastian


7. Brief

Liebste Laura,

mein Herz ruft nach dir. Kannst du es hören? Es schreit deinen Namen! Antworte ihm doch einmal! Ein einziges Mal, Laura. Meine Laura, du bist mir so fern. Unser Band wird auf die Probe gestellt. Wenn es denn für dich noch existiert. Für mich wird es immer bleiben. Denn so eine Liebe bleib immer im Gedächtnis des Herzens und der Seele. Mag der Verstand auch vergessen, das Herz vergisst niemals! Niemals, niemals, niemals, meine Laura.
Und nun möchte ich dich an den zweiten Tag in London erinnern. Der Tag, nachdem ich zu weit gegangen war.
Ich erwachte früh morgens. Als ich die Augen aufschlug, wusste ich erst nicht wo ich war. Für ein paar Sekunden dachte ich, es sei alles in Ordnung. Aber dann stürzte die vergangene Nacht auf mich ein. Alles wiederholte sich vor meinem inneren Auge. War nun alles verloren?


Ich blickte nach rechts neben mir. Dort lagst du. Dein blondes Haar auf dem weißen Seidenkissen ausgebreitet, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht. Hatte ich dich jetzt verloren? Nur weil ich meine Gefühle hatte sprechen lassen? Laura, ich hatte zu dem Zeitpunkt Angst, als ginge es um mein Leben. Nein, um deines. Du warst mir wichtiger als mein Leben, das nun eh verpfuscht war, da ich Idiot mich hatte gehen lassen!
Ich ging ins Wohnzimmer. Gestern Abend hatte ich es nicht mehr geschafft, mich umzuziehen und beschloss daher, schnell zu duschen. Im Bad zog ich mich aus, sprang unter die Dusche. Ich glaubte, mit dem Wasser all die Erinnerungen an die letzte Nacht fortzuwaschen. Aber es klappte einfach nicht. Stattdessen erdrückten mich meine Vorwürfe. Laura, ich wollte dich nicht verlieren! Auf keinen Fall, mein Engelchen Laura.
Ich kam gerade unter der Dusche weg, wickelte das Handtuch um meine Hüften, als du ins Bad kamst. Erschrocken darüber, mich hier halbnackt zu treffen, riefst du: „Oh, tut mir leid!“
Ich konnte dich gerade noch am Handgelenk greifen. Du warfst mir einen Blick zu, der mich wieder einmal in der Seele traf. Bevor mich der Mut wieder verließ, sagte ich, ohne dir in die Augen zu sehen: „Laura, das mit gestern Abend... ich wollte es nicht. Laura, hörst du mir überhaupt zu?“
Ich verstärkte den Griff um dein Handgelenk, da ich


das Gefühl hatte du hörtest mir nicht zu. Mit gesenktem Blick hieltst du deinen Kopf fest und flüstertest: „Sebastian, es war nicht deine Schuld! Ich habe einfach zu viel getrunken. Ich war nicht mehr bei mir und habe es alles gar nicht so richtig erlebt. Lass uns die Sache einfach vergessen!“
Mein Gott! Ich konnte es kaum glauben. Du wolltest die Sache einfach vergessen. Meine Angst war unbegründet? Ja, das war sie. Danke, mein Stern! Danke, mein Herz! Danke, Laura!
Ich wusste einfach nichts anderes, als dich in den Arm zu nehmen. Und anstatt mich von dir zu schieben, legtest du deine Arme um meinen Rücken. Ich atmete den sanften Geruch deiner Haut und deiner Haare ein, die mich leicht im Gesicht kitzelten.
Ich konnte wirklich nicht glauben, dass du mir verziehen hattest. Es war das schönste Erlebnis meines Lebens. Ich hielt dich im Arm, in einem Hotel in deiner Stadt, Laura.
Dann lösten wir uns voneinander. Sanft lächelnd schautest du mir in die Augen.
Und wieder schrie mein Herz nach dir. Ein weiterer Kampf zwischen ihm und meinem Verstand begann. Ein weiteres Mal wollte ich diese Angst, zu weit zu gehen, nicht erleben. Lieber hatte ich dich als Freundin in meinem Leben, als das ich dich nach einer Nacht verliere. Daher ließ ich meinen Verstand gewinnen.


Ich verließ das Bad, damit du dich fertig machen konntest und ich zog mich derweil im Schlafzimmer an. Die Sonne schien durch die weißen Vorhänge, wodurch das Zimmer in ein helles, weißes Licht getaucht wurde. Ich fiel rücklings in die weichen Kissen des Bettes. Fast schlief ich ein, da ich wieder die innere Ruhe gefunden hatte. Bis jetzt war die Gefahr vor einem „Zuweitgehen“ gebannt. Du wolltest es vergessen, ich setzte mir die Grenze, die ich nicht überschreiten durfte. Von jetzt an schwor ich mir, mich unter Kontrolle zu behalten. Für dich, mein Schatz!
Du kamst ins Schlafzimmer zurück, trugst das gleiche Outfit wie damals im Freizeitpark. Ich musste mich gleich wieder an den Tag erinnern, als ich dich sah.
„Was machen wir heute?“, fragtest du beim Öffnen der Gardinen.
„Lass uns bummeln und London genießen!“, schlug ich vor, da ich einfach zu geblendet von dir war.
Ein traumhaftes Bild, wie du vor dem sonnenbeschienenen Fenster standst und mich angeschaut hast. Deine noch nassen Haare hingen schlaff um dein Gesicht und glitzerte geheimnisvoll im Licht. Ein Engel...
Ein Lächeln huschte über dein Gesicht. Egal, was ich nur sagte, du lächeltest mich immer an. Ich liebe dich so sehr, Laura! So sehr... Und noch mehr, als du so vor dem Fenster verweiltest und nichts sagtest. Ich spürte, wie dieses Band zwischen uns wieder


gefestigt wurde, da es gestern Abend Risse bekommen hatte. Ich spürte, dass du es genossen hast, mich zu beobachten und zu wissen, dass ich da war – in deiner Stadt...
„Wir werden London unsicher machen!“, lachtest du plötzlich auf, bist auf das Bett gestürzt, hast ein Kissen gegriffen und es mir ins Gesicht geschmissen. Sofort suchte ich nach meinem und rächte mich dafür. Laut lachend sprangen wir in dem Bett herum. Die Federn aus den Kissen flogen wild herum. Ich schleuderte dir mein Kissen an den Kopf, was du bei mir wiederholtest. Mit deiner Kraft hatte ich nicht gerechnet. Taumelnd verlor ich das Gleichgewicht, fiel rückwärts vom Bett und schlug auf dem weichen Teppich auf. Als ich unten lag, beobachtete ich die stumm fallenden Federn. Dann tauchtest du über der Bettkante auf. Eine Feder landete auf deinem Haar. Du sahst aus wie ein Engel auf einer Wolke. Um dich herum die schwebenden Federn, das Kissen halb vom Bett gefallen und das helle Sonnenlicht – es war einfach nur wundervoll himmlisch.
„Hast du dir was getan?“, fragtest du mich zwar fürsorglich, aber dein Lachen konntest du auch nicht verbergen.
Ich schaute zu dir herauf und meinte matt: „Es geht schon wieder! Ich habe nur eine mittlere Gehirnerschütterung...“
Stöhnend kam ich wieder auf die Beine. Du drehtest


dich auf den Rücken und betrachtetest mich, wie ich mir die schmerzende Stelle am Hinterkopf rieb.
Laura, du bereitest mir nicht nur seelische sondern auch körperliche Schmerzen. Die allerdings schwinden mit der Zeit. Der Schmerz in der Seele und ein gebrochenes Herz verfolgt einen ein ganzes Leben lang. Solche schwarzen Streifen in einer hellen Seele nimmt man mit ins Grab. Und obwohl diese Streifen schmerzen, wie tausende Nadeln, möchte man sie nicht hergeben. Denn die Person, die sie verursacht hat, lag einem am Herzen. Oder tut es immer noch...
Wir verließen das Zimmer, wie es war: Voller Federn und den leeren Kissenhüllen, aus denen sie stammten, ein durchwühltes Bett. Es erweckte den Eindruck, als habe sich ein Liebespaar hier vergnügt. Uns war das klar und ließen es dabei bleiben. Sollte das Personal doch denken, wir seien zusammen! Seit vorhin war meine Angst, wie gesagt, verflogen. Sollte doch kommen, was wollte: Wir gehörten zusammen, egal, was zwischen uns passierte.
Auf dem Weg zum Lift ergriffst du meine Hand und sagtest mit einem Lächeln: „Und nach dem Essen gehen wir in die City!“
Ja, in die City. Eine Stadt voller neuer Eindrücke, voller fremder Kulturen, voller Erinnerungen an dich!
Wirst du mir glauben, dass ich wieder in London war? Wirst du mir auch glauben, dass ich überall hin ging,


wo wir auch schon gemeinsam waren? Oh Laura,
wärest du nicht gegangen, hätte ich dich mitgenommen. Ich ging auf die Portobello Road, wo du dir dieses kitschige Bild mit den quietschbunten Gummibären kauftest, das du dann zu Hause in deine Küche hingst. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe bei meinem Besuch der Portobello Road nach diesem Bild Ausschau gehalten. Bei einem alten Händler mit einem durchtriebenen Blick fand ich es. Als ich nach dem Preis fragte, sagte er: „Only 100 Pounds!“
Ich sagte ihm, er sei verrückt. Und Laura, als er mir das Bild für „nur“ 80 Pfund anbot, kaufte ich es. Nur weil du es bei unserem gemeinsamen Londontrip gekauft hattest. Laura, es hängen mir unglaubliche Erinnerungen an diesem Bild. Als du dir es in diesem komischen Geschäft mit allerlei Kitschartikeln ausgesucht und bezahlt hattest, schleppten wir abwechselnd ein riesen Bild mit drei Gummibärchen durch halb London. Du weißt, die Londoner sind einiges gewöhnt, aber einen schimpfenden Deutschen (mich) mit einem Schinken von Bild unterm Arm und eine immerzu lachende Deutsche (dich) nebenher, das kannten auch sie noch nicht. Als mich dann irgendwann der Hunger überkam, suchten wir ein Restaurant auf. In der Nähe gab es nur eines dieser feinen Lokale, in denen die wichtigsten Londoner Geschäftsleute zu Mittag aßen. Wir betraten dieses Lokal (und Liebste, ich aß wieder in diesem Lokal bei


meinem Besuch in London, da ich mich dort an dich erinnerte, so als seiest du bei mir, bestellte den gleichen Tisch, ging um die selbe Uhrzeit hinein). Ich trug dein Bild unterm rechten Arm, während du den piekfeinen Kellner nach einem freien Tisch fragtest und ließ mich schief von den Geschäftsmännern angucken. Mir war das ganze so peinlich, Laura, doch ließ es über mich ergehen – für dich! Nur für dich machte ich mich gerne zum Deppen. Für dich, das weißt du, machte ich alles.
Bei unserem Essen lehnte ich das Bild gegen meinen Stuhl. Als du gerade den Mund voller Salat hattest, blieb ein Kellner mit dem Bein an dem Rahmen hängen und das Kunstwerk fiel um. Du liebtest dein Bild, blicktest den Kellner, der das Bild mit einem abfälligen Blick wieder aufstellte, wütend an und riefst mit dem Mund voller Salat: „Sagen Sie mal! Ist das Bild durchsichtig? Ihr menschlichen Pinguine meint wohl, ihr könnt euch alles erlauben, was? Also, das glaub ich jetzt nicht!“
Mein Gott, Laura, ich vergöttere dich, da du das alles auf Deutsch von dir gegeben hast. Keiner verstand dich. Ansonsten, glaube ich, hätte man uns rausgeschmissen.
Nachdem wir das Restaurant wieder verlassen hatten, bestandst du auf einen Besuch vom Big Ben.
Bei meinem alleinigen Londontrip fuhr ich mit der gleichen Linie zum Kirchturm, wie wir damals. Ich


setzte mich auf den gleichen Platz. Weißt du noch, wo wir saßen? Dritte Reihe von hinten auf der linken Seite. Du wolltest unbedingt am Fenster sitzen, damit du nichts auf der Fahrt durch London verpasstest. Ich klemmte dein Bild zwischen meine Füße.
Doch als du dann die unendlich vielen Stufen von Big Ben erklimmen wolltest, streikte ich. Mit dem großen Gummibärenbild wollte ich nicht auf den Turm klettern. Und dabei wusstest du nicht einmal, ob man überhaupt in den Turm kommen konnte. Ohne uns darüber zu informieren, machten wir uns auf den Weg zurück zum Hotel. Zu Fuß, um Geld zu sparen... Ich mit dem Bild unterm Arm, du mit gespielter schlechter Laune, da ich nicht auf den Turm wollte.
Laura, ich stand wieder unter Big Ben. Hielt das gleiche Bild unterm gleichen Arm, schaute hinauf zum großen Ziffernblatt, fragte mich, ob man dort überhaupt hinauf kommen konnte. Ganz in der Nähe stand ein Bobby, den ich hätte danach fragen können. Aber ich wollte es nicht wissen. Laura, ich wollte nichts wissen, was du nicht auch wusstest. Ich wollte London so verlassen wie damals, als du an meiner Seite warst: Ratlos, ob Big Ben zu erklimmen war.
Nein, ich machte mich auf den Weg zum Hotel. Zum Ritz. Auf den Weg zur Suite mit den weißen Seidenvorhängen, den goldenen Armaturen im Marmorbad, im dritten Stock. Unsere Suite. Unsere Suite, in der wir gemeinsam drei wundervolle Tage


erlebten. Jedes Mal, wenn ich morgens erwachte, sah ich dich neben mir liegen. Dein Haar genauso auf dem Kissen ausgebreitet, das selbe Lächeln auf den Lippen, als wir gemeinsam in dem Bett lagen. Alles war an meinem Wochenende wie an unserem. Ich erlebte alles noch einmal. An jedem Tag unternahm ich das gleiche wie mit dir. Manchmal glaubte ich, deine Anwesenheit zu spüren. Manchmal dachte ich, du kämest jeden Moment wieder aus einem schrillen Laden heraus und würdest von den vielen Kleidern schwärmen. Manchmal bildete ich mir ein, die Leute drehten sich nach uns um, obwohl nur ich durch die Straßen lief. Aber eines fühlte ich immer: Meine Sehnsucht zu dir.
Und am Sonntag im Flugzeug reservierte ich zwei Plätze: Einen am Fenster und den links daneben. Den am Fenster ließ ich frei und konnte dich sehen, wie du auf die Welt herunterblicktest, umschienen von dem hellen Licht der Sonne. Ich weiß, ich bin verrückt, Laura, aber ich vermisse dich so sehr. Und immer wieder die Frage:

Warum hast du mich verlassen?
Sebastian


8. Brief

Liebste Laura,

ich sitze in meiner Küche, starre auf das Bild aus der Portobello Road. Ich kann dich einfach nicht vergessen, Liebste. Du bist allgegenwärtig. Wenn ich in meinem Wohnzimmer bin, wenn ich auf der Straße laufe oder wenn ich schlafe. Besonders nachts sehe ich dich oft. Dann lächelst du mich immer so an wie früher, als du noch bei mir warst. Ich habe dich immer noch so in Erinnerung, wie bevor du gingst. Blonde Haare, meist seitlich gescheitelt und manchmal mit Pferdeschwanz. Blaue Augen, die mehr als Worte sagen konnten und mir so viel bedeuteten. Laura, du bist tief in meinem Herzen verankert, bleibst bis zu meinem Tode in mir drinnen versteckt. Vielleicht bin ich der einzige, der dich so sehr vermisst? Kannst du meine Liebe erfahren, wo du jetzt bist?
In meinem heutigen Brief möchte ich dir nur sagen: Nutze dein Leben!

Nutze jede einzelne Sekunde,
Jede von ihnen ist einmalig.
Nur in Gedanken
Kann man sie wiederholen.


Das Leben ist zu kurz,
Um es zu verschenken.
Nutze dein Leben,
Es gibt nur eine Chance.

Nutze diese Chance!
Sebastian


9. Brief

Liebste Laura,

ein Leben ohne Sinn ist sinnlos. Es zieht an einem vorbei, ohne dass man es bemerkt. Nichts hat Bedeutung, niemand kann einem helfen – nur die Dunkelheit beherrscht einen. Überall um mich herum ist es dunkel, Laura! Man hat mir meine Sonne genommen, den Sinn meines Daseins: Dich! Den einzigen Grund, es auf dieser Welt zu schaffen, zu kämpfen – zu leben! Mein Engel, ohne dich scheinen die einfachsten Dinge unmöglich. Ich kann nicht mehr schlafen, ich mag nicht mehr essen, mag nicht mehr aus dem Haus gehen. Nicht mehr lange und ich bin nur noch ein Phantom meiner selbst. Wie sehr wünsche


ich mich in die Vergangenheit, ins bereits gelebte, erlebte.
Zwei Tage nachdem wir aus London zurückgekehrt waren, klingelte es an meiner Tür. Es warst du. Schon in deinen Augen konnte ich erkennen, dass dir etwas auf deiner zarten Seele brannte.
„Du, ich muss dir etwas wichtiges sagen!“, sagtest du in einer eigenartigen Stimmlage zu mir, als wir am Küchentisch Platz nahmen.
Es klang einerseits sehr erfreut, andererseits auch bedrückt. Und das machte mir Angst. Unbeschreibliche Angst, Laura. Was war nur los mit dir? Was war nur geschehen? Würdest du mir etwas schlimmes sagen?
Ich blickte dir in die Augen. Ich merkte, dir fiel das Sprechen schwer. Immer wieder stockend erzähltest du mir dann, dass du nach Berlin fahren müsstest. Ein Einsatz als Polizistin bei einem großen Treffen verschiedener Staatsmänner. Ich dachte mir zunächst nichts dabei und freute mich für dich. Sicherlich würde es eine große Ehre für dich sein.
„Das ist es nicht,“, fügtest du hinzu, nachdem ich dir gratuliert hatte, „Ich komme nicht schnell zurück! Dieser Gipfel, er dauert eine Woche. Und ich muss schon eine Woche vorher nach Berlin!“
Diese Nachricht schlug mich nieder. Heftig wie ein Stoß zwischen die Rippen, nur das es mein Herz und meine Seele traf. Ich konnte nicht mehr klar denken,


eine dunkle Wand schob sich in mein Gehirn. Sie nahm mir die Sicht zur Realität.
Ich ließ mich in meinen Stuhl zurücksinken. Mir wurde es schwer zu atmen. Fast wäre ich in Tränen ausgebrochen.
Ja, Engel, ich hätte fast geweint. In London, kannst du dich erinnern, da hatte ich geweint – wegen dir! Du bist die einzige Frau gewesen, wegen der ich jemals geweint hatte. Niemand zuvor hatte mich dazu gebracht. Laura, du bist die Quelle meiner Tränen.
Du bemerktest meinen Zusammenbruch. Fürsorglich kamst du zu mir her, knietest dich neben mich. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Deine Hand strich mir langsam und vorsichtig übers Knie. Wie zärtlich deine Berührungen immer waren. Fast wie ein schüchternes Kennenlernen des anderen, wie eine Katze, die ihre Kinder umsorgt.
„Es sind zwei Wochen, kein Abschied für immer!“, flüstertest du, „Zwei Wochen gehen vorbei. Bitte, beruhige dich! Ich hänge auch an dir und werde meinen besten Freund vermissen!“
Du würdest mich vermissen! Du hattest es wirklich gesagt. Ich hob meinen Kopf aus den Händen. Deine Augen flehten mich an, wieder zu lächeln. In ihnen konnte ich lesen, dass du ebenfalls traurig warst, mich zwei Wochen lang nicht zu sehen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, es zwei Wochen lang ohne dich auszuhalten. Du warst, und bist, mein


Lebensinhalt, meine Stütze in dem Sturm der Gefühle.
„Wann musst du fort?“, wollte ich wissen.
Du senktest deinen Blick, deine Hand erstarrte auf meinem Knie. Ich ergriff sie und hielt sie vorsichtig fest. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich dir wütend war. Nein, ganz im Gegenteil. Ich freute mich für dich, da du für diesen Einsatz eingeteilt worden warst. Und ich wusste, du würdest deinen Job ernst nehmen und die Politiker beschützen.
Deine Stimme klang abgewürgt, als du antwortetest: „Am Freitag!“
Das bedeutete nur noch zwei Tage, an denen ich dich sehen konnte. An denen ich in deiner Nähe sein durfte. Zwei Tage, an denen ich mich nicht nach dir sehnen und warten musste, auf dass du zurückkommst.
Ich sackte wieder vor Bitterkeit zusammen. Um mich zu trösten sagtest du: „Und bis dahin bleibe ich nur bei dir! Bei meinem besten Freund!“
Du fielst mir um den Hals. Ich schlang meine Arme um deinen zierlichen Körper. Hast du damals gemerkt, dass ich stumm an deine Schulter gelehnt weinte? Ich wollte dich nicht gehen lassen! Ich wusste, du nimmst deinen Job ernst, das habe ich dir ja schon gesagt, aber erst jetzt keimte in mir Angst um dich auf. Was würde passieren in Berlin? Würdest du die Politiker beschützen, auch wenn du somit in Gefahr geraten würdest? Würdest du dich gegen gewalttätige Demonstranten wehren? All diese Fragen brannten in


mir, unausgesprochen wie immer...
Du löstest dich plötzlich von mir, lehntest deine Stirn an meine. Behutsam hast du mir über die Wange gestrichen.
„Ich pass auf mich auf, Sebastian!“, flüstertest du mir ganz leise zu und nahmst mich erneut in den Arm.
In diesem Moment hatten wir uns für uns alleine. Ich schob Berlin ganz weit von mir weg, wollte dich nun nur noch spüren. Deine Wange an meiner, es fühlte sich so traumhaft, ja wenn nicht sogar surreal an. Wie in einem Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen könnte. Laura, mein Herz rief leise nach dir. Leise, da es noch betäubt von deiner Nachricht war. Und vielleicht gewann es deswegen auch nicht den Kampf gegen meinen Verstand. Hätte ich dir ansonsten meine Gefühle offenbart? Vielleicht... ich weiß es nicht... möglicherweise.. Mut.. Angst... Alles liegt so dicht beieinander. Ohne Angst wäre der Mut nichts besonderes, andersherum ebenfalls. Hat man Mut, so hat man keine Angst. Und besitzt man keinen Mut, spürt man die Angst. Warum sind Gefühle so verwirrend? Und warum traute ich mich nicht, den Preis der Liebe zu bezahlen? Und zwar den, dass ich deine Freundschaft zu mir zerstören könnte. Dieser Preis war mir zu hoch, Liebste Laura.
Wir lagen uns lange in den Armen. Du hocktest immer noch vor mir, während ich auf dem Küchenstuhl saß. Es muss einfach nur ungemütlich für dich gewesen


sein, aber du verharrtest so, wie du warst. Dann ließen wir uns los. Deine Augen versuchten, mir Mut zu zu sprechen. Ihr Blau strahlte heller als das Meer im Sonnenlicht. Ich versank völlig in dem Meer deiner Augen. Dachte, ich ertrinke. Und wieder warst du es, die mich rettete.
„Bringst du mich am Feitagmorgen zum Bahnhof?“
Eine große Überwindung, aus dem Meer voller Träume zu entspringen, aber ich fasste mich und antwortete, wobei ich dich ernst ansah: „Ich würde dich überall hinbringen!“
Du enthülltest dein wunderschönstes Lächeln, mit dem du einem Engel glichst. Hätte man mich gefragt, ob ich an Engel glaubte, so hätte ich geantwortet: „In meinem Herzen lebt ein Engel!“

Und der Engel bist du!
Sebastian


10. Brief

Liebste Laura,

kann sich ein Segelboot ohne den Wind fortbewegen? Kann ein Baum Laub tragen ohne die Jahreszeiten?


Kann ein Vogel ohne seine Flügel fliegen? Und kann ein Mensch ohne Liebe leben? Alles ist unmöglich. Das Boot bleibt liegen, der Baum bleibt kahl, der Vogel bewegungslos und der Mensch vergeht.
So ist es bei mir. Jeden Tag merke ich, wie ich schwächer werde.
Ich bin verloren ohne dich! Komm zurück zu mir und helfe mir, ins Leben zurück zu finden. Ohne dich werde ich es niemals schaffen, Laura! Komm wieder!!!
Das hätte ich auch am liebsten gesagt, als du in den Zug nach Berlin gestiegen und abgefahren bist. Du hattest mir versprochen, die letzten Tage mit mir zu verbringen. Doch du hattest keine Zeit. Oh, wie sehr verfluchte ich in den einsamen Zeiten deinen Job. Du musstest noch viel vorbereiten, warst vollkommen auf deinen Job fixiert. Ich war abgemeldet. Laura, ich war regelrecht eifersüchtig auf deinen Job. Ich war so sehr in dich verliebt, dass ich eifersüchtig auf einen Job war!
Und dann holte ich dich am Freitag morgens um halb neun bei dir zu Hause ab. Du schlepptest zwei Koffer mit dir und warst aufgeregt. Ich konnte dich gar nicht mehr beruhigen. Du hast mich sogar mit deiner Nervosität angesteckt. Als wir dann aber den Bahnhof erreichten, wurdest du ganz still. Regelrecht abwesen. Laura, in dem Moment warst du mir fremd.
Ich half dir, deine Koffer zum Bahnsteig zu tragen.


„Säße ich doch nur schon im Zug!“, sagtest du
aufgeregt und blicktest die Schienen links und rechts herunter.
Wolltest du so unbedingt von mir getrennt werden? Ich konnte es nicht glauben. Du freutest dich darauf, von mir getrennt zu sein?
„Bin ich so schlimm?“, fragte ich humoristisch, obwohl ich lieber geweint hätte.
Du drehtest dich zu mir um. Zunächst konnte ich deinen ernsten Blick nicht deuten. Dein Gesicht war versteinert, deine Augen lachten mich in ihrem strahlendsten Blau an. Es verwirrte mich. Ein paar Sekunden, in denen ich fast verrückt geworden wäre. Du hast mich zappeln lassen, Liebste. Wie einen Fisch an der Angel. Nahm man ihn ab oder sollte er die Freiheit weiterhin genießen, indem man ihn wieder ins Wasser schmiss?
So habe ich mich in den Sekunden deines Schweigens gefühlt. Wie ein Fisch an der Angel...
Laura, ich danke dir, da du dich für die Freiheit entschieden hast, da du mir plötzlich lachend sagtest: „Aber natürlich! Du weißt genau, dass ich nur ungern ohne dich fahre!“
Mit großem Grausen vernahm ich die Zugansage.
„Einfahrt auf Gleis drei hält der Intercityexpress nach Berlin. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt!“
Nein, wir hatten nur noch Sekunden. Ich spürte die Erschütterungen im Boden, als der ICE neben uns


einfuhr. Der Fahrtwind blies dir ins Gesicht und spielte mit deinen Haaren.
Wie ein Engel im Wind...
Leise quietschend hielt der Zug, die Türen surrten auf und viele Menschen stiegen aus. Sie eilten zu den Treppen, zu ihren wartenden Freunden, zu anderen Zügen, die sie noch erreichen mussten. Und zwischen diesem Gedränge und Gewühl standen wir wie angewurzelt. Keiner von uns beiden wagte es, etwas zu sagen. Keiner rührte sich, blickte dem anderen nur in die Augen. Du mir in meine traurigen grünen Augen, ohne irgendeinen Schimmer, ich in deine blauen, die ebenfalls Traurigkeit wiederspiegelten.
Laura, ich wollte dich nicht gehen lassen. Ich wollte nicht, dass du nach Berlin fuhrst, nur damit du irgendwelche Politiker schützen konntest, die deine Arbeit vielleicht gar nicht schätzten. Sie schätzten nicht deinen Einsatz deines Lebens! Ich dagegen schätzte dich. Ich verehrte dich, sehnte mich in einsamen Stunden nach dir, liebte dich mit meinem ganzen Herzen. Ohne, dass du es wusstest!
Plötzlich, ohne Vorwarnung, fielst du mir um den Hals, wie damals im Ritz, als du das Zimmer begutachtet hattest. Ich fühlte wieder deinen Atem an meinem Hals, deine Brust schmiegte sich wieder an meine und deine Arme umschlangen meinen Nacken. Sehnsüchtig schlang ich meine Arme um deinen


Körper, drückte dich ganz fest an mich. Nein, ich ließ dich nicht gehen! Das konnte ich nicht, Laura!
Nur leise drang das Pfeifen des Schaffners zu mir hindurch. Du allerdings hattest es gehört und lockertest deine Umarmung.
„Ich muss gehen!“, hauchtest du mir zu, deine Augen in meine gerichtet.
Und mit einem Mal sah ich alles nur noch in Zeitlupe. Ganz langsam näherte sich dein Gesicht dem meinen, ich stand erstarrt da, hielt dich immer noch im Arm. Zart und vorsichtig legten sich deine Lippen auf meine. Zitternd und unsicher erwiderte ich deinen scheuen Kuss. So zaghaft er auch war, ich wusste, dass dies mein einzig wahrer Kuss in meinem bisherigen Leben war. Noch nie hatte mein Herz so sehr geklopft, nie hatten meine Beine so gezittert und nie hatte ich solche Gefühle bei einem Kuss gespürt. Es war wie ein Feuerwerk im Inneren, wie ein Rausch. Laura, ich vergesse unseren ersten Kuss niemals! Der in London zählte nicht. Ich hatte ihn vergessen...
So kurz dieser Kuss auch war, ich wollte mehr. Kaum hatte ich ihn realisiert, löstest du dich von mir, schnapptest deine Koffer, sprangst in den Zug und riefst mir zu: „Ich komme so schnell es geht zurück! Bis dann, mein Freund!“
Dann schloss sich die Tür, der Zug setzte sich in Bewegung. Ich blickte dir hinterher, wie du durch den Zug gingst, einen Fensterplatz fandest und dich dort


niederließt. Du winktest mir zu, während der Zug immer schneller wurde. Ich rannte inzwischen neben deinem Fenster her, wollte so weit wie möglich mit dir gehen. Mit meiner Liebe zu dir hätte ich es noch viel weiter geschafft, doch das Ende des Bahnsteiges hinderte mich daran, bei dir zu bleiben. Voller Sehnsucht und Verlangen nach dir blieb ich stehen, meine Schultern hingen schlaff herunter, begannen zu zucken. Ich weinte...
Wie nur sollte ich die zwei Wochen überstehen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Zwei Wochen, vierzehn Tage, 336 Stunden, 20.160 Minuten, 1.209.600 Sekunden. Alles unendlich... Unmöglich zu überleben.
Ich habe keine Ahnung, wie ich den Bahnhof verlassen habe. Ich weiß nur, dass ich mir im Bahnhofskiosk eine Flasche „Eckes Likör“ kaufte, nach Hause fuhr und mich dort auf dem Sofa betrank. Die Flasche in der Hand lag ich rücklings auf dem Sofa, starrte an die Decke.
Laura, ich habe dich schon vermisst, als du in den Zug gestiegen bist. Und jetzt lag ich alleine zu Hause, war zu betrunken, um mich überhaupt noch bewegen zu können. Was sollte aus mir werden? Ich konnte doch nicht zwei Wochen lang hier liegen bleiben!
Stöhnend drehte ich mich nach rechts, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. In meinem Kopf drehte sich alles. Ein pochender Schmerz dröhnte in


ihm und machte mich fast verrückt. Wie durch einen Schleier nahm ich die Uhrzeit auf meiner Armbanduhr wahr: 14.45 Uhr.
Seit gut sechs Stunden warst du fort. Und ich musste mindestens fünf Stunden an die Decke starrend auf dem Sofa gelegen haben.
Die leere Likörflasche war mit mir vom Sofa gefallen und rollte nun langsam Richtung Telefon, wobei sich ein paar Tropfen des Getränks auf dem Fußboden ausbreiteten. In diesem Moment war ich froh darüber, Parkett zu besitzen. Matt folgte ich der Flasche mit meinen Augen. Leise klirrend stieß sie an dem Schränkchen an, auf dem mein Telefon lag. Wieso riefst du nicht an? Warst du noch unterwegs? Hattest du keine Zeit? Ich vermochte es nicht einmal zu denken, aber – war dir etwas zugestoßen?
Dieser Gedanke ernüchterte mich in Sekundenschnelle. Meine Gedanken überschlugen sich. Vor meinen Augen tauchte ein entgleister Zug auf, ein verunglücktes Taxi, ein Raubmord auf offener Straße. Angesichts dieser Hirngespinste überkam mich ein plötzlicher Brechreiz. Torkeln schaffte ich es auf die Beine. Musste mein Gleichgewicht finden, während ich gegen diesen Reiz ankämpfen musste. Mit unsicheren Schritten schaffte ich es noch rechtzeitig ins Bad...
Ich saß auf dem Boden im Bad, lehnte mich an der


Badewanne an. Die Kühle der Fliesen dämmte mein Unwohlsein etwas ein. Es ging körperlich wieder langsam bergauf mit mir. Seelisch eher bergab...
Ich vergrub mein Gesicht in meinen angezogenen Knien. Innerhalb von wenigen Augenblicken war meine Hose an den Stellen völlig durchnässt. Wieder weinte ich, da du mir so fehltest. Man hatte mir mein Herz genommen, es Hunderte von Kilometern entfernt wieder rausgelassen. Ich verstand es einfach nicht. Wie viele Jahre sucht man nach einem Menschen, der einem so viel bedeutet, einen liebt? Und sobald man diesen Menschen gefunden hat, wird er einem entrissen. Und sei es auch nur für ein paar Wochen! Liebt man, ist die Zeit verdreht. Kurze Zeitabschnitte werden noch kleiner, lange Zeitspannen werden größer. Die Liebe ist eine eigenartige Eigenschaft der Menschheit. Wer hat sie erfunden? Sie soll doch schön sein, wundervolle Erinnerungen hinterlassen, die Erfüllung sein! Nur meistens kommt es anders. Man leidet unter einer nicht erwiderten Liebe. Man leidet unter einer Liebe, die so stark ist, dass man sich nicht traut, sie zu offenbaren. So ist es auch bei mir gewesen, Liebste.
Endlich schaffte ich es, meine Tränen zu besiegen. Ihr Strom versiegte und ich konnte wieder klar sehen. Nur das Denken fiel mir weiterhin schwer. Die Wirkung des Alkohols holte mich wieder ein. Mit schweren Gliedern stand ich vom Boden auf und ging langsam


zurück ins Wohnzimmer, wo ich begann, das Telefon anzustarren. Auf dem Sofa liegend versuchte ich es mit Hypnose zum Klingeln zu bringen. Mein Blick verharrte auf dem Apparat. Klingel, Telefon, klingel! Du sollst klingeln! Klingel für mich! Klingel für die Liebe!
Ich bekam noch mehr Kopfschmerzen von dem Ganzen. Seufzend schloss ich meine Augen. Kaum hatte ich sie geschlossen, schlief ich ein.
Es war tief und traumlos, eine Quelle der Erholung. Nur im Schlaf konnte ich mein Verlangen nach dir ablegen. Im Schlaf schöpfte ich neue Kraft, um die nächsten Stunden zu überleben. Es sei denn, ich träumte von dir. Dann weinte ich im Schlaf, wimmerte vor mich hin, wachte schweißgebadet auf und rief deinen Namen. Anschließend lag ich noch lange wach, dachte an dich. Glaubte, dass du meine Liebe auch unendliche Kilometer entfernt spüren konntest. Laura, du hattest mich in deiner Gewalt.
Hattest du auch das Gefühl, die Zeit schlich nur so dahin? Konntest du überhaupt an mich denken während deiner Arbeit? Ich jedenfalls tat nichts anderes mehr. Du warst in Gedanken bei mir. Doch was nützt die Liebe in Gedanken? Es ist genauso, als versuchte man in der Wüste zu schwimmen. Es war einfach sinnlos.
Ich erwachte nach drei Stunden aus meinem Schlaf. Sofort fiel mein Blick auf den Anrufbeantworter neben


dem Telefon. Hattest du angerufen und ich hatte es nicht gehört? Blinkte das kleine Licht? Nein...
Ich sank zurück ins Sofa. Laura... meine Laura... Jetzt, jetzt wollte ich dir am liebsten alles sagen. Dir meine Gefühle gestehen. Wärst du jetzt hier...

Wärst du jetzt hier,
Würde ich dich fragen wie’s dir geht.
Wärst du jetzt hier,
Würde ich mich neben dich setzen.
Wärst du jetzt hier,
Würde ich meinen Kopf an deine Schulter schmiegen.
Wärst du jetzt hier,
Würde ich meine Arme um dich legen.
Wärst du jetzt hier,
Würde ich dir tief in die Augen schauen.
Wärst du jetzt hier,
Würde ich dir meine Liebe gestehen.
Wärst du jetzt hier,
Würde ich dich zärtlich küssen.
Wärst du jetzt hier,
Würde ich dich nicht mehr loslassen.

Ja, all das würde ich tun, wenn du nun hier bei mir sein würdest. Aber du warst nicht da. Du warst in Berlin. In einer großen Stadt. Mein kleines Mädchen allein in einer großen Stadt. Die große Stadt und mein kleines


Mädchen. Wie auch immer ich es drehte, ich konnte es mir nicht vorstellen, dass du allein in Berlin warst, um deinen Job zu machen. Warum nahmen sie keine Polizisten aus Berlin? Warum mussten sie meine Laura holen, die Hunderte Kilometer entfernt wohnte? Warum nahm man mir mein Mädchen, das nicht wusste, dass es mein Mädchen war?
Und ich verbrachte den Tag alleine, saß auf dem Sofa und starrte auf das schweigende Telefon. Hattest du mich vergessen? Und ich versprach dir, ohne dass du es wusstest:

Ich werde auf meine Liebe warten!
Sebastian


11. Brief

Liebste Laura,

ein Leben ohne zu lieben ist unvorstellbar, aber eine Liebe nicht zu leben ist unmöglich. Verstehst du, was ich meine?
Ich habe es nie gewagt, dir diesen einen Satz zu sagen, der mir schon so lange auf der Seele lastete. Dieser Satz, der nur aus drei simplen, aber auch


schweren Wörtern bestand.
Ich habe mich niemals getraut, dir es zu sagen. Und als du in Berlin warst, ich bei mir zu Hause, hatte ich den Mut, es dir zu sagen. Doch du warst nicht da! Und ich WOLLTE es dir JETZT sagen! Jetzt und sofort.
Ich packte meinen Koffer, schmiss alles achtlos hinein, vergaß die Hälfte, schnappte mir mein Portmonee und rief mir ein Taxi. Auf dem Weg zum Bahnhof dachte ich immer wieder: „Laura, ich bin unterwegs! Hier und jetzt bin ich auf dem Weg zu dir, mein Engel!“
Der nächste Zug war nur ein Intercity. Ich beschloss, zunächst mit ihm zu fahren. Ich hatte so wieso nicht genug Geld bei mir, um den ganzen Weg von hier bis nach Berlin mit dem ICE zu fahren. Nach einer Stunde Fahrt erreichten wir wieder einen größeren Bahnhof. Ohne zu wissen, ob von hier überhaupt ein ICE Richtung Berlin fuhr, stieg ich aus. Ich, derjenige, der sich es niemals hatte getraut alleine mit dem Zug so weit zu fahren, jagte nun durch ganz Deutschland. Just for you, my darling!
Ich fand einen Fahrplan. Ein wenig gehetzt suchte ich nach einem ICE. Hatte allerdings kein Glück, die meisten fuhren nicht bis nach Berlin. Oder war Berlin einfach nur nicht verzeichnet? Um das herauszufinden, suchte ich den Informationsschalter auf. Ein unfreundlich wirkender Mann Mitte fünfzig gab mir Auskunft. Der nächste ICE, der direkt nach Berlin fuhr, käme erst in drei Stunden.


Warum erst in drei Stunden? Ich hatte bisher 24 Stunden ohne dich auskommen müssen und sollte nun noch drei weitere Stunden länger warten? Zudem kam ja noch die Fahrzeit! Laura, ich nahm die schwere Prüfung auf mich und kaufte mir ein Ticket zweiter Klasse. Nun besaß ich gerade noch ein paar Euro.
Die Zeit schlug ich tot, indem ich mich darauf freute, meine Liebste Laura schon in wenigen Stunden wieder in die Arme schließen zu können. Eine Frage drängte sich dabei plötzlich dazwischen. Eine Frage, die mir schwer auf dem Herzen lag: Warum hattest du dich nicht bei mir gemeldet? Warum, warum, warum, warum, warum?
„Warum?“, schrie ich laut in die Bahnhofsvorhalle hinein.
Einige Leute blickten mich an, voller Abneigung, Überraschtheit oder Mitgefühl. Woher sollten sie wissen, was in mir vorging. Die voller Abneigung dachten, ich sei ein armer Verrückter, der hier seine Zeit damit verbrachte, im Bahnhof zu rebellieren. Die voller Überraschtheit dachten, sie hätten sich verhört in dem gesamten Stimmengemurmel in der großen Halle. Und die voller Mitleid dachten, ich säße hier, trauerte um einen Menschen, den ich verloren hatte und mich nun fragte, warum.
In der Tat, ich hatte einen Menschen verloren und trauerte nun nach ihm. Aber meine Frage des Warum


war eine andere. Immer noch die, weshalb du dich nicht bei mir gemeldet hattest.
Warum???
Drei Stunden saß ich regungslos, mit dem Koffer zwischen den Füßen stehend, auf einer Bank in der Bahnhofshalle. Die Gedanken schwirrten nur so in meinem Kopf herum.
Der ICE kam, ich suchte mir einen Platz am Fenster und lehnte meinen Kopf gegen das kühlende Glas. Oh Laura, wärst du doch jetzt schon bei mir. Würdest du doch neben mir sitzen. Würdest du am Fenster verweilen, hinaussehen, dich von der Sonne bescheinen lassen, wie auf dem Weg nach London. Oh, wie unschuldig du da aussahst. Die Erinnerung an das Bild weckte einen Instinkt in mir, dass ich dich schützen müsste. Ich musste einen Engel schützen, schützen vor der rauen und bösen Welt, auf die er hinabgekommen war, um mir das Leben zu zeigen. Ein Leben, das ich nicht kannte. Ein Leben, dass meinem alten in keiner Weise mehr glich. Ein Leben, in dem der Engel die größte Rolle spielte. Ein Leben, in dem ich es nicht wagte, meine Gefühle zu offenbaren...
Vor dem Fenster zischte die Landschaft nur so vorbei. So schnell, dass man nichts erkennen konnte. Und doch ging es mir zu langsam. Konnten wir nicht schneller fahren? Ich musste doch meinen Engel in der großen Stadt beschützen!!!


Und immer wieder hielten wir. War es wichtig, dass andere Menschen ihre Wege fortsetzen konnten? Mussten wir unnötig Zeit für andere hergeben? Verlorene Zeit, die ich eigentlich bei dir verbringen wollte. Schließlich hatte man nicht ewig Zeit... Nicht wahr, Engel?
Wir passierten viele Bahnhöfe. Nach dem siebten hörte ich auf zu zählen. Die Landschaften wechselten sich vor dem Fenster ab. In den schemenhaften Umrissen erkannte ich Wiesen, Felder und Wälder, mal kleine Dörfer und große Städte. Deutschland war ein wandelbares Land, das erkannte ich auf dieser Fahrt. Und ich erkannte, dass nach grauen Städten wieder grüne Wiesen kamen. Wie im Leben. Nach schlechten Tagen kommen irgendwann auch wieder gute. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, verankert in unseren Leben.
Der Zug wurde langsamer. Eine Bandansage sagte mir, dass wir gleich den Bahnhof in Berlin Mitte erreichen würden. Ich nahm meinen Koffer aus dem Gepäcknetz, quetschte mich zwischen den engen Sitzreihen zur Tür und wartete darauf, dass wir endlich in den Bahnhof einliefen. Durch das Fenster in der Tür konnte ich einen kurzen Blick auf Berlin werfen, als wir in den Bahnhof einfuhren und hielten. Die Tür surrte lautlos auf, ich betrat zum ersten Mal in meinem Leben unsere Hauptstadt. Eine unbekannte Stadt eröffnete sich mir. Schon auf dem Bahnsteig lungerten die


Drogenabhängigen Jugendlichen. Kein Zuhause, keine Arbeit, keine Zukunft. Mir taten sie leid. Laura, hättest du sie gesehen, wie sie zitternd vor Hunger auf dem Steig saßen, hättest du sicherlich begannen zu weinen. Ich wusste, du hattest ein großes Herz – für jeden Menschen. Egal ob Mann, Frau, Kind, Alte, ob schwarz, ob weiß, ob Christ, ob Jude. Für dich waren alle Menschen gleich. Und diese Einstellung war auf mich übergesprungen wie ein Funke eines Feuers auf trockenes Stroh.
Ohne die geringste Ahnung wohin ich überhaupt ging, machte ich mich auf den Weg. Ich durchstreifte kleine Straßen, überquerte breite und vor allem vielbefahrene Straßen. Musste aufpassen, dass ich nicht unter die Fahrräder kam. Solch ein Gewusel im Straßenverkehr war ich nicht gewöhnt. Und ich stürzte mich in diesen Dschungel, nur um dich zu sehen.
Die Sonne stand schon tief am Himmel, als ich das Brandenburger Tor erreichte. Mir war der Arm vom Koffertragen schwer geworden. In der Nähe des Berliner Wahrzeichens setzte ich mich auf eine Bank – und bereute meinen Entschluss, hier her zu kommen. Ich sehnte mich zwar so sehr nach dir, wollte unbedingt bei dir sein, aber ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie ich dich in dieser großen Stadt finden sollte. Ich kannte weder dein Hotel, noch jemanden, den ich danach fragen konnte. Eine gewaltige Angst breitete sich in mir aus. Was sollte ich


jetzt tun? Ich hatte kein Geld mehr, mein Konto war auch so gut wie leer, da ich immer noch keinen Job gefunden hatte. Wo sollte ich bleiben? Auf der Straße? Mir fielen die Kids vom Bahnhof ein. Wenn die es schafften, warum nicht auch ich?
Ich seufzte und stützte meinen Kopf in die Hände. Liebe macht blind, das wusste ich nun selber. Ich bin gefahren, einfach so. Liebe macht blind und schaltet sämtliches Denken aus. Aus! Ende! Ich war verurteilt, auf der Straße zu bleiben. Es gab kein Zurück, ich saß in der großen Stadt fest.
Laura, wo warst du nur? Ich wollte bei dir sein und hockte nun auf einer Bank mitten in Berlin! Tränen füllten meine Augen. Schon fiel die erste auf mein Knie. Eine zweite folgte, eine dritte und ich weinte lautlos vor mich hin. Langsam ging die Sonne unter, tauchte alles in ihr sanftes rot.
Ich fand mich mit dem Gedanken ab, allein und gestrandet zu sein, als ich plötzlich Schritte hörte. Mir war es egal, mir konnte niemand helfen! Ich ließ meine Augen geschlossen, weinte weiter. Die Schritte kamen direkt auf mich zu. Sicherlich ein Passant. Doch auf einmal verlangsamten sich die Schritte, stockten.
Laura, schoss es mir in den Kopf, Laura, komm zu mir! Komm zu mir her!
Und dann...
„Sebastian?“


Ich blickte überrascht auf. Ein Schatten fiel auf mich. Ich erkannte nur Umrisse eines zierlichen Menschen, der vor mir stand und die untergehende Sonne abschirmte. Zudem nahm mir meine Panik und meine Tränen den klaren Blick.
„Sebastian?“
Ich kannte diese Stimme. So vertraut und so – ENGELSGLEICH???
Noch einmal ertönte diese sanfte Stimme vor mir, diesmal nicht fragend sondern fordernd: „Sebastian!!!“
Ich konnte es nicht glauben! Ich sprang von der Bank auf, erkannte so das Gesicht meines Engels: Deines! Du hattest mich gefunden, obwohl ich hatte dich finden wollen! Du hattest mich in der fremden, großen Stadt gefunden!
„Laura!“, rief ich erfreut unter Tränen. „Laura!“
Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, war immerhin schon den gesamten Tag unterwegs. Kraftlos fiel ich zurück auf die Bank. Meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Während ich versuchte, neue Kraft zu sammeln, setztest du dich neben mich. Gemeinsam blickten wir in die untergehende Sonne.
In meinem Leben ging dagegen gerade wieder die Sonne auf. Wir waren wieder vereint. Du saßt neben mir, lehntest deinen Kopf gegen meine Schulter. Und wieder schrie mein Herz nach dir. Es erinnerte mich daran, dass ich dir eigentlich was hatte sagen wollen. Und obwohl mein Herz so sehr schrie, brachte ich es


nicht über die Lippen. Ehrlich gesagt, Laura, hasste ich mich in diesem Moment. Warum konnte ich nicht den Mund auf machen und einfach sagen, was ich für dich empfand? Warum war ich ein solcher Hasenfuß? Mut, Angst, Mut, Angst... Wieder erkannte ich, dass es nie ohne Gegensätze funktionierte.
„Warum bist du mir gefolgt?“, fragtest du mich plötzlich, so dass ich aus meinen Gedanken aufschreckte.
Es wäre die Chance gewesen, dir alles zu sagen. Der passende Moment. Du hättest es jetzt vielleicht verstanden.
„Ich...“, begann ich, „Ich konnte – ich wollte...“
Ja, was wollte ich? Dieses Hin und Her weiter leben, oder dir alles sagen? Was wollte ich?
„Ich... ich... ich wollte dir nur sagen, dass...“
Die ganze Zeit schautest du mir ins Gesicht, als lauertest du auf meine Antwort. Deine Augen flehten mich an, endlich etwas zu sagen, dass konnte ich spüren.
„Ich wollte nur sagen, dass du meine beste Freundin bist!“
Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein!
Ich biss mir schmerzhaft auf die Zunge, schmeckte schnell Blut. Und du? Was hast du gemacht? Du hast dich an mich geschmiegt und gesagt: „Und dafür kommst du nach Berlin? Nur um mir zu sagen, dass


ich deine beste Freundin bin?“
Nein, dafür nicht! Dafür nicht, mein Engel!!!
Ich schwieg, genoss es, wie du dich an mich drücktest. Zum zweiten Mal im Leben wollte ich jetzt mehr! Mehr als vorsichtige Berührungen, mehr als nur nette Worte. Ich wollte –
„Willst du mit in mein Hotel?“, unterbrachst du mich beim Denken.
Hotel? In dein Hotel? In dieser Sekunde wäre ich überall mit dir hingegangen. Ich hätte dir sogar geglaubt, dass man über das Wasser gehen könnte. Ich hätte dir geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. Ich hätte dir geglaubt... Ach Laura, ich hätte dir alles geglaubt, hätte es noch so unwirklich geklungen!
Ich tat so, als überlegte ich. Dabei wollte ich nur sehen, ob dir wirklich etwas an dem Angebot lag. Und so wie es schien, tat es das. Wieder flehten mich deine Augen an, dass es mir ganz warm in der Seele wurde.
„Ja, das will ich, Laura!“, antwortete ich langsam und sah dich an.
Du schenktest mir dein verführerischtest Lächeln, nahmst meine Hand, zogst mich von der Bank und so gingen wir Hand in Hand durch das Brandenburger Tor, bis zu deinem Hotel. Du hattest mir meinen Koffer abgenommen, indem sich eigentlich nichts befand, was ich hätte gebrauchen können. In dem Durcheinander heute Morgen hatte ich nur ein paar


Zeitschriften, einen Pullover, eine Hose, etwas Unterwäsche und einen alten Atlas eingepackt. Als diese Sachen auf deinem Bett ausgebreitet lagen, musstest du herzhaft lachen. Du konntest nicht verstehen, weshalb ich solche unnützen Dinge eingepackt hatte. Dabei lag es klar auf der Hand: Ich wollte so schnell wie möglich bei dir sein. Wollte keine Zeit mehr verschenken und musste daher meinen Koffer innerhalb weniger Augenblicke packen. Zudem mein nicht ganz klarer Gedankengang. Denn ich konnte nur denken: „Laura, ich muss zu dir!“
Und jetzt stand ich neben dir am Bett, in einem kleinen Hotel in Berlin. Es war nicht so luxuriös wie das in London, eher klein und heruntergekommen. Am liebsten hätte ich dich in ein Hotel gesteckt, das dir zu Ehren gerade reichte. Einen Engel in einem solchen Kellerloch unterzubringen zählte von nun an zu den Todsünden. Die Tapeten lösten sich an einigen Stellen von den Wänden, in den Ecken waren Spinnenweben, die Gardinen strahlten nur so vor Staub und es roch überall leicht modrig. Ich mag gar nicht daran denken, wie du es geschafft hattest, in diesem Bett zu nächtigen. Eine durchgelegene Matratze, eine steife Decke und ein Kopfkissen, dass eher ein dünnes Handtuch war.
Ich wollte nicht, dass mein Engel so leben musste. Für einen Engel, für meinen Engel, war das Beste gerade gut genug. Mein Engel sollte das Leben genießen können, die kurze Zeit auf Erden genießen...


Mein Blick hatte sich auf das Bett gerichtet. Es war ja nicht nur so, dass es eine Stätte für Milben war, sondern auch nur ein Einzelbett. Sollten wir etwa...?
„Ich kann auch auf dem Boden schlafen!“, schlug ich dir vor.
Du schütteltest den Kopf, dass deine Haare nur so umherflogen. Lachend legtest du deine Hände auf meine Schultern, stelltest dich vor mich und meintest: „Auf keinen Fall! Du kommst nach Berlin und schläfst auf dem Boden? Nein, das kann ich nicht übers Herz bringen!“
Übers Herz bringen. Wieder war es da. Wieder fiel mir ein, weshalb ich den langen Weg nach Berlin auf mich genommen hatte: Dir alles zu gestehen!
Mein Mund wurde ganz trocken. Ich musste es dir sagen! Ich musste einfach! Noch einmal tief durchatmen, und –
Ein gewaltiger Hustenanfall schüttelte mich plötzlich durch. Lag es an der schlechten Luft in diesem Zimmer? An meiner Aufregung, da ich es meinem Engel endlich gestehen wollte, wie sehr ich ihn liebte, ihn verehrte, mich nach ihm sehnte?
Der Husten wurde immer schlimmer. Ich bekam kaum noch Luft, knickte mit den Knien ein und hockte auf dem Boden, während ich röchelnd hustete. Du erschrakst sehr darüber, knietest dich neben mich. Dein Arm strich mir beruhigend über den Rücken.
Ein Schrei in meinem Inneren ließ mich verstummen.


Ich saß am Boden, du neben mir. In meiner Brust schnürte sich etwas heftig zusammen. Es tat richtig weh. So einen Schmerz hatte ich noch nie verspürt. Ich klopfte gegen meine Brust, in der Hoffnung der Schmerz würde versiegen. Doch nichts geschah. Außer dass du mich mit bleichem Gesicht angesehen hast.
Es tat mir so leid, dass du dich so sehr um mich sorgtest. Ich konnte dich nicht leiden sehen und musste es nun doch. Die Angst in deinen Augen, deine Sorgenfalten auf der Stirn. Und als du mich so ansahst, erkannte ich, dass es kein körperlicher Schmerz in meiner Brust war, sondern ein seelischer. Meine Gefühle überschwammen mein Herz, gaben ihm Stärke, Kraft und Mut, meinen Verstand nach so langer Zeit endlich zu besiegen.
Ich holte tief Luft, blickte dir in die angsterfüllten Augen und flüsterte: „Laura, ich muss dir etwas sagen!“
Du schautest mir tief und stumm ins Gesicht.
Wusstest du, was ich dir sagen wollte?
Engel, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich unter den ständigen Kämpfen zwischen meinem Herzen und meinem Verstand gelitten habe. Und immer gewann mein Verstand. Mein Herz verlor langsam die Hoffnung, jemals die Oberhand zu erlangen. Aber jetzt, hier, nach so langer Zeit...
„Laura,“, flüsterte ich zärtlich und nahm deine Hand, „Laura, ich... ich...“


Ohne, dass wir es merken, standen wir auf. Wir versanken in unseren Blicken. Mein Herz jagte so schnell. Ich spürte es in meinen Ohren schlagen. Meine Beine begannen zu zittern. Und dann schütteltest du den Kopf, hast mir über das Gesicht gestrichen. Deine Berührungen waren schon immer zärtlich gewesen, aber diese war es besonders.
Ein heißer Schauer durchzog meinen gesamten Körper. Und dann geschah etwas, von dem ich schon so lange geträumt, mir gewünscht, wonach ich mich gesehnt hatte. Du legtest deine Arme um meinen Nacken, zogst meinen Kopf zu dir heran und küsstest mich. Ich konnte es nicht glauben!
Voller Sehnsucht legte ich meine Arme um deinen schutzlosen, zierlichen Körper, erwiderte deinen Kuss so leidenschaftlich, wie du ihn mir schenktest. Ich fühlte, diesmal war der Kuss echt. Damals in London warst du vom Alkohol gesteuert worden. Aber jetzt? Jetzt von deinen wahren Gefühlen!
Du hast mir gezeigt, wie es ist zu lieben. So viele einsame Nächte, in denen ich stumm in die Kissen weinte, voller Sehnsucht nach dir einschlief, von dir träumte, wieder erwachte, deinen Namen rief und nur schwer wieder einschlief – all das sollte nun vorbei sein. Mein Herz müsste niemals mehr kämpfen. So viele Kämpfe, die aussichtslos erschienen, trugen nun doch die Früchte der Liebe. Mein Weg bis zu diesem


Moment war geprägt von Trauer, Glück, Angst, Liebe. Niemals dachte ich, dass ich es so weit schaffte. Niemals hatte ich daran geglaubt, dir jemals meine Gefühle zu gestehen. Und jetzt standen wir in diesem ungemütlichen Zimmer in Berlin, küssten uns leidenschaftlich ohne jegliche Tabus, wussten, dass wir füreinander geschaffen waren.
Du begannst leise zu stöhnen. Deine Hände glitten über meinen gesamten Körper. Ich tat es dir gleich. Ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Ich wusste, dass du wusstest, dass du es auch wolltest!
Ich drängte dich zum Bett. Auf dem Weg dorthin zogst du mir mein Hemd aus, küsstest meine Brust. Ich streifte deinen dünnen Pullover über deinen Kopf. Du ließt dich rücklings auf das Bett fallen und zogst mich hinterher. Irgendwie schafftest du es, mir meine Hose auszuziehen, während ich deine Schulter küsste. Und ohne, dass ich es begriff, lagen wir nackt auf dem Bett, hielten kurz inne. Du sahst mir tief in die Augen und sagtest: „Du glaubst nicht, wie sehr ich darauf gewartet habe!“
Laura, du öffnetest mir sämtliche Türen in dieser Nacht! Ich entdeckte Welten, die mir bisher verschlossen waren. Du zeigtest mir die wahre Liebe, die keine Kompromisse forderte.
Als ich nachts erwachte, hattest du dich mit dem Rücken an meine Brust gekuschelt. Ich würde von einem Glücksgefühl erfüllt und küsste vorsichtig deine


Stirn.

Danke für diese Nacht, meine Liebste!
Sebastian


12. Brief

Liebste Laura,

du bist so weit weg, mein Engel. Ich kann dich nicht erreichen, Welten liegen nun zwischen uns. Das einzige, das uns vielleicht noch verbindet, ist meine Liebe zu dir. Sie wächst Sekunde zu Sekunde, unaufhörlich. Ich zerbreche fast durch sie. Mein Herz ist gebeutelt von Kummer. Gebeutelt von einer kaum gelebten Liebe. Warum bist du so früh von mir gegangen? Wir hatten gerade begonnen, uns richtig kennen zu lernen. Auf Ebenen, die kein anderer betreten konnte. Niemand konnte zwischen uns dringen. Wir vertrauten uns mehr als uns selbst. Und ich kann nicht mehr sagen als: Ich liebe dich!
Unendlich! Mein Engel...
Als wir am nächsten Morgen erwachten, schien die Sonne schon durch die dreckigen Vorhänge. Ich öffnete meine Augen. Sofort fiel mein Blick auf dich,


wie ich dich in meinen Armen hielt. Hatte ich es gestern Abend nur geträumt? War es wirklich passiert?
Ich küsste deine Nasenspitze, die du daraufhin leicht rümpftest. Blinzelnd öffnetest du deine Augen, die an diesem Morgen noch lebensfroher leuchteten. Du lächeltest mich selig an und kuscheltest dich noch dichter an mich.
Mein Herz schrie wieder. Diesmal vor unaussprechlicher Freude. Eine Freude, die nicht lange währen sollte, mein Engelchen Laura...
Wir lagen zusammen in dem engen Bett, schmiegten uns jeweils an den anderen und genossen unsere gemeinsame Zeit. Ich konnte nicht sagen, wie sehr ich dich in meinem Leben begehrte. Auch jetzt noch...
Eine Sehnsucht nach dir brennt tief in mir, unlöschbar. Nur du könntest das Feuer in mir zum Erlöschen bringen, doch du kommst nicht zu mir zurück. Warum, warum bist du überhaupt gegangen? Warum bereitest du mir solch einen Kummer, der mich auffrisst. Laura!!!
Komm zu mir zurück! Ich vermisse dich doch so sehr! Du weißt es! Warum??? Warum??? Warum...?
Als wir mittags aus dem Hotel gingen, fühlte ich mich wie ein kleiner Junge, der gestern Nacht zum Mann geworden war. Erst seit gestern lebte ich. Seit gestern lebte ich wirklich... Die Frage war: Wie lange noch?
Wie lange sollte mein Glück mit dir währen? Doch zu


dem Zeitpunkt machte ich mir keine Sorgen darüber,
dass du mich eines Tages verlassen könntest. Schließlich weiß niemand, wann es vorbei ist...
An diesem Tag hattest du frei. Ein Glück für uns. Wir verließen das Hotel gegen Mittag, aßen in einem Restaurant in der Innenstadt und du hast mir von deiner Arbeit erzählt. In dieser Woche vor dem Treffen der Spitzenpolitiker solltet ihr noch einmal eingeführt werden, was jeder zu tun hatte. Du wurdest Zum Abhalten von Demonstranten, die auf jeden Fall erwartet wurden, eingeteilt. Ein Job, den du nicht so sehr mochtest. Immerhin stand sehr viel auf dem Spiel. Zwar war nicht jeder Demonstrant gewalttätig, aber es würden sicherlich einige nicht davor zurückschrecken, jemanden Schmerzen zu zu fügen, nur um durch die Polizeiabsperrung zu gelangen.
„Und davor habe ich etwas Angst!“, gestandst du mir.
Ich ließ mein Messer sinken, ergriff deine Hand, die mir gegenüber auf dem Tisch lag. Obwohl ich ebenfalls Angst um dich hatte, versuchte ich meinem Blick so viel Beruhigung zu legen, wie es mir in meiner Aufregung möglich war. Meine Stimme zitterte ein wenig, als ich dir sagte: „Laura, ich weiß, dass du eine starke Frau bist. Dir wird nichts passieren! Du kommst wieder mit mir nach Hause und dann beginnen wir ein neues Leben!“
Deine Angespanntheit wich.


Ach, mein Engel, uns konnte nichts trennen. Nichts und niemand. Seit gestern wussten wir, wir waren füreinander geschaffen.
Ich kann an niemanden anderen denken als an dich. Dein Bild kreist unermüdlich in meinem Kopf, ich weiß, dass du bei mir bist. Und doch kann ich dich nicht sehen, mit dir sprechen, dich spüren. Es ist nur dein Geist, den ich fühlen kann. Für alles andere ist unsere Entfernung zueinander zu groß. Bitte Laura, mach alles rückgängig und komme zu mir zurück. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, wenn auch nur ein Mal, dann würde ich es ungeschehen machen. Du könntest dann wieder bei mir sein, mich spüren lassen, wie sehr du mich liebst. Ist deine Liebe mit dir gegangen? Bin ich noch in deinem Herzen? Lass es mich wissen, mein Engel! Ohne Gewissheit kann ich nicht mehr weiter leben. Nichts hat mehr einen Sinn... Nur Dunkel... Vielleicht für immer?!
Wir schlenderten durch die Stadt, benahmen uns wie zwei Teenager, die zum ersten Mal jemanden liebten. Es machte uns nichts aus, dass uns die gesamte Fußgängerzone beim Küssen zusah. Jede kleine Berührung deiner Lippen löste in mir wieder dieses Feuerwerk aus. Deine Küsse waren so zart, so fordernd und doch scheu zugleich.
Ich habe mir geschworen, nie wieder eine andere Frau zu küssen, außer dich. Ich werde auf dich warten, mein Engel. So lange, bis wir uns wieder in die Arme


nehmen! Vielleicht dauert es gar nicht mehr so lange.
Laura, ich muss weinen, wenn ich an unseren ersten Tag als Paar zurück denke. Mir steigen auch jetzt wieder Tränen in die Augen, ein Stechen durchzieht meine Brust, so stark, dass mir das Atmen schwer fällt. Mit dir ist auch mein Ich gegangen. Von mir selbst ist nur die Hülle zurückgeblieben, in der ich einst wohnte. Nur ein Körper, der langsam zerfällt, ist zurückgeblieben. Laura, komm zurück! Komm zurück!!!

Liebe überquert alle Grenzen!
Sebastian


13. Brief

Liebste Laura,

ich spüre, wie mein Herz aufgibt, weiter zu schlagen. Von Sekunde zu Sekunde klopft es leiser, langsamer, kraftloser. Ist es der schleichende Tod, der mich bald holen wird? Ein kaum merkliches Ableben, von dem nicht einmal jemand etwas bemerken wird, da ich alle Taue zur Außenwelt schon vor langer Zeit gekappt habe. Die einzige, die weiß, wie es mir geht, was ich mache, ob ich überhaupt noch lebe, bist du!!! Nur du


kannst bestimmen, ob mein Herz aufhören wird zu schlagen. Ohne deine Liebe verliert es jeglichen Mut dazu.
Und ich erinnere mich wieder an die vielen Kämpfe zwischen ihm und meinem Verstand. Es ist ohnehin geschwächt von den verlorenen Schlachten. Erst in Berlin schaffte es mein Herz, sich durch zu setzen. Und schon wieder beginne ich zu weinen, wenn ich an den zweiten Abend in dieser Stadt denke.
Wir hatten einen schönen Nachmittag erlebt. Und jetzt saßen wir wieder in dem muffigen Zimmer mit den mottenzerfressenen Vorhängen. Ich machte mir Sorgen darüber, wo ich die nächsten 10 Tage verbringen sollte. Ich besaß keinen Cent, wusste nicht, wo ich wohnen sollte. Es gab nur einen Weg: Den zurück in meine Heimatstadt.
Doch mein Herz protestierte. Mein Verstand drängte sich in seine Meinung, sagte, ich sollte nach Hause fahren. Mein Herz verneinte. Es wollte bei meinem Engel bleiben. Zwar protestierte mein Verstand mit allen Mitteln, doch mein herz gewann. Seit gestern Abend hatte es so viel Macht erlangt, dass der unerträgliche Verstand nur noch ein kleines Häufchen in meinem Körper war. Die herrschende Macht in mir war meine Liebe zu dir. Ich wollte bleiben!
„Aber wo soll ich nur bleiben?“, fragte ich dich, als ich mit dem Kopf auf deinen Beinen auf dem Bett lag.


Du strichst mir über die Haare, schenktest mir einen
aufmunternden Blick deiner vor Glück strahlenden Augen und sagtest: „Mach dir keine Sorgen. Bleib hier! Die Hotelangestellten kümmern sich nicht um dich, es ist ihnen egal, ob nun einer mehr oder weniger hier in dem Zimmer wohnt. Hauptsachte, man lässt sie in Ruhe. Und meine Kollegen wissen auch nicht, dass du hier bist. Also kannst du für lau hier bei mir bleiben. Unter einer Bedingung...“
Du hieltst plötzlich inne. Ich sah dich fragend an. Was für eine Bedingung? Ich würde alles tun, um bei dir sein zu können. ALLES!!!
Deine Augen nahmen wieder dieses magische Funkeln an, ein eigenartiges Lächeln umspielte deinen Mund, als du meinen Kopf in die Hände nahmst, mich hochzogst und mir einen leidenschaftlichen Kuss gabst. Ich schloss meine Augen, wollte nur noch fühlen. Deine Hände strichen energisch über meinen Nacken, ich öffnete die Spange in deinen Haaren. Sie fielen auf deine Schultern. Wieder wollte ich mehr und ließ es geschehen...
Laura, du hast mir alles gegeben. Liebe, Wärme, Mut, Geborgenheit, Verständnis. Du warst mir eine große Stütze. Hast mir geholfen, durch das Leben zu finden. Gabst mir das Gefühl, wer zu sein. Du hast mir gezeigt, was Liebe ist...
Mitten in der Nacht erwachte ich. Die Lichter der Stadt


drangen durch die Vorhänge. Sie warfen ein wenig Licht ins Zimmer. In dieser Dämmerung sah ich, dass ein glückliches Lächeln auf deinen Lippen lag. Ich streichelte dir vorsichtig über die Wange. Im Schlaf kamst du näher zu mir herüber und murmeltest leise. Ich küsste sanft deine Stirn, deine Nase, deine rechte Wange, deine linke und schließlich deinen Mund. Ich liebe dich so sehr, mein Engelchen. Ich wollte nicht, dass es dir schlecht erging, Um dich vor der Dunkelheit zu schützen, die um uns herum lauerte, legte ich meine Arme um dich. Dich in den Armen und Liebe im Herzen schlief ich wieder ein.
An dem darauffolgenden Tag musstest du fort, um dich auf die bevorstehende Woche vorzubereiten. Mir blieb nichts anderes übrig, als allein durch Berlin zu schlendern. Du hattest mir 50 Euro geliehen. Zuerst hatte ich mich vehement geweigert, es an zu nehmen. Ich wollte dir nicht auf der Tasche liegen, mein Engel Laura. Doch dann sagtest du: „Nimm es! Ich bekomme es zurück. Auch wenn nicht in Geld. Verstehst du?“
Mit den Worten hast du mich geküsst und bist gegangen. Und ich hatte verstanden.
Jetzt stand ich vor einem Juweliergeschäft. Unzählige Schmuckstücke lagen im Schaufenster. Darunter auch einige Ringe. Sofort fiel mir einer ins Auge. Ein silberner Ring, besetzt mit einem kleinen weißen Stein. Einfach, aber wunderschön. Wie für einen Engel


gemacht, dachte ich. Für einen Engel namens Laura. Die 50 Euro von dir würde ich nicht nehmen (sie hätten ohnehin nicht gereicht), ich wollte selber bezahlen. Auch wenn ein klaffendes Loch von Schulden in mein Konto reißen würde – es war mir egal!!!
Ich betrat den kleinen Laden. Hinter einem Tresen stand ein älterer Herr, der Verkäufer wie sich herausstellte. Lächelnd kam er auf mich zu und erkundigte sich nach meinem Wunsch. Ich erklärte mein Anliegen und er holte den Ring aus dem Schaufenster. Während ich ihn mir betrachtete, erklärte mir der freundliche Verkäufer: „Sicherlich für Ihre Liebste! Darf ich Ihnen da vielleicht ein Angebot machen?“
Ich sah ihn an und wartete auf das Angebot.
„Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen in der Innenseite etwas eingravieren. Das Schmuckstück würde Ihre Liebste somit immer an Sie erinnern!“
Es würde mehr kosten, das war mir von vorneherein klar, aber du warst mir alles wert! Mein Leben hätte ich für dich gegeben, meine Liebste.
Ich war mit einer Gravur einverstanden und der Herr verschwand in einem kleinen Nebenraum, wo gleich darauf eine Maschine surrend angeschaltet wurde. Nach wenigen Minuten kam er zurück, packte den Ring in eine Schmuckschatulle, ich zahlte und verließ den Laden wieder. Wann sollte ich ihn dir geben? Heute? Morgen? Nächste Woche? Nein, ich


entschloss mich dazu, ihn dir am letzten Tag in Berlin zu geben. Er sollte dich immer an unsere gemeinsame Zeit in dieser fremden Stadt erinnern, in der wir uns lieben lernten. Berlin war für mich mein Venedig. Was sollte ich in Italien, wenn ich hier meine Liebe gefunden hatte? Das Gute liegt oft so nah, meist stößt es einen um, ohne dass man es bemerkt. Manche Menschen erkennen es nie, andere später oder früher. Bei mir war es einfach zu spät. Ich hätte mich früher trauen sollen, dir meine Seele zu zeigen. Jetzt ist es zu spät. Du bist fort, ich weiß nicht wohin und du kommst auch nicht wieder.
Der Tag zog sich dahin wie das berühmte Kaugummi. Ich verbrachte die unendlichen Stunden damit, dass ich auf einer Bank im Park saß, den Ring betrachtete und mich darauf freute, ihn dir schenken zu können. Was würdest du wohl sagen? Solch eine Aufregung kannte ich nur aus Kindertagen. Jedes Jahr, kurz vor der Bescherung, stieg eine große Ungewissheit und Freude auf. Sie übernahm die Kontrolle über mein Denken, alle Gedanken kreisten um die Geschenke, die auf mich warteten. Jetzt war es die Vorfreude auf deine Reaktion. Und ein weiteres Mal stellte ich fest, die Liebe ist das größte Geschenk, dass ein Mensch in seinem Leben bekommen kann. Manchmal ist es ein Geschenk, dass nicht angenommen wird, manchmal bekommt man es nach einiger Zeit zurück,


oder es wird für immer behalten. Ich hoffe, du wirst mein Geschenk an dich behalten. Deines trage ich immer in meinem Herzen, mein Engel. Und ich werde es mit in mein Grab nehmen, ohne dass ich es jemals wieder verschlossen habe.
Erst spät am Abend machte ich mich wieder auf den Weg zu unserem Hotel. Du hattest mir gesagt, dass du erst gegen zehn zurückkehren würdest. Um halb zehn betrat ich das muffige Zimmer, ging zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und öffnete die Fensterflügel. In der Ferne leuchteten die Lichter des bekannten Fernsehturms. Ich vernahm die fahrenden Autos unten auf der Straße. Hier im zehnten Stock hörte man nur ein leises Rauschen. Langsam ließ ich den Blick über die Stadt schweifen. Wie viele Menschen hier lebten. Millionen! Und zwei von ihnen haben endlich zu sich gefunden. Einer von beiden wartet in einem heruntergekommenen Hotel, der andere ist vermutlich schon auf dem Weg zu ihm. Du weißt, von wem ich spreche?
Plötzlich hörte ich einen Schlüssel in der Tür. Endlich! Die Tür wurde geöffnet und du kamst herein. Du legtest deine Jacke auf den alten Stuhl, der gegenüber vom Bett an der Wand stand. Dann entdecktest du mich am Fenster. Selig lächelnd kamst du zu mir her. Mit einem leisen Seufzen nahmst du mich in den Arm.
„Ich bin so froh, dass du hier bist!“, flüstertest du mir


ins Ohr und gabst mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange.
Wir lösten uns aus der Umarmung und wandten uns zum Fenster. Du stelltest dich vor mich. Beschützend legte ich meine Arme von hinten um deinen Bauch. Deine Hände legten sich auf meine und deine Finger streichelten sie. Liebevoll ließ ich mein Kinn auf deine Schulter sinken. Ohne ein Wort zu sagen, blickten wir aus dem geöffneten Fenster auf die Stadt.
Ich liebte es, wenn du mir so nah warst. Einen Engel im Arm zu halten ist unbeschreiblich. Es gibt in keiner Sprache der Welt ein Wort, dass meine Gefühle für dich beschreiben könnte. So eine Liebe ist nicht in Worte zu fassen, man kann sie nur erfahren. Den Kopf ausschalten und die wundervolle Kraft zu spüren, die sich Liebe nennt. Eine Kraft, ohne die niemand auf der Welt existieren kann.

Meine Kraft liegt in dir!
Sebastian


14. Brief

Liebste Laura,

ich muss dir sagen, dass ich nicht mehr kann. Wie lange habe ich dich schon nicht mehr gesehen? Sind es Tage, Wochen, Monate, Jahre? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. In meinem Kummer ertrinke ich fast. Er schnürt mir meine Kehle zu, nimmt mir meine Kraft, lässt mich nicht in Ruh. Ich sehe keinen Grund mehr, weiter zu leben. Nur eines möchte ich: Bei dir sein! Bei dem Menschen, den ich so abgöttisch liebe. Doch die Entfernung ist zu groß zwischen uns. Wir haben uns auseinandergelebt. Du lebst in deiner, ich in meiner Welt. Es ist nicht mehr auszuhalten. Warum habe ich nichts dagegen unternommen? Warum? Warum? Warum?
Die Tage waren meist gleich. Du musstest von nun an jeden Tag zur Übung, ich wartete die gesamte Zeit auf dich. Meist draußen in Berlin. Abends fielen wir uns dann vor lauter Sehnsucht in die Arme. Erinnerst du dich noch daran, als du völlig erschöpft ins Zimmer kamst, ich aus dem Bad, voller Seife, da ich meinen Waschlappen vergessen hatte und du mich umarmt hast? Du rutschtest regelrecht an mir ab. Und dann gingen wir gemeinsam duschen. Ein unvergessliches Ergebnis. Deine Küsse brennen noch heute auf


meinem Körper...
Und dann war er da: Der Abend vor deinem ersten Einsatztag.
Wir saßen nebeneinander am offenen Fenster, redeten und plötzlich rannen dir Tränen über das Gesicht. Ich wusste nicht, was du hattest. Nur Sekunden zuvor hatten wir noch gelacht. Und nun saßt du neben mir, vollkommen aufgelöst. Dein leises Schluchzen wurde lauter. Tröstend nahm ich dich in den Arm, küsste vorsichtig deine Stirn.
Einen weinenden Engel zu sehen ist nicht schön. Man glaubt, die Welt gehe unter. Einen weinenden Engel gibt es einfach nicht!
Ich ließ dir Zeit, um dich wieder beruhigen zu können. Dann erzähltest du mir unter schluchzen, dass du vor dem Einsatz wahnsinnige Angst hattest. Du liebtest deinen Job, doch du wusstest, dass es sehr gefährlich werden könnte.
„Ich will dich nicht verlieren!“, schluchztest du und sahst mich mit Tränen in den Augen an. „Ich will nicht, dass es JETZT endet! Nicht jetzt, verstehst du?“
Mir blieben die Worte im Halse stecken. Auch ich war nun den Tränen nahe. Auch ich hatte Angst um dich. Statt etwas zu sagen, drückte ich dich einfach nur an mich.
Laura, ich dachte, ich sterbe. Du hattest Angst und ich konnte nichts weiter tun, als dich in den Arm zu


nehmen. Ich war so machtlos. Konnte nichts tun...
Ich fand meine Stimme wieder, nahm deinen Kopf in die Hände und sah dich an. Kopfschüttelnd versicherte ich dir: „Laura, es wird dir nichts passieren. Glaube mir! Du bist nicht allein morgen! Ich bin in Gedanken immer bei dir und werde dich beschützen! Laura, du wirst es schaffen!“
„Wenn wir zurück fahren,“, flüstertest du, „dann gebe ich meinen Job auf!“
Ich konnte dich verstehen. Wenn du diesen Einsatz hinter dir hattest, kommt schon bald der nächste, umso gefährlichere. Du konntest es nicht aushalten, mit der Angst zu leben. Und ich weiß, was Angst ist. Mein Engel, ich habe genug Angst erlebt, um in dich hineinsehen zu können und zu wissen, was in dir vorgeht. Du kannst an nichts anderes mehr denken als an diese Angst!
Wir legten uns ins Bett, schliefen Arm im Arm ein.
Nur wenige Stunden später standen wir vor dem Hotel. In deiner Uniform wirktest du älter, reifer und klüger. Aber vor allem noch schöner, als du es ohnehin schon bist, mein Engelchen.
Stumm standen wir voreinander. Dein Blick verschmolz mit meinem. Schweigend nahm ich dich in den Arm, küsste dich ein letztes Mal vor deinem Einsatz. Deine Lippen schmeckten salzig. Überrascht schaute ich dich an und erkannte, dass du leise weintest. Doch du sagtest ebenso nichts wie ich. Ein


letzter Blick voller Liebe und du drehtest dich um und gingst die Straße herunter. Dein Zopf schlenkerte wie immer hin und her, deine Schritte waren selbstbewusst und doch wusste ich, du gingst mit der Angst. Ich konnte von hinten sehen, wie du mit der Hand deine Tränen trocknetest. Dann warst du verschwunden...
Ich hätte hinter dir hergehen müssen. Ich musste dich doch schützen. Du warst doch mein Engel, der ohne mich nicht leben konnte. Ich konnte dich doch nicht alleine gehen lassen! Ich – blieb stehen...
Lange, lange Zeit stand ich wie angewurzelt vor dem Hotel und blickte in die Richtung, in die du gegangen warst. Mein Herz schrie wieder nach dir. Es wollte hinter dir her, mein Verstand wehrte sich. Und er gewann. Es war dein Job, du wusstest, was du in gefährlichen Situationen tun musstest. Ich hingegen verzog mich in mein Schneckenhaus, lief traurig durch die Stadt und dachte an dich. Versuchte, dich durch meine Gedanken zu stärken. Du hattest nur unnötig Angst, dass wusste ich...
Am Abend saß ich in einem kleinen Lokal, in dem ein alter Fernseher hinter der Theke stand. Es lief irgendein privater Sender, was ich nicht weiter beachtete. Ich saß am Tresen und hielt die kleine Schmuckschatulle in der Hand. Bald, dachte ich, bald solltest du ihn zu Gesicht bekommen. Nur noch sechs Tage, dann wäre der letzte Tag gekommen. Ich hätte dich wieder für mich und du hättest deinen Einsatz


hinter dir.
Plötzlich wurde die Eingangstür des Lokals aufgestoßen, ein Mann kam hereingerannt. Er keuchte und war vollkommen außer Puste, daher nahm ich an, er war gerannt. Ohne mich und die anderen Gäste zu beachten, stürmte er auf den Tresen zu und sagte dem Barkeeper dahinter unter lautem Schnaufen: „Schnell, Benno, schalt mal schnell auf regional um! Krawallen bei dem Treffen der Politiker! Komme da gerade her! Ist ziemlich heftig!“
Krawallen? Ziemlich heftig? Was war passiert? Mit zitternden Händen steckte ich die Schatulle in meine Jackentasche und starrte auf den Bildschirm, auf dem ein Reporter zu sehen war, hinter dem in einiger Entfernung Steine werfende Demonstranten und Polizisten gegeneinander kämpften. Schüsse waren zu hören, Schreie und noch mal Schüsse. Einige Demonstranten fielen zu Boden, wurden von Einsatzkräften der Polizei festgenommen.
Mein Herz setzte aus. Ich konnte nicht mehr Atmen. Ein schweres Gewicht drückte auf meinen Brustkorb ein. Du warst irgendwo dazwischen. Laura, ich hatte eine unbeschreibliche Angst um dich. Was war mit dir? Warst du an vorderster Front? Oder warst du in Sicherheit?
Die Gedanken überschlugen sich. Tränen der Angst stiegen in meinen Augen hinauf. Um mich herum


scharten sich die Gäste des Lokals und starrten genauso ungläubig auf den Fernseher wie ich.
„Die Demonstranten gehen sehr gewalttätig gegen die Polizisten vor. Sie werfen Steine, es wird sogar davon gesprochen, dass sie Molotowcocktails einsetzen. Die Polizisten setzen Wasserwerfer gegen die aufgebrachten Demonstranten ein. Inzwischen gibt es viele Verletzte auf beiden Seiten. Ein Sprecher der Polizei sagt, es gebe schon an die hundert Festnahmen.“, so schilderte der Reporter das Geschehen hinter sich.
Steine, Molotowcocktails, Wasserwerfer... Bisher waren diese Dinge weit weg für mich. Dinge, von denen man nur aus den Medien hörte. Dinge, die mich nichts angingen. Aber mit einem Schlag änderte sich das! Du stecktest mit der größten Wahrscheinlichkeit irgendwo mitten drin! Umringt von Kollegen oder Demonstranten, die zu allem bereit zu sein schienen. Mein kleiner Engel, hilflos zwischen den Fronten. Was sollte ich nur tun?
Eine große Übelkeit stieg in mir auf. Ich versuchte sie zu unterdrücken. Mein Blick verharrte noch immer auf dem Bildschirm, wo nun ein großer Wasserwerfer im Einsatz erschien. Schnitt auf einen am Boden sitzenden Polizisten, der sich eine große und stark blutende Wunde am Kopf verarzten ließ. Ging es dir gut?


Wie in Trance verließ ich das Lokal. Als ich auf der Straße war, klingelte plötzlich mein Handy. Teilnahmslos und mit den schlimmsten Gedanken um dich ging ich ran. Zunächst hörte ich nur laute Geräusche im Hintergrund. Und dann –
„Sebastian! Ich bin’s!“
Laura! Du warst es! Du riefst an! Du warst in Sicherheit!
„Laura!“, rief ich erleichtert und dennoch aufgeregt. Warum riefst du an? „Was – was ist los?“
Ich hatte Mühe dich bei den Hintergeräuschen zu verstehen: „Hier sind gewaltige Auseinandersetzungen. Du hast es sicher mitbekommen! Mir geht es gut! Ich komme gleich ins Hotel, da ich mir meinen Knöchel verletzt habe! Mach dir keine Sorgen! Sebastian...“
Deine Stimme wurde plötzlich ganz anders, so weich und ängstlich. Was war los?
„Laura, was ist?“
Ich konnte durch das Telefon spüren, dass du aufgeregt warst. Und dann sagtest du: „Ich liebe dich!“
Laura, mit diesem Satz hast du mein Leben erneut verändert. Das, was ich seit langem mit mir herumtrug, sprachst du aus! Der Satz, den ich nie zu dir gesagt habe. Drei Wörter, die die größte Bedeutung trugen. Drei einfache kleine Wörter, die dennoch so schwer auszusprechen waren, wie eine fremde Sprache.


Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Brust. Ich wollte gerade etwas sagen, als es einen gewaltigen Knall gab, jemand laut aufschrie und die Verbindung unterbrochen wurde. Warum? Was war passiert? Was?
Völlig verwirrt hielt ich das Telefon weiterhin an mein Ohr. Du hattest es gesagt und ich hatte meine Chance verpasst. Wieder einmal...
Mit wirren Gedanken machte ich mich auf den Weg zu unserem Hotel.
Laura, ich hätte alles vorher wissen müssen. Hätte ich dir sofort geantwortet, dass ich dich ebenfalls mit jeder einzelnen Sehne von mir liebe, wäre vielleicht alles anders geworden. Vielleicht wärest du dann jetzt hier bei mir. Ich müsste nicht mit diesem großen Kummer leben. Könnte wieder lachen, leben, lieben. All das kann ich ohne dich nicht. Und wieder quält mich die Frage:

Warum bist du gegangen?
Sebastian


15 Brief

Liebste Laura,

wieder Tage ohne dich. Ich lebe in der Vergangenheit. Zukunft ist ein Wort, das nichts mehr für mich wert ist. Was soll ich in der Zukunft, die ohne dich auf mich zu kommt? Eine Zukunft ist keine Zukunft, wenn man mit Sehnsucht, Kummer und unerfüllter Liebe lebt. Zukunft ist nur ein Wort für mich...
Vergangenheit! Vergangenheit ist mein Leben. Vergangenheit unser Zusammensein! Vergangenheit deine Liebe! Alles ist Vergangenheit!
Ich liege in meiner Wohnung, kraftlos, lustlos, lieblos und lebe in der Vergangenheit. Jede Sekunde erinnere ich mich an sie. Ich kann mich an alles erinnern. Vor allem an Berlin...
Ich kam in unserem Hotelzimmer an. Du warst noch nicht da. Unsere Dinge lagen noch alle so wie heute Morgen, als wir das Zimmer verlassen hatten. Ich ließ mich seufzend auf das Bett sinken. Würdest du nach deiner Knöchelverletzung erneut zum Einsatz müssen? Oder hattest du von nun an frei? Könnten wir endlich wieder gemeinsam die Rückfahrt antreten? Ich hoffte es.
Dann würdest du deinen Job aufgeben, zu mir ziehen


und wir könnten unsere Liebe genießen.
Aber wo stecktest du nun? Es war bereits eine dreiviertel Stunde vergangen, seit dem wir telefoniert hatten. So lange brauchtest du doch sicherlich nicht, um zum Hotel zu gelangen. Und sicher würdest du mit einem Taxi fahren. Wo stecktest du?
Wenn ich es nur gewusst hätte, Laura, dann wär ich zu dir gekommen. Sofort! Vielleicht wärst du dann auch nicht gegangen. Ich mache mir solche Vorwürfe. Ertrinke fast in ihnen. Es ist nicht mehr zum Aushalten. Nachts wache ich aus Albträumen auf, in denen ich sehe, wie du gehst. Laura, das ist kein Leben mehr, das ich führe. Es ist eine reinste Folter. Eine Folter dafür, dass ich noch hier bin!!!
Ich saß auf dem Bett und holte den Ring aus meiner Jackentasche. Lächelnd klappte ich die Schatulle auf. Der Ring glitzerte im Licht der untergehenden Sonne, die ins Zimmer fiel. Sollte ich ihn dir heute schon geben? Als ein Zeichen meiner Liebe, die dich überallhin begleiten konnte. Die dich stützen sollte, wenn du am Boden lagst. Die dir Mut zusprechen sollte, wenn du ängstlich warst. Ja, ich wusste, dass heute der richtige Zeitpunkt war, um dir den Ring zu schenken.
Während ich den Ring betrachtete, hörte ich auf dem Flur vor der Tür Schritte. Gleich darauf wurde sie von außen aufgeschlossen. Ich schloss die Schatulle mit dem Ring und hielt sie in meiner Hand umklammert.


Die Tür wurde aufgestoßen. Ich stand auf, ging zur Tür und schrie erschrocken auf. Es stand ein wildfremder Mann im Zimmer, ein Polizist, wie ich an seiner Uniform erkannte. Er erschrak genauso wie ich.
„Was – was wollen Sie hier?“, fragte ich nach dem ersten Schock.
Der Mann musterte mich. Sein Blick war versteinert, als er mich anblickte. Dann fragte er mich mit gesenkter Stimme, ob ich dein Freund sei. Ich bejahte es wahrheitsgemäß. Alle möglichen Dinge schossen mir in den Kopf. Alles, nur nicht das!
Der Mann brachte es fertig, mich unbemerkt vor das Bett zu dirigieren, indem er immer dichter auf mich zu kam. Er legte eine Hand auf meine Schulter, blickte zunächst zu Boden und überbrachte mir eine Nachricht.
Klirrend fiel mir die Schatulle mit dem Ring auf den Boden. Sie sprang auf und der Ring rollte hinüber zum Fenster, wo er auf der Seite liegen blieb. . In dem Licht der untergehenden Sonne glitzerte leicht der Spruch in der Innenseite: ENGEL SIND UNSTERBLICH
Und ich wusste, dass dieser Engel mich geliebt hat. Auch wenn er nicht wusste, wie sehr ich ihn liebte. Meine Liebe überwindet alle Grenzen, mein Schatz, auch die, die nun zwischen uns liegen.

Ich liebe dich für immer, mein Engel im Himmel!
Sebastian

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.10.2008

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