Cover

Das schreckliche Erlebnis



Es gab bestimmt keinen erfolgloseren Schriftsteller als den 42 jährigen Helmut Winkler. Nicht nur seine Bücher waren unscheinbar, sondern auch sein Aussehen. Mit seiner dicken Brille und seinen braunen Klamotten erweckte er keine Aufmerksamkeit. Zudem war er sehr kontaktscheu und lebte zurückgezogen. Dabei wollte er so gerne bedeutend sein.
Helmut musste sich mit Nebentätigkeiten über Wasser halten. So fuhr er auch an diesem Tag wie gewohnt die kurvige Landstraße, die durch einen Wald führte, zu seiner Arbeit. In Gedanken versunken steuerte er den alten Escord durch die engen Kurven. Er träumte davon, mit einem seiner Bücher einmal groß herauszukommen. Leider geriet er schon das dritte Mal an einen Verlag, der seine Bücher nicht richtig an den Mann bringen konnte.
„Bald ist das Tellerwäschern wohl mein Hauptberuf“, dachte er bei sich.
Doch heute sollte alles anders kommen!

Schlagartig wurde er aus seinen Träumen gerissen. Am rechten Fahrbahnrand lag ein Auto, das gegen einen Baum gedonnert war. Flammen schossen aus dem Motorraum hervor. Helmut hielt an und starrte auf das Wrack.
„Was soll ich nur tun?“, fragte er sich und geriet in Panik. Sein Atem wurde heftiger, seine Gedanken sausten wirr durch den Kopf. Er bemerkte nicht, wie der Angstschweiß sein Hemd durchnässte.
„Ich muss handeln! Was ist mit meiner Ausbildung in Erste Hilfe? Wo ist mein Wissen darüber geblieben?“
Plötzlich hörte er leise Hilfeschreie. Sehnlichst wünschte er sich an seinen Schreibtisch unterm Dach, in seine gemütlichen vier Wände.
Die Schreie wurden immer lauter, je näher er sich mit seinem Escord der Unfallstelle näherte. Auf einmal wurde ihm seine brenzlige Situation bewusst. Er hetzte zu dem Unfallwagen, die Schreie wurden immer lauter und verzweifelter.
„Wie war das? Ich muss dem Verletzten gut zureden. Aber Himmel, wie soll ich ihm zureden, wenn das scheiß Teil in Flammen steht?“
Helmut fasste an den heißen Türgriff des Wagens. Glücklicherweise ließ sich die Türe öffnen.
„Helfen Sie mir“, hörte er einen jungen Mann betteln. „Ich bekomme den Gurt nicht auf. Es ist so heiß. Ich kriege keine Luft. Bitte, beeilen Sie sich doch!“
„Ich tu was ich kann, bleiben sie ruhig.“ Diesen Satz sagte Helmut wohl eher zu sich selbst, denn noch immer war er panisch. Er rannte zu seinem Escord und holte den Notfallhammer, um den Gurt des Verunglückten durchzuschneiden. Die Flammen schafften sich immer weiter zu ihnen vor. Helmut griff dem Jungen unter die Arme und zog in mit aller Kraft aus dem Wagen. Der Verletzte schrie dabei, als wenn Helmut ihm ein Bein ausreißen würde.
„Mein Bein steckt fest!“, brüllte der Junge.
„Sorry, aber da musst du jetzt durch“, dachte sich Helmut und zerrte weiter. Schon längst hatte er erkannt, dass das Bein nicht so eingeklemmt war, dass er dem Fahrer großen Schaden zufügen würde, wenn er ihn herauszog. Er schleifte den Verletzten zwei Meter vom Auto weg und wog sich vorerst in Sicherheit. Aber da sah er, wie Sprit vom Tank nach vorn sickerte, direkt auf die Flammen zu. Ausruhen war nicht möglich! Er musste den Jungen weit wegschleifen, da das Wrack zu explodieren drohte. Als er ihn über die verlassene Landstraße schleppte und auf der anderen Seite des Waldrands ablegte, rief er mit seinem Handy die Polizei.
„Sie haben mir das Leben gerettet“, stöhnte der Junge.
„Keine Ahnung. Von den letzten paar Minuten weiß ich gerade gar nichts mehr.“ Helmut schnaufte und hechelte, wie ein alter Schäferhund, der aus letzter Kraft das Stöckchen holte. Dann besann er sich, mit dem Verletzten reden zu müssen, damit dieser nicht ohnmächtig würde.
„Wie heißen Sie, junger Mann?“
„Ich bin Aaron. Aaron Thomas“, stöhnte er. „Ich habe erst vor wenigen Tagen den Führerschein bekommen. Ich hab wohl die Kurven dieser Landstraße unterschätzt.“ Er lächelte gequält und nahm Helmuts Hand.
„Ich gehe nicht weg, bis der Krankenwagen da ist. Hab keine Angst, Aaron.“
Wenige Minuten später hörten sie Sirenen. Nach solch einem schrecklichen Erlebnis, das unsere beiden Freunde durchmachten, glaubt man gar nicht, wie beruhigend das laute Geräusch einer Sirene sein kann.
Die Feuerwehr brauchte einige Liter an Löschwasser und es war ein riesiger Aufwand den Brand zu löschen. Aaron Thomas wurde in den Krankenwagen geschoben.
„Könnten Sie meine Eltern anrufen und ihnen mitteilen, es ginge mir gut?“
„Das mache ich, Aaron.“
Als Helmut die Türen des Krankenwagens ins Schloss fallen hörte, vernahm er noch die Stimme eines Feuerwehrmanns, der seinem Kollegen vom Glück im Unglück erzählte, weil der Benzintank nicht explodiert war.

Wenige Tage später wurde Helmut Winkler zu einem Interview ins Fernsehen eingeladen. Er sollte schildern was passiert war und wie er geholfen hatte bei dem Unfall.
„Zuerst habe ich jegliches Gelerntes vergessen. Ich wusste weder wie man einen Verband anlegen würde, noch wo sich mein Verbandskasten befand. Es war einfach eine ungewohnte Aufregung. Ich meine, man sieht nicht jeden Tag solch einen Unfall. Und dann vernahm ich noch die Hilfeschreie des Verletzten, die mich vollends aus in Angst versetzten. Aber dann fasste ich mir Mut und beruhigte mich selbst. Daraufhin konnte ich den Verunfallten bergen und ebenfalls beruhigen. Den Rest kennen Sie ja“, erzählte Helmut stolz. „Ich kann nur raten, anzuhalten. Auch wenn man nicht weiß, wie man helfen soll. Aber wenigstens weiß der Verletzte, dass jemand bei ihm ist“, fügte er hinzu.

Durch dieses Interview, das in sämtlichen Medien erschien, wurde er über Nacht berühmt. Und wie es bei berühmten Leuten ist, vergrößerten sich sogar die Verkaufszahlen seiner Bücher. Obendrein wurden einige seiner Bücher vertont und als Hörbücher angeboten. Verlage schrieben ihn an und fragten nach seinen Geschichten. Überdies gab er Seminare im Verhalten bei Unfällen mit verletzten oder unter Schock stehenden Menschen.

Wenige Wochen nach diesem Ereignis war Helmut viel selbstbewusster als zuvor. Nun wusste er, was in ihm steckte. Er musste nur daran glauben.

Eines schönen Nachmittags putzte Helmut sich heraus, ersetzte seine unscheinbaren braunen Klamotten durch einen eleganten grauen Anzug, band sich seine dazu passende Krawatte um und stolzierte in Richtung Einkaufspassage. Helmut in der Einkaufspassage? Unter all den vielen Menschen?
Hoch erhobenen Hauptes schritt er auf den runden weißen Tisch einer Eisdiele zu, an dem eine wunderschöne Frau saß und durch einen Strohhalm ihren Eiskaffee schlürfte. Das Braun ihrer langen glatten Haare schimmerte in der Mittagssonne. Als sie Helmut kommen sah, lächelte sie ihn liebevoll an.
„Hallo, mein Schatz“, sagte sie in einem zärtlichen Ton.
Helmuts Leben hatte sich total verändert und er war sehr glücklich darüber.

Ende



Impressum

Texte: © by Carmen M.
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /