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Weibliche Rache



Und, Inspector Atherton? Können Sie schon etwas zur Leiche sagen?“, fragt die sportlich aussehende Madison McHard ihren zwei Jahre älteren Kollegen, der etwas in sein Notizblock kritzelt.
„Nun, ich will noch den Bericht des Rechtsmediziners abwarten, aber ich denke, die Eingangshalle

ist der Tatort. Ich sehe keine Schleifspuren.“
„Ich immer wischen ganz sauber“, verteidigt sich die Putzfrau in ausländischem Akzent. „Immer jeden Abend, wenn Fahrgäste weg, ich putzen und schrubben. Und plötzlich Leiche vor mir.“
Die 41-jährige Inspektorin legt beruhigend ihre Hand auf die Schulter der Putzdame und wendet sich ihrem Kollegen Aaron Atherton zu. „Die Leiche kann auch hierher getragen und am Fahrkartenautomaten abgelegt worden sein.“
Aaron Atherton zuckt die Schultern. „Vielleicht hat ihn auch der Schlag getroffen, als er den hohen Preis eines Tickets gesehen hat.“
Madison McHard kichert, versucht sich jedoch sofort wieder zu fangen. „Dort drüben kommt Dr. Trelawney, der Rechtsmediziner.“
Der 47-jährige Taylor Trelawney begrüßt die beiden Inspektoren und macht sich sogleich an die Arbeit. Er beugt sich über die männliche Leiche und dreht sie. „Haben Sie schon einen Namen?“
Inspektor Atherton kramt seinen Notizblock hervor, den er in der Gesäßtasche verstaut hat. „Es handelt es sich um den 52-jährigen Owen Okley. Ein Polizist fand diesen Personalausweis in der Jackentasche des Toten. Vielleicht ein Stadtstreicher.“
Dr. Trelawney schüttelt den Kopf. „Stadtstreicher fahren schwarz. Wenn überhaupt.“
„Woher wissen Sie denn, dass er mit dem Zug

fahren wollte?“
Dr. Trelawney, der noch immer neben der Leiche kniet, schaut nach oben zum Fahrkartenautomaten. „Das Ticket hängt noch im Schacht.“ Er lächelt überlegen.
Peinlich berührt greift Inspektor Atherton mit der handschuhbezogenen Rechten nach der Fahrkarte und liest. „Die Fahrt sollte nach Libberington gehen.“
„Das kenne ich“, platzt die Inspektorin ihm ins Wort. „Das ist ein kleines Städtchen mit betuchten Leuten. Die Häuser und Gärten sehen aus, als wenn jeden Morgen eine riesige Zunge darüber leckt.“
„Stimmt“, sagt Dr. Trelawney kopfnickend. „Einen Obdachlosen verschlägt es sicher nicht dort hin. Ich werde das untersuchen. Den Bericht lasse ich Ihnen zukommen. Den ballistischen Bericht übrigens auch“, fügt er grinsend hinzu.
„Sie können sich das Grinsen in den Mopp der Putzfrau schmieren“, sagt Madison McHard gelassen. Ich habe gesehen, dass er erschossen wurde. Dem Einschussloch nach zu urteilen, direkt ins Herz.“

Stunden später im Institut für Rechtsmedizin. Die Inspektoren McHard und Atherton lauschen Dr. Trelawneys Ausführungen. Dieser nimmt die Akte und zeigt auf das Einschussloch in der Brust des Opfers. „Es handelt sich eindeutig um Mord

…“
„Eine Exekution?“, unterbricht McHard.
„Dachte ich zuerst auch. Wenn ich da nicht dieses Killerchlordiphenyltrichlorethan im Blut des Opfers gefunden hätte.“
„Da ist man ja verdurstet, bis man das Wort ausgesprochen hat“, bemerkt McHard.
Dr. Trelawney erwidert ihr Lächeln und erklärt: „Bei dem Toxin handelt es sich um ein Insektenvernichtungsmittel aus dem Hause Insekto-Ex, welches ein gewisser Finley Falkland kreiert hat.“
„Das ist doch der 50-jährige Chemiker, der vor zwei Jahren auf dem Nachhauseweg von Insekto-Ex vom Fahrrad gerissen und liegen gelassen wurde.“
„So ist es, Inspector Atherton. Der Fahrer hielt nicht an und so verblutete Finley Falkland am Unfallort.“
„Das heißt, er hätte gerettet werden können?“
Dr. Taylor Trelawney nickt.
Madison McHard überlegt kurz. „Könnte es sein, dass Finleys Ehefrau Florence Falkland den Fahrerflüchtigen ausfindig gemacht und erschossen hat?“
„Dann wäre das Tatmotiv Rache“, sinniert Aaron Atherton laut.
Dr. Trelawney schüttelt wissend den Kopf. „So weit war ich auch schon. Bis ich etwas Wichtiges entdeckt habe.“
Nachdem Dr. Trelawney die beiden Inspektoren aufgeklärt hat, verlassen diese das Institut und machen sich auf ins Büro, um nach dieser Witwe Falkland zu forschen.

Am Nachmittag des nächsten Tages.
Florence Falklands Gesicht ist eingefallen und die ergrauten Haare fallen glanzlos über ihre schmalen Schultern. Noch immer trägt die Witwe

Schwarz. Sie tupft mit ihrem Stofftaschentuch die Tränen von den aschgrauen Wangen und schluchzt: „Nun halten Sie mich hier schon zwei Stunden fest. Ich habe den Gärtner

nicht umgebracht.“
Inspektor Atherton schaut hinter seinem Monitor hervor und fragt interessiert: „Wir haben nie erwähnt, dass es sich bei dem Toten um einen Gärtner handelt.“
Florence Falkland schluckt trocken. „Ich … ähm … dachte nur.“
Madison McHard erhebt sich aus ihrem Bürostuhl, geht um den Schreibtisch herum und setzt sich auf die Kante der Tischplatte. „Mrs. Falkland, machen Sie es sich doch nicht so schwer. Indirekt haben Sie soeben gestanden.“
Die 48-Jährige blickt trauernd und ertappt zugleich zu Boden. „Ja“, gesteht sie mit fast kindlicher Stimme. „Ich habe Owen Okley erschossen. Er saß gestern Abend vor dem Fahrkartenautomaten und ich dachte, er schläft bis der Zug einfahren würde. Lange habe ich nach ihm gesucht, bis ich zufällig sein Foto in einer Anzeige in der Zeitung entdeckt habe. Er bot seine Dienste als Gärtner an. Ich habe meine Freundin Gracie Griffith gebeten, ihn einzustellen, da ich selbst keinen Garten besitze. Gracie und ich verstehen uns blendend seit unserer Schulzeit und treffen uns regelmäßig. Da war es selbstverständlich, dass sie mir helfen würde, was sie auch tat. Leider verliebte sie sich in den gutaussehenden Mörder meines Ehemannes.“
„Wie lange ging diese Beziehung der beiden?“, erkundigt sich McHard.
„Etwa ein halbes Jahr. Dann erfuhr sie, dass er verheiratet war und seine Ehefrau nicht verlassen wollte.“
„War sie sehr wütend darüber?“
Noch schlimmer, Frau Inspector. Sie war nicht wütend, sondern maßlos enttäuscht. Ich erkannte sie kaum wieder. Wenn sie von Owen Okley erzählte, war ihr Blick leer, ihre meerblauen Augen kalt und ihre Stimme eisig, als wenn sie aus einer Eishöhle heraus mit mir gesprochen hätte.“
„Sie ließen sich mitreißen und gemeinsam schmiedeten Sie einen Plan. Hab ich Recht?“
„So war es, Herr Inspector. Sie sagte mir, sie wolle ihn zu einem letzten Tässchen Tee

einladen. Ich gab ihr etwas von dem Gift, das mein Mann kreiert hatte, bevor er elend im Straßengraben verbluten musste. Aber als ich Owen Okley am Fahrkartenschalter dösen sah, wusste ich, sie brachte es nicht übers Herz. Ohne zu zögern zückte ich die Pistole

und drückte ab. Nach meiner befreienden Tat schmiss ich das Ding in den Waldsee.“
Atherton wendet sich McHard zu. „Das ist der See am Ende der Stadt. Wir lassen morgen nach der Waffe tauchen.“
Madison McHard nickt wortlos. Sie ist erschüttert, wie kaltherzig Florence Falkland berichtet. Aber sie bringt auch ein wenig Verständnis für sie auf.
„Ich würde es ihr jetzt gerne sagen“, bittet Aaron Atherton seine Kollegin. Diese nickt; noch immer fassungslos.
„Ich weiß“, unterbricht Florence Falkland, die wieder betroffen zu Boden stiert. „Ich bin verhaftet und werde des Mordes angeklagt.“
„Ganz so ist es nicht, Mrs. Falkland“, sagt Atherton besonnen. „Es ist Ihre Freundin Gracie Griffith, die des Mordes beschuldigt wird.“
Die Witwe blickt den Inspektor ungläubig an.
„Ja“, erklärt dieser. „Sie hat Owen Okley mit dem Insektenvernichtungsmittel Killerchlordiphenyltrichlorethan vergiftet. Genau wie Sie beide es zuerst geplant haben. Nur hat sie zu wenig genommen, sodass er erst um 22.00 Uhr vor dem Fahrkartenschalter in der Eingangshalle tot zusammengesackt ist.“
„Das heißt, ich habe eine Leiche erschossen?“
Atherton und McHard nicken synchron.

Ende

Impressum

Texte: Copyright © Carmen M., 2010
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich Agatha Christie, die am 15. September ihren 120. Geburtstag gefeiert hätte. Jeden Sonntag verzaubert sie mich mit ihren spannenden Kriminalgeschichten und ihrer gewählten Ausdrucksform

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