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Wie erkläre ich es meinen Eltern?


„Und, wie war deine letzte Sitzung beim Psychotherapeuten?“, fragten mich vor Kurzem meine Eltern ganz gespannt. Wir saßen am Esszimmertisch und es roch verführerisch nach Kaffee und leckerem Erdbeerkuchen.
„Ich bin froh, dass ich die 25 Sitzungen hinter mir habe. Die Nerven meines Therapeuten hingen in Fetzen an ihm herunter zum Schluss hin“, erzählte ich, und kaute genüsslich an einer Erdbeere. „Aber ich fing ebenfalls nichts mit ihm an. Ich musste ihm sogar erklären was Hyperlexie bedeutet.“
„Wie lautet denn nun die Diagnose?“, fragte mein Vater, während er in der Küche etwas Hefezopf absäbelte.
„Die Diagnosen, meinst du wohl, Papa. Nun, ich habe das Asperger-Syndrom mit ADHS.“ Ich bemerkte, die verdutzten Gesichter meiner Eltern, die auf weitere Ausführungen warteten. Dramatisierend spritzte ich gemütlich ein bisschen Sahne auf meinen Kuchen.
„Kommt noch was, Kleines?“
„Ja, es ist noch was drin.“
„Nein“, lachte mein Vater. „Ich meinte nicht die Sahne, sondern ob von dir noch was kommt.“
„Ach so, klar. Also, das Asperger-Syndrom ist eine leichte Art von Autismus. Die Betroffenen sind normal bis hochbegabt. Diese Menschen lieben es als Kind ihren Alltag alleine in ihren sicheren und ruhigen vier Wänden zu verbringen. Das Kinderzimmer ist ihr Allerheiligstes. Später wünschen sie sich Freundschaften, schaffen es aber schwer, diese aufrechtzuerhalten.“
„Ach, deswegen spieltest du lieber alleine in deinem Zimmer mit den Spielzeugautos?“, unterbrach mich meine Mutter. „Oft warst du stundenlang in Bücher vertieft. Und die Kinder- und Vorschullehrerinnen sagten immer, du hättest dich viel lieber mit Erwachsenen ausgetauscht.“
„Ja, mit Gleichaltrigen war es für mich immer sehr schwierig, da ich ihre Regeln nicht verstand. Es war, als sprächen wir unterschiedliche Sprachen. Ein Austausch musste für mich immer Informationen enthalten, die ich von Kindern nicht bekommen konnte.“
Vater schlürfte gedankenversunken an seinem Kaffeelöffel. „Und was ist nun diese Hyperlexie?“
„Dies bedeutet, dass ich schon sehr früh mit Fremd- und Fachwörtern umgehen konnte, jedoch nicht immer wusste, was sie wirklich bedeuteten. Doch genau das nahmen die Lehrer immer an und überforderten mich mit zu vielen Erwartungen.“
„Weißt du noch, als du in der Grundschule einen Preis im Vorlesen bekamst?“, fragte Mutter stolz. „Ich weiß noch, wie der Schuldirektor mir erklärte, dass du schon von Anfang an lesen konntest, aber erst in der Schule lerntest, wohin welcher Buchstabe im Alphabet kommt. Damals wusste eben noch niemand vom Asperger-Syndrom, sonst hätte deine schulische und berufliche Laufbahn sicher anders ausgesehen.“ Sie legte ihre Hand auf meine, als wollte sie sich entschuldigen.
„Weißt du, Mama, ich gewöhnte mir mein Andersdenken so an, dass ich annahm, alle Kinder würden so denken wie ich.“
Meine Eltern wurden immer neugieriger und Vater fragte, wie denn mein Denken aussieht.
„Ich nehme die Buchstaben nicht nur als schwarz-weiße Zeichnungen wahr, sondern bunt und schillernd. Der Buchstabe B präsentiert sich mir dominant und in Blau, der Buchstabe S ist rot. Fremdsprachen zu lernen wäre für mich eigentlich kein Problem, doch das ADHS stoppt mich häufig in meinen Aktivitäten. Heute, als Freiberuflerin, kann ich Pausen einlegen, was früher unmöglich war. In meinem Alphabet gibt es sogar feminine und maskuline Buchstaben. B ist beispielsweise männlich, genauso wie S. Das F wiederum ist weiblich und weicher, genau wie das D. Ebenso ergeht es mir mit ganzen Wörtern. Manche Wörter finde ich total witzig und muss immer aufpassen, in einem ernsten Gespräch nicht auf einmal loslachen zu müssen.“
„Welche sind das zum Beispiel, Kleines?“
„Hm...“, überlegte ich. Beispielsweise Wörter mit pf, wie stampfen, mampfen und stupfen. Aber auch Verniedlichungsformen mit i, wie Mietzi, Schlumpfi, Kindi usw.“
Meine Eltern lachten, hörten aber wieder aufmerksam zu und stellten viele Fragen.
„Ich wunderte mich oft, wieso du nicht so viele Freunde hattest, wie die anderen Kinder und Jugendlichen“, bemerkte Vater und legte grübelnd den Kopf in seine Hand.
„Das stimmt, Papa. Ich wollte ja Freunde, aber es war sehr schwierig für mich. Typische Mädchen- oder Fraueninteressen habe ich nicht und mit den Jungs und Männern ist es ebenso nicht immer einfach. Zudem wusste ich gar nicht, wie ich eine Freundschaft aufrecht erhalten sollte. Wie oft trifft man sich, worüber redet man so? Smalltalks fallen mir noch heute sehr schwer.“
Mutter erhob sich schwerfällig und eierte in die Küche, um frischen Kaffee zu holen. Ich hob meine flache Hand über die Tasse. „Danke, Mama, mir genügt eine Tasse Kaffee. Wenn ich noch eine süffele, dann hüpfe ich dir wie ein Gummibällchen um den Esszimmertisch vor Nervosität.“, lachte ich.
„Hihi, das will ich sehen“, kicherte Vater. „Du erwähntest eingangs des Gespräches die in Fetzen hängenden Nerven deines Therapeuten. Wie meintest du das genau?“ Er steckte sich eine Fluppe an und ich kniff instinktiv die Augen zu, den beißenden Qualm erwartend. „Der Therapeut offenbarte schon recht bald, er wäre auf das Asperger-Syndrom und ADHS nicht spezialisiert. Warum er dann die 25 Sitzungen durchzog, verstehe ich nicht.“
„Er hat sich davon wohl seine letzten drei Wochen Urlaub gegönnt“, grinste Mutter und nippte unschuldig schauend an ihrer Kaffeetasse. Wir konnten uns alle drei das Lachen nicht verkneifen.
„Ja, wir sind schon ein lustiges Häufchen“, entgegnete Vater. „Wie geht es denn nun weiter mit dir und deinen Diagnosen?“
„Ich bin ganz glücklich darüber, zu wissen, was ich habe und was mich so anders sein lässt. Ich werde meine veränderte Bewusstseinsebene beruflich einsetzen und die Liebe zu den Buchstaben mit meinen Mitmenschen teilen.“
„Das heißt, du möchtest das mit der Schriftstellerei durchziehen.“
„Ganz genau, Mama. Mein erstes Kinderbüchlein wird ja bald erscheinen und bei einem Schreibwettbewerb habe ich auch schon gewonnen. Ich musste mir neulich sogar eine neue Tastatur kaufen, weil an meiner alten die Buchstaben verblassten vom vielen Schreiben.“, übertrieb ich schmunzelnd.
„Von deinen vorherigen Erzählungen wissen wir ja, wie schwierig es für dich ist, dir eine fiktive Geschichte auszudenken aufgrund des Autismus´“, sagte Vater und tätschelte mir tröstend die Hand.
„Na, nun übertreib mal nicht, Papa. Klar ist es schwierig, aber das war es auch schon in der Schule bei den Hausaufgaben. Weißt du noch, wie ich oft stundenlang dasaß und paukte, während die anderen Kinder draußen herumtobten?“
„Ja, aber nun übertreibst du“, mischte sich Mutter ein und konnte sich ein Schmunzeln nicht verdrücken. „Du ließt dich ständig ablenken und hast nebenher gespielt. Sogar beim Essen saßen Figürchen auf dem Tellerrand und wollten was abhaben. Einmal ist Pinocchio fast ertrunken in deiner Tomatensoße, die ich dir jeden verdammten Tag zu deinen Nudeln kochen musste, weil du nichts anderes gegessen hast zu Mittag.“ Wir lachten alle drei köstlich.
„Ja, das waren noch Zeiten“, prustete ich. „Du hattest es ziemlich leicht mit mir.“
Ich stand auf und streckte mich katzenhaft vom langen Sitzen auf der Eckbank. „So, ich muss dann aber langsam heimfahren. Mein Weg ist weit und es wird bald dunkel. Ich fahre doch nicht gerne Auto im Dunkeln.“
Vater holte mir meine schwarze Jacke. Die vielen Schnallen klimperten beim Anziehen. Ich räumte meine Tasche ein und es wurde noch gedrückt und gebusselt und wenig später war ich auf dem Nachhauseweg.
„Ich bin froh, dass sie nun Bescheid wissen“, freute ich mich und tippte mit dem Zeigefinger zum Takt der Musik aufs Lenkrad.

Ende


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Tag der Veröffentlichung: 18.10.2009

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