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1| Englishman in New York

1.

Grelles Sonnenlicht fällt durch die dreckigen Fenster. Es lässt die Bodendielen aus dunklem Holz goldfarben aufleuchten, und ganz kurz verscheucht es die Dunkelheit, die mich pausenlos umgibt, seitdem ich hier bin. Fasziniert beobachte ich die Staubkörner, die in den Strahlen sichtbar werden und durch die Luft wirbeln. Es wirkt fast, als würden sie tanzen, so anmutig, wie sie sich fortbewegen. Völlig unscheinbar und doch so präsent.

Es ist mein Zimmer, in dem ich stehe. Die vier Wände, die ich für die nächsten Jahre mein Zuhause nennen darf. Und doch fühle ich mich völlig fremd. Als wäre ich ein Gast auf Zeit, der bald wieder seine Koffer packen und weiterziehen wird. Es fehlt das Gefühl der Zugehörigkeit. Alles ist so leer, so kalt. Abgesehen von meinem Bett, meinem Kleiderschrank und einer zierlichen, hölzernen Kommode, die ich seit meinem neunten Lebensjahr zu meinem Eigentum zählen kann.

Ansonsten ist es leer. Genau wie ich.

Inzwischen habe ich die zweite Nacht im meinem neuem Heim hinter mich gebracht. Auch wenn es vielmehr einem quälenden Prozess ähnelte, bei dem ich von einem erholsamen Schlaf weit entfernt war. Und obwohl bereits etwas Eingewöhnungszeit verstrichen ist, habe ich noch immer keinen Elan aufbringen können, um meine Umzugskartons auch nur anzurühren. Ganz im Gegenteil zu meiner Mutter Betty und meinem Bruder Robin, die bereits all die Spuren ihrer Persönlichkeit im Haus verteilt haben. Ihnen scheint der Umzug in ein neues Leben weniger Probleme zu bereiten, wohingegen ich mich nur schwer mit der Tatsache anfreunden kann, meine alte Heimat für immer verlassen zu haben.

Immerhin gibt es auch wenige positive Aspekte, die dieser plötzliche Lebenswandel mit sich bringt. Das Fachwerkhaus, das wir von nun an bewohnen, ist wirklich wunderschön. Mom hat das traumhafte Stück von dem Erbe meines Dads erstanden, und ich bin mir sicher, dass es auch ihm gefallen hätte. Außerdem ist mein neues Zimmer viel größer als das Alte, und verfügt über ein eigenes, kleines Badezimmer. Sogar eine Dusche ist darin zu finden, weshalb der morgendliche Kampf mit Mom und Robin endlich ein Ende hat.

Wahrscheinlich werde ich mich früher oder später mit der neuen Umgebung arrangieren können. Abgesehen davon, dass ich es muss, denn ich habe keine andere Wahl.

„Isabelle, jetzt komm!", höre ich meine Mutter plötzlich aus dem Erdgeschoss rufen. „Du kannst wenigstens an deinem ersten Tag mal pünktlich sein!"

Schließlich ergebe ich mich seufzend und schnappe meine Ledertasche, die ich zuvor lieblos auf den Fußboden verfrachtet habe. Ich kann mich ja doch nicht dagegen wehren, nach draußen zu gehen und mich der Menschheit zu stellen. Heute ist immerhin Montag, mein erster Tag an dem Gymnasium, an dem Mom mich  angemeldet hat. Ich muss die letzten anderthalb Jahre für das Abitur nachholen, da ich die Oberstufe in meinem alten Leben mittendrin abgebrochen habe. Ganz zum Entsetzen meiner Mom, die von meiner spontanen Aktion überhaupt nicht begeistert war. Allerdings musste sie auch nicht mit den Magenkrämpfen leben, die mir der Gang zur Schule tagtäglich bereitet hat. Es war zu viel, ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich konnte mich nicht mehr ertragen. Die Ansprüche der Lehrer in Kombination mit diesem psychischem Schmerz, war eine tödliche Mischung, die mich letzten Endes in die Knie zwang.

Dafür muss ich mich jetzt umso mehr reinhängen. Ich will den Scheiß schließlich hinter mich bringen.

Mir wird augenblicklich schlecht, wenn ich daran denke, in weniger als einer Stunde im Mittelpunkt von rund fünfundzwanzig Menschen zu sein. Insbesondere, wenn diese Leute mir auch noch vollkommen fremd sind. Garantiert werden sie mich ununterbrochen anstarren, mich von Kopf bis Fuß mustern. Sich gegenseitig Dinge zuflüstern und mich sofort in eine Schublade stecken, ohne mich wirklich zu kennen. Ich war noch nie die Neue und fühle mich sowieso immer unbehaglich, wenn ich mich im Zentrum der Aufmerksamkeit befinde. Hoffentlich muss ich mich wenigstens nicht vor versammelter Mannschaft vorstellen. Es sollte wohl nicht schaden, noch schnell ein Stoßgebet gen Himmel zu schicken.

Damit ich nicht direkt in den Fokus der Lästerein gerate, habe ich mir ein relativ neutrales Outfit ausgesucht.  Zu dunkelgrauen, verwaschenen Jeans trage ich einen bordeauxroten Strickpullover, und dazu ein paar schlichte Sneakers von Vans. Mein langes, hellbraunes Haar trage ich offen, sodass es mir in seidigen Wellen über die Schultern fällt. Außerdem habe ich die Spuren meiner schlaflosen Nächte im Gesicht mit etwas Make-Up und Mascara verschwinden lassen. Mit den lang geschwungenen Wimpern wirken meine blauen Augen größer und nicht mehr ganz so glanzlos wie sonst. Ich sehe okay aus, zwar weit entfernt von attraktiv, aber eben okay.

„Isabelle, komm endlich!"

Mittlerweile hat die Stimme meiner Mom an Lautstärke zugenommen, wodurch ich den gewissen Unterton heraushöre, der keine Widerrede dudelt. Also mache ich mich schnell auf den Weg ins Erdgeschoss, wobei ich beinahe über meine eigenen Füße stolpere. Aber sie hat recht, ich sollte mich beeilen. Meine neuen Leidensgenossen werden erst recht über mich tuscheln, wenn ich an meinem ersten Tag zu spät bin. Menschen können so grausam sein.

Als ich schließlich die Küche betrete,  hockt mein Bruder bereits am Tisch und schaufelt Müsli in sich hinein, während meine Mutter laut polternd die Schränke durchwühlt.

„Bin ja schon da", murre ich, ehe ich schnurstracks auf die Kaffeemaschine zusteuere. Mom und Robin schauen gleichzeitig zu mir hoch, wenden sich aber dann nach einem synchronen Kopfnicken wieder von mir ab. Träge gieße mir einen Becher Kaffee ein, schnappe mir daraufhin eine Banane aus der Obstschale und lasse mich wie ein nasser Sack auf einem der Stühle fallen. Der Blick meines Bruders ist bemerkenswert mitleidig, während er mit einer Hand meine rechte Schulter tätschelt.

„Und Ella, bist du sehr nervös? Wie hast du geschlafen?"

Weil ich weiß, dass er mich den ganzen Tag damit aufziehen wird, wenn ich jetzt nicke, schüttele ich stattdessen zögernd den Kopf.

„Naja, eigentlich bin ich relativ gelassen", lüge ich und nippe kurz darauf an dem brühend heißen Kaffee. Meine Lippen beginnen unvermittelt zu brennen. „Ich habe ganz gut geschlafen, von daher geht's gerade noch mit der Aufregung."

Mein Körper scheint wohl eine andere Sprache zu sprechen, da Robin mich mit ungläubiger Miene und hochgezogener Augenbraue mustert. Ich habe allerdings keinen Bedarf, meinen Gemütszustand so früh am Morgen auszudiskutieren, weshalb ich schulterzuckend hinzufüge: „Ist ja immerhin nur ein erster Schultag und keine Abiturprüfung, oder so. Das werde ich schon schaffen, bin ja jetzt groß."

Mein aufgesetztes Grinsen scheint ihn tatsächlich zu überzeugen, da er sofort von meinen Augen ablässt und sich wieder ganz seinem Frühstück widmet.

„So kenne ich meine Schwester", bemerkt er dann, ehe er einen Löffel Müsli in sich hineinschiebt. „Soll ich dich fahren? Ich habe sowieso einen Termin in der Uni, also könnte ich dich auf einem Weg mitnehmen."

Kurz muss ich über seinen Vorschlag nachdenken, aus Angst, er könnte mich während der Fahrt weiter über meine Gefühle ausquetschen. Ich beschließe jedoch ziemlich schnell, dass das Auto meines Bruders wesentlich komfortabler ist als der Schulbus, weshalb ich begeistert nicke.

„Gern, danke."

Der liebevolle Umgang zwischen Robin und mir gleicht einem Wunder, wenn ich bedenke, dass wir uns noch vor einem halben Jahr die Pest an den Hals gewünscht haben. Der Unfall unseres Vaters hat unser beider Leben dermaßen aus der Bahn geschmettert, dass wir unsere Fürsorge und Liebe füreinander aus den Augen verloren haben. Jeder von uns war nur mit sich selbst beschäftigt, hat sich nicht ansatzweise für die Gefühle des Anderen interessiert. Doch wir haben hart an uns gearbeitet, haben uns durch unzählige emotionale Gespräche gekämpft, sodass unser Verhältnis heute nicht harmonischer sein könnte. Ich bin ihm immer noch so dankbar, dass wir beide die Kraft hatten, diese schwarzen Zeiten zu überstehen.

Mit einem letzten, lautstarken Klirren lässt Mom einen Stapel Teller in einem der Hängeschränke verschwinden, bevor sie sich schnaubend zu uns an den Tisch setzt. Ihr Lächeln ist wie immer warm und herzlich.

„Na, dann solltet ihr jetzt aber los, meine Lieben. Und du ...", knurrt sie und fixiert Robin mit dunklen Augen und drohendem Zeigefinger, „und du fährst gefälligst vernünftig und vorsichtig."

Mein Bruder und ich fallen gleichzeitig in lautstarkes Gelächter. An sich ist Moms Warnung mehr als begründet, da Robins Fahrkünste streckenweise wirklich zu wünschen übrig lassen. Erst letzte Woche hat er einen Strafzettel wegen erhöhter Geschwindigkeit erhalten. Dennoch sieht Betty einfach zu komisch aus, wenn sie so erbost die Augen zusammenkneift und ihren Zeigefinger hin-und herschwingt.

Ich leere meinen Kaffee mit einem großen Schluck und stopfe noch einen Apfel in das Seitenfach meiner braunen Ledertasche, bevor ich mich in eine viel zu lange Umarmung von Mom ziehen lasse. Noch ehe ich mich zu ihr umdrehen kann, ist sie auch aufgesprungen

„Ich wünsche dir einen wunderschönen ersten Tag, mein Schatz. Ich hoffe, du lernst schon ein paar nette Leute kennen. Aber damit wirst du sicher keine Probleme haben. Du bist ja schließlich mein Kind." Mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen, drückt sie mir zwei Schmatzer auf Stirn und Wange.

„Ja, danke. Bis später", stammele ich verlegen und schäle mich aus ihrem festen Griff. Damit sie nicht noch mehr Theatralik versprüht, eile ich zu Robin, der bereits an der Haustür wartet. Fast gleichzeitig werfen wir unserer Mutter noch ein „Bye, Mom" hinterher, ehe wir lachend zum Auto schlendern.

 

****

 

Obwohl der Frühling schon längst übers Land gezogen ist und die Sonnenstrahlen ihren Weg durch die dichte Wolkendecke finden, ist es noch recht kühl. Ich schlinge meine Lederjacke eng um meinen Oberkörper, bis die Heizung des Autos genug warme Luft verteilt hat. Trotzdem lässt es sich nicht verhindern, dass ich leicht zu zittern beginne.

Auf den Straßen ist es brechend voll. Unzählige Autos reihen sich aneinander, gefahren von Menschen, die in ihrer morgendlichen Hektik noch pünktlich zur Arbeit kommen wollen. Deshalb zieht sich die Fahrt wie klebriges Kaugummi, und mit jedem Meter, den wir uns erschleichen, wächst meine Nervosität stetig an. Auch das Zittern meiner Finger hat an Intensität zugenommen, doch inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob es allein an der Kälte liegt. Mein Magen meldet sich ebenfalls zu Wort und grummelt so heftig, dass ich ihn umfassen muss, um mich nicht übergeben zu müssen. Robin würde mich vermutlich unvermittelt rausschmeißen.

Als wir schließlich vor der gefühlt fünfunddreißigsten roten Ampel zum Stehen kommen, lässt er sich stöhnend in den Sitz fallen.

„Verdammt, wenn das so weitergeht, wirst du deinen ersten Schultag verpassen!" Genervt schlägt er mit dem Handballen aufs Lenkrad. „Morgen fährst du mit dem Bus, damit das klar ist."

Ein Lächeln umspielt seine Lippen, doch als er dann zu mir rüberschaut, sind seine Züge plötzlich von Sorge erfüllt.

„Hey, das war doch nur Scherz", fügt er mit ruhiger Stimme hinzu und lässt seine Hand mitfühlend auf meinem Knie nieder. Selbst durch den dicken Stoff meiner Jeans kann ich spüren, dass seine Finger genauso frieren wie die meinen. „Was ist los, Ella?"

Seine eindringlichen Blicke steigern meine Aufregung zusehends, weshalb ich nervös hin- und herrutsche, um nicht völlig durchzudrehen. Seufzend lehne auch ich mich weiter in die Lehne hinein, schmiege mich an das weiche Polster des Autositzes.

„Warum fällt es dir so leicht, in dem neuen Haus zu leben, Rob?"

Sein offener Mund und seine in Falten gelegte Stirn signalisieren mir, dass er mit meiner Gegenfrage nicht gerechnet hat. Ich weiß ja selbst nicht, warum ich das genau jetzt wissen will, aber irgendwie sind mir die Worte einfach unkontrolliert aus dem Mund gesprudelt.

„Wie meinst du das?", hakt er sichtlich verwirrt nach.

„Dir scheint es keinerlei Probleme zu bereiten, dass wir das Haus, das Dad für unsere Familie gebaut hat, einfach verlassen haben. Du bist gar nicht so unglücklich wie ich es erwartet habe."

„Du meinst, ich bin nicht so unglücklich wie du?"

Plötzlich schießen mir heiße Tränen in die Augen. Ich versuche, sie unauffällig wegzublinzeln, während ich den Blick starr aus dem Beifahrerfenster gerichtet halte. Im Prinzip hat mein Bruder recht, wie so oft, wenn es um meine Gefühle geht.

Ja, ich bin unglücklich.

Und ja, ich habe erwartet, dass es ihm genauso geht.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich es ihm sogar ein bisschen übel nehme, dass er glücklich ist. Dass er nicht in dem gleichen Meer voll Trauer versinkt wie ich. Ich bin wirklich eine schlechte Schwester.

„Hör mal, Ella. Meinst du, mir fällt es leicht, ein komplett neues Leben zu beginnen? In einer Stadt, die mir völlig fremd ist? Ich habe wahrscheinlich genauso viel Schiss wie du, aber ich konzentriere mich vor allem auf das Gute in diesem Schritt. Ich will nur noch nach vorn blicken, verstehst du?"

Robin zieht hörbar die Luft ein, bevor er kurz innehält und dann fortfährt. „Wir mussten aus dem Haus raus, es war unvermeidbar. Dort hätte uns immer alles an Dad erinnert, und wir hätten nie aufgehört zu weinen. Jetzt sind wir zwar noch nicht vollkommen glücklich, aber wir können langsam anfangen, unser Leben wieder in den Griff zu bekommen. Zusammen. Und nur, weil wir endlich in die Zukunft schauen können, bedeutet das nicht, dass wir Dad vergessen. Das werden wir niemals ... Ich werde ihn immer vermissen."

Seine letzten Worte sind nur noch ein Flüstern. Nun läuft mir doch eine Träne über die Wange, gefolgt von weiteren, die ich einfach fließen lasse. Ich weiß haargenau, was er gerade fühlt, und wieder droht mich die endlose Trauer zu übermannen. Diesmal bleibe ich jedoch stark, kneife die Augen zusammen und atme tief durch. Ich kann nicht jedes Mal heulen, wenn es nur ansatzweise um meinen Vater geht.

Robins Hand ist beinahe zu einem Eisklumpen erstarrt, als ich meine Finger darum schließe. In Momenten wie diesem, brauche ich die Nähe eines vertrauten Menschen mehr als die Luft zum Atmen. Und ich weiß, dass es meinem Bruder diesbezüglich sehr ähnlich ergeht. Er drückt etwas fester zu, bevor ihm ein irgendwie erleichterter Seufzer aus der Kehle rinnt.

„Ich weiß", gestehe ich schließlich, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen habe. „Aber es fällt mir so verdammt schwer, Dad und das Haus hinter mir zu lassen. Dort war mein Zuhause, und hier fühle ich mich so ... ungewollt. Ich will keine neuen Schritte wagen, ich möchte in das Alte zurück." Bei dem Gedanken an ein Leben mit Dad kommen mir fast schon wieder die Tränen, doch Robin lässt mir keine Gelegenheit, sie ausbrechen zu lassen.

„Wir haben Dad doch gar nicht hinter uns gelassen. Wir haben ihn mitgenommen, hier ..." Dann deutet er mit dem Zeigefinger auf seine Brust, genau da, wo sich in etwa sein Herz befindet, was meines wiederum fast zum Schmelzen bringt. Und wieder hat er völlig recht. Mein Vater wird immer bei mir sein, ganz egal wo ich wohne. Er wird mich niemals verlassen.

„Du musst dem Ganzen eine Chance geben, Ella", fährt mein Bruder fort, ehe er in eine kleine Seitenstraße einbiegt. „Sei ein bisschen offener für etwas Neues, dann wird es dir hier bestimmt schnell gefallen. Außerdem sind Mom und ich immer für dich da, das weißt du doch."

Ich will gerade antworten, dass ich das ganz genau weiß und ich mir Mühe geben werde, als ich plötzlich von Weitem die Umrisse der Schule erkenne. Der Anblick des immer näherkommenden, riesigen Gebäudes lässt mich das emotionale Gespräch über unseren Umzug sofort vergessen. Wo ich gerade noch von tiefer Traurigkeit betäubt wurde, verspüre ich nun wieder diese unbändige Aufregung, die mein Herz zum Rasen bringt. Doch mir bleibt keine Möglichkeit, mich weiter um meinen verkrampften Magen zu kümmern, denn schon nach wenigen Metern hat Robin das Auto am Bordstein geparkt, direkt gegenüber des Haupteingangs. Mit einem Puls, der wohl auf einer Technoparty zu sein scheint, lasse ich den Blick über den Pausenhof und die Menschen, die sich darauf tummeln, schweifen.

Das Gymnasium sieht aus der Nähe noch größer aus und besteht aus einem Haupt- und zwei Nebentrakten. Links daneben befindet sich ein weiteres, eher längliches Gebäude, wobei es sich wahrscheinlich um die Sporthalle handelt. Alle Bauten sind aus rotem Backstein, mit schwarzen, flachen Dächern und geschwungenen Eingängen aus weißem Holz. Auf dem ersten Blick sieht es gar nicht wie eine Schule aus, eher wie eine Zauberakademie á la Hogwarts.

Im Innenhof erkenne ich grüne Bäume und Sträucher aller Art, außerdem eine kleine Rasenfläche mit einem angrenzenden Blumenbeet. Der botanische Akzent findet sich auch an den Hauswänden wieder, die stellenweise mit üppigen Rosen- und Efeuranken bedeckt sind. Es sieht hier so ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt habe, irgendwie ... schön. Obwohl ich mir sicher bin, dass dieses Adjektiv normalerweise keines ist, womit man ein Schulgebäude beschreibt. Doch in diesem Fall stimmt es. Zumindest rein optisch betrachtet könnte ich mich hier wohler fühlen als erwartet.

„So, du musst los", erinnert Robin mich, während ich gedankenversunken aus dem Fenster starre und mich nicht rühre. „Mom meinte, dass du dich vor dem Unterricht beim Sekretariat melden sollst. Die geben dir dann deinen Stundenplan."

Immer noch geistesabwesend nicke ich, hole mich dann aber mit einem Kopfschütteln in die Realität zurück. Bevor ich die Tür aufreiße und aus dem Auto steige, wende ich mich jedoch nochmal meinem Bruder zu.

„Ich schaffe das schon. Danke, dass du mich chauffiert hast. Bis nachher, Bruderherz."

Meinen Luftkuss quittiert er mit einem warmen Lachen, ehe er den Motor anlässt und langsam davonfährt. Fast schon sehnsüchtig blicke ich ihm hinterher, bis er hinter der nächsten Kurve verschwunden ist. Was würde ich dafür geben, wieder mit ihm nach Hause fahren zu können.

Voller Sehnsucht überquere ich schließlich die Straße und erklimme gerade den Kieselweg Richtung Haupteingang, als mein Handy plötzlich ertönt. Es ist der Piepton, der mir signalisiert, dass eine Nachricht eingetroffen ist. Also greife ich voller Vorfreude in meine Handtasche und muss etwas wühlen, bis ich das Ding endlich gefunden habe. Und als ich den Namen lese, der in großen, weißen Lettern auf dem Display erscheint, zieht sich mein Herz zusammen.

Valentin.

Die SMS ist von meinem besten Freund, den ich schon seit dem Kindergarten kenne und den ich ebenfalls unter Tränen zurücklassen musste. Mit einem breiten Grinsen und zittrigen Fingern tippe ich auf das Symbol mit dem Briefumschlag, sodass ein Fenster mit seiner Nachricht erscheint.

Valentin: Ich wünsche dir einen schönen ersten Schultag. Ich hoffe, du überstehst ihn einigermaßen unversehrt, und wirst mir später alles davon am Telefon berichten. Ich vermisse dich so sehr. - V.

Bei seinen liebevollen Worten, die mir vor lauter Rührung die Brust zuschnüren, kommen mir sofort seine smaragdgrünen Augen und seine süßen Grübchen in den Sinn, die ich so sehr an ihm liebe. Er fehlt mir auch, insbesondere deshalb, weil er immer die einzige Konstante in meinem Leben gewesen ist. Ich habe so viele Höhen und Tiefen durchlebt, aber immer mit ihm an meiner Seite. Er ist nicht ein einziges Mal davon abgewichen, nicht mal dann, als ich vor lauter Schmerz unerträglich wurde. Als ich nicht mal mich selbst ertragen habe, hat er mir bedingungslosen Beistand geleistet. Und dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.

Schnell tippe ich eine Antwort ein, da der Gong für die erste Stunde bereits ertönt ist. Wie habe ich dieses Geräusch doch vermisst. Nicht.

Ich: Du ahnst gar nicht, wie glücklich du mich mit deiner Nachricht gemacht hast, danke! Ich freue mich schon, endlich wieder deine nervige Stimme zu hören. Ich vermisse dich auch so sehr. Tausend Küsse. - Ella

Mit einem berauschenden Gefühl, dessen Quelle ich noch nicht ausgemacht habe, schiebe ich das Handy in meine Hosentasche und mache mich auf den Weg zum Sekretariat. Die wenigen Worte meines vertrauten Freundes haben mich so angetrieben, dass ich mich schon fast stolzierend fortbewege, und ich muss lächeln über der Tatsache, dass Valentin mich selbst aus tausenden Kilometer Entfernung aufgebaut hat. Ich weiß immer noch nicht, wie ich all das ohne ihn überstehen soll, aber nun bin ich ein kleines bisschen optimistischer. Ich seufze erleichtert, während ich selbstbewusst in mein neues Leben marschiere.

2| Willkommen in Hogwarts

2.

Nach einem zwanzigminütigen Irrlauf durch das gesamte Schulgebäude, stehe ich endlich vor der Tür des Sekretariats. Mein Puls steigt rapide in die Höhe, als ich schließlich zögernd an das dunkle, massive Holz klopfe. Eine sympathische Frauenstimme ertönt, woraufhin ich kurz darauf in das nach Leder stinkende Büro eintrete. Eine freundlich lächelnde Dame kommt hinter ihrem Schreibtisch hervor, ehe sie auf mich zusteuert und sich mir daraufhin als Elisabeth Schwarz vorstellt.

Der Name passt eindeutig nicht zu ihrem Erscheinungsbild, denn zu ihren hellblonden Haaren trägt sie eine weiße Bluse und eine roséfarbene Leinenhose, die an den Knöcheln etwas hochgekrempelt ist. An ihren Ohrläppchen baumeln goldene Kreolen in Form von Muscheln, dessen Farbton sich in den Schnallen auf ihren Birkenstocks wiederfindet. Ihr Alter würde ich auf Ende dreißig schätzen, obwohl die trügerischen Fältchen neben ihren Augen eher auf Mitte vierzig schließen lassen. Als sie mir meinen Stundenplan in die Hände drückt, ist ihr Gesicht von Herzlichkeit gesegnet.

„Ich habe versucht, Ihren Plan nach Ihren Präferenzen und Stärken zu erstellen. Deshalb habe ich Sie für die Leistungskurse Kunst und Deutsch eingetragen, die jeweils zweistündig Montag, Dienstag und Donnerstag stattfinden werden." Angestrengt versuche ich zu folgen, während Frau Schwarz ihren Zeigefinger wild über den Plan sausen lässt. Ich bin ihr wirklich dankbar für ihr Engagement, denn mit den Leistungskursen hat sie genau ins Schwarze getroffen - haha.

„Da Sie an Ihrer alten Schule Französisch als zweite Fremdsprache bereits abgedeckt haben, habe ich Sie außerdem für Soziologie eingetragen. Es ist das einzige Ersatzfach, das wir zur Zeit anbieten. Aber Genaueres können Sie natürlich dem Stundenplan entnehmen."

Bevor ich überhaupt Luft holen, geschweige denn antworten kann, öffnet sie die Tür zum Flur und bedeutet mir mit einer höflichen Geste den Vortritt. „Ich werde Sie jetzt in Ihren Unterricht bringen. Sie werden heute zwei Stunden Biologie, eine Stunde Geschichte und eine Stunde Mathematik haben. Normalerweise findet heute auch der Leistungskurs in Deutsch statt, aber aufgrund einer Kündigung mussten wir eine neue Lehrkraft einstellen, die erst morgen beginnt."

Während Elisabeth Schwarz mich durch den langen Flur in den zweiten Stock geleitet, höre ich ihr nur sehr halbherzig zu, da ich viel zu sehr von der pompösen Architektur dieses Gebäudes imponiert bin. Der Boden besteht aus weißem, edlem Marmor, der zwar schon uralt, aber dafür restauriert aussieht. Hier und da lassen sich dennoch kleine Löcher und Risse erkennen, die der Atmosphäre jedoch etwas Rustikales verleihen. Die Wände sind hingegen cremefarben gehalten und teilweise mit gemalten Bildern und gerahmten Fotos geschmückt. Zudem prangt an den hohen Decken beeindruckender Stuck aus floralen Elementen, der einem beinahe das Gefühl gibt, in eine antike Epoche eingetaucht zu sein.

In dem Korridor, den wir daraufhin durchschreiten, reihen sich auf beiden Seiten Türen aus Holz aneinander. Jede davon ist in einem imposanten Bogen aus weiteren Marmorverzierungen eingelassen. Bis auf die Tafeln mit den Nummern der Klassenräume, die auf Augenhöhe neben den Türbögen angebracht sind, erinnert in diesem Gebäude wirklich nichts an eine Schule. Es könnte sich genauso gut um ein Zauberschloss handeln - Mr. Potter, ich komme.

Ich bin ganz außer Atem, als Frau Schwarz schließlich vor der letzten Tür des endlosen Flures stehenbleibt. Mit ihrem gewöhnlichen Lächeln klopft sie zweimal und zupft sich daraufhin mit geschickten Griffen ihre Bluse zurecht. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um einen Akt der Gewohnheit, denn ohne eine Antwort abzuwarten, betritt sie urplötzlich den Raum.

Ich hingegen warte einen Moment und zähle innerlich bis drei, bevor ich ihr schlussendlich folge und zögernd den Blick hebe. Und sofort rutscht mir das Herz in die Hose.

Dutzende Augenpaare sind allein auf mich gerichtet. Ich spüre die eindringlichen Blicke auf meinem Körper, spüre, wie ich von jetzt auf gleich erröte. Ein leises Raunen geht daraufhin durch die Sitzreihen, bis ein älterer Mann, bei dem es sich offenbar um den Lehrer handelt, die Hände hebt und um Ruhe bittet. Frau Schwarz drückt ihm einen Zettel in die Hand und nuschelt ihm etwas zu, das ich nicht verstehe. Noch bevor ich realisieren kann, was gerade geschieht, wendet sie sich wieder mir zu und wünscht mir einen erfolgreichen Tag. Und ohne ein weiteres Wort verschwindet sie im Flur und lässt mich allein zurück. Der laute Knall der zufallenden Tür hallt in den hohen Decken des Raumes nach.

„Guten Tag", sagt der Mann schließlich und hält mir seine ausgestreckte Hand hin. „Ich bin Herr Thiele, Ihr Lehrer für Biologie und Mathe. Das bedeutet, wir werden später nochmal das Vergnügen haben." Sein Grinsen ist schief und irgendwie auffordernd. Es wirkt nicht ganz so sympathisch wie das von der freundlichen Sekretariatsdame.

Ein paar der Schüler kichern, und ich würde mich am liebsten zu ihnen umdrehen, um sie mit meinem Todesblick zu strafen. Doch stattdessen bleibe ich wie angewurzelt stehen und erwidere lediglich den Handschlag von Herrn Thiele, der sich wartend vor mir aufgebaut hat.

„Ha-hallo", stottere ich beschämt. Seine Hand ist warm und schwitzig, was wohl daran liegt, dass er eben noch dicke Handschuhe getragen hat, um irgendein Experiment durchzuführen. Zumindest kann ich mir die ganzen Glasschälchen und Flüssigkeiten auf dem Pult nicht anders erklären.

„Ich bin Isabelle Lorenz." Zaghaft erwidere ich sein Lächeln und genehmige mir einen flüchtigen Blick zur Klasse. Mein rasender Herzschlag beruhigt sich jedoch etwas, als ich registriere, dass meine Mitschüler mir  und meinem peinlichen Auftritt gar keine Aufmerksamkeit schenken. Sie sind vielmehr mit ihren Smartphones oder sich selbst beschäftigt. Zu meinem Glück.

„Willkommen, Fräulein Lorenz!", ruft Herr Thiele so laut aus, dass ich nun wieder zum vollkommenen Mittelpunkt des Geschehens degradiert werde. Er lässt seine zusammengekniffenen Augen durch die Sitzbänke schweifen, bis sein Blick auf einem leeren Platz in der letzten Reihe hängenbleibt. Ich zucke zusammen, als ich neben dem freien Stuhl eine Blondine erkenne, die mich abfällig mustert. Super, meine neue Sitznachbarin scheint ein wahrer Sonnenschein zu sein.

„Das ist wohl der einzige freie Platz. Aber ... Bevor Sie sich setzen und wir mit dem Unterricht fortfahren, möchten Sie Ihren neuen Mitschülern und Mitschülerinnen vielleicht etwas über sich erzählen?"

Der Biologielehrer, der auf meiner Sympathieskala gerade mindestens drei Punkte verloren hat, hebt seine Augenbrauen und beäugt mich erwartungsvoll. Mit dem Wissen, dass gerade um die fünfzig Ohren zuhören, nehme ich all meinen Mut zusammen und drehe mich so selbstbewusst wie möglich zur Klasse um, damit sie mich nicht sofort für ein schüchternes Mäuschen halten.

Das ist der Augenblick, den ich nicht versauen darf - ich muss mich jetzt verdammt nochmal zusammenreißen. Das kann doch auch gar nicht so schwer sein, ich muss mich ja schließlich nur vorstellen und keinen Lap Dance hinlegen. Bevor ich jedoch etwas sagen kann, räuspere ich mich, damit mein Selbstvertrauen auch in meiner Stimme mitschwingen kann.

„Okay, äh ... Wie gesagt, ich heiße Isabelle Lorenz, aber ihr könnt Ella zu mir sagen. Ich bin neunzehn Jahre alt und bin vor zwei Tagen mit meinem Bruder und meiner Mom aus Hamburg hergezogen." Erleichtert darüber, mich nicht verhaspelt zu haben, wende ich mich wieder dem alten Mann zu, der mittlerweile hinters Pult zurückgekehrt ist.

„Naja, und ... das war's eigentlich schon über mich."

Zufrieden nickt er und weist mir mit einer Handbewegung an mich zu setzen. Stumm leiste ich ihm folge und lasse mich resigniert neben dem immer noch finster dreinschauenden Mädchen nieder. Mein Lächeln, das ich nur krampfhaft aufbringen kann, erwidert sie nicht. Stattdessen wendet sie den Blick von mir ab und Herrn Thiele zu, der jetzt lautstark über Mikroorganismen schwadroniert. Das war er also, mein erster Eindruck. Gar nicht so schlimm wie erwartet, denke ich, und versuche in die faszinierende Welt der Biologie einzutauchen.

****

Die beiden ersten Stunden vergehen wie im Flug, und zu meiner Überraschung konnte ich feststellen, dass mir der Stoff bereits bekannt ist und ich somit nicht hinterherhinken werde. Ein paar Antworten auf Herrn Thieles Fragen habe ich sogar gewusst, allerdings war mein Mut für eine Meldung nicht groß genug. Stattdessen habe ich schweigend mitgeschrieben und versucht, die giftigen Blicke meiner Sitznachbarin zu ignorieren.

Als nach anderthalb Stunden der ersehnte Gong ertönt, lasse ich stöhnend den Kugelschreiber fallen und lehne mich in den harten Stuhl zurück. Ich fühle mich jetzt schon völlig ausgelaugt, was aber vor allem mit der schlaflosen letzten Nacht zu tun hat.

„Oh, bist du schon ganz kaputt, Kleine?"

Erschrocken hebe ich den Kopf und erkenne funkelnde Augen, die zu dem blonden Stinktier gehören, das mich schon von Anfang an nicht riechen konnte.

„Wie bitte?"

Unsicher, ob ich mich vielleicht verhört habe oder sie gar nicht mich gemeint hat, halte ich ihrem Blick stand. Doch ihr hinterlistiges Grinsen symbolisiert mir, dass sie es definitiv auf mich abgesehen hat. Empört schmeiße ich Stifte und Block in meine Tasche und will aufstehen, als sie mich an der Schulter packt und wieder gen Stuhl drückt.

„Wo willst du denn so schnell hin? Du kennst dich hier doch gar nicht aus, oder? Komm, ich zeig' dir alles." Der gehässige Unterton ihrer Stimme ist alles andere als einladend. Mittlerweile hat sich so viel Wut in mir angestaut, dass ich ganz überrascht von mir selbst bin, als ich ihre Hand von meinem Körper schupse und mich selbstbewusst auf ihre Augenhöhe begebe.

„Was ist dein verdammtes Problem?", fahre ich sie patzig an, woraufhin sie kaum merkbar zusammenzuckt.

„Ich habe kein Problem", gibt sie in einem ähnlichen abfälligen Tonfall zurück und tritt einen Schritt auf mich zu. „Aber ich kann solche arroganten Gören wie dich einfach nicht leiden." Sie spuckt mir die Worte förmlich ins Gesicht, wodurch meine Entrüstung langsam ungewohnte Größe annimmt. Ich hole tief Luft, um ihr einen passenden Konter an den Kopf zu werfen, werde dann aber von einem Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und heller Haut unterbrochen.

„Sag mal spinnst du, Nina?"

Stirnrunzelnd starrt sie die blonde Furie an, die allerdings ziemlich unbeeindruckt wirkt. Gähnend macht sie eine abwinkende Geste.

„Was willst du, Kat? Ich habe unserem Neuankömmling nur gesagt, was ich von ihrer Anwesenheit halte. Weiter nichts." Ihr fieses Grinsen und dieser pseudo-unschuldige Wimpernaufschlag treiben mich so in Rage, dass ich am liebsten in ihr Gesicht boxen möchte. In Gedanken tue ich das auch und finde es beinahe etwas lustig, wie das Blut aus ihrer Nase läuft.

„Du bist nicht so wichtig, dass du hier jedem deine Meinung aufzwingen musst. Die meisten von uns können auf dein Geschwafel verzichten. Und jetzt zieh Leine." Die unerschrockene Art des mir fremden Mädchens beeindruckt mich und im Stillen pflichte ich ihr bei. Nina hebt gespielt beeindruckt die Hände, als würde sie sich ergeben, und lacht dabei laut auf.

„Ohh, Kat. Wo hast du denn plötzlich die Eier her? Wie auch immer, ich lasse euch zwei Turteltauben mal besser allein." Und mit einem Das-ist-noch-nicht-geklärt- Blick verlässt die Schlange ohne ein weiteres Wort den Raum.

Verwirrt mustere ich die Schwarzhaarige. „Was war das denn? Und wer bist du?"

Sie lacht und streckt mir die Hand entgegen. „Ich bin Katharina, aber bitte nenn mich Kat. Und das, Schätzchen, ..." Sie deutet auf die Tür, durch die Nina gerade verschwunden ist. „Das war dein schlimmster Albtraum." Ihr Lachen wird lauter und ich falle mit ein.

„Nein, mal im Ernst", fährt Kat fort, während sie mich mit sich zieht, immer weiter Richtung Flur. „Das war Nina Martens. Sie ist wohl die Zicke der Klasse. Wenn man sie länger kennt, kommt man ganz gut mit ihr klar, aber sie kann ziemlich biestig werden. Vor allem fremden Leuten gegenüber ist sie immer etwas ... naja, gewöhnungsbedürftig." Sie zuckt entschuldigend mit den Achseln und führt mich die Treppe runter in den ersten Stock. Hier bin ich eben schon mit Frau Schwarz gewesen, und auch die Tür, auf die wir zusteuern, kommt mir bekannt vor. Wir sind auf dem Weg in den Innenhof.

Die wärmer gewordenen Strahlen der Sonne legen sich beruhigend auf mein Gesicht, sodass ich die Auseinandersetzung von vorhin kurz vergessen kann. Ein süßlicher Duft nach Frühling steigt mir in die Nase, und ihn zu inhalieren ist fast berauschend. Kat hat mich zu einem gemütlichen Platz im Schatten der Bäume geführt, und die beiden Steine, die sich neben zwei riesigen, blühenden Weiden emporstrecken, sind wie dafür gemacht, um auf ihnen zu entspannen.

Fast gleichzeitig lassen wir uns nieder, wodurch wir beide auflachen müssen. Erst jetzt kann ich die nötige Konzentration aufbringen, um Kat genauer zu betrachten. Mir fällt auf, dass sie eigentlich wunderschön ist. Ihr Haar ist länger als meines und reicht ihr in glänzenden Locken bis zu den Hüften. Ihre Augen sind blauer als der wolkenlose Himmel, der sich über uns erstreckt, und können einen beinahe in Trance versetzen, wenn man sie zu lang ansieht. Ein goldener Ring ziert ihren linken Nasenflügel, ähnliche Exemplare trägt sie in den Ohren. Das Rot ihrer schwungvollen Lippen gleicht dem Ton ihrer Wangen, weshalb sie mich plötzlich an Kleopatra erinnert. Ihr Busen ist weitaus üppiger als meiner, was mich zu dem zugegeben sexistischen Gedanken verleitet, dass sie viele Verehrer in der Klasse haben muss. Sie ist einfach eine Schönheit - anders kann ich sie nicht beschreiben.

Als sie zu bemerken scheint, dass ich sie mustere, öffnet sie leicht den Mund, wodurch strahlend weiße Zähne zum Vorschein kommen.

„Also, Ella. Dann erzähl' doch mal ein bisschen über dich." Erwartungsvoll blinzelt sie.

„Was möchtest du denn wissen?"

An sich ist mein Leben ziemlich unspektakulär, und für die spannenden Dinge, die ich erzählen könnte, kenne ich das Mädchen vor mir nicht gut genug. Sie würde sich wahrscheinlich selbst ziemlich unbehaglich fühlen, wenn ich sie zehn Minuten nach unserem Kennenlernen mit dem Tod meines Vaters überrumpele.

„Hm, lass mich kurz nachdenken", erwidert Kat und legt dabei einen Finger an die Lippen, so als würde sie angestrengt nachdenken. „Wie gefällt es dir bisher in unserem schönen Städtchen?"

Ich muss schlucken, denn meine ehrliche Antwort wird nicht so positiv ausfallen, wie sie es womöglich erwartet. „Naja, ich sag's mal so. Wenn ich die Möglichkeit hätte, wieder nach Hause zu ziehen, würde ich keine Sekunde zögern."

Der Blick, mit dem sie mich dann betrachtet, wirkt nicht ganz so überrascht wie ich vermutet habe, eher warm und verständnisvoll. Dennoch ist ihre Miene irgendwie ernst, nachdenklich, und kurz frage ich mich, ob sie sich durch meinen Kommentar vielleicht angegriffen fühlt.

„Ich meine, es ist schön hier, und die meisten Leute, die ich bereits kennengelernt habe, sind nett", füge ich schnell hinzu, in der Hoffnung, noch etwas retten zu können, falls ich sie beleidigt haben sollte. „Aber ich vermisse einfach die vertraute Umgebung, in der ich aufgewachsen bin. Und vor allem fehlen mir meine Freunde."

Mitfühlend legt Kat den Arm um meine Schulter. „Das kann ich mir vorstellen. Ich würde wahrscheinlich durchdrehen und protestieren, wenn meine Mutter mich jetzt zwingen würde, mit ihr umzuziehen." Bei dem Gedanken zieht Kat ihre Nase kraus, was mir ein zaghaftes Kichern entlockt. „Aber das wird schon. Der Anfang ist ja immer schwierig."

Seufzend nicke ich, hole dann den Apfel aus meiner Tasche und beginne zu essen. Die Banane von heute Morgen habe ich nicht angerührt, weshalb mein Magen mittlerweile nach etwas Nahrung lächzt.

„Und wie gefällt es dir hier?", will ich schließlich von Kat wissen, nachdem wir schweigend unser Frühstück verputzt haben. Ein charmantes Lächeln legt sich auf ihre Lippen, während sie Wasserflasche und Brotdose wieder in ihrem Rucksack verschwinden lässt.

„Erzähl's nicht meinen Eltern, aber ich kann es gar nicht erwarten endlich meinen Abschluss zu machen und von hier wegzugehen. Diese Einöde kotzt mich so an." Bevor sie aufsteht, streift sie sich ihr T-Shirt glatt und befreit ihre Jeans von den restlichen Brotkrümeln, die sich beim Essen darauf verteilt haben. „Aber lang dauert es ja nicht mehr. Wie kommt es eigentlich, dass du mitten im Schuljahr bei uns anfängst, und nicht erst nach den Sommerferien?"

Der Gong zum Unterricht ertönt, er kommt wirklich wie gerufen. Durch die Aufbruchsstimmung habe ich ein bisschen Zeit zu überlegen, wie ich ihre Frage beantworten soll, ohne sie direkt anzulügen. Dass meine Mom Hals über Kopf die Segel gerissen und meinen Bruder und mich an diesen Ort verfrachtet hat, weil sie es in dem Haus ihres verstorbenen Ehemannes nicht mehr ausgehalten hat, kann ich Kat noch nicht anvertrauen. Deshalb entscheide ich mich für eine harmlose, nur halb gelogene Variante.

„Ich habe vor einem Jahr die zwölfte Stufe abgerochen und muss jetzt nur noch die zweite Hälfte davon nachholen. Deshalb war es kein Problem, dass ich einfach mittendrin dazustoße." Ich lächele gequält, doch Kat scheint sich unbeeindruckt mit meiner Antwort zufrieden zu geben.

„Okay", erwidert sie schlicht, und gemeinsam machen wir uns auf den Weg zurück in das Traumschloss. Ich bin erleichtert, dass sie keine Nachfragen stellt und mich auch sonst mit einer emotionalen Distanz behandelt, die mir angemessen erscheint. Ich habe nicht damit gerechnet, schon am ersten Tag Menschen zu finden, die mir sympathisch sind, sodass ich jetzt umso froher bin, den Rest des Schultages nicht allein meistern zu müssen. Und zum ersten Mal seit Ewigkeiten empfinde ich so etwas wie Hoffnung.

3| Man sieht sich immer zweimal

 

3.

„Dad, ich werde das nie schaffen!", schrie ich, während mir unkontrolliert der Frust über die Wangen lief. Durch den Tränenschleier konnte ich die bunten Farben des Papiers nur verschwommen erkennen, doch ich wusste sowieso, dass ich mit einem klaren Blick nur noch mehr Hass empfinden würde. Wutentbrannt riss ich das Bild von der Staffelei und zerknüllte es, bevor ich es im hohen Bogen in den Papierkorb katapultierte. Dann ließ ich mich schluchzend auf die Bettkante fallen und heulte unerbittlich in meine Handflächen hinein, bis mein Vater sich zu mir setzte und seinen Arm um meine Schultern schmiegte. Sein Blick war mitfühlend, sein Lächeln herzlich.

„Hör mal, mein Schatz." Bevor er weitersprach, drückte er einen sanften Kuss auf meine Schläfe. „Auch wenn du glaubst, dass ich das nur sage, weil ich dein Vater bin, aber du bist die talentierteste Künstlerin, die ich je gesehen habe. Du bist gut, mehr als das. Und die von der Kunstschule werden das genauso sehen. Zweifele nicht gleich am großen Ganzen, nur weil dir mal ein Bild misslingt. Wobei ich finde, dass keines deiner bisherigen Kunstwerke misslungen ist, meine kleine Fräulein Picasso."

Dad zog mich näher an sich, wobei mir sein Parfum in die Nase stieg, welches mich immer so an seine Liebe erinnerte.

Es war der Duft nach Heimat.

„Ich habe einfach Angst, dass ich es nicht packe. Dass ich zu schlecht bin für die Schnösel an der Akademie. Das würde mich fertigmachen", jammerte ich lautstark, woraufhin Dad sich von mir löste und sich so neben mich setzte, dass er mir direkt in die Augen sehen konnte.

„Angst ist dein größter Feind, Liebling. Sie macht dich blind für das Wesentliche. Sie legt dir Fesseln an, die dich irgendwann so sehr einengen, dass du nicht mehr atmen kannst. Bekämpfe die Angst, Ella, sonst wird sie es mit dir tun. Sie kann sich nur von dem nähren, was du ihr bereitwillig gibst. Also, lass dieses Miststück bitte verhungern."

Ich musste lachen, und mit einem Mal waren alle vorherigen Sorgen verblasst.

****

„Ella, hörst du mich?"

Erschrocken fahre ich hoch. Es dauert einen Moment, bis sich mein verschleierter Blick an die Umgebung gewöhnen kann. Doch als ich den Klassenraum klar und deutlich erkenne, stelle ich überrascht fest, dass Kat und ich inzwischen die einzigen Anwesenden sind. Dabei habe ich doch vor wenigen Sekunden noch im vollbesetzten Matheunterricht gesessen, oder nicht?

„Was ist passiert? Wo sind denn die ganzen Leute hin?"

Stirnrunzelnd blicke ich zu Kat, die wiederum lachend das Bio-Buch in ihren Rucksack plumpsen lässt und dann tadelnd den Finger hebt. „Haben wir etwa gerade im Unterricht geträumt, Frau Lorenz? Es hat schon geklingelt, wir haben Schluss."

Ihr Grinsen wird breiter, wohingegen meines plötzlich erstirbt.

Dad ...

Da waren sie wieder, diese schrecklichen Tagträume, die mich seit über einem Jahr verfolgen und mir das Leben zur Hölle machen. Leider kann ich sie nicht kontrollieren oder vorhersehen, da sie meistens in einem recht unregelmäßigen Zyklus erscheinen.  Das bedeutet, dass ich keine Ahnung habe, wie ich mich vor ihnen schützen soll. Und ich weiß auch nicht, wie ich diese unbändige Trauer jemals loswerden soll, die mich jedes Mal erschlägt, wenn ich wieder auf dem Boden der Realität ankomme. Ich weiß nur, dass sie mir irgendwann den Verstand rauben wird, wenn ich nichts dagegen unternehme.

Unvermittelt werden meine Augen feucht, sodass ich meinen Blick zum Fenster wenden muss, damit Kat sie nicht sehen kann. Was für ein Horrorszenario, bereits am ersten Schultag vor einer Mitschülerin heulen zu müssen. Ich dachte, meine überstrapazierten Tränendrüsen seien nach dem Umzug versiegelt. Was für eine Täuschung.

„Hey", flüstert Kat mir jedoch zu und lässt sich in einer fließenden Bewegung auf den Stuhl neben mich gleiten. Behutsam legt sie eine Hand auf meinen Rücken, streicht auf und ab, als würde sie dadurch alle Sorgen von mir abwischen können. „Was ist denn los?"

Ihre leise Stimme hallt in den hohen Wänden des Raumes wider und wirkt dadurch ohrenbetäubend. Unauffällig wische ich mir mit dem Ärmel meines Pullovers durch die Augen. Versuche, die Traurigkeit in meinem Gesicht verschwinden zu lassen. Mit einem aufgesetzten Lächeln drehe ich mich schließlich wieder zu Kat um, die mich daraufhin forschend mustert und seufzt, als sie die gespielte Gelassenheit in meinem Gesicht entdeckt.

„Schon gut", lüge ich achselzuckend und untermale meine Worte mit einer passenden, abwinkenden Geste. „Ich habe nur über den Umzug nachgedacht. Kann das alles noch nicht ganz realisieren."

Das schwarzhaarige Mädchen öffnet kurz den Mund, um etwas zu erwidern, schließt ihn dann jedoch wieder. Damit sie mir jetzt bloß keine Das-wird-schon-wieder-Rede hält, füge ich rasch hinzu: „Aber alles gut. Ich schaffe das schon irgendwie. So schlimm ist ein Umzug ja auch nicht."

Nach ein paar Minuten des Schweigens bin ich schließlich wieder in der Lage, klare Gedanken fassen zu können, weshalb ich beginne, nach und nach meine Schulsachen in die Tasche zu räumen. Dabei fällt mir prompt ein bedrucktes Stück Papier in die Hände, das mir zwar bekannt, aber auch völlig fremd erscheint. Fragend blicke ich zu Kat hoch. „Was ist das?"

Sie nimmt den Zettel kurzerhand an sich und schmunzelt, bevor sie meinem Blick mit aufgerissenen, ungläubigen Augen begegnet. „Willst du mich verarschen? Thiele hat dir am Anfang der Stunde gesagt, dass du dir damit ein neues Mathebuch im Sekretariat bestellen sollst. Hast du das schon wieder vergessen?"

Ja, in der Tat. Es kommt mir vor, als höre ich diese Information zum ersten Mal; was ich jedoch für mich behalte. Ich sollte schleunigst nach Hause und mich hinlegen, mein Gehirn braucht anscheinend Ruhe.

„Achja, stimmt. Bin wohl noch zu müde, um an solche Kleinigkeiten zu denken", murmele ich schließlich, in der Hoffnung, dass sie nicht weiter darauf eingehen wird. Allerdings sollte mir bereits bewusst sein, dass es sich bei meiner neuen Mitschülerin um eine ruhelose Person handelt.

„Bist du sicher, dass es nur die Müdigkeit ist? Der Umzug hat dich wohl echt durcheinander gebracht, was?" Mitfühlend schließt sie ihre Hand um die meine, während wir uns langsam auf den Weg Richtung Treppenhaus begeben.

Doch dann wird urplötzlich ein Schalter in meinem Inneren umgelegt, der mich mit einem Mal furchtbar unwohl fühlen lässt. Kats bedingungslose Empathie mag mir zwar zu Beginn des Tages noch imponiert haben, allerdings kommt sie mir jetzt mehr als unangebracht vor. Ich kenne dieses Mädchen kaum, genau genommen gar nicht, und trotzdem tröstet sie mich wie eine gute Freundin. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, wo ich doch die Anzahl meiner wirklichen Freunde schon immer an einer Hand abzählen konnte, und einfach nicht geübt darin bin, mir Neue zu machen. Allein bei dem Gedanken, mich einem völlig fremden Menschen anzuvertrauen, zieht sich mein Magen zusammen. Für mich eine Sache der Unmöglichkeit.

Reflexartig entziehe ich Kat meine Hand und starre sie daraufhin panisch an. Das Tempo meines Pulses geht immer schneller, in einem synchronen Takt zu meinem rasenden Herzen und meinem keuchenden Atmen. Plötzlich engt mich ihre Nähe ein, die Last auf meiner Brust scheint tonnenschwer. Und ich kann nicht anders, als dem einzigen Impuls nachzugeben, den ich im Moment empfinde.

„Ich ... Ich g-gehe jetzt mal besser zum Sekretariat und fahre dann nach Hause. Ich b-bin wirklich müde und muss dringend eine Mütze Schlaf nachholen. Wir sehen uns ja morgen, bis dann."

Und ohne Kat antworten lassen zu können, mache ich auf dem Absatz kehrt und verschwinde schnurstracks im Treppenhaus.

Erleichtert lehne ich mich gegen die Holztür, die ich gerade mit viel zu viel Schwung hinter mir zugeknallt habe, und schließe kurz die Augen. Verdammt, was ist nur mit mir los? Kat wird mich jetzt wahrscheinlich für eine verwöhnte Trulla halten, die einfach nur beleidigt ist, weil sie gehen ihren Willen umziehen musste. Dabei ist es doch so viel mehr.   Schlimmer kann es heute nicht mehr werden, denke ich seufzend, und hätte nie gedacht, dass ich damit so falsch liegen würde.

 

****

 

Auf dem Weg zum Sekretariat fische ich irgendwann mein Handy aus der Tasche, um Robin per SMS zu bitten, mich von der Schule abzuholen. Nach meinem fragwürdigen Abgang bei Kat, möchte ich weiteren Kontakt zu Menschen am liebsten vermeiden, und eine Fahrt in einem vollen Schulbus kommt diesem Vorhaben nicht wirklich entgegen. Doch gerade, als ich gedankenlos im ersten Stock um eine Ecke biege und die ersten Worte in das Textfeld eintippe, wird mir das Smartphone urplötzlich entrissen.

„Was zum...?"

Blitzschnell - und einem Herzinfarkt nahe - wirbele ich herum und will gerade losschreien, als ich das fiese, mir nur allzu bekannt vorkommende Grinsen erkenne. Ihre langen, billig gefärbten Extensions hat Nina mittlerweile zu einem Zopf gebunden, was sie irgendwie jünger aussehen lässt. Doch ihr Gesicht weist noch immer die gleichen verlogenen Züge auf, die mir von unserem Disput heute Morgen in Erinnerung geblieben sind.

„Hallo, Ella", ruft sie mir provizierend zu, und die Art, wie sie meinen Namen ausspricht, klingt übertrieben abwertend. Fast schon bedrohlich baut sie sich vor mir auf. „Du grinst ja so verträumt, einfach süß! Wem schreibst du denn da?"

Lachend lässt sie mein Handy zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln. Die Tatsache, dass mein Telefon nun einen Meter über dem harten Boden schwebt, bringt meine innere Wut zum Brodeln. Wenn sie es jetzt fallen lässt, reiße ich ihr die Haare aus. Dann ist es mir egal, dass heute mein erster Tag ist.

„Wow, Nina. Dass du schon so erwachsen bist, hätte ich dir gar nicht zugetraut", zische ich mit einem ironischen Unterton und klatsche zweimal in die Hände. Dann mache ich einen großen, unerwarteten Schritt auf sie zu und strecke meinen Arm aus, um nach dem Handy zu greifen. Doch leider ist das Biest schneller und reißt es in einer flinken Bewegung wieder an sich, weshalb ich nur Luft zu fassen bekomme.

„Nichts da, meine Liebe. Wollen wir doch mal sehen, wer dich gerade so zum Lächeln gebracht hat", droht Nina dann und tippt mit aufgesetzter Theatralik auf dem Display herum. Ihre Pupillen verfinstern sich, als sie gefunden zu haben scheint, wonach sie gesucht hat. „Was haben wir denn hier? Ach, wie niedlich! Wer ist denn Robin? Ist er etwa dein Lover?"

Ihr folgendes Lachen ist so boshaft und gehässig, dass mir inzwischen Gewaltfantasien im Kopf herumschwirren, in denen dieses Mädel die Hauptrolle spielt. Da ich allerdings nicht wegen eines erhöhten Aggressionspegels von der Schule fliegen will, reiße ich mich zusammen und atme stattdessen tief durch.  Einmal, zweimal, dreimal.

Dann mache ich erneut einen Satz auf die Blondine zu und falle ihr beinahe in die Arme. Im Eifer des Gefechts beuge ich mich so weit nach vorn, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. Mittlerweile hält sie mein Handy mit ausgestrecktem Arm in die Luft, genauso, dass sie den Inhalt der Nachricht trotzdem lesen kann. Zu meinem Nachteil bin ich einen Kopf kleiner als sie, weshalb ich schließlich resigniert aufgebe.

„Verdammt, Nina! Wir sind hier doch nicht im Kindergarten. Jetzt gib mir schon mein Handy", blaffe ich ihr direkt ins Gesicht, was sie jedoch lediglich mit einem arroganten Schnauben quittiert.

Hey, Bruderherz", beginnt dieses Miststück daraufhin laut und deutlich vorzulesen. „Kannst du mich bitte von der Schule abholen? Hatte einen beschissenen ersten Ta-"

Abrupt hält Nina inne, ehe sie einem so hysterischen Lachanfall verfällt, dass es selbst Frau Schwarz in ihrem Büro hören muss. Ihre giftigen Augen funkeln mich dabei an, auch sie machen sich stumm über mich lustig. Schwer atmend schnappt die Schlange nach Luft, ehe sie sich nach und nach zu beruhigen scheint. Was für ein Theater, denke ich und komme ihr abermals näher, um endlich mit meinem Handy verschwinden zu können.

„Oh nein, wie süß!" Ninas Stimme ist so schrill, dass sie mir fast in den Ohren schmerzt. „Hatte die arme, kleine Isabelle einen blöden ersten Schultag? Muss deshalb ihr großer, starker Bruder kommen und sie-" Weiter kommt sie nicht, denn plötzlich wird ihr sinnfreies Gelaber von einer tiefen Männerstimme unterbrochen.

„Ich glaube, Sie sollten der jungen Dame ihr Mobiltelefon wiedergeben."

Das Büro, vor dessen Eingang wir gerade noch lautstark gestritten haben, steht nun sperrangelweit offen. Der Türrahmen wird von einem hellhäutigen, dunkelhaarigen Mann ausgefüllt, der uns fragende Blicke zuwirft. Er ist recht groß, irgendwie stattlich, und trägt zu meinem Erstaunen einen schwarzen Anzug und ein ähnliches Paar Vans wie ich. Vermutlich ist er zu alt, um hier Schüler zu sein, allerdings auch zu jung, um Lehrer zu sein, weshalb ich mich augenblicklich frage, was er hier wohl zu suchen hat. Ich würde ihn vielleicht auf vierundzwanzig schätzen, maximal fünfundzwanzig.

Mit seinen kühlen Augen, die im Licht der Deckenlampen karamellfarben aufleuchten, fixiert er plötzlich Nina, die sich unter seinem eindringlichen Blick zu winden scheint. Ausnahmsweise kann ich sie verstehen, denn er ist mit Abstand der attraktivste Mann, den ich je gesehen habe. Wenn er mich so anschauen würde wie sie, würden meine Knie wahrscheinlich weich und der Kloß in meinem Hals immer dicker werden.

Und als hätte er meine Gedanken gehört, wechselt er mit einem Mal die Blickrichtung, sodass nun ich von ihm gemustert werde. Kurz nehme ich eine Veränderung in seiner Mimik wahr, kann sie allerdings nicht genau deuten. Im Gegensatz zu Nina schaffe ich es jedoch, seinem Blick ununterbrochen standzuhalten.

Nach einem gefühlt ewig andauernden Austausch von Blicken, fährt er sich mit der Hand durch die kastanienbraunen Haare, wodurch ihm vereinzelte Strähnen in die Stirn fallen. Doch irgendwie kommt mir diese Geste sehr unbewusst vor, als würde er sie schon gar nicht mehr wahrnehmen. Mein Herz scheint mir beinahe aus der Brust zu springen, weshalb ich beginne, nervös mit dem rechten Fuß zu wippen. Dann blickt er wieder erwartungsvoll zu Nina, die mittlerweile ihren Arm gesenkt hat.

„Ich wiederhole mich zwar nur ungern, aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie dem Fräulein jetzt das wiedergeben würden, was ihr gehört." Der Klang seiner Stimme ist so dominant, dass er keinerlei Widerrede zulässt. Dem blonden Stinktier scheint dies ebenfalls nicht entgangen zu sein, denn ohne ein weiteres Wort reicht sie mir mein Smartphone. Mittlerweile sieht sie fast etwas eingeschüchtert aus, was mich unvermittelt zu einem Lächeln verleitet, das ich mir jedoch verkneifen muss.

„Und für die Zukunft sollten Sie Ihre Hände ganz allein bei sich behalten", fährt der hübsche Mann fort. „Sie wollen ja schließlich auch nicht, dass Ihnen etwas entwendet wird, oder?"

Hektisch schüttelt Nina den Kopf und wendet sich daraufhin tatsächlich zum Gehen. Kaum zu glauben, dass es überhaupt einen Menschen gibt, der gegen ihre penetrante Art ankommt. Er kam wirklich wie gerufen, denn ich habe die Nervensäge heute mehr als genug ertragen müssen. Was für ein Schulstart.

„Nein, natürlich nicht. Entschuldigung", murmelt sie schließlich kleinlaut, ehe sie mir einen letzten giftigen Blick zuwirft. „Bis dann, Isabelle. Man sieht sich immer zweimal." Und mit einem lauten Poltern verschwindet sie in dem Treppenhaus, in dem ich vorhin vor Kat geflüchtet bin.

Der Mann und ich schweigen. Bis er sich nach unendlich langen Sekunden der Stille räuspert und einen kaum merklichen Schritt auf mich zu macht.

„Ist bei dir und deinem Handy alles in Ordnung?", fragt er dann, und wenn ich mich nicht täusche, scheine ich tatsächlich so etwas wie Sorge in seinem Gesicht wahrzunehmen. Doch schon als er bemerkt, dass ich ihn beobachte, verwandelt sich seine Miene wieder in die steinerne Fassade, mit der er Nina in die Flucht geschlagen hat.

„Ja, d-danke", stottere ich, viel zu eingeschüchtert von seiner reizvollen Erscheinung. Der Kloß in meinem Hals hat mittlerweile eine so enorme Größe angenommen, dass ich kein weiteres Wort herausbekomme. Allerdings frage ich mich, warum er mich plötzlich duzt, wohingegen er die Blonde doch eben gesiezt hat. Vielleicht, um seine autoritäre Präsenz zu untermalen.

Ein Lächeln umspielt seine rosigen Lippen, was ihm so gut steht, dass ich beinahe mitlächeln muss. Und sofort lasse ich Nina in den unendlichen Weiten meiner Gedankenwelt verschwinden.

„Das freut mich. Ich bin aufgrund der Lautstärke leider nicht umhergekommen, euer Gespräch mit anzuhören. Du bist also neu hier?" Neugierig mustert er mich, und ich sehe förmlich, wie seine Züge nach und nach weicher werden. Sein markanter Kiefer ist nicht mehr ganz so angespannt, was wiederum auch meine Anspannung etwas abschwillen lässt. Trotzdem muss ich mich kurz sammeln, bevor ich antworten kann.

„Ja, genau. Heute war mein erster Tag." Der Mann nickt, während sein Lächeln breiter wird. „Und du? Bist du hier auch ein Schüler?"

Plötzlich lacht er lauthals auf, richtet dabei sein Strahlen genau auf mich, weshalb mir für einen flüchtigen Augenblick das Herz stehenbleibt. „Ich bin auch neu hier, sozusagen. Habe aber erst morgen meinen ersten Tag. Ich hoffe, ich werde von der Klasse etwas freundlicher empfangen als du."

„Naja, das Biest der Stufe hast du ja schon in ein zahmes Kätzchen verwandelt. Von daher hast du das Schlimmste bereits hinter dir. Die Anderen sind eigentlich ganz nett."

Der schöne Mann muss erneut lachen, und diesmal falle ich mit ein. Er scheint ein lockerer Typ zu sein, weshalb ich inständig hoffe, dass ich Kurse mit ihm gemeinsam haben werde. Abgesehen davon, dass es schön wäre, noch jemand anderen als Kat zu kennen - denn die hält mich jetzt vermutlich für einen Freak -, habe ich das dringende Bedürfnis, diesen Mann näher kennenzulernen. Er hat etwas an sich, das mich fasziniert, und ich möchte unbedingt herausfinden was das das ist.

Obwohl ich nach wie vor nicht ganz glauben kann, dass er in meinem Alter sein soll. Dafür wirkt er viel zu erwachsen. Aber vielleicht ist er ja sitzen geblieben oder sieht einfach nur älter aus. Allein der Dreitagebart unterstützt diesen Eindruck, der ihm etwas Maskulines verleiht und sein Gesicht noch attraktiver wirken lässt.

„Was hast du morgen für Kurse?", will ich schließlich von ihn wissen und lobe mich innerlich für mein lässiges, selbstbewusstes Auftreten. Allerdings beschleicht mich gleichzeitig die Befürchtung, dass ich ihn mit meinen Fragen nerven könnte, weshalb mein Hochgefühl schnell wieder abebbt. Dieses Durcheinander der Emotionen macht mich noch wahnsinnig, wenn ich nicht bald nach Hause komme.

„Ich habe morgen den Englischkurs in der Zwölften, vielleicht sieht man sich?" Plötzlich blitzt seine Zunge hervor und befeuchtet seine volle Unterlippe. Es ist wahrscheinlich eine genauso unbewusste Geste, wie das Fahren durch die Haare, allerdings schnürt mir diese beinahe die Brust zu. Atemlos nicke ich. „Ja." Zu mehr bin ich nicht mehr in der Lage.

Er nickt ebenfalls, bevor er wieder dieses charmante Lächeln aufsetzt, das mir so den Verstand raubt. Dann wendet er sich auf einmal zum Gehen, was mir einerseits Erleichterung verschafft, aber andererseits einen leichten Stich versetzt.

„Dann sehen wir uns morgen, Isabelle", verabschiedet er sich schließlich und hebt die Hand, als er sich endgültig umdreht. Schnellen Schrittes entfernt er sich. Und erst, als er schon fast um die Ecke gebogen ist, finde ich endlich meine Stimme wieder.

„Warte mal. Wie heißt du eigentlich?", rufe ich ihm hinterher, in der Hoffnung, mit seinem Namen mehr über ihn herausfinden zu können. Ich will nicht bis morgen warten.

„Ich heiße Alexander. Bis dann, Ella. Du weißt ja, man sieht sich immer zweimal." Und schon in er im nächsten Korridor verschwunden.

Regungslos verharre ich einige Minuten an Ort und Stelle. Meine Beine fühlen sich mit einem Mal so schwer an, dass ich glaube, mich nicht bewegen zu können. Doch dann höre ich irgendwann eine Tür hinter mir aufgehen und im nächsten Moment die freundliche Stimme von Frau Schwarz.

„Frau Lorenz, wollen Sie zu mir? Ich habe jetzt nämlich Feierabend, aber für Sie würde ich mir noch ein bisschen Zeit nehmen." Schlagartig erwache ich aus meiner Schockstarre und torkele mit immer noch wackligen Beinen auf sie zu. Ich hoffe, ich werde nie wieder einen ersten Schultag haben müssen.

4| Überraschungen am Morgen bereiten Kummer und Sorgen

 

4.

Zufrieden blicke ich mich in meinem Zimmer um, das jetzt endlich mit Leben gefüllt ist. Die letzten drei Stunden habe ich damit verbracht, meine Kleidung in den Schrank zu räumen, die Fotos meiner Vergangenheit an die Wände zu hämmern und die Habseligkeiten meiner Persönlichkeit auf Regalen zu verteilen. Seitdem ich hier bin, habe ich die Umzugskisten nicht angerührt und nur vom Nötigsten gelebt. Heute ist das zum erstem Mal anders.

Einzig den Karton mit den Malutensilien habe ich ungeöffnet auf den Dachboden verfrachtet. Malen war immer meine große Leidenschaft, schon seit ich denken kann. Doch nach Dads Unfall habe ich nicht einen Pinsel angerührt, und wenn doch, hat es sich so falsch angefühlt, dass ich ihn schnell wieder weglegen musste. Mit meinem Vater hat mich auch meine Leidenschaft verlassen, vor allem, weil er derjenige war, der am meisten an mich geglaubt hat. Mein selbstgezeichnetes Portrait von ihm ist das einzige Bild, dem ich es erlaube, in meinem Zimmer Platz zu nehmen und mich tagtäglich an ihn zu erinnern.

Zum Glück hat mich Robin heute tatsächlich von der Schule abgeholt, wodurch er mich vor weiteren zwischenmenschlichen Konfrontationen retten und der Rest des Tages relativ entspannt ablaufen konnte. Nach einem ausgiebigen Mittagsschläfchen bin ich sogar zu dem Entschluss gekommen, die Sache mit Kat nochmal anzugehen und mich morgen bei ihr zu entschuldigen. Sie ist wirklich nett, und eine Freundin habe ich hier dringend nötig. Vielleicht werde ich es sogar schaffen, ihr von Dad zu erzählen, damit sie mich und mein Verhalten etwas besser verstehen kann. Wiederum scheint sie mich auch ohne Erklärungen nicht abzulehnen, weswegen ich es wohl einfach spontan auf mich zukommen lassen werde, was und wie viel ich ihr anvertraue.

Über den Kleinkrieg mit Nina kann ich mittlerweile sogar lachen - Mom und Robin sei Dank. Während des Essens haben sich die beiden dermaßen über das Stinktier lustig gemacht, dass sie dadurch mein verlorengegangenes Selbstvertrauen wiedergefunden und in mir eingesetzt haben. Mit ihrer rückhaltlosen Liebe und Solidarität zu mir schaffen sie es immer wieder, meine Regentage mit Sonne zu füllen.

Das Einzige, das mir nach wie vor Kopfschmerzen bereitet, ist die Begegnung mit diesem geheimnisvollen Mann. Der anhaltende Drang, wissen zu wollen, wer Alexander ist, lässt mir bis zum Abend keine Ruhe. Pausenlos dominieren seine eindrucksvollen Augen meine Gedanken, sein charmantes Lächeln lässt auch meine Mundwinkel unbewusst in die Höhe schnellen. Alexander ..., denke ich. Der Name passt zu ihm. Alexander der Große.

Als ich schon wieder in der grenzenlosen Faszination dieses Mannes unterzugehen drohe, werde ich durch das schrille Klingeln meines Handys in die Wirklichkeit zurückkatapultiert. Verwirrt schaue ich mich im Zimmer um, bis ich die Quelle des nervtötenden Lärms unter einem Shirt auf dem Bett ausfindig mache. Bei dem Anblick von Valentins Namen auf dem Display muss ich unwillkürlich lächeln.

„Ella Lorenz, Agentur für peinliche Aufritte. Wie ich kann Ihnen helfen?", melde ich mich kichernd in den Hörer. Nach einem Tag wie diesem wirkt das Lachen meines besten Freundes wie eine Beruhigungspille, sodass sich meine wirren Grübeleien über den Adonis schlagartig in Luft auflösen. Entspannt lasse ich mich auf die weiche Matratze meines Bettes fallen, ehe ich mich voll und ganz Valentins Worten hingebe.

Es tut so gut, mit ihm zu reden. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich unsere täglichen Gespräche vermisst habe. Es waren zwar nur zwei Tage, die ich ohne ihn aushalten musste, allerdings kam es mir eher wie eine Ewigkeit vor. Wohingegen die Zeit zu verfliegen scheint, wenn wir zusammen sind.

Er erzählt mir von seiner Party am Wochenende, auf der er mit unserer gemeinsamen besten Freundin Bonnie gewesen ist, und von seiner gestrigen Verabredung mit einem Mädchen, das er am besagten Vorabend kennengelernt hat. Valentin geht zwar nicht ins Detail, doch der euphorische Klang seiner Stimme verrät, dass es heiß hergegangen sein muss. Ich lache nur und gratuliere ihm, bevor er mir stolz davon berichtet, dass er sie am nächsten Freitag wiedersehen wird. Ich freue mich für ihn, werde jedoch im nächsten Moment etwas wehmütig, wenn ich daran denke, dass er mit unseren Freunden Spaß haben kann, während ich hier tausende von Kilometern entfernt am Arsch der Welt verrotte.

„Aber genug von mir. Kommen wir doch endlich zu dem wichtigen Thema. Wie war dein Tag? Hast du dir schon Feinde gemacht?", lacht Valentin plötzlich, nicht wissend, wie richtig er damit liegt. Also erzähle ich von Nina und ihrem provokanten Divengehabe, von Kat und meinem skurrilen Abgang, und von meinem neuen, attraktiven Mitschüler, der mich so in seinen Bann gezogen hat.

„Wow, nicht schlecht, Ella. An deinem ersten Tag hast du eine Feindin, eine Freundin und einen heißen Typen kennengelernt", stellt er erstaunt fest und stößt hörbar die Luft aus, die er während meiner bildhaften Schilderungen angehalten hat. „Sowas schaffst auch nur du. Von wem hast du das bloß?"

Mir ist vollkommen klar, dass seine Frage rein rhetorisch gemeint ist, denn immerhin ist es sein chaotischer Lebensstil gewesen, der auf mich abgefärbt hat. Das kommt wohl davon, wenn man mit einem Hobbymusiker befreundet ist.

„Ja, von wem ich das bloß habe. Ich hatte einen guten Lehrer in Sachen Chaos fabrizieren", gebe ich ironisch zurück.

Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich erschrocken fest, dass es schon viel zu spät ist und ich mich so langsam auf den Weg in das Land der Träume machen müsste. Doch erst nach weiteren zwanzig Minuten verabschiede ich mich von Valentin, mit dem Versprechen, ihn morgen Abend anzurufen. Geknickt klettere ich vom Bett und trotte in mein Bad, um mich für die Nacht fertigzumachen. In weniger als acht Stunden werde ich Kat, Nina und den Adonis wiedersehen, und ich kann mich nicht entscheiden, was davon mich nervöser macht.

 

****

 

Ich stehe auf einer leeren Straße. Sie kommt mir bekannt vor, doch ich bin hier noch nie zuvor gewesen. Es dämmert und dichte Nebelschwaden schleichen über den asphaltierten Boden. Links und rechts von mir reihen sich zahlreiche Bäume aneinander, deren kahlen Äste im leichten Wind schaukeln. Es ist so still, dass ich nur meinen Atem und meinen dumpfen Herzschlag höre. Plötzlich erkenne ich ein Licht, welches immer näher zu kommen scheint, bis es schließlich so hell ist, dass ich die Hände schützend vor meine Augen lege. Und dann ist es wieder schwarz. Erst nach und nach gewöhne ich mich wieder an die Dunkelheit und drehe mich erschrocken um, als ich hinter mir ein leises Wimmern wahrnehme. Und dann sehe ich es.

Mitten auf der Straße liegt ein Auto, ... auf dem Dach. Das Blech ist komplett zerbeult, der weiße Lack teilweise abgeschliffen und alle Scheiben, die ich von hier aus erkennen kann, sind eingeschlagen. Rauch steigt aus der Motorhaube empor, der sich prompt mit dem Nebel vermischt und zu einer einzigen, großen Wolke mutiert. Erneut höre ich das Wimmern, erst jetzt realisiere ich, dass dies das Auto meines Vaters ist. Grenzenlose Panik steigt in mir auf, ehe ich auf das Wrack zu laufe und einen Schrei loslasse, der im Geäst der Bäume wiederhallt. „Dad!" Tränen strömen mir unkontrolliert durchs Gesicht, ich kann nicht atmen. Als ich keuchend an der Fahrerseite ankomme, schmeiße ich mich auf die Knie, um besser an ihn herankommen zu können. Und tatsächlich. Dad ist kopfüber im Sitz eingeklemmt, sein Gesicht ist blutüberströmt. Ich erkenne eine große Platzwunde an seiner Stirn und zwei Schrammen auf der Wange. Ich spüre, wie ich immer hysterischer werde, während ich versuche, ihn zu befreien. Doch das Loch der Scheibe ist zu klein, sodass ich ihn nicht erreichen kann. Immer mehr Tränen finden ihren Weg aus den Drüsen und strömen wasserfallartig über meine Wangen.

„Dad, bitte. Hilfe!", schreie ich und erreiche damit ein völlig neues Level der Lautstärke. „Bitte, ich brauche Hilfe!" Doch niemand antwortet mir. Ich bin allein, ich bin hilflos.

Minuten vergehen. Mittlerweile habe ich mich auf den kalten Boden neben das Auto gekauert, ganz nah bei meinem Dad. Ich habe die Hoffnung schon fast aufgegeben, als wie aus dem Nichts ein Paar Vans in meinem Blickfeld erscheinen. Völlig entgeistert hebe ich den Kopf und blicke in mitfühlende, karamellfarbene Augen. Vor mir steht Alexander.

„Hab' keine Angst", flüstert er und hilft mir behutsam auf die Beine. Dann, ohne mit der Wimper zu zucken, wendet er sich dem Auto zu und reißt mit einem Ruck die Fahrertür auf, sodass sie zur Seite fliegt und einen lauten Knall erzeugt. Er bückt sich und greift in den Autoinnenraum, doch ich kann nicht erkennen, was genau er tut. Weitere Sekunden der Ahnungslosigkeit verstreichen, bis Alexander sich schließlich umdreht. In seinen muskulösen Armen trägt er meinen Vater, der, außer im Gesicht, nicht verletzt zu sein scheint. Eine Woge der Erleichterung durchfegt mich, die Hilflosigkeit ist wie weggeblasen. Vorsichtig nehme ich Dads Hand in meine und streiche mit dem Daumen darüber. „Ella ...", flüstert er plötzlich und schlägt daraufhin die Augen auf. Das mir vertraute Graugrün seiner Iris überwältigt mich, sodass mir jegliche Worte fehlen. „Ella ...", wiederholt er, wird dabei immer lauter.

„Ella, wach auf!"

Die Stimme von Mom reißt mich aus dem Schlaf. Schweißgebadet fahre ich hoch, schaue mich panisch um. Mein Puls rast und ich muss richtig nach Luft schnappen, um überhaupt atmen zu können. Was war das? Sorgen spiegeln sich im Gesicht meiner Mutter wider, während sie behutsam über meinen Handrücken streicht. „Es war nur ein Traum, mein Schatz. Nur ein böser Traum", flüstert sie immer wieder auf mich ein, wie ein Mantra, bis ich schließlich mit allen Sinnen in der Realität angekommen bin. Und dann lasse ich mich schluchzend in ihre Arme fallen.

 

****

 

Ein sanfter Windhauch weht durch mein Haar und lässt es in schwungvollen Wellen durch die Luft tanzen. Für einen Morgen Ende März ist es heute angenehm warm, weswegen ich meine graue Strickjacke schon während der Fahrt zur Schule in meine Tasche bugsiert habe. Robin hat mich wieder chauffiert, aber lediglich deswegen, weil er mein Betteln satthatte und seine Ruhe haben wollte. Die Sonne kitzelt auf der Haut meiner nackten Arme, während ich angespannt über den Kieselweg Richtung Haupteingang spaziere. Nach meinem Zusammenbruch von heute Morgen habe ich kurz überlegt, einfach im Bett zu bleiben, doch die tröstenden Worte meiner Mutter haben ihr Ziel erreicht und nun bin ich hier. Mit jedem Schritt schlägt mein Herz einen Takt schneller und ich muss tief durchatmen, um meine Contenance einigermaßen halten zu können.

Schon im Foyer kann ich Kats schwarzen Haarschopf erspähen. Sie steht mit dem Rücken zu mir, kann mich also nicht sehen, weswegen ich direkt auf sie zusteuere. Doch noch bevor ich sie erreiche, dreht sie sich plötzlich um, dabei den Blick genau auf mich gerichtet. Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich muss mich stark zusammenreißen, um nicht einfach abzuhauen. Aber anstatt mich zu ignorieren, wie ich es eigentlich von ihr erwartet habe, kommt Kat strahlend auf mich zu und zieht mich daraufhin in eine enge Umarmung. Perplex, aber erleichtert lasse ich es über mich ergehen.

„Guten Morgen, Ella!", ruft sie fröhlich aus.

„Guten Morgen", entgegne ich zögernd. „Kann ich dich mal sprechen?"

Kat nickt, hat die Stirn jedoch unmittelbar in tiefe Falten gelegt. Vorsichtig greife ich nach ihrem Ellenbogen und ziehe sie ein Stück beiseite, sodass wir etwas abseits der Menschenmenge reden können. Es muss ja nicht gleich jeder mitbekommen, dass ich mich wie eine kranke Kuh aufgeführt habe. Noch möchte ich meinen jungfräulichen Ruf genießen.

„Ich ... ich möchte mich bei dir für meinen unhöflichen Abgang gestern entschuldigen. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist, aber ... Das war unfreundlich, tut mir leid."

Kat schürft die Lippen und starrt mich ungläubig an, ehe sie so nah an mich herantritt, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren können. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du genau meinst, Ella, aber ist schon okay. Ich habe zwar gemerkt, dass du nach dem Unterricht irgendwie abwesend warst, aber ich dachte mir, dass du bei den ganzen neuen Eindrücken hier bestimmt durch den Wind sein musst. Und-"

„Ja, genau", werfe ich schnell ein, damit sie mir erst gar keine Fragen stellen kann. „Die ... Eindrücke waren einfach zu viel für mich, du hast recht."

Ich fühle mich jämmerlich dabei, den einzigen Menschen, der freundlich zu mir ist, derart zu belügen. Sie ist so mitfühlend und rücksichtsvoll, und ich schaffe es nicht mal ihr die Wahrheit zu sagen. Bald, denke ich und bin froh, als plötzlich der Gong zur ersten Stunde ertönt.

Kat scheint meine Entschuldigung längst wieder vergessen zu haben, als sie mir auf dem Weg zum Englischraum aufgedreht von einem Kerl namens Marvin erzählt, mit dem sie seit einiger Zeit schreibt. Mittlerweile kommen mir meine gestrigen Bedenken wegen ihr fast lächerlich vor. Ich meine, immerhin bin ich ja nicht einfach wortlos von dannen gezogen, sondern habe mich noch ordentlich verabschiedet. In Zukunft sollte ich allerdings vorher bedenken, dass nicht alle Menschen auf Frust so emotional inkompetent reagieren wie ich. Ich glaube, ich kann noch viel von meiner neuen Freundin lernen.

Im Klassenzimmer drängeln wir uns an unseren Mitschülern vorbei, um hinten in der letzten Reihe Platz zu nehmen. Früher war ich zwar mal gut in Englisch, habe es aber lange nicht gesprochen, weswegen ich mit einem Sitzplatz ganz vorn nicht zur Zielscheibe der unfreiwilligen Meldungen werden möchte. Während Kat und ich unsere Unterlagen auf dem Tisch verteilen, gongt es ein zweites Mal, sodass sich die kleinen Schülergrüppchen, die sich hier und da im Raum gebildet haben, auflösen. Ein lautes Murmeln geht durch die Klasse, bis sich alle Jungs und Mädchen an ihren jeweiligen Tischen eingefunden haben. Ich lasse meine Augen durch das Klassenzimmer schweifen, kann Alexander jedoch nirgends entdecken. Wahrscheinlich ist er jetzt im Sekretariat und wird von Elisabeth Schwarz hergeführt, so wie ich gestern. Und noch bevor ich meinen Gedanken zu Ende führen kann, registriere ich die freundliche Dame im Türrahmen.

Sie hält inne und wartet kurz, bis auch die letzten Tuscheleien abgeebbt sind. Dann lächelt sie und tritt einen Schritt vor, wodurch ich die Person, die dicht hinter ihr steht, genau erkennen kann. Alexander folgt ihr zum Pult, vor dem beide nebeneinander stehenbleiben. Mir entrinnt ein schwerer Seufzer, denn auch heute sieht dieser Mann verboten gut aus. Zu einer lässigen, beigefarbenen Chinohose trägt er ein enganliegendes, schwarzes T-Shirt, darüber eine hellgraue Strickjacke. Lächelnd nehme ich zur Kenntnis, dass er wieder ein Paar Vans anhat, allerdings ein anderes Modell in einer anderen Farbe. Doch das dunkle Rot harmoniert perfekt mit seinem restlichen Outfit. Sein offensichtlich muskulöser Oberkörper zeichnet sich deutlich durch den dünnen Stoff seiner Kleidung ab, was seine Attraktivität in völlig neue, viel höhere Sphären schmettert. Das scheint allerdings nicht nur mir aufzufallen, denn vor allem die Mädchen der Klasse verfallen sofort in wildes Getuschel. Alexander schaut sich derweil leicht amüsiert im Raum um, scheint sich dabei jedes Gesicht genau einprägen zu wollen. Als sein Blick plötzlich bei mir hängenbleibt und er mich deutlich länger mustert als die anderen zuvor, rutscht mir das Herz in die Hose. Sein Lächeln wird kaum merklich breiter und versprüht augenblicklich diesen Charme, dem ich schon gestern unterlegen war. Wie soll ich mich bei diesem gottesgleichen Anblick jemals auf den Unterricht konzentrieren?, frage ich mich, als Frau Schwarz die Hände hebt und um Ruhe bittet.

„Guten Morgen. Ich habe Ihnen hier jemanden vorzustellen." Ihre Ankündigung klingt schon fast feierlich und es scheint, als sei sie völlig aus dem Häuschen. Alexander hat mittlerweile den Blick von mir abgewandt, was mir jedoch nur gelegen kommt. Wenn er mich mit seinen forschenden Augen so durchbohrt wie vor wenigen Sekunden, bin ich nicht Herrin meiner Sinne; ich bin wie Wachs in seinen Händen.

Frau Schwarz macht eine viel zu lange Pause, ehe sie fortfährt. „Ich möchte Ihnen Ihren neuen Englischlehrer Herrn Alexander Jansen vorstellen."

Wie bitte?

5| Die Gedanken sind frei

 

5.

Es fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht, wie ein plötzlicher Sprung in eiskaltes Wasser. Das kann Frau Schwarz nicht gerade gesagt haben, es ist schlichtweg unmöglich. Er kann kein Lehrer sein, nicht in diesem Leben. Dafür ist er viel zu jung. Und viel zu schön. In meinem Inneren höre ich das Zersplittern einer Glasscheibe, so, wie es oft in Filmen gemacht wird, um einen Aha- Moment akustisch zu untermalen. Und genauso fühle ich mich nun: wie in einem Film. Mit dem wohl schlimmsten Aha-Moment meines bisherigen Lebens.

Ich kann nichts anderes tun, als regungslos dazusitzen und diesen Mann ungläubig anzustarren. Die Zeit scheint mit einem Mal stillzustehen, alles um mich herum wirkt wie eine verschwommene Masse. Mein tranceartiger Zustand verfliegt jedoch in dem Moment, in dem unsere Blicke direkt aufeinandertreffen.

Für den Bruchteil einer Sekunde drohe ich in der unendlichen Tiefe seiner Augen zu versinken, bis ich auf einmal seine zuckenden Mundwinkel erkenne. Das Lachen, das er offensichtlich zu verbergen versucht, lässt er geschickt hinter seinen Fingern verschwinden, sodass es aussieht, als würde er nachdenken. Und dann geht mir plötzlich ein Licht auf, welches meine Enttäuschung in maßlose Wut verwandelt.

Er hat mich mit voller Absicht im Dunkeln gelassen, um jetzt genau diesen fassungslosen Gesichtsausdruck von mir zu erhaschen. Um sich derart über mich amüsieren zu können. Gestern ist ihm vollkommen klar gewesen, dass ich ihn für einen Schüler gehalten habe, und er hat einfach nichts gesagt. Was für ein blöder, hinterhältiger Mistkerl. Leider kann ich trotzdem nicht damit aufhören, seine Schönheit im Stillen zu bewundern.

Während ich weiterhin versuche, seinen unauffälligen Blicken auszuweichen, spüre ich das gewohnte Ziehen im Magen, die Schweißperlen auf meiner Stirn. Mein Gesicht müsste mittlerweile jegliche Farbe verloren haben. Als Elisabeth Schwarz ihre Vorstellung fortführt, zucke ich erschrocken zusammen.

„Herr Jansen wird außerdem den Leistungskurs für Deutsch übernehmen. Ich hoffe, dass Sie ihm einen angenehmen Schulstart bereiten werden. Bei Fragen können Sie sich an mich oder meinen neuen Kollegen wenden." Ihr übertriebenes Grinsen gleicht einer gruseligen Clownsmaske, wohingegen mir meines nun endgültig vergangen ist. Natürlich unterrichtet er auch noch den Deutsch-Leistungskurs, wie hätte es bei meinem Pech auch anders sein sollen? Das war's dann wohl mit den guten Noten - adiós, Abitur!

Die Sekretariatsdame, die mir inzwischen mit ihrer überschwänglichen Art auf die Nerven geht, wünscht dem Jansen noch einen erfolgreichen Unterricht, ehe sie wieder durch die Tür huscht und unter tosendem Lärm ihrer Pumps verschwindet. Danach ist es mucksmäuschenstill, zumindest für einen kurzen Moment. Die Ruhe wird recht schnell von Alexander - ich meine natürlich Herrn Jansen - unterbrochen, der schwungvoll seine Aktentasche aufs Pult schleudert und sich dann daneben auf die Tischplatte setzt.

Alle Augen sind nur auf ihn gerichtet, doch ich zwinge mich, einfach einen Punkt hinter ihm zu fixieren. Was dieser Mann mit meinen Gedanken anstellt, wenn ich ihn direkt ansehe, ist mir überhaupt nicht geheuer. Und es kommt mir beinahe unangebracht vor, wo er doch jetzt mein Lehrer ist. Es scheint, als würde ich diese trostlose Erkenntnis erst jetzt realisieren, denn mit einem Mal prasseln dutzende Gefühle auf mich ein. Ihnen allen voran die dicke, fette, blanke Enttäuschung.

Ja, ich bin enttäuscht. Sehr sogar. Von ihm und von mir selbst. Enttäuscht, dass er mich nicht nur in dem Glauben gelassen hat, dass er mein neuer Mitschüler ist, sondern auch, dass ich die Chance habe, ihn näher kennenlernen zu können. Mein Vorhaben, der Faszination dieses Mannes nachzugehen, hat sich somit in Luft aufgelöst. Mein neues Leben könnte wirklich nicht beschissener beginnen.

„Guten Morgen. Schön, dass ihr alle hier seid. Oder wohl eher: hier sein müsst", beginnt Herr Jansen schließlich. Das Lachen, das er dabei aufsetzt, ist ehrlich und wunderschön. Ich muss mich stark zusammenreißen, um es nicht zu erwidern. Was würden wohl die anderen denken, wenn ich den neuen Lehrer so dümmlich angrinse?

„Wie die reizende Frau Schwarz schon festgestellt hat, bin ich Alexander Jansen. Ich würde euch allerdings bitten, mich beim Vornamen zu nennen, da ich von Siezen grundsätzlich nichts halte. Es schafft nur eine unnötige Autorität, die ich in meinem Unterricht nicht gebrauchen kann. Im Gegenzug würde ich euch dann auch gern bei euren Vornamen ansprechen. Wenn jemand damit allerdings ein Problem haben sollte und lieber gesiezt werden möchte, dann ist das absolut okay. Dann soll er oder sie das jetzt bitte nur ansprechen."

Alexander macht eine kurze Pause und blickt erwartungsvoll zur Klasse. Tatsächlich meldet sich niemand, obwohl ich es schon lediglich aus Trotz so gern tun würde. Doch allein der Gedanke daran, unter so vielen Zeugen seinen berauschenden Blicken ausgesetzt zu sein, treibt mir eine Schamesröte ins Gesicht. Letzten Endes bleibe ich still.

Da sich auch nach weiteren Sekunden des Schweigens niemand zu Wort meldet, nimmt Alexander das Zepter schließlich wieder an sich. „Okay, dann sind wir uns ja einig. Ich würde vorschlagen, ich sage erstmal ein paar Dinge zu meiner Person und erkläre euch dann, wie es mit der Vorstellungsrunde weitergeht. Einverstanden?"

Ein paar der Schüler nicken, andere werfen ein "Ja, okay" in den Raum, doch ich bleibe weiterhin stumm und rühre mich keinen Zentimenter. Seine Ich-bin-nicht-dein-Lehrer-sondern-dein-Kumpel-Art nervt mich, macht mir aber gleichermaßen tierisch Angst. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, nicht an ihn zu denken, wenn er so aufgeschlossen und so auf einer Wellenlänge mit mir ist. Fast wünsche ich mir, dass er einfach ein fieser, dominanter Lehrer sein soll, damit es mir leichter fällt, ihn nicht zu mögen. Aber eben nur fast, weswegen meine Nervosität plötzlich anschwillt, als er mit seiner Vorstellung beginnt.

„Gut. Also, falls es jemand von euch noch nicht mitbekommen haben sollte: Ich bin Alexander, bin achtundzwanzig Jahre jung und komme eigentlich aus Berlin. Dort habe ich mit Zwanzig mein Abitur gemacht und fünf Jahre Deutsch und Englisch auf Lehramt studiert. Mein Referendariat habe ich dann an einem Gymnasium in Berlin- Spandau gemacht, was mir auch ziemlich viel Spaß bereitet hat. Und nachdem ich dann mein Examen bestanden habe, wurde ich glücklicherweise übernommen und eingestellt. Nach knapp einem Jahr habe ich jedoch das Gefühl bekommen, etwas Neues brauchen zu müssen, eine neue Schule, eine Herausforderung. Und so bin ich dann hier bei euch gelandet."

Während Alexander von seinem Leben in Berlin erzählt, hänge ich förmlich an seinen Lippen. Ich beobachte seine Mimik, jeden seiner Gesichtszüge, und sauge alles davon in mich auf. Selbst wenn dieser Mann nur über belanglose Dinge spricht, könnte ich ihm und dem Klang seiner Stimme stundenlang zuhören.

Seine Augen leuchten auf, als er dann beginnt, von der Liebe zu seinem Beruf zu schwadronieren. Dass er sich damit seinen Lebenstraum erfüllt hat, ist nicht zu übersehen. Auch wenn er versucht, seine lässige Körperhaltung zu bewahren, ist die Euphorie, die bei jedem seiner Worte mitschwingt, einfach zu verräterisch. Er liebt das, was er tut und ist genau da angekommen, wo er im Leben immer sein wollte. Nun sind es Neid und Glück, die sich in meinem Gefühlszentrum darum streiten, wer von ihnen überwiegt.

„Auf jeden Fall freue ich mich, jetzt bei euch sein zu können. Ich hoffe auf eine angenehme Zusammenarbeit", beendet Alexander seine Vorstellung und richtet dabei seine Augen genau auf mich. Worum es sich bei dem, was ich darin erkenne, handelt, weiß ich nicht, allerdings jagt es mir einen heftigen Schauer über den Rücken.

„Ich würde euch nun bitten, euch nach der Reihe vorzustellen und mir dabei zu erzählen, was euer größter Traum im Leben ist. Etwas, was ihr zu hundert Prozent erreichen wollt." Ein Raunen geht durch die Sitzreihen, was Herrn Adonis ein flüchtiges Lächeln entlockt.

„Bei dem Anblick weiß ich schon, was ich erreichen möchte", flüstert Kat mir plötzlich zu, mit einem anzüglichen Grinsen auf den Lippen. „Sein süßer Hintern in meinem Bett, das wäre mein Traum!" Sie kichert und lässt das Objekt ihrer Begierde derweil nicht aus den Augen.

Ich folge ihren anschmachtenden Blicken, um sicherzugehen, dass Alexander ihren Kommentar nicht vernommen hat. Als ich erkenne, dass er sich gerade seiner Tasche zugewandt hat, atme ich erleichtert auf. Und da ich nicht weiß, was ich Kat antworten soll, nicke ich nur und tue dann so, als würde ich mich voll und ganz auf den nicht vorhandenen Unterricht konzentrieren.

Obwohl es mir eigentlich total egal sein sollte, stört mich die Tatsache, dass meine Sitznachbarin den neuen Lehrer genauso anziehend zu finden scheint wie ich. Er gehört dir nicht, rufe ich mir in Erinnerung und lasse geknickt den Kopf hängen, als ein blondes Mädchen in der ersten Reihe beginnt, sich vorzustellen.

Die meisten meiner Mitschüler erzählen nacheinander davon, wie sie später Familien gründen und Kinder bekommen wollen. Wie sie in guten Jobs viel Geld verdienen, um sich ein eigenes Haus kaufen zu können. Oder wie sie ihr Hobby zum Beruf machen und dann von Fans angehimmelt werden. Ich kann über diese utopischen Zukunftsperspektiven nur hinweglächeln, wo ich doch am eigenen Leib erfahren musste, dass das Leben schlichtweg grausam ist und nie das bereithält, was man sich doch eigentlich sehnlichst wünscht.

Während die Vorstellungsrunde weiter fortgeführt wird und mich schon beinahe erreicht hat, habe ich mir immer noch keine passende Antwort zurechtgelegt. Dass mein einziger Traum darin besteht, meinen Vater wieder an meiner Seite zu haben, muss niemand wissen. Ich möchte nicht schon an meinem zweiten Tag zu dem Mädchen, dessen Vater gestorben ist, degradiert werden, und kann auf das aufgesetzte Mitleid meiner Mitmenschen verzichten. Ich entscheide mich spontan für eine Variante, die zwar die Wahrheit beinhaltet, aber nicht zu viel über mich preisgibt.

Nach drei weiteren Schülern, die von ihrer unrealistischen Zukunft berichten, ist schließlich Kat an der Reihe. Bevor sie jedoch loslegt, positioniert sie sich so, dass ihr Busen möglichst groß erscheint, indem sie ihn leicht mit den Armen zusammendrückt. Ihr ist offenbar jeder Weg recht, um Alexanders Aufmerksamkeit zu erregen. Mit einem übertriebenen Wimpernaufschlag holt sie Luft und setzt ein zuckersüßes Lächeln auf.

„Also, ich bin Katharina, aber alle nennen mich Kat. Ich bin achtzehn Jahre alt und mein größter Traum ist es, später mal mein eigenes Kosmetiklabel zu besitzen. Ich liebe Schminke einfach!"

Ihre Miene trotzt nur so vor Stolz und Ehrgeiz. Sie meint es also wirklich ernst, was Herrn Jansen und dem Rest der Klasse ein Lachen abringt.

„Ein eigenes Kosmetiklabel", wiederholt er schmunzelnd. „Find' ich gut. Ich kann es nur begrüßen, wenn junge Leute bereits große Pläne haben. Als ich in deinem Alter war, Kat, habe ich fest daran geglaubt, später mal die Welt verändern zu können. Und, was ist passiert? Ich habe es geschafft. Und ich bin mir sicher, dass du es auch schaffen wirst."

Ich erkenne Unsicherheit in Kats Gesicht, als sie nach einer Sekunde des Zögerns auf Alexanders Kommentar eingeht. „Was haben Sie ... Sorry, ich meine, inwiefern hast du denn die Welt verändert?"

„Das ist eine gute Frage, mit einer recht simplen Antwort. Ich bin Lehrer. Ich verändere jeden Tag das Leben meiner Schüler. Naja, zumindest versuche ich es. Aber wenn ich auch nur einen Menschen dazu bringen kann, sein Denken zu überdenken, sein Denken zu erweitern, zu verändern, über sein Mögliches hinauszuwachsen, dann habe ich damit auch die Welt verändert. Ich versuche, immer alles aus meinen Schülern herauszuholen, sie zu fordern. Ich gebe ihnen Denkanstöße und unterstütze sie beim Weiterführen der Gedanken, bis aus diesen Gedanken irgendwann Ideen werden. Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünscht für diese Welt, wie Gandhi einst sagte, und genau danach strebe ich. Ich versuche, die Veränderung zu sein, die ich mir für die Welt wünsche, die bald von euch und eurer Generation geführt wird." Alexander schweigt, während er der Klasse einen Moment der Ruhe und Verinnerlichung gönnt.

Ich bin sprachlos. So wie alle anderen in diesem Raum. Man könnte wahrscheinlich gerade ein Haar auf den Boden fallen hören. Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet, aber sie lässt mein Herz unvermittelt in die Höhe schnellen. Dieser Mann ist wirklich eine einzige Inspiration.

Auch Kat scheint mit der Fassung zu ringen, denn auch nach mehreren Anläufen gelingt ihr keine Antwort, weshalb sie resigniert aufgibt und lediglich nickt. Alexander erwidert ihre stumme Botschaft ebenfalls mit einem Kopfnicken, ehe er seinen Blick zu mir schweifen lässt. Ganz ruhig, denke ich und versuche, mich ganz aufs Atmen zu konzentrieren.

Ein. Aus. Ein. Aus.

„I-ich ...", beginne ich stotternd, gerate jedoch prompt ins Stocken. Ich bin einfach so jämmerlich. „Ich ... bin Isabelle Lorenz, werde aber lieber Ella genannt. Ich bin neunzehn ... und erst letztes Wochenende mit meiner Familie hergezogen. Und ..."

Mitten im Satz breche ich ab. In meinem Kopf finde ich einfach nicht die richtigen Worte für das, was ich sagen möchte. Es ergibt alles keinen Sinn.

„Was ist dein Traum, Ella?", fragt Alexander plötzlich. Erschrocken reiße ich den Kopf herum und erkenne wieder dieses dunkle Funkeln in seinen Augen, das er immer dann zu haben scheint, wenn er mich ansieht.

Doch es bleibt keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn mittlerweile hat er sich direkt vor mir aufgebaut und stiert mit einem Gesicht, das keinerlei Emotionen aufweist, zu mir hinab. Ich fühle mich plötzlich ganz klein und vollkommen wertlos. Es dauert eine Weile, bis ich den Kloß im Hals einigermaßen minimieren kann und meine Stimme stark genug ist.

„Mein Traum ist es, irgendwann das Glück wiederzufinden", erwidere ich schließlich, so selbstbewusst wie eben möglich.

Schon wieder legt sich ein Mantel der Stille um den Raum, und ich komme mir vor wie ein Kaninchen vor einer Schlange. Ich versuche, den eindringlichen Blicken der Anderen auszuweichen, doch es gelingt mir nicht. Überall, wo ich auch hinsehe, werde ich von neugierigen Augen verschlungen. Alexander räuspert sich, ehe er auf meinen offenbar diskussionsbedürftigen Kommentar eingeht.

„Interessante Antwort, Isabelle. Ich hoffe, ich trete dir mit meiner Frage nicht zu nahe, aber, warum hast du dein Glück verloren?"

Was soll der Mist? Ich sitze hier doch nicht auf dem heißen Stuhl der Wahrheit. Verärgert ziehe ich die Nasen- und Stirnpartie kraus, um ihm wortlos zu vermitteln, dass er mit seinem Verhör aufhören soll. Alexander hingegen scheint das ganze Spiel irgendwie lustig zu finden, zumindest erkenne ich ein vages Lächeln in seinen Mundwinkeln, das auf einen gewissen Grad an Amüsement schließen lässt.

Ich kenne keinen Menschen, der so anziehend und gleichermaßen so abstoßend ist. Am liebsten würde ich ihn jetzt anschreien, um im nächsten Moment durch sein volles, weiches Haar zu streichen. Es muss sich himmlisch anfühlen.

Konzentrier' dich!, ermahne ich mich und hole tief Luft.

„Ich habe es nicht verloren, Alexander", gebe ich zurück und versuche, bei dem Klang seines Namens möglichst patzig zu klingen. „Es wurde mir auf bestialische Art entrissen."

Alexanders Miene wird schlagartig todernst. Wo seine Lippen gerade noch von einem Lächeln umspielt wurden, hat sich nun eine gerade Linie niedergelassen, die meine gefühlskalten Worte perfekt widerspiegelt. Für einen flüchtigen Moment frage ich mich, warum er wieder diese besorgten Züge aufweist, die ich schon von gestern kenne, als er sich nach dem Streit mit Nina nach meinem Wohlbefinden erkundigt hat. Er kennt mich nicht, kennt nichts aus meinem Leben - es sollte ihm vollkommen egal sein.

„Das tut mir leid", entgegnet er sichtlich um Fassung ringend. „Ich hoffe wirklich, dass du dein Glück eines Tages wiederfinden wirst." Und mit einem letzten, irgendwie sehnsüchtigen Blick wendet er sich abrupt von mir ab und fährt mit der nächsten Schülerin fort.

„Was war das denn?", höre ich Kat flüstern, doch ich bedeute ihr mit einer schnellen Handbewegung, dass ich jetzt nicht darüber sprechen möchte. Ihre Inquisition kann auch bis zur Pause warten. Oder am besten ganz ausfallen, füge ich in Gedanken hinzu und lasse meinen Kopf seufzend in meine angewinkelten Arme auf den Tisch fallen. Nach diesem Auftritt kann ich ihren Fragen nicht weiter ausweichen, ich wüsste nicht wie.

Der Rest der Stunde zieht sich unendlich lang. Als die Vorstellungsrunde endlich beendet ist, haben wir nur noch zehn Minuten, die Alexander mit der Besprechung des Stoffes für den Rest des Schuljahres verbringt. Ein paar der Lektüren, die wir lesen und analysieren werden, habe ich schon aufgrund meines alten Englischkurses gekauft, was mir einiges an Geld ersparen wird.

Seit unserem Gespräch über mein verlorenes Glück hat mich Alexander nicht mehr angesehen. Irgendwann habe ich aufgehört, darüber nachzudenken, was ihm durch den Kopf gehen könnte und warum er sich mir gegenüber so komisch verhält. Die Art, wie er mit den anderen Leuten umgeht, erscheint mir wesentlich lockerer und nicht so angespannt. Aber vielleicht bin ich mit meiner Antwort doch zu patzig gewesen. Vielleicht habe ich ihn verärgert und die kalte Schulter, die er mir zeigt, ist seine Art und Weise, mich das spüren zu lassen.

Als der Gong ertönt, springe ich fast vom Stuhl auf. Hektisch schleudere ich Block und Federmäppchen in meine Tasche und hechte ohne einen Blick zu Kat oder Alexander zur Tür. Ich will nur noch raus hier, brauche frische Luft. Mein Kopf scheint vor lauter Gedanken gleich zu explodieren, wenn ich nicht endlich von diesen bedrohlichen, braunen Augen wegkomme.

Ich höre, wie jemand meinen Namen ruft, aber drehe mich nicht danach um und verschwinde stattdessen blitzschnell in der Menschenmenge im Flur. Während ich runter in den ersten Stock sprinte, überkommt mich plötzlich eine Hoffnungslosigkeit, die mich ernsthaft daran zweifeln lässt, ob ich dieses Schuljahr jemals überleben werde.

6| Ich bin die Veränderung

 

6.

Ich saß auf einem Barhocker in der Küche. Es war ein Samstagabend, und meine Mutter schaute Fernsehen, während mein Dad wütend auf und ab stampfte. Er krallte seine Finger um das Handy, welches er fest an sein Ohr presste, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Es kam selten vor, dass mein Vater wirklich sauer wurde, aber diesmal hatte Robin den Bogen überspannt.

„Wenn du deinen Hintern nicht in der nächsten halben Stunde nach Hause bewegst, dann werde ich eigenständig kommen und dich holen!", schrie er in den Hörer und wartete Robins Antwort ab. Die schien ihn allerdings nicht zufriedenzustellen, da seine Stimme augenblicklich lauter und seine Augen noch dunkler wurden.

„Warum? Weil du verdammt nochmal Hausarrest hast, den du dir selbst mit deiner Scheiße von letzter Woche eingebrockt hast! Also, komm jetzt nach Hause, verdammt nochmal!"

Mit einem wütenden Schnaufen drückte er demonstrativ auf den roten Knopf und schmetterte das Handy über die helle Holzplatte des Küchentresens. Ich konnte seinen Gefühlsausbruch verstehen, immerhin wurde mein Bruder ein paar Tage zuvor beim Klauen in einem Elektromarkt erwischt, und hat sich über die recht harmlose Konsequenz unserer Eltern hinweggesetzt. Er war wirklich ein Sturkopf, der fühlen musste, bevor er hörte.

„Dad, beruhig' dich", flüsterte ich behutsam auf meinen Vater ein, ehe ich das Handy nach möglichen Rissen inspizierte. Schließlich gehörte es mir.

„Es tut mir leid, Liebling. Aber Robins Trotzverhalten treibt mich noch in den Wahnsinn. Weißt du, wo er sich rumtreibt? Auf einer Hausparty bei Bennet Nowak. Es kann doch nicht sein Ernst sein, dass er nicht nur unsere Regeln missachtet, sondern sich dann auch noch auf eine Feier bei diesem Rotzbengel schleicht."

Dad redete sich immer weiter in Rage und fuchtelte dabei wild mit den Händen durch die Luft. Mich amüsierte seine aufbrausende Reaktion auf das kindische Verhalten meines älteren Bruders, weswegen ich kichern musste.

„Was lachst du denn da, Ella? Das ist nicht komisch." Dad versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen, was ihm jedoch kläglich misslang. Und dann lachten wir beide.

„Weißt du, Schatz ..." Seine Stimme war plötzlich ruhig und sanft, seine Hand auf meiner Schulter versprühte eine wohlige Wärme auf meiner Haut. „Es geht mir ja nicht nur darum, dass Robin sich nicht an seine Konsequenzen gehalten hat. Er ist mein Kind und ich liebe ihn, ganz egal was er tut. Er könnte nichts tun, was meine unendliche Liebe zu ihm jemals in Frage stellen würde. Und genau dasselbe empfinde ich für dich, mein Schatz. Deshalb wollen Betty und ich immer wissen, wo oder bei wem ihr seid, damit wir euch im Notfall beschützen können. Wir sorgen uns um euch, ständig, jeden Tag. Du willst gar nicht wissen, wie Bettinchen durchdreht, wenn ihr mal zehn Minuten später zu Hause seid."

Bei seinen letzten Worten mussten wir gleichzeitig lächeln. Mir ging jedes Mal das Herz auf, wenn Dad meine Mom bei diesem Namen nannte. Das durfte nur er, es war sein Privileg. Sie war sein Privileg.

Eine halbe Stunde verging, doch Robin war immer noch nicht aufgetaucht. Dads Wut war mittlerweile zu einem unbändigen Stier mutiert, der Robin mit Worten zerfetzte, sobald er bei den Nowaks angekommen war.

„Mir reicht's. Ich werde ihn jetzt holen, ob es ihm passt oder nicht", nuschelte mein Vater undeutlich vor sich hin, während er sich Schuhe und Jacke anzog. Hastig drückte er Mom im Wohnzimmer einen Kuss auf die Stirn, ehe er das Gleiche bei mir wiederholte.

„Bis gleich, Dad, und viel Spaß auf der Party", zwinkerte ich ihm zu, was er mit einem hämischen Grinsen quittierte.

„Lieben Dank, Ella. Bis gleich, hab' dich lieb."

„Hab' dich auch lieb, Dad."

Mit einem lauten Knall fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss. Und dann war mein Vater für immer aus meinem Leben verschwunden.

 

 

****

 

Tränen laufen mir über die Wangen. Ich halte sie nicht auf, wische sie nicht weg, bis sie sich schließlich an meinem Kinn sammeln und in Form eines einzigen, dicken Tropfens auf mein T-Shirt fallen.

Es ist Pause, und ich habe mich nach dem Unterricht bei Alexander unter einer schattenspendenden Eiche niedergelassen, um für einen Moment die Augen zu schließen und durchzuatmen. Den ursprünglichen Plan, damit meinen Kopf zu reinigen und meine Gedanken zu sortieren, habe ich jedoch weit verfehlt. Noch bevor ich nur ansatzweise die Ereignisse der letzten Stunde analysieren konnte, bin ich mal wieder in die endlosen Tiefen meiner abscheulichen Vergangenheit abgetaucht.

Ich spähe auf die Uhr meines Handys und stelle entsetzt fest, dass mir nur noch fünf Minuten bleiben, um meine Gefühlswelt wieder zu ordnen. Außerdem habe ich mein Frühstück vergessen, welches ich somit auf die nächste Pause verschieben muss. Ich hoffe, dass mein aufgewühlter Magen bis dahin nicht kapituliert.

Erst im letzten Seitenfach meiner Tasche finde ich ein Taschentuch, um nun doch die trügerischen Spuren meines Schmerzes verschwinden zu lassen. Beherzt wische ich an der geschwungenen Bahn meines Augenlids entlang, während ich den angesammelten Schleim in meinem Hals hinunterschlucke.

„Alles okay bei dir?", höre ich plötzlich eine Männerstimme fragen. Eine Stimme, die ich wahrscheinlich unter Tausenden erkennen würde.

Perplex hebe ich den Blick, sodass ich Alexander erkennen kann, der auf einmal vor mir steht. Seinen wunderschönen Kopf positioniert er dabei exakt vor der Sonne, weshalb es so aussieht, als würde er gerade aus dem Himmel auferstehen und dabei von leuchtenden Engeln beschienen werden. Das unsichere Lächeln, das sich auf seine vollen, rosigen Lippen legt, raubt mir fast den Atem. Ein Windzug fegt durch sein Haar, wodurch ein paar der dicken Strähnen in seine Stirn geweht werden, die er dann mit einer lässigen Bewegung hinters Ohr streift.

„Kann ich mich setzen?", fragt er dann, lässt sich aber stattdessen ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten neben mir nieder. Sofort spüre ich die Wärme seines aufgeheizten Körpers, die sich beruhigend an die nackte Haut meines Oberarms schmiegt. Er beäugt das Taschentuch in meiner Hand, bevor er seufzt und mich mit begierigen Blicken durchbohrt.

„Kann ich dir irgendwie helfen?" Seine Stimme ist plötzlich ganz ruhig, beinahe flüsternd, irgendwie verrucht und verführerisch. Aufregung durchströmt mich und lässt dutzende kleine Blitze durch die Nervenbahnen meines Körpers schießen. Ich fühle mich wie elektrisiert, bin unter Strom, wodurch sich ein heftiges Kribbeln in all meinen Gliedmaßen ausbreitet. Es fühlt sich an, als würden kleine Ameisen unter meiner Haut hin- und herkrabbeln.

Komm wieder runter. Es ist nur dein Lehrer und nicht die Queen von England, versuche ich mich schließlich zu besänftigen.

„Es geht mir gut", erwidere ich dann und halte mich dabei so emotionslos wie in der jetzigen Situation möglich. Mein Lehrer zieht fragend die Augenbrauen hoch, doch ich lasse mich davon nicht beirren. Wenn ich ihm jetzt ehrlich sage, was mit mir los ist, wird sich eine Bindung zwischen uns aufbauen, die ich unbedingt zu vermeiden versuche. Ganz egal, um was für Art von Bindung es sich dabei handelt. Sobald es persönlich wird, bin ich verloren.

„Und was hat dich gerade zum Weinen gebracht?", hakt Alexander nach, was mich jedoch nicht wirklich wundert. In der ersten Stunde mit ihm konnte ich bereits feststellen, dass er ein Faible für Verhöre zu haben scheint und sich köstlich darüber amüsiert, seine emotional angeschlagenen Schülerinnen mit pikanten Fragen zu quälen.

Wiederum ist der Klang seiner Stimme so mitfühlend, dass man meinen könnte, er sei tatsächlich besorgt um mich. Er ist ein einziger Widerspruch in sich, aus dem ich einfach nicht schlau werde.

„Und was hat dich gestern dazu gebracht, mich anzulügen?", schießt es förmlich aus mir heraus, obwohl ich mir eigentlich geschworen habe, ihn nicht darauf anzusprechen. Doch in angespannten Momenten wie diesen kann ich nicht rational denken, weswegen mein Mund meistens schneller als mein Gehirn arbeitet.

Alexander hingegen scheint meine viel zu direkte Gegenfrage offenbar nichts auszumachen, denn ein aufrichtiges Lachen umschmeichelt seine Züge, ehe er sich nach hinten fallen lässt und mit den ausgestreckten Armen im Gras abstützt.

„Ich habe dich nicht angelogen, Ella. Ich habe dich lediglich in deinem Glauben gelassen." Seine geschickte Art, sich aus der Affäre zu ziehen, verweigert mir jegliche Chance des Protests. Er hat recht. Und das ärgert mich. Die Angewohnheit, mich sofort an den nächstbesten Gedanken zu klammern, der mir gelegen kommt, und auch keinen anderen mehr zuzulassen, hat mir schon des Öfteren zwischenmenschliche Konflikte beschert.

Ich erschrecke, als plötzlich der Gong zum Unterricht ertönt.

Ich will aufstehen, um nicht zu spät zu Soziologie zu kommen, doch Alexander bedeutet mir mit einer Geste, noch zu warten. „Du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Und glaub' nicht, dass ich das durch deinen ungeschickten Themenwechsel vergessen habe. Warum hast du geweint? War es wegen der Sache im Unterricht?" Stirnrunzelnd bedeckt er mein Gesicht mit eindringlichen Blicken, denen ich nicht ausweichen kann. Ich nicke zaghaft, woraufhin Alexander ein schwerer Seufzer entrinnt.

„Es tut mir leid, wenn ich dir zu nahegetreten bin. Ich hoffe inständig, dass ich keine alten Wunden aufgerissen habe. Das ... wollte ich nicht."

„Schon gut", winke ich achselzuckend ab und stehe schlussendlich auf. „Du hast keine Wunden aufgerissen, denn sie waren nie wirklich verheilt."

Verdammt, was ist denn nur los mit mir? Warum habe ich das drängende Bedürfnis, Alexanders Fragen immer mit geheimnisvollen, doppeldeutigen Phrasen zu beantworten? Er muss mich wahrscheinlich jetzt schon für das jämmerliche Häufchen Elend halten, das ich in Wahrheit auch bin. Doch ich hätte mir gewünscht, dass ihn diese Erkenntnis erst zu einem späteren Zeitpunkt trifft.

„Ich hoffe, dass du mir eines Tages von dem Grauen erzählen kannst, das dich offensichtlich immer noch so verletzt. Du weißt ja, ich bin die Veränderung."

Jetzt ist Alexander derjenige, der mich mit doppeldeutigen Floskeln durcheinander bringt. Natürlich ist mir bewusst, dass er sich damit auf seine Äußerungen aus dem Unterricht bezieht, doch sein verschmitztes Lächeln erweckt den Anschein, dass sich hinter seinen Worten noch eine weitere Botschaft verstecken könnte.

Während wir gemächlich zum Haupteingang schlendern und einer Verabschiedung immer näherkommen, hülle ich mich in Schweigen. Ich habe absolut keinen Schimmer, was ich Herrn Adonis Gandhi antworten soll, und bevor ich mich weiterhin blamiere, sage ich lieber nichts.

„Sehe ich dich übermorgen in meinem Deutschkurs?", fragt er jedoch plötzlich und rettet uns damit aus der peinlichen, betretenen Stille. Es gongt ein zweites Mal, woraufhin mehrere Schüler an uns vorbeihuschen, um vor den Lehrern im Klassenraum anzukommen. Das sollte ich eigentlich auch tun, halte allerdings an Alexanders Schritttempo fest. Ich nicke, um seine Frage zu beantworten, und könnte schwören, dass seine Mundwinkel ein flüchtiges Lächeln andeuten. „Sehr schön. Ich freue mich schon, Ella. Du solltest jetzt gehen, sonst kommst du noch zu spät zum Unterricht."

Und dann dreht er sich um und geht.

Verdutzt schaue ich ihm nach, wie er in einem der Nebentrakte verschwindet. Es dauert ein paar Atemzüge, bis auch ich mich wieder regen kann.

 

****

 

Die Soziologielehrerin, die glaube ich Frau Peters heißt, beschießt mich mit Todesblicken, als ich acht Minuten zu spät in den Unterricht platze. Nach Luft schnappend, - denn ich habe gerade einen ziemlichen Marathon hingelegt -, tische ich ihr eine halbherzige, gelogene Entschuldigung auf, die sie lediglich kopfnickend zur Kenntnis nimmt, bevor sie mit ihrem Vortrag fortfährt, ohne mir weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Konsterniert lasse ich den Blick durch die Klasse schweifen, bis ich Kat in der letzten Reihe erkenne. Ich versuche, mich so unauffällig wie möglich durch die Tischreihen zu schlängeln und lasse mich schließlich erleichtert auf dem freien Platz neben meiner Freundin nieder.

„Wo warst du?", zischt sie, ohne mir Zeit zum Durchatmen zu gewähren. Ihre direkte Art ist eine ihrer Angewohnheiten, an die ich mich noch gewöhnen muss. Sie passt so gar zu mir, wo ich Probleme doch viel lieber unter den Tisch kehre, anstatt sie anzusprechen.

„Hab' ich doch gerade gesagt. Frau Schwarz hat mich aufgehalten, weil sie noch Papierkram für mich hatte", lüge ich also und komme mir mal wieder unendlich erbärmlich vor. Was hat Kat mir eigentlich getan, dass ich sie dauernd anlügen muss? Doch wenn ich an ihre Bemerkung bezüglich ihres Traums von Alexander denke, dann ist es mir irgendwie unangenehm ihr zu erzählen, dass es in Wahrheit er war, der mich aufgehalten hat. Sie würde sich wahrscheinlich weiß der Himmel was vorstellen und ich habe absolut kein Interesse daran, Mittelpunkt ihrer anzüglichen Gedankenwelt zu sein. Die neue Lüge erinnert mich immerhin daran, dass es da ja noch eine Alte gibt, die ich ihr endlich zu beichten habe. Ich vergewissere mich, dass wir keine Zuhörer haben, ehe ich mich zu Kat hinüberbeuge.

„Hast du heute nach der Schule Zeit? Ich glaube, wir müssen mal reden."

„Das glaube ich aber auch, Schätzchen."

 

****

 

Kat muss nach der Schule arbeiten, weswegen ich sie in die Bar begleite, in der sie seit fast einem Jahr als Kellnerin tätig ist. Ich setze mich an die Theke, bevor sie kurz im Personalraum verschwindet, um ihre Arbeitskleidung anzuziehen und sich frischzumachen. In der Zeit schaue ich mich ein wenig in dem Laden um und stelle schnell fest, dass es mir hier wirklich gut gefällt. Die meisten Tische bestehen aus Weinkisten oder Fässern, dessen Holzplatten teilweise bunt bemalt sind. Sie wirken selbstgebaut, genau wie die Stühle und Sofas, die aus hellen Europaletten zusammengehämmert wurden. Dieser rustikale Eindruck findet sich auch in dem Boden wieder, der aus dunklen, zerschlissenen Holzpaletten besteht. Im hinteren Teil der kleinen Bar entdecke ich eine Wendeltreppe, die zu einer Galerie führt, auf der sich weitere Sitzmöglichkeiten befinden. Es ist nicht viel los, was wohl aber vor allem an der noch recht frühen Uhrzeit liegt. Obwohl es in diesem dunklen, urigen Schuppen auch gut ein Uhr nachts sein könnte, denn das einzige Licht wird durch die gedimmten Lampen produziert, die vereinzelt an der Decke und den Wänden angebracht sind.

Nach wenigen Minuten erscheint Kat wieder hinter der Theke und hat ihr sommerliches Kleid in ein schwarzes Poloshirt und Jeans eingetauscht. An ihrer Brust erkenne ich ein Namensschild und das Logo der Bar. Selbst in ihrem Arbeitsoutfit sieht sie atemberaubend schön aus, denn der weiche Stoff des Shirts schmiegt sich wie eine zweite Haut an ihren kurvigen Oberkörper. Ich selbst würde in dem Ding wahrscheinlich aussehen wie ein Sack. Mit einem Lächeln, das für diesen Anlass meiner Meinung nach zu strahlend ist, umrundet sie den geschwungenen Thekentisch und setzt sich neben mich auf einen der Lederhocker. Plötzlich spüre ich schon wieder dieses bedrückende Gefühl, das sich auf meinen Brustkorb legt und mir das Atmen erschwert. Das mich umschlingt, wie eine stählerne Kette, die immer enger wird, je mehr ich mich dagegen sträube. Meine Hände zittern und ich lasse sie schnell unter meinen Oberschenkeln verschwinden, damit Kat mir meine Nervosität nicht anmerkt. Obwohl sie mir wahrscheinlich sowieso in meinem blassen Gesicht geschrieben steht.

„Kat, ich ...", beginne ich stotternd. „Du hast ja bestimmt schon gemerkt, dass ich mich manchmal etwas ... komisch verhalte. Aber-"

„Komisch?", unterbricht sie mich. „Ich würde sagen, mehr als komisch. Ella, ich versuche wirklich, dir bei deinem Neustart zu helfen. Verbündete können schließlich nie schaden. Aber es fällt mir schwer, dir zu helfen, wenn du dich so verschließt. Ich bin ja nicht blöd. Ich merke doch, dass dich etwas bedrückt. Ist es wegen dem Jansen?"

Mein Puls schnellt unvermittelt in die Höhe. „Was? Wie meinst du das?"

„Na, wegen dem, was im Unterricht passiert ist. Hat er dich mit seinen Fragen vor der ganzen Klasse irgendwie verletzt?"

Beruhigt stoße ich die angestaute Luft aus meinen Lungen aus. „Nein, es ist nicht wegen Herrn Jansen. Also, ich habe mich heute in Englisch schon etwas unwohl gefühlt, aber mein komisches Verhalten hat einen anderen Grund."

Nun habe ich endgültig Kats Neugier geweckt. Mit aufgerissenen, mitleidigen Augen rutscht sie etwas näher an mich heran, legt dabei fürsorglich den Arm um meine Schulter. Ihrem empathischen Beistand ist mal wieder keine Grenze gesetzt. Ich versuche, die anbahnende Übelkeit und das Beben in meiner Stimme zu ignorieren, um das Scheusal endlich beim Namen zu nennen.

„Kat, ... meine Mom ist mit Robin und mir hier hergezogen, weil ... weil ... mein Dad. Er hatte letztes Jahr einen Autounfall und ist ... Er ist dabei ums Leben gekommen."

Kat nimmt behutsam meine Hand in ihre, als die erste Träne den Weg über meine Wange findet. „Er war auf dem Weg zu Robin, weil ... der eigentlich nicht rausgehen durfte. Kurz nachdem Dad losgefahren ist, kam Robin jedoch nach Hause ... Dad ist also völlig umsonst gefahren. Es war Januar, und kalt, und glatt, und Dad ... er hat ... er ist nicht ..." Bei dem Gedanken an diesen schwarzen Tag im Winter bricht meine Stimme. Und nur mit viel Mühe kann ich mich wieder einigermaßen aufrappeln.

„Das Leben meiner Mom, meines Bruders und mir war zerstört, Kat. Ist es immer noch, irgendwie. Robin hat sich solche Vorwürfe gemacht ... Er hat sich gehasst ... und hat es auch nie wirklich verkraftet, dass Dad wegen ihm ins Auto gestiegen ist. Aber Mom und ich geben ihm keine Schuld daran, es war ein Unfall. Doch, ... das hat Robin anders gesehen. Einen Monat nach seiner Beerdigung hat er ... er hat versucht sich das Leben zu nehmen. Er glaubte, den Schmerz und die Schuld niemals überleben zu können."

7| What you deserve is what you get

 

7.

Trauer ist wie ein Chamäleon. Zumindest habe ich sie mir in den unzähligen Sitzungen bei meiner Therapeutin immer so vorgestellt. Die vereinzelten Phasen, die man durchlebt, wenn man wirklich trauert, sind in etwa so wechselhaft und farbenfroh, wie diese faszinierende Eidechse.

„Beschreibe mir, was du fühlst, Isabelle", hat Frau Dr. Vogt-Krämer mich zu Beginn jeder Therapiestunde gefragt, und jedes Mal habe ich ihr von dem possierlichen Tierchen erzählt, welches quälend langsam durch mein Herz, mein Gehirn und meinen Magen kriecht. An Tagen, an denen ich vor lauter Schmerzen nur noch schreien konnte, hat das Chamäleon einen tiefen, fast schwarzen Ton angenommen. Es gab aber auch andere Tage, etwas Bessere, an denen die Haut meines Begleiters eher in Gelb oder Grün aufgeleuchtet hat. Das kam zwar nur selten vor, aber sie waren da und ausnahmslos die Lichtblicke dieser grausamen Zeit. Heute spüre ich mein Haustier nicht mehr ganz so oft und bin wesentlich besser darauf vorbereitetet, wenn es sich doch mal wieder in den schrecklichsten Farbtönen durch meinen Körper frisst. Es sitzt wie eine Last auf meinen Schultern und begleitet mich tagtäglich mit der stetigen Gefahr, jederzeit angreifen zu können. Wenn es eine Sache gibt, die mich der Unfall meines Vaters gelehrt hat, dann ist es die Erkenntnis, dass das Sterben so viel einfacher ist als das Leben. Ich weiß, dass ich das Chamäleon niemals ganz abschütteln kann, doch ich hoffe, dass ich mir eines Tages die Kontrolle zurückerobern und das Biest im Tierheim abgeben kann.

 

****

 

Mit Bruce Springsteen in den Ohren sitze ich im Bus nach Hause. Es ist Freitag und sonnig, weshalb sich meine Laune ausnahmsweise mal nicht auf dem Tiefpunkt befindet. Meine erste Schulwoche habe ich relativ unbeschadet überstanden, dank meiner neuen Freundin Kat. Nachdem ich ihr den Grund für mein zurückhaltendes Verhalten offenbart habe, hat sie mich mit ganz anderen Augen betrachtet - im positiven Sinn. Sie hat aufgehört, mich über mein altes Leben in Hamburg auszuquetschen und hat alles dafür gegeben, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Ich würde behaupten, dass ich sogar so etwas wie Spaß mit ihr empfunden habe, obwohl es sich hierbei eigentlich um kein Substantiv handelt, womit ich die Schule in Verbindung bringen würde. Unser Stundenplan ist zum Glück komplett identisch, und so haben wir jeden Kurs der Woche gemeinsam verbringen können.

Kat hat es obendrein geschafft, mir im Kunstunterricht einen Pinsel in die Hand zu quatschen, was nicht einzig daran lag, dass mir mein Notenspiegel im Nacken sitzt. Mit ihren wohltuenden und liebevollen Worten hat sie mich das schlechte Gefühl, welches mich umschleicht, sobald ich zu malen beginne, beinahe vergessen lassen. Sie ist wirklich ein Goldstück und ich bin unendlich froh, dass ich diesen Schatz bereits am ersten Tag ausgegraben habe. Genau genommen kann ich Nina fast dankbar dafür sein, dass sie mich letzten Montag so angepampt hat, ansonsten hätte ich Kat vielleicht noch nicht kennengelernt.

Um unsere frisch erblühte Freundschaft weiter düngen zu können, haben wir uns für heute Abend in der Bar verabredet, in der sie arbeitet. Kat hat freitags zwar immer frei, war jedoch von der Idee, sich von ihren Kollegen bedienen zu lassen, ganz begeistert. Auch mir wird eine solche Ablenkung guttun, wo ich mir Alexanders Augen immer noch nicht aus dem Kopf schlagen kann.

Den Plan, diesen wunderschönen Mann, der jetzt mein Lehrer ist, aus meiner Gedankenwelt zu verbannen, habe ich in der Sekunde über Bord geworfen, als er gestern fünf Minuten zu spät in den Deutschkurs hereingepoltert kam. Diese unschuldige, aber gleichzeitig selbstsichere Miene, die er während seiner Entschuldigung aufgesetzt hat, hat mir unmittelbar die Sprache und den Atem verschlagen. Er hat so grenzenlos gut ausgesehen, mit den erröteten Wangen, den zerzausten Haaren und dem wieder mal charmanten Lächeln auf den Lippen, sodass sich allein durch seinen Anblick ein angenehmes Ziehen in meinem Unterleib breitgemacht hat.

Auch sein Outfit war mal wieder ideal auf seinen stattlichen, verführerischen Körper abgestimmt. Das schwarze T-Shirt, welches seine Brust- und Bauchmuskeln minimal zur Schau stellte, harmonierte perfekt mit der grauen Jeans, die auf eine lässige, aber gleichzeitig betörende Art und Weise auf seinen herausstechenden Hüftknochen hing. Durch die kurzen Ärmel seines Shirts konnte ich zum ersten Mal das Tattoo erspähen, welches sich über die komplette Innenseite seines linken Unterarms erstreckt. Das Motiv habe ich aus der Entfernung nicht erkennen können, was meine Neugierde allerdings nur noch mehr angestachelt hat.

Die Deutschstunde gestaltete sich ähnlich wie der Englischkurs am Dienstag zuvor. Ich habe mir Alexanders Vorstellung jedoch liebend gern ein zweites Mal angehört, denn von mir aus könnte der ganze Unterricht allein aus Geschichten von ihm bestehen. In dem Fall hätte ich meine eins sicher, so viel steht fest. Danach hat er, - wie erwartet -, den Kurs aufgefordert, sich der Reihe nach vorzustellen, wodurch mir ein viel zu lautes Stöhnen entfleucht ist. Alexanders Augen waren genau auf mich gerichtet, als er die Bitte formulierte, sich hinsichtlich der Frage zu präsentieren, warum wir uns für diesen Leistungskurs entschieden haben.

Vielleicht ist der Gedanke, dass Alexander allein meinetwegen die Frage nach unseren Träumen verworfen hat, etwas naiv, irgendwie hirnrissig, doch ich habe ihn bis heute nicht abschütteln können. Auch das Lachen, welches er von sich gab, als ich ihm ehrlich erklärte, dass Frau Schwarz mir diesen Kurs zugewiesen hat und ich eigentlich keinerlei Wahlmöglichkeiten hatte, hallt unaufhörlich in meinen Ohren wieder. Selbst einen Tag danach lässt es mein Herz stetig höherschlagen.

Ich bin vollkommen allein, als ich nach einer viel zu langen Busfahrt zu Hause ankomme. Meine Mom hat Schicht im Krankenhaus, in der Abteilung, in der vorwiegend Kinder und Jugendliche behandelt werden. Ich hatte schon immer großen Respekt vor ihrer Arbeit, wo sie doch jeden Tag mit so viel Leid und so viel Schmerz konfrontiert wird. Früher dachte ich, dass sie völlig bekloppt sein muss, wenn sie ihre eigenen Sorgen für die der Patienten verdrängt. Doch heute weiß ich, dass das nie etwas mit Verdrängung zu tun hatte. Dass es ihre Art von Therapie ist, dass ihr die Tätigkeit als Kinderkrankenschwester mehr Kraft gibt, als es irgendein Therapeut jemals könnte.

Robin ist wahrscheinlich mit dem Auto unterwegs, da er im Gegensatz zum Rest der Familie noch nichts für seine Karriere tun kann. Nach Dads Tod, - und nachdem er sich aus dem Loch der Verzweiflung befreien konnte, in dem auch er beinahe gestorben wäre -, hat er sich dazu entschlossen, soziale Arbeit studieren zu wollen. Er ist der Meinung, Gutes tun zu müssen, um auch Gutes zu erhalten - frei nach dem Motto: what you deserve is what you get. Ich empfinde puren Stolz, wenn ich daran denke, wie anders Robins Einstellung vor seinem Sinneswandel gewesen ist. Er hat das Leben meiner Eltern die meiste Zeit zur Hölle gemacht, mit dutzenden Straftaten, Alkohol- und Drogeneskapaden, Frauengeschichten, ... eben mit allem, was dazu gehört. Dass er jetzt so ein freundlicher, rücksichtsvoller Kerl geworden ist, kann ich also nur begrüßen. Das rowdyhafte Verhalten im Straßenverkehr hat er sich zwar leider immer noch nicht abgewöhnt, allerdings nimmt er mittlerweile Rücksicht, sobald Mom oder ich mit im Auto sitzen. Ich würde mir trotzdem wünschen, dass ihm sein Leben genauso viel bedeutet wie die unseren.

Ich muss automatisch lächeln, als ich an seinen blonden Lockenkopf und die strahlend blauen Augen denke. Wahrscheinlich hätte ich ihm seinen Freitod niemals verziehen; und niemals verkraftet. Manchmal vergesse ich, wie dankbar ich doch sein muss, dass er immer noch Teil meines Lebens ist. Ich beschließe, ihm das öfter sagen zu müssen, damit er sich genauso geliebt von mir fühlt, wie ich mich von ihm.

Und mit einem Herzen, welches plötzlich vor lauter Liebe zu platzen droht, schlendere ich in mein Zimmer, um mich für ein paar Stunden hinzulegen. Ich muss sozusagen für heute Abend vorschlafen, damit ich nicht schon eindöse, sobald Kat und ich in der Bar angekommen sind. Ich bin eine lange Zeit nicht zur Schule gegangen und habe deshalb immer ausschlafen können, weshalb mir das frühe Aufstehen echte Probleme bereitet. Also lasse ich mich mit einem gemütlichen Grinsen auf mein großes Bett fallen, und es dauert keine zehn Minuten, bis ich von karamellfarbenen Augen träume.

 

****

 

„Wow, du siehst heiß aus, Schwester", ruft Kat mir zu, als ich pünktlich um acht Uhr abends auf die Bar zusteure, vor der meine Freundin schon auf mich wartet. Ihre Augen werden immer größer, während sie mich von Kopf bis Fuß mustert. Obwohl ich den Abend eigentlich in lässiger Kleidung verbringen wollte, habe ich mich aufgrund meiner ungewohnten, neuen Glücksgefühle doch für etwas Schickeres entschieden. Durch die viel zu enge, schwarze Jeans wirken meine Beine unendlich lang, was durch die dunkelroten Pumps, die ich meiner Mom ungefragt entwendet habe, unterstützt wird. Dazu habe ich mir ein schwarzes Top ausgesucht, welches oben am Dekolleté und an den langen Ärmeln aus einem samtigen, durchsichtigen Stoff besteht. Ich habe sogar etwas Schminke aufgetragen und meine Haare gelockt, um den glamourösen Look perfekt abzurunden. Auch, wenn ich ganz offensichtlich von Kats pompösen Erscheinungsbild in den Schatten gestellt werde.

Mit dem knallroten, hautengen Kleid, welches sie trotz der nicht vorhandenen Länge mit Stolz und Würde trägt, sieht sie aus wie eine Göttin. Ihre gewellte, beneidenswerte Haarpracht glänzt im Licht der Leuchtreklame der Bar und sieht dabei aus wie schwarze Seide, die locker über ihre Schultern fällt. Ihre ebenfalls schwarzen Heels sind so hoch, dass ich mir darauf wahrscheinlich sofort die Beine brechen würde, sobald ich auch nur einen Schritt darauf tätige, doch an Kats Körper wirken sie sexy und elegant. Ihr atemberaubendes Outfit wird mit einer schwarzen, glitzernden Clutch und silbernen Kreolen komplettiert.

Ich falle ihr unvermittelt in die Arme, als ich bei ihr ankomme, was sie mit einer herzlichen Umarmung erwidert.

„Wenn ich heiß aussehe, was bist du denn dann? Der Teufel?", scherze ich an ihrer Schulter, woraufhin sie mich jedoch abrupt von sich stößt.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen öffnet sie ihr Handtäschchen und fischt ihren Personalausweis heraus, den sie mir augenblicklich unter die Nase hält. Ich muss meine Augen etwas zusammenkneifen, damit ich überhaupt etwas darauf erkennen kann. Doch als mein Blick immer deutlicher wird und sich die verschwommenen, schwarzen Linien in Buchstaben verwandeln, falle ich in lautstarkes Gelächter.

Angestrengt schnappe ich nach Luft. „Katharina Engel? Dein Nachname ist Engel? Dein Ernst?"

Erst als ich schon fast Bauchschmerzen von meinem Lachanfall habe, kann ich mich einigermaßen beruhigen. Die Ironie dieser Situation ist mir absolut bewusst und genau meine Art von Humor. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so laut, so intensiv und so ehrlich gelacht habe. Es muss Wochen her sein. Danke, Kat.

„So ein unschuldiger Engel bist du aber gar nicht", stelle ich fest, als unser Gelächter schließlich ganz abgeebbt ist. Meine Freundin zuckt jedoch nur mit den Achseln.

„Von unschuldig war ja auch nie die Rede, Ella. Aber ich finde meinen Nachnamen trotzdem sehr passend für mich."

Sie schenkt mir ein Strahlen, das mich beinahe überwältigt. Ich erwidere es, bevor sie sich bei mir unterhakt und wir kichernd das Lokal betreten.

Die Bar, die ich bisher nur tagsüber von innen gesehen habe, ist am Abend nicht wiederzuerkennen. Es ist gerammelt voll, laut und stickig. Es handelt sich hierbei wahrscheinlich um einen Teufelskreis, in dem die Leute lauter reden, um gegen die Musik anzukommen, und die Musik daraufhin lauter gedreht wird, damit sie überhaupt gehört werden kann. Es dauert einen Moment, bis ich mich an das ohrenbetäubende Gemurmel, von dem ich beim Eintreten beinahe erschlagen werde, gewöhnen kann. Ich blicke mich um, kann aber keinen freien Platz ausmachen. Im Gegenteil - hier und da sehe ich Leute, denen es nichts auszumachen scheint, sich im Stehen unterhalten zu müssen.

„Zur Theke!", brüllt Kat mir zu und scheint den überdeutlichen Platzmangel ebenfalls registriert zu haben. Ohne mit der Wimper zu zucken drängelt sie sich durch die Menschenmenge, zeigt dabei vollen Ellenbogeneinsatz, sodass ich den dadurch verärgerten Gästen ein 'tschuldigung zurufe, während ich meiner aufmüpfigen Freundin folge.

Wir haben Glück, denn an der Theke sind tatsächlich zwei Barhocker frei.

„Was möchtest du trinken?", fragt Kat, doch ich zucke lediglich mit den Schultern. Ich trinke so gut wie nie Alkohol und habe keine Ahnung davon, was ich in einer modernen Kneipe wie dieser bestellen sollte. Als ich gerade nach der Getränkekarte greifen möchte, beugt sich Kat jedoch schon nach vorn und gibt eine Bestellung an den Barmann durch, der wie aus dem Nichts auf der Bildfläche erschienen ist. Auf dem Schild an seiner trainierten Brust lese ich den Namen Marvin und frage mich dann, ob es sich bei ihm wohl um den Jungen handelt, von dem Kat mir neulich erzählt hat. So, wie sie ihn anlächelt, könnte das tatsächlich hinkommen.

„Ist das der Kerl?", platzt es also aus mir heraus, als sich der junge Mann dem Alkoholregal zuwendet. Sie nickt begeistert.

„Ja. Sieht er nicht hinreißend aus?" Sie wirft ihm begierige, leidenschaftliche Blicke hinterher, und ich möchte ehrlich gesagt gar nicht wissen, welche Szenarien sich wohl gerade in ihrem Kopf abspielen.

Er ist tatsächlich ziemlich attraktiv, mit seinen längeren, blonden Haaren und dem Dreitagebart, weshalb ich ebenfalls mit dem Kopf nicke. „Er ist ganz süß."

Es dauert keine weitere Minute und schon hat Marvin unsere Getränke serviert. Ich rümpfe die Nase, als ich einen tiefen Zug des roten Getränkes inhaliere, das Kat mir in einem runden Cocktailglas hinhält. Es riecht fruchtig, irgendwie nach frischen Erdbeeren.

„Das ist Erdbeer-Daiquiri", beantwortet sie meine unausgesprochene Frage und bestätigt damit meine Vermutung. „Auf einen schönen Abend, Ellalein. Prost!"

Mit ihrer lockeren Art schafft Kat es tatsächlich, mich den ganzen Abend bei Laune zu halten. Wir sitzen die meiste Zeit an der Theke und quatschen, genehmigen uns einen Drink nach dem anderen, tauschen dabei witzige Geschichten und Anekdoten aus unseren Vergangenheiten aus. So oft wie heute habe ich wahrscheinlich das letzte halbe Jahr nicht gelacht, und es tut verdammt gut. Nicht ein einziges Mal verschwende ich einen Gedanken an Robin oder Dad. Stattdessen konzentriere ich mich auf das Hier und Jetzt, was mir sogar ausnahmsweise richtig gut gelingt.

Je später der Abend, desto voller wird es auch in der Bar. Hinten in der Ecke hat sich sogar eine kleine Tanzfläche gebildet, auf der sich ein paar Leute zum Takt der Musik bewegen und sichtlich Spaß haben. Marvin hat mittlerweile Feierabend und sich zu uns gesellt, obwohl uns wahrscheinlich der falsche Terminus dafür ist. Er hat nur Augen für Kat, die ihn ebenfalls unverhohlen anstarrt und mir derweil komplett den Rücken zugewandt hat. Doch ich bleibe gelassen, denn ich weiß wie es ist, wenn man sich mit dem Mann seiner Begierde unterhält - man ist nicht ganz bei Sinnen. Und so wird es auch gerade meiner Freundin ergehen, zumindest sehen ihre leuchtenden Augen und das knallige Rot auf ihren Wangen ganz danach aus.

In der Zwischenzeit schlürfe ich an meinem Drink und lasse den Blick über die verschiedenen Menschen schweifen. Ich liebe es, in der Öffentlichkeit das menschliche Verhalten zu beobachten, weil ich finde, dass man viel durch Beobachtung lernen kann. Der Mensch ist schließlich auch nur ein Rudeltier, welches sich bestimmte Verhaltensweisen von anderen Artgenossen abguckt und imitiert. Es hat bei mir lange gebraucht, um zu verstehen, dass wir im Grunde genommen immergleiche Primaten sind, die sich allein äußerlich voneinander unterscheiden. Naja, und natürlich noch durch irgendwelche DNA-Stränge.

Und als ich gerade gedankenverloren durch die Gegend glotze, erregt auf einmal die Eingangstür der Bar meine Aufmerksamkeit, die im nächsten Moment schwungvoll aufgerissen wird. Eine große, schlanke Frau kommt herein, mit langen, blonden Haaren und einem unfassbar heißen Kleid, welches ihren kurvigen Köper perfekt umschmeichelt. Sie könnte wahrscheinlich ganz locker das Cover irgendeines Modelmagazins schmücken.

Und dann bleibt mir plötzlich das Herz stehen.

Ich erkenne das Lachen, das sich vor drei Tagen fest in mein Hirn eingebrannt hat, sofort wieder. Ich spüre, wie mir sämtliche Farbe aus dem Gesicht weicht, wie eine heftige Gänsehaut meinen ganzen Körper unter Strom stellt. Ich erstarre, als Alexander hinter der wunderschönen Frau hervortritt.

8| Die Motte und das Licht

 

8.

Ich erinnere mich daran, wie mir der bescheuerte Patrick Schulz mal in der sechsten Klasse beim Fußball in die Magengrube getreten hat, als ich nach einem Foul schon zusammengekrümmt auf dem Rasen lag. Angeblich aus Versehen, aber die Boshaftigkeit in seinen Augen werde ich nie vergessen. Ich habe mich augenblicklich übergeben und wahrscheinlich den bis dato schlimmsten Schmerz meines Lebens verspürt. Es fühlte sich an, als hätte er mit seinen ledernen Stollenschuhen meine Gedärme und alle anderen Organe in deren Nähe zerquetscht. Doch die Magenschmerzen, die ich damals als Kind auf dem Sportplatz der Schule erlitten habe, erscheinen mir mit einem Mal gar nicht mehr so qualvoll, in Anbetracht dessen, was sich jetzt gerade in mir abspielt.

Mein rasendes Herz wummert im Takt des schnelles Beats der Musik, welcher nun schallwellenartig in meinen Ohren dröhnt. Mein Magen verkrampft sich so stark, dass es sich anfühlt, als würde er in tausend kleine Stücke zerfetzt werden. Mein Atem geht zittrig und flach, als ich ihn endlich wiederfinde. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich ihn während der ersten Schocksekunden angehalten habe. Mittlerweile habe ich die Menschen um mich herum komplett ausgeblendet, kann mich nur noch auf Alexander und seine Begleitung konzentrieren.

Er ist so schön, ... sie ist so schön. Und schlagartig ist das Hochgefühl verschwunden, welches mich den gesamten Tag über Wasser gehalten hat.

Ich muss einiges dafür auftun, um endlich aus meiner Schockstarre erwachen und meinen Blick von diesem perfekten Paar abwenden zu können. Stattdessen widme ich mich meinem Drink, den ich in zwei großen Zügen leere. Mit der Hoffnung, dass der Alkohol seinen Sinn und Zweck schon erfüllen wird, winke ich die rothaarige Frau heran, die derweil Marvins Platz hinter der Theke eingenommen hat. Ich beschließe, für die bittere Erkenntnis, dass Alexander nun endgültig unerreichbar für mich ist, etwas Stärkeres zu benötigen, weshalb ich zu dem Erdbeer-Daiquiri noch einen Jägermeister bestelle. Im Grunde hätte ich wissen müssen, dass ein derart attraktiver Mann natürlich eine Freundin - oder Verlobte, ... Ehefrau? -, haben muss, doch die eiskalte Realität trifft mich trotzdem wie eine Abrissbirne.

Die Barfrau, die laut ihrem Namensschild Mary-Lou heißt, serviert mir meine Kummervertreiber in Windeseile, woraufhin ich ihr dankbar einen Zehneuroschein in die Hand drücke, ohne Wechselgeld zu verlangen. Mit einem Ruck kippe ich den Shot hinunter und spüle mit einem großen Schluck Daiquiri hinterher. Der Alkohol brennt, während er sich Stück für Stück den Weg durch meine Speiseröhre bahnt, wirkt sich jedoch sofort beruhigend auf mein Nervensystem aus.

Zum Glück hängt Kat wie Trance an Marvins Lippen, wodurch sie den Auftritt unseres heißen Lehrers gar nicht erst mitbekommt. Ich nippe noch einmal an meinem Drink, ehe ich mich wieder langsam zu Alexander und Frau Schönheitskönigin umdrehe.

Mittlerweile stehen die beiden eng umschlungen an der Garderobe neben dem Eingangsbereich, scheinen sich etwas zuzuflüstern, während sie ihre Jacken aufhängen. Alexander lächelt, bevor er der Frau einen Kuss auf die Wange haucht. Daraufhin entfernt sie sich von ihm und verschwindet hinter einer Gruppe von Menschen, wahrscheinlich auf dem Weg zur Damentoilette.

Bei dem liebevollen Umgang, den die beiden miteinander zu pflegen scheinen, zieht sich augenblicklich mein Herz zusammen. Es kann dir egal sein, er ist schließlich dein Lehrer, höre ich mein Unterbewusstsein tadeln, doch ich schiebe es beiseite und lasse stattdessen die beklemmende Enttäuschung zu, die sich wie ein riesiger Steinbrocken auf meine Brust legt und mir den Atem abschnürt.

„Ella, wo starrst du denn da hin?", höre ich Kat irgendwann fragen und schüttele entgeistert den Kopf.

„Hm. Was?"

Durch die hektische Bewegung schlägt der Alkohol mit voller Wucht zu, sodass ich mich am Thekenrand festhalten muss, um nicht vom Barhocker zu plumpsen.

„Hast du gerade ein Gespenst gesehen? Du bist ja ganz blass." Stirnrunzelnd beäuge ich die fragenden Gesichter von Kat und Marvin, ehe ich meinen Blick wieder zur Garderobe richte, anstatt zu antworten. Alexander ist jedoch nicht mehr zu sehen.

Fast schon hysterisch suche ich die Bar nach ihm ab, halte Ausschau nach seinem sexy Lächeln und seinen perfekten Haaren, die er heute etwas nach hinten gestylt trägt. Doch vergeblich - ich kann ihn nirgendwo entdecken. In diesem düsteren, menschenvollen Schuppen müsste ich mich schon in Bewegung setzen, um ihn überhaupt finden zu können. Das erscheint mir jedoch extrem albern, wenn ich bedenke, dass ich nur eine stinknormale Schülerin von ihm bin. Was würde ich ihm denn sagen, wenn ich ihn gefunden habe? Er wäre wahrscheinlich total genervt von meiner Anwesenheit, ich meine, wer wird schon gern in der Freizeit mit der Arbeit konfrontiert?

„Hey, Ella. Was ist denn auf einmal los mit dir? Du siehst ja aus wie ein aufgescheuchtes Reh. Heute ist doch gute Laune angesagt!", ruft Kat mir zu, bevor sie den Arm um meine Schulter legt und mich zur Theke herumwirbelt. Mary-Lou taucht wie aus dem Nichts vor mir auf und stellt drei Shots auf der schwarzlackierten Holzplatte ab, welche Marvin grinsend an Kat und mich verteilt. Ohne nachzudenken setze ich das Glas an die Lippen und schütte die durchsichtige Flüssigkeit mit einem Schluck herunter. Bei dem Feuer, das dadurch in meinem Rachen eröffnet wird, verziehe ich reflexartig das Gesicht.

„Schon gut. Ich glaube, ich habe nur zu viel getrunken", stoße ich gequält hervor, was Kat mit einem unsicheren Grinsen quittiert.

„Das hättest du vielleicht vor dem Havana sagen sollen. Sag mir Bescheid, wenn du frische Luft brauchst, oder irgendetwas anderes, okay?"

Damit sie sich keine Sorgen um mich machen muss, setze ich ebenfalls ein Lächeln auf, was sie ein wenig zu beruhigen scheint. Mit gleichmäßigen Atemzügen versuche ich derweil die anbahnende Übelkeit zu unterdrücken, die sich aus weiter Ferne mit Pauken und Trompeten ankündigt. Ob nun der letzte Drink oder Alexanders Auftritt verantwortlich für das flaue Gefühl in meinem Magen ist, kann ich jedoch nicht ausmachen. Wahrscheinlich eine tödliche Mischung aus beidem.

Kat und ihr Freund scheinen das Gesöff der Hölle wesentlich besser weggesteckt zu haben. Die beiden Turteltauben sind schon wieder vollständig in eine angeregte Unterhaltung vertieft, wohingegen ich meine Arme mit den Ellenbogen auf dem kalten Holz der Theke abstützen und meinen Kopf in die Hände legen muss, um die unsägliche Wirkung des Alkohols halbwegs ausbalancieren zu können. Ich fühle mich wie benebelt und muss für einen Moment die Augen schließen, damit ich nicht schon komplett schlappmache und nach Hause getragen werden muss. Die beiden Shots waren eindeutig zu viel, ich sollte mich ab jetzt lediglich an Wasser halten.

 

****

 

„Einen Sauvignon Blanc und ein Becks, bitte."

Ein wohliges Kribbeln durchfegt meinen Körper, als die rauchige, verführerische Stimme ertönt, die mir nur allzu vertraut ist und mein Selbstbewusstsein jedes Mal schreiend in die Flucht schlägt. Blitzschnell reiße ich die Augen auf und hebe den Kopf, um unmittelbar festzustellen, dass Alexander direkt neben mir an der Theke lehnt. Sichtlich überrascht entgegnet er meinem Blick, öffnet leicht den Mund.

„Isabelle?"

Und sofort bin ich wieder nüchtern.

Naja, zumindest gefühlt.

Wortlos drehe ich mich zu meiner Freundin um, da mein berauschter Zustand und der Kloß in meinem Hals keine ideale Ausgangssituation darstellen, um ein lässiges Gespräch mit meinem heißen Lehrer in einer Bar zu führen. Doch Kat hat mir mal wieder den Rücken zugekehrt und ist voll und ganz auf Marvin fixiert, der ihr gerade wild gestikulierend eine Geschichte erzählt. Ihr Lachen ist dabei so laut, dass es selbst die Musik übertönt.

Bevor ich mich wieder Alexander zuwende, atme ich einmal durch und versuche, den dicken Halskloß hinunterzuschlucken.

„Hallo", murmle ich schließlich, halte meinen Blick allerdings gesenkt. Auf die Zauberkünste seiner Augen kann ich gerade gut verzichten, ich bin ja sowieso schon ganz durcheinander. Jetzt fällt mir wieder ein, warum ich eigentlich so ungern unter Menschen bin - es bringt einen in Situationen, die man lieber vermeiden sollte.

„Ich muss mich noch daran gewöhnen, nicht mehr in Berlin zu sein. In diesem kleinen Dorf werde ich in Zukunft wohl nicht umherkommen, meine Schüler und Schülerinnen auch privat anzutreffen."

Trotz Alexanders aufgesetztem Lächeln entgeht mir die Schroffheit seiner Worte nicht. Dass ich mit meiner Vermutung recht behalten habe und er von meinem Dasein genervt ist, ist nicht zu überhören. Es versetzt mir einen Stich, macht mich gleichzeitig aber auch etwas wütend. Wenn er keine Lust auf seine Schüler hat, dann soll er sie doch auch nicht ansprechen, ganz einfach.

„Es wird auch für mich kein Spaß, hier andauernd auf meine Lehrer zu treffen", gebe ich schnippisch zurück und finde endlich den Mut, ihm direkt in die Augen zu sehen. Mit einem Mal bin ich dem Alkohol dankbar, dass er mich so großartig dabei unterstützt, mein Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten. Im nüchternen Zustand hätte ich mich wahrscheinlich noch für meine Existenz entschuldigt.

Sein Grinsen wird breiter. „Es scheint dir also wieder besser zu gehen?"

Ich nicke zustimmend und will gerade etwas erwidern, als wir von Mary-Lou unterbrochen werden, die Alexander mit einem zuckersüßen Lächeln die Getränke serviert. Beim Anblick des Weißweins überkommt mich erneut eine Welle der Übelkeit, weshalb ich ihren überschwänglichen Wimpernaufschlag ignoriere. Alexander drückt der Barfrau Zwanzig Euro in die Hand und signalisiert ihr mit einem herrischen „Stimmt so", dass sie ihre anschmachtenden Blicke unterlassen und sich wieder an die Arbeit machen soll. Ihre geknickte Miene entlockt mir beinahe ein Kichern, wobei sie doch eigentlich froh sein sollte, so viel Trinkgeld bekommen zu haben.

Nach einer Weile ist die Stimmung zwischen Alexander und mir etwas lockerer. Wir schaffen es sogar für ganze zehn Minuten, nicht in unser übliches, betretenes Schweigen zu verfallen. Mal wieder hänge ich an seinen Lippen, während er von seiner ersten Schulwoche erzählt, kann mich aber kaum auf die tatsächlich gesprochenen Worte konzentrieren. Zu sehr bin ich von seinen markanten Gesichtszügen eingenommen, die sich im Einklang seiner jeweiligen Mimik und Gestik verändern.

„Und wie war deine erste Woche? Hast du schon interessante Bekanntschaften machen können?", will Alexander dann wissen, wobei sein Mund von einem verräterischen, hinterlistigen Lächeln umspielt wird. Ja, dich, erwidere ich in Gedanken, werde ihm diese Genugtuung allerdings verwehren.

„Ja, schon die ein oder andere. Aber-", setze ich an, doch meine Stimme bricht, als ich plötzlich zwei Hände auf Alexanders Brust erkenne, die mit rotlackierten Fingernägeln offensichtlich nicht zu ihm gehören. Seine schöne Begleiterin taucht auf einmal hinter ihm auf und mustert mich mit Blicken, die ich nicht deuten kann. Es liegt weder etwas Boshaftes, noch etwas Freundliches darin.

Alexander wirkt resigniert, als sie ihm beherzt um den Hals fällt. „Da bist du ja, Alex. Ich habe dich schon überall gesucht."

Die Art, wie sie ihn beim Spitznamen nennt, kotzt mich an.

Sie kotzt mich an.

Sie soll verschwinden.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich uns an der Theke etwas zu trinken hole", gibt Alexander tonlos zurück. Anstatt seine eindringlichen Blicke zu erwidern, schaut die Blondine dann wieder mich an. Sie tritt einen Schritt vor, ehe sie die Hände in die Hüften stemmt und sich direkt vor mir aufbaut.

„Und wer bist du?"

Ihr patziger, unfreundlicher Tonfall bringt mich in Kombination mit ihren herablassenden Blicken immer mehr in Rage. Sie kennt mich überhaupt nicht, ich habe ihr nichts getan. Oder ist das etwa ihre normale Art, wenn sie neue Leute kennenlernt? Ich finde es schrecklich, dass es manche Menschen trotz ihrer ausgeprägten Intelligenz nicht schaffen, freundlich zueinander zu sein. Was unterscheidet uns nochmal von Tieren?

„Das ist Isabelle, eine meiner Schülerinnen", ergreift Alexander schließlich das Wort, ehe ich überhaupt antworten kann. Unvermittelt fällt die Frau in lautes, schallendes Gelächter, hält sich dabei demonstrativ mit der Hand an der Schulter ihres Freundes fest. Dabei wirft sie mir pausenlos diese arroganten Blicke zu, die ihre Abneigung mir gegenüber nicht besser zur Schau stellen könnten. Was ist ihr verdammtes Problem?

„Oh mein Gott, wie süß!", quiekt sie daraufhin und schnappt übertrieben hysterisch nach Luft. Meine Güte, als hätte sie gerade den Witz des Jahes gehört. Mit einer Miene, die hoffentlich "Was zum Teufel soll der Scheiß?" ausdrückt, stiere ich zu Alexander hinüber, auf dessen Stirn sich ebenfalls tiefe Falten gebildet haben. Verwirrt starrt er zwischen der Frau und mir hin und her, offenbar nicht wissend, was er dazu sagen soll.

„Eine Schülerin von Alex, wie niedlich", fährt die Schnepfe hämisch grinsend fort und hält mir ihre ausgestreckte Hand hin. „Ich bin Leonie. Seine Freundin."

Meine bisherige Befürchtung aus ihrem Mund bestätigt zu bekommen, fühlt sich an wie eine Ohrfeige. Außerdem hasse ich die Art und Weise, wie sie das Wort "Freundin" ausspricht. Als wäre sie etwas Besseres und hätte mehr Berechtigung als ich, sich hier in dieser Bar vollaufen zu lassen. Ich muss schlucken, tief ein- und ausatmen, als sie mich mit zu Schlitzen geformten, grünen Augen durchbohrt. Wahrscheinlich versucht sie, mich einzuschüchtern. Mit aller Kraft setze ich jedoch ein verkrampftes Lächeln auf und erwidere ihren Handschlag. Wenn auch nur sehr widerwillig, aber niemals werde ich vor dieser blöden Mistkuh klein beigeben. Im Augenwinkel sehe ich, wie Alexander seinen Mund öffnet, um etwas zu sagen, ihn dann aber wieder schließt.

„Isabelle, darfst du um diese Uhrzeit überhaupt hier sein?", fragt Leonie dann, und das Grinsen in ihrer Visage ist dermaßen provizierend, dass mir schlussendlich doch der Kragen platzt. Eine der vielen Nachteile, wenn ich Alkohol getrunken habe: ich bin eine theatralische Diva. Und wenn Alexander nicht mal dazu im Stande ist, Partei für mich zu ergreifen, ist er meine Aufmerksamkeit auch gar nicht wert.

Also stehe ich mit ausgestreckten Schultern und erhobener Nase vom Barhocker auf, greife dann nach meiner Handtasche auf der Theke und zupfe mein Oberteil zurecht. Kurz muss ich die Wirkung des Alkohols auspendeln lassen, aber zum Glück kann ich meine pseudo-perfekte Selbstsicherheit beibehalten. Schließlich hole ich zum Rückschlag aus.

„Woher nimmst du dir eigentlich das Recht, so respektlos zu mir zu sein? Wenn du mich schon als die dumme, unreife Schülerin darstellst, dann achte bitte zuerst auf dein peinliches Verhalten. Vielleicht würde dir ein bisschen Schulbildung ganz gut tun."

Und dann gehe ich ohne ein weiteres Wort.

 

****

 

Ich sitze auf meinem Platz der letzten Reihe im Klassenzimmer. Verwirrt schaue ich mich um und halte ruckartig inne, als ich Alexander erkenne, der gegen das Pult gelehnt auf der anderen Seite des Raumes steht. Er stiert mit dunkelbraunen, funkelnden Augen direkt in mein Gesicht, verzieht dabei jedoch keine Miene. Selbst seine Mundwinkel verharren reglos an Ort und Stelle. Ich lege den Kopf etwas schief, während ich seinem Blick standhalte, um irgendeine Reaktion von ihm abzuringen, doch nichts geschieht. Zögernd stehe ich auf, da ich der Anziehungskraft, welche unmittelbar von ihm ausgeht, nicht mehr widerstehen kann. Ich werde von ihm angezogen wie eine Motte vom Licht.

Bis auf das Ticken der Uhr an der Wand und meinen tapsigen Schritten auf dem Fußboden, ist es mucksmäuschenstill. Ich versuche, so flach zu atmen wie nur möglich, was mir allerdings mit meinem wummernden Herzschlag gar nicht so leichtfällt. Je näher ich Alexander komme, desto mehr überwältigt mich seine einzigartige Schönheit. Die Ärmel seines weißen Hemdes sind hochgekrempelt, die Knopfleiste zur Hälfte geöffnet, was mir einen minimalen Blick auf seine makellose Brust gewährt. Ich starre auf das Tattoo auf seinem Unterarm und kann ein von Rosenranken umrahmtes Auge erkennen.

Erst als sich Alexander vom Pult abstößt und einen Schritt auf mich zumacht, gelingt es mir, meinen gebannten Blick davon zu lösen und mich wieder seinem Gesicht zuzuwenden. Plötzlich steht er so nah vor mir, dass ich die Wärme seines Körpers spüren kann, seinen sanften Atem auf meiner Haut.

„Was machen wir hier?", flüstere ich, doch durch die Leere des Raumes nimmt das Echo meiner Stimme an Lautstärke zu. „Haben wir Pause?"

Alexander lacht leise, was sich beinahe wie ein Kichern anhört, bevor er seine Hand auf meine Wange legt und mit dem Daumen darüberstreicht. Meine Haut glüht förmlich unter den zarten Berührungen seiner Finger, scheint vollkommen in Flammen aufzugehen. Mein Herz schlägt mir mittlerweile bis zum Hals, und fast habe ich Angst, dass es durch meinen Mund direkt in sein Gesicht springen könnte.

„Wir machen uns glücklich, Isabelle", antwortet er schließlich, doch seine Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen. Ich fühle mich wie versteinert und kann einfach nicht anders, als mich dem Charme dieses eindrucksvollen Mannes zu ergeben.

Ich weiß nicht, wie mir geschieht, als er wie aus heiterem Himmel meine Oberschenkel packt und mich hochhebt. Langsam trägt er mich zum Pult und lässt mich darauf nieder, während meine Beine immer noch um seinen Körper geschlungen sind. Mit einem Ruck zieht er mich näher zu sich, wodurch sein Schritt an den meinen gepresst wird. Es erregt mich, die harte Beule in seiner Hose zu spüren, und mein Unterleib explodiert fast bei der heftigen Woge der Ekstase, die mich gnadenlos durchspült. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals, um ihm noch näher sein zu können, fahre mit den Fingerspitzen seinen Nacken entlang, bis hin zu seinem Haaransatz. Ein dunkles Raunen entrinnt seiner Kehle, das Feuer in seinen Augen lodert und blendet mich.

Als er im nächsten Moment seine Lippen auf die meinen presst, bin ich für einen kurzen Augenblick atemlos. Sie sind weich und voll, schmecken himmlisch, süß, und irgendwie nach Minze. Immer wieder haucht er Küsse auf meine Unterlippe, nimmt sie leicht zwischen die Zähne und zieht daran. Dann umspielt er meine Zunge mit der seinen, wirbelt in meinem Mund umher, ist dabei aber trotzdem so sanft und liebevoll. Instinktiv lasse ich mein Becken kreisen, reibe dadurch immer wieder an seinem Penis entlang, was ihn an meinen Lippen aufstöhnen lässt.

„Du bist so schön", flüstert er und beginnt ebenfalls, sich rhythmisch zum Takt meiner Bewegungen zu wiegen. Mit der einen Hand greift er in meine Haare und zieht neckisch daran, wohingegen er mit der anderen unter mein Shirt fährt und die Haut an meinem Rücken streichelt. Immer weiter schaukeln wir uns gegenseitig höher in die unendliche Sphäre der Leidenschaft. Ich spüre, wie mein Slip nach und nach feuchter wird und sehne mich danach, dass er mich genau an dieser Stelle berührt. Die Tatsache, dass das, was wir hier tun, eigentlich verboten ist, macht die ganze Sache nur noch viel erregender.

Doch plötzlich ertönt eine laute, schrille Sirene, weshalb ich schlagartig von Alexander ablasse. Der grelle Ton erzeugt ein schmerzendes Piepen in meinen Ohren, das mich für den Bruchteil einer Sekunde außer Gefecht setzt. Zusammengekauert liege ich auf der Schreibtischplatte, nicht fähig, etwas gegen den viel zu lauten Krach unternehmen zu können. Hilfesuchend schaue ich zu meinem Lehrer, dessen Gesicht inzwischen ganz schmerzverzerrt ist. Und dann beginnt er, sich Stück für Stück in Luft aufzulösen.

„Alexander! Nein, bitte geh nicht weg!", schreie ich, will nach ihm greifen, doch er rinnt wie Sand durch meine Finger.

Plötzlich ist es schwarz, und ich bin vollkommen allein.

Der ohrenbetäubende Lärm der Sirene verwandelt sich in das Klingeln meines Weckers, als ich panisch die Augen aufschlage.

9| Schweigen ist Silber, Reden ist Gold

 

9.

Das lauwarme Wasser prasselt wohlig sanft auf meine Haut nieder. Durch den großen Duschkopf, der direkt über mir an der Decke montiert ist, fühlt es sich an wie ein sommerlicher Regenschauer. Dichte Dampfschaden schweben in der Luft, das Glas der durchsichtigen Duschwände ist beschlagen. Ich beobachte die Tropfen, die an der Scheibe hinunterrinnen, fahre sie mit den Fingerspitzen nach. Schon seit fünf Minuten verharre ich reglos unter dem Wasserstrahl, möchte all die Sorgen und negativen Gedanken von mir abwaschen. Ich bin mal wieder spät dran, doch die Gewissheit, Alexander nachher im Unterricht zu begegnen, hält mich in der schützenden Dusche fest.

Am liebsten würde ich ganz zu Hause bleiben, aber das würde meine Mutter nicht zulassen. Nicht ohne Grund, und ich kann ihr schlecht sagen, dass ich blaumachen will, weil ich nicht auf meinen attraktiven Lehrer treffen möchte. Sie ist sowieso schon besorgt, weil ich das ganze Wochenende schmollend im Bett verbracht habe. Nicht mal Valentin habe ich an mich herangelassen, obwohl er mehrmals versucht hat, mich per Handy zu erreichen. Ich hätte ihm jedoch von dem Zusammentreffen mit Alexander in der Bar erzählt, und er hätte daraufhin Dinge wissen wollen, die ich nicht erklären kann. Oder nicht erklären will. Ich verstehe meine Gedanken und Gefühle ja selbst nicht.

Kat habe ich mit einer jämmerlichen SMS abgespeist, in der ich mich halbherzig entschuldigt und sie darum gebeten habe, mit der Inquisition bis Montag, - also heute -, zu warten. Nach meinem Abgang am Freitagabend wird sie Alexanders Anwesenheit bemerkt haben, was bedeutet, dass ich mich diesmal nicht mit Ausreden retten kann. Wie ich ihr allerdings erklären soll, warum ich fluchtartig aus der Bar gestürmt bin, weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht mal selbst, warum ich es getan habe. Vielleicht weiß ich es auch, aber will es nicht wissen. Aber vielleicht ...

Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinem konfusen Gedankenspiel. Ich will gerade antworten, doch im nächsten Moment steht meine Mom schon mitten im Raum. Wie ich es hasse, wenn sie das tut. Warum klopft sie dann überhaupt?

„Schatz, du musst in zwanzig Minuten im Unterricht sitzen. Du bist jetzt wohl sauber genug."

Ihr Lächeln ist freundlich, gleichzeitig aber auch irgendwie auffordernd. Schnell drehe ich das Wasser ab und schlüpfe in das übergroße Handtuch, welches sie mir entgegenhält. Dann greife ich wortlos zur Zahnbürste und drücke etwas Paste darauf, wobei Mom jeden meiner Schritte genau beobachtet.

„Was denn? Ich bin ja gleich fertig." Mein Ton klingt patziger als beabsichtigt, aber sie soll einfach merken, dass sie mich in Ruhe lassen soll. Ein Was-ist-denn-nur-los-Gespräch reicht mir für heute.

Zum Glück scheint meine Mutter zu verstehen, denn sie verlässt das Badezimmer mit einem tiefen Seufzer und ohne weiteren Bemerkungen. Damit mein schlechtes Gewissen nicht weiter anschwillt, versuche ich ihre besorgte Miene beiseite zu schieben und mich stattdessen auf meinen Stylingprozess zu konzentrieren. In Windeseile sind meine Zähne geputzt, meine Augen getuscht und meine Haare geföhnt, woraufhin ich zurück in mein Zimmer hechte, um mir schnell ein paar Klamotten überzuziehen.

Im Eifer des Gefechts entscheide ich mich für ein schwarzes Leinenkleid. Es reicht mir bis zu den Knien und ist an der Brust mit goldenen Perlen verziert, sodass sich ein mosaikartiges Muster ergibt. Weil es aber noch sehr kühl sein kann, wenn die Sonne hinter den Wolken verschwindet, ziehe ich mir auf dem Weg nach unten meine Lederjacke über. Als ich daraufhin keuchend in der Küche ankomme, richten sich Robin und Betty gleichzeitig auf und starren mich an.

„Soso, Miss Chaos hat es also auch endlich geschafft", bemerkt Mom mit einem schnippischen Unterton, was meinen Bruder zum Lachen bringt. Ich werfe den beiden finstere Blicke zu, kann den bissigen Kommentar, der mir auf der Zunge liegt, gerade noch für mich behalten.

Stattdessen mache ich kehrt und marschiere schnaubend auf die Haustür zu, um endlich aus diesem Irrenhaus verschwinden und in dem nächsten einchecken zu können. Doch gerade, als ich nach dem Türknauf greifen möchte, werde ich zurückgehalten und spüre eine Hand an meiner rechten Schulter. Ich wirbele herum, will Protest leisten, bis ich in die fürsorglichen, ruhigen Augen meiner Mutter schaue. Ihr hämisches Grinsen ist verschwunden, ich erkenne nur noch Fürsorge in ihrem Gesicht.

Erst jetzt fällt mir auf, wie wunderschön sie heute aussieht. Ihr langes, hellbraunes Haar, das nach all den Jahren immer noch nicht an Glanz verloren hat, hat sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, was ihr irgendwie etwas Jugendliches verleiht. Genau wie ich trägt sie ein luftiges Sommerkleid, allerdings eine sittsame, farbenfrohere Variante. Das bunte, florale Muster strahlt förmlich, verwandelt den Flur in eine schillernde Blumenwiese. Zusätzlich hat sie etwas Make-Up aufgelegt, was ihre minimalen Falten verdeckt und sie feminin wirken lässt, irgendwie mädchenhaft. Ihre neunundvierzig Jahre sieht man ihr einfach nicht an. Ich hoffe, dass ihre Gene mich nicht überspringen und mir im fortgeschrittenen Alter ebenfalls dieses wunderschöne Aussehen schenken werden.

„Schatz, was auch immer dir im Moment solchen Kummer bereitet, glaube mir, es wird wieder besser."

Mom's Stimme ist ganz ruhig, beinahe flüsternd. Ich falle ihr unvermittelt in die Arme, schluchze lautstark. Ich weine ohne Tränen, bin ihr so dankbar für ihre Solidarität, dass mir mein ruppiges Verhalten von vorhin sofort leidtut. In Anbetracht dessen, was sie im letzten Jahr aushalten musste, - und damit meine ich nicht nur den Tod ihres Ehemannes, sondern auch die hoffnungslose Trauer ihrer Kinder -, kommen mir meine Probleme mit einem Mal ziemlich kläglich vor. Wahrscheinlich mache ich mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten; aber ich kann diese biestigen, hinterlistigen Insekten einfach nicht ausstehen.

„So, und jetzt bringe ich dich zur Schule. Du musst in ... ", fährt Mom fort und blinzelt auf ihre goldene Armbanduhr, „jetzt, du musst jetzt im Unterricht sein. Also los."

Ohne noch eine Sekunde zu verschwenden, schnappe ich mir meine Tasche vom Boden und rufe Robin ein „Tschüss, Bruderherz" zu, ehe Betty und ich zur Tür hinausstürmen und zum Auto sprinten. Der Anblick muss wirklich selten dämlich aussehen, denn wir beide sind ungefähr so sportlich wie eine Scheibe Toastbrot.

Wir haben mittlerweile April, weswegen Mom offiziell die Cabrio-Zeit eingeläutet hat. Wir flitzen in ihrem alten Mercedes über die Straßen, wobei mir mein Haar wild durchs Gesicht fegt. Hier und da lässt Betty sich zu einem waghalsigen Überholmanöver hinreißen, damit ich nicht allzu spät komme. Es sind allerdings eh schon sieben Minuten, weshalb mir diese Alarm für Cobra 11- Stunts übertrieben vorkommen. Man könnte ja meinen, eine von uns gebäre gerade ein Kind, weshalb wir in Überschallgeschwindigkeit zum Krankenhaus müssen.

Ich werde vom Anschnallgurt in den Sitz gedrückt, als Mom eine Vollbremsung hinlegt, um die rote Ampel vor uns nicht zu überfahren.

„Man Betty, hat Robins abenteuerliches Fahrverhalten schon auf dich abgefärbt?", frage ich genervt, mit einem ironischen Unterton. Meine Mutter fährt ihren Kopf herum, stiert mich mit aufgerissenen Augen an.

„Betty? Okay, irgendwas stimmt wirklich nicht mit dir, wenn du mich sogar schon beim Namen nennst. Also, spuck's aus, Liebes."

Verdammt, darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus. Schnell wende ich den Blick von ihr ab, schaue aus dem Beifahrerfenster, damit meine Augen mich nicht verraten können. Wenn es darum geht, die Gefühle ihrer Kinder allein anhand der Gestik und Mimik zu erkennen, ist meine Mutter eine wahre Hellseherin. Sie hat mir damals sogar mein erstes Mal an der Nasenspitze abgelesen.

„Ist es wegen deinem Vater?", fügt sie dann hinzu, eine Spur leiser als ihr Gesagtes zuvor.

„Nein, es ist nichts wegen Dad." Als die Ampel auf Grün springt, stoße ich einen dunklen Seufzer aus. „Es ist nur ... wegen diesem Jungen an der Schule."

Das war's. Nun habe ich mich endgültig zum Mittelpunkt ihres Interesses degradiert. Ich hasse Mom dafür, dass ich in ihrer Anwesenheit nicht lügen kann. Zu oft habe ich es versucht, doch jedes Mal haben mich meine Schuldgefühle so stark angeknabbert, dass ich keine Stunde später heulend und entschuldigend in ihren Armen lag.

„Aha, ein Junge also, ich verstehe. Erzähl mir doch mal von ihm."

Na super, das hast du jetzt davon, Ella. Warum kannst du auch deine dumme Klappe nicht halten? Ich wollte die Anzahl der heutigen Verhöre doch eigentlich auf ein Minimum beschränken. Ich atme tief durch und lege mir die Worte mental zurecht, bevor ich antworte. Wenn ich mich jetzt verplappere, habe nicht nur ich Riesenärger am Hals.

„Er ... ist nett", beginne ich vorsichtig. „Und er sieht wahnsinnig gut aus." Mom schenkt mir ein strahlendes Lächeln, welches ich unwillkürlich erwidern muss. Bei ihren zauberhaften Grübchen, die sie glücklicherweise an Robin vererbt hat, bin ich einfach immer hin und weg.

„Ach Ella, jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Wie habt ihr euch kennengelernt? Wie alt ist er?"

Zum gefühlt zwanzigsten Mal für heute seufze ich und lasse mich nach hinten in den Polstersitz fallen. Mom wird ja doch keine Ruhe geben. Man sollte lieber keine schlafenden Hunde wecken, Isabelle.

„Na gut, Mom. Er hat mich an meinem ersten Tag vor Nina gerettet, sozusagen. Diese bösartige, furchtbare Klassenkameradin, von der ich dir erzählt habe. Er hat dafür gesorgt, dass sie mir mein Handy wiedergegeben hat. Und er ist etwas älter als ich, aber ich habe Deutsch und Englisch mit ihm zusammen."

Ha, das klappt ja besser als ich dachte. Anhand der Details, dir ich ihr preisgebe, würde sie niemals auf die Idee kommen, dass es sich bei dem Jungen nicht um einen Mitschüler handelt. Und gelogen habe ich wiederum auch nicht. Manchmal überrasche ich mich selbst. Eigentlich immer dann, wenn ich mal nichts Dummes anstelle.

„Oh, ein wahrer Held also?", lacht Betty, als wir gerade in der Straße einbiegen, in der sich auch die Schule befindet. „Du musst mir nachher unbedingt mehr davon erzählen, Schatz."

„Ein Held ist er wahrscheinlich nicht, aber auf jeden Fall etwas Besonderes."

Plötzlich sehe ich den Traum von letzter Nacht vor meinem inneren Auge, spüre Alexanders Küsse auf meiner Haut. Eine heftige Gänsehaut durchfegt mich, die mir einen intensiven, prickelnden Schauer über den Rücken jagt.

Als Mom schließlich an der Bordsteinkante vor der Schule hält, legt sie eine Hand auf mein Knie und drückt sanft zu, was mich augenblicklich ein wenig beruhigt. Ich verstehe einfach nicht, warum meine Gefühle in letzter Zeit derartig durchdrehen. Nicht mal nach dem schwarzen Tag im letzten Jahr habe ich mich so gefühlt. Ich war traurig, klar, aber meine Trauer war irgendwie geordnet, transparent, ich habe sie nachvollziehen können. Aber dieses Durcheinander an Emotionen, das ich jetzt empfinde, wirft nur Fragen in mir auf. Fragen, vor dessen Antworten ich mich womöglich fürchten sollte.

„Du musst jetzt wirklich los, mein Schatz. Aber eins noch. Egal, aus welchem Grund dich dieser Junge offensichtlich traurig macht, es wird alles wieder gut. Ich bin immer für dich da, hast du verstanden? Gemeinsam haben wir doch bisher jede Hürde gemeistert."

Statt etwas zu erwidern, falle ich ihr dankbar um den Hals und spüre dabei ihr Lächeln an meiner Haut.

„Danke. Bis später, Mom", flüstere ich ihr zu, ehe sie nickt und mich wieder freigibt.

„Bis nachher, Liebling. Schreib mir, wann du Schluss hast, dann hole ich dich ab und wir können etwas unternehmen. Ich habe heute frei."

Voller Vorfreude willige ich ihrem Vorschlag ein. Ein intensives Gespräch mit Mom hat schon so gut wie jedes Problem beiseitegeschafft. Selbst mit den simpelsten Worten gelingr es ihr, meine Motivation und Hoffnung aus der Reserve zu locken. Ohne ihren moralischen Beistand hätte ich schon so einige Male einfach aufgegeben.

Sie ist der Jackpot meines Lebens.

 

****

 

„E-Entschuldigen Sie die Verspätung. Ich ... Ich habe verschlafen", stammele ich schwer atmend. Herr Thiele beäugt mich über den Rand seiner Brille hinweg, während ich die Blicke der Klasse zu ignorieren versuche. Ausnahmsweise habe ich mal Glück, denn anstatt mir einen Vortrag über Disziplin und Pünktlichkeit zu halten, so wie es die Lehrer an meiner alten Schule gern getan haben, lacht er mich breit an.

„Kein Problem, Fräulein Lorenz. Das passiert selbst den Besten. Nur sollte es nicht zur Gewohnheit werden."

Ich zwinge mich zu einem Lächeln und versichere ihm, dass weitere Verspätungen nicht mehr vorkommen werden. Haha, guter Witz.

„Sehr gut. Dann setzen Sie sich bitte, sodass wir mit dem Unterricht fortfahren können. Ihre Mitschüler und ich hatten gerade eine äußerst spannende Diskussion über die Auflösung der x-Funktion, die Sie auf Seite dreiundsechzig Ihres Buches finden werden."

Ich nicke nur und verziehe mich so schnell wie möglich auf meinen Platz in der letzten Reihe, wo Kat mich bereits mit durchbohrenden Blicken erwartet.

„Ich wusste ja gar nicht, dass dir Zuspätkommen und wortlos Abhauen so gut liegen, Isabelle", zischt sie, direkt nachdem ich meine Utensilien auf den Tisch befördert habe. Bitte nicht hier. Nicht mit so vielen Zeugen.

„Kat, können wir darüber nicht in der Pause reden? Ich will das sicher nicht hier mit dir besprechen." Ich mache eine Geste Richtung Klasse und Herrn Thiele, woraufhin Kat ihre Lippen schürzt und die Arme vor der Brust verschränkt.

„Na schön. Aber keine Ausreden oder plötzliche Fluchtmanöver. Ich habe am Freitag nach deinem Verschwinden mit Herrn Jansen gesprochen, der wie aus dem Nichts neben mir an der Theke saß. Du hast mir einiges zu erklären, Schätzchen."

Ihre blauen Augen leuchten auf, und sofort fühle ich mich wie ein Kaninchen, das gleich von einer Schlange verspeist wird. Hoffentlich wird sie meine verworrene Gefühlswelt besser verstehen als ich.

Den Rest der Stunde verbringen wir schweigsam. Hin und wieder registriere ich Kats eindringlichen Blick im Augenwinkel, bringe es aber nicht fertig, ihn zu erwidern. Ich weiß ja nicht, was Alexander ihr über mich gesagt hat, aber ich bin wahrscheinlich jetzt schon bis auf die Knochen blamiert. Immerhin bin ich davon gerannt wie eine eifersüchtige, cholerische Kuh.

Als der Gong ertönt will ich aufstehen, doch Kat hält mich am Arm und drückt mich wieder in den Sitz. Es dauert keine zwei Minuten, bis auch der Letzte unserer Mitschüler den Raum verlassen hat.

„Also, Ella. Warum bist du ohne etwas zu sagen abgehauen? Alexander hat gesagt, dir ginge es nicht so gut, aber du hättest mir doch Bescheid geben sollen. Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich um dich kümmere, falls etwas ist", platzt es aus meiner Freundin heraus. Ich blinzele, benötige ein paar Sekunden, um zu realisieren, was sie gerade gesagt hat. Alexander hat sich also eine Ausrede einfallen lassen, sehr interessant. Und obwohl dies die perfekte Gelegenheit ist, um mich mal wieder aus der Affäre zu ziehen, entscheide ich mich trotzdem für die Wahrheit. Kat hat sie sich mittlerweile verdient.

„Alexander war wohl nicht ganz ehrlich zu dir", gebe ich also zu. Ich schaffe nicht mehr als ein Flüstern, aus Angst, irgendjemand könnte mithören. Kat legt ihre Stirn in tiefe Falten, ehe ich fortfahre.

„Mir ging es zwar nicht gut, das stimmt, aber nicht wegen des Alkohols. Alexanders ... Freundin hat sich mir gegenüber ziemlich daneben benommen, und ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen als die Flucht zu ergreifen."

„Moment mal", unterbricht sie mich. „Was meinst du mit daneben benommen?"

Ich schlucke hörbar. „Naja, sie war total respektlos. Hat mich ausgelacht, als Herr Jansen mich als seine Schülerin vorgestellt hat, und mir die ganze Zeit giftige Blicke zugeworfen. Außerdem hat sie voll übertrieben an Alexander rumgefummelt, nur um mir zu beweisen, dass er quasi ihr gehört. Total dämlich."

Kat muss schmunzeln. Es sieht aus, als müsste sie sich sogar ein Lachen verkneifen. „Und warum genau stört dich das?"

Ich setze eine fragende Miene auf, sodass sie hinzufügt: „Naja, offenbar stört es dich, dass sie an ihm rumgefummelt hat, und ich frage mich wieso. Es sollte dir nämlich eigentlich egal sein, wer diese Frau ist und was sie tut oder von dir hält, schließlich ist Alexander unser Lehrer."

Plötzlich fühle ich mich ertappt. Meine Wangen beginnen zu glühen, mir ist ganz warm. Wieso mich das stört? Verdammt, keine Ahnung! Ich will raus hier.

„Kat, können wir das Thema bitte beenden? Ich war einfach genervt, weil sie mich so respektlos und herablassend behandelt hat, mehr nicht. Und jetzt lass uns bitte für den Rest der Pause nach draußen gehen, okay?"

Meine Freundin stimmt nur sehr widerwillig zu, lässt sich aber schließlich Richtung Flur mitziehen. Ich versuche, die angespannte Stimmung etwas aufzulockern, indem ich sie nach ihrem restlichen Freitagabend mit Marvin frage. Es scheint Wirkung zu zeigen, denn sofort legt sich ein Strahlen in ihr Gesicht und ihre Augen blitzen kaum merklich auf.

„Es war wunderbar!", flötet sie, und berichtet daraufhin von lustigen Gesprächen, intimen Berührungen und heißen Küssen. Ich bin dermaßen von ihren Worten eingenommen, dass ich die Menschen im Flur gar nicht mehr wirklich wahrnehme. Bis ich plötzlich am Arm gepackt und aus der Menge gezogen werde.

Erschrocken hebe ich den Kopf und blicke in Alexanders düsteren, zusammengekniffenen Augen.

„Was soll das? Was willst du hier?", fahre ich ihn an, beiße mir jedoch im nächsten Moment auf die Zunge. Erst denken, dann sprechen, rufe ich mir in Erinnerung. Alexander zieht die Nasenpartie kraus, seine Mundwinkel zucken dezent.

„Ich arbeite hier?" Nun lässt er sich doch zu einem eindeutigen Lächeln hinreißen.

„Ella, ich warte am Eingang auf dich", höre ich Kat sagen, doch ich bin voll und ganz auf den Mann vor mir konzentriert. Als sie dann im Treppenhaus verschwindet, greift er erneut meinen Arm und zieht mich mit sich. Schweigend trotte ich hinter ihm her, bis wir schließlich im hinteren Teil des Flures vor einer Tür stehen bleiben.

Mit unauffälligen Blicken über die Schulter vergewissert er sich, dass uns niemand beobachtet, ehe Alexander den Raum aufschließt und uns hineinführt. Es ist still, nachdem die Tür ins Schloss fällt, und wir sind vollkommen allein. Bilder meines Traumes spucken durch meinen Kopf, doch ich versuche sie mit aller Macht zu verdrängen. Ich bin mir sicher, dass er meinen Herzschlag hören kann.

Vorsichtig und darauf bedacht, keinen Lärm zu veranstalten, setze ich mich auf einen Stuhl in der ersten Reihe. Alexander folgt mir stumm und lässt sich schließlich auf dem Platz direkt neben mir nieder. Sein Atmen geht stoßweise, er scheint nervös.

„Ella, ich glaube, wir beide müssen uns mal ausführlich unterhalten", raunt er, mit tiefer, kratziger Stimme.

Nein, bitte nicht.

10| Come as you are

 

10.

„Warum? Wir haben nichts zu bereden", gebe ich zurück. Meine Stimme hat mittlerweile an Kraft und Ausdruck verloren, weswegen ich mich anhöre wie ein eingeschüchtertes Kind.

Hier mit Alexander allein zu sein fühlt sich unbehaglich an, aber gleichzeitig auch aufregend. Mein Magen scheint einen Salto nach dem anderen zu schlagen, mein Herz hämmert in einem schnellen, stetigen Takt gegen meinen Brustkorb. Ein Kribbeln fährt über meine Kopfhaut, breitet sich dann über meinen gesamten Körper aus. Ich versuche, meine Atmung so flach wie möglich zu halten, um meine Ohnmacht stabilisieren zu können. Dabei bin ich Alexander so nah, dass ich meine Finger nur leicht ausstrecken müsste, um ihn zu berühren. Schon wieder überkommt mich der einzige Impuls, den ich in derartig angespannten Situationen empfinden kann - nämlich der Drang nach Flucht. Doch wie immer, wenn ich der Anwesenheit dieses Mannes unterlegen bin, kann ich mich nicht bewegen, bin wie eingefroren. Verfluchter Teufelskreis.

Anstatt etwas zu erwidern, sieht er mich nur an, bedeckt jeden Zentimeter meines Gesichts mit studierenden Blicken. Die Farbe seiner Augen wechselt dabei von dem gewohnten Karamellton in ein dunkleres Haselnussbraun, was ihm etwas Bedrohliches, Dominantes verleiht. Ich spüre, wie meine Wangen erröten, kann mich ihm aber nicht entziehen. Ihn nicht anzusehen fühlt sich an wie ein Verlust, den ich nicht ertragen kann.

„Ella, es tut mir leid. Schon wieder", erklärt Alexander schließlich. „Ich ... hätte nicht zulassen sollen, dass Leonie dich so abschätzig behandelt. Ich möchte mich auch in ihrem Namen bei dir entschuldigen."

Jetzt ist er derjenige, der aussieht wie ein kleines Kind, das gerade Ärger bekommt. Seine Lippen sind zu einer schmalen, steifen Linie geformt, seine Pupillen fixieren irgendeinen Punkt auf dem Tisch, an dem wir sitzen. Seufzend stützt er seinen Kopf auf dem Ellenbogen ab, fährt sich mit der Handinnenfläche durchs ganze Gesicht, sodass es durchblutet wird und leicht rot anläuft. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich die dezenten Ringe unter seinen Augen, die Alexander kraftlos und müde erscheinen lassen. Viel geschlafen hat er letzte Nacht wohl nicht. Genau wie ich.

„Auch, wenn ich nicht glaube, dass sich dieses blonde Gift jemals bei mir entschuldigen würde, aber ... schon okay."

Alexander deutet ein Lächeln an und ich tue es ihm gleich. Es kommt mir unangebracht vor, dieses Gespräch noch weiter zu vertiefen, wo er sich doch eigentlich überhaupt nichts hat zuschulden kommen lassen. Er ist lediglich mit seiner Freundin ausgegangen, und meine diesbezügliche Unzufriedenheit sollte nicht an ihm abprallen.

„Wahrscheinlich nicht, das muss ich zugeben. Sie hat sich selbst zehn Minuten nach deinem Verschwinden über dich aufgeregt. Das war ziemlich ... lustig." Sein Lachen ist ehrlich, strahlend, und gewährt mir einen kurzen Blick auf seine makellosen, weißen Zähne.

„Ich ... Es tut mir auch leid, Alexander. Mein beleidigter Abgang war wohl ziemlich ... theatralisch, würde ich mal sagen." Sein Grinsen wird breiter, und kurz frage ich mich, ob er wohl schon Schmerzen in den Wangen hat.

„Finde ich nicht", entgegnet er dann und fährt sich mit der Hand durch die seidigen Haare. „Du hast genau das ausgesprochen, was ich in dem Moment gedacht habe. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Dein Abgang war nicht theatralisch, sondern schlichtweg genial. Am liebsten würde ich dir dafür 'ne Eins geben."

Mein Lächeln erstirbt und wird von der unbändigen Nervosität weggetragen, die mir plötzlich die Brust zuschnürt. Alexander Adonis Jansen betitelt etwas, das ich getan habe, als genial. Ich fasse es nicht. Diese winzige, eigentlich unbedeutende Tatsache löst wahrscheinlich mehr Glücksgefühle in mir aus, als sie es überhaupt sollte, aber ich genieße jedes einzelne davon. Für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich mich wie eine Königin.

„Aber mal im Ernst", fährt er mit gesenkter Stimme fort. „Du sollst nicht denken, dass ich Leonies herablassendes Verhalten in irgendeiner Weise toleriere. Ich meine, du bist doch ..."

Mitten im Satz bricht er ab, wendet seinen Blick daraufhin schnell zum Fenster, ganz weit weg von mir. Wie ich es hasse, abgrundtief hasse, wenn jemand etwas anfängt, aber es nicht zu Ende erzählt. Dann soll man doch erst gar nicht damit anfangen, um die Neugier des Gegenüber nicht zu wecken.

„Ich bin was?", frage ich also mit etwas mehr Nachdruck, woraufhin Alexander lediglich mit den Achseln zuckt.

„Nichts, schon gut."

Und hiermit sollte ich die ganze Sache auf sich beruhen lassen. Ich sollte einfach gehen und sein merkwürdiges Verhalten in den Untiefen meines Hirns verblassen lassen - aber ich kann nicht. Die Worte sprudeln mir förmlich aus dem Mund.

„Und warum interessiert dich überhaupt, was ich über dich denken könnte?"

Sofort beiße ich in die Innenseiten meiner Wangen, um mich nicht noch weiter in die Peinlichkeit hineinzureiten, die mich ohnehin schon so präsent umgibt. Alexander reißt die Augen auf, lässt für eine Millisekunde die gefasste Maske fallen, die er immer noch aufrechtzuerhalten versucht. Ich sehe es ihm an, wie angestrengt er nachdenkt, wie er nach passenden Worten sucht. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er sie schließlich gefunden hat.

„Weil du eine intelligente Frau bist, Isabelle. Und weil ich glaube, dass das eine ziemlich interessante Zusammenarbeit zwischen uns werden kann, weshalb ich Missverständnisse vermeiden möchte, die dem vielleicht im Weg stehen könnten."

Er wendet seinen Blick unvermittelt von mir ab, schaut erneut zum Fenster. Er wirkt gedankenversunken, fast schon traurig. Seine Atmung geht jetzt langsamer, tiefer, als müsste er sich zusammenreißen. Aber weswegen?

„Danke", erwidere ich zaghaft. „Vor allem für die Bezeichnung Frau." Alexander runzelt die Stirn, schüttelt ganz leicht seinen Kopf, während er immer noch im tiefen Blau des Himmels versunken ist. Schon wieder eine dieser unbewussten Gesten.

„Wieso? Du bist volljährig, also wieso sollte ich dich nicht als Frau bezeichnen?"

Ich muss automatisch lächeln, doch seine Lippen bleiben stumm. Seine markante, emotionslose Miene gleicht der einer Statue aus weißem Marmor. Mein Lehrer scheint offenbar ein altbekanntes Gefühlschaos in sich zu tragen, denn die unzähligen Facetten seiner Gesichtszüge sind so wechselhaft wie die Trauerphasen meines Chamäleons. Sie reichen von strahlend fröhlich bis tieftraurig, von zitronengelb bis tiefschwarz. Innerlich muss ich darüber lachen, dass es genau dieser Aspekt ist, der sich als unsere erste Gemeinsamkeit herausfiltert.

„Wenn sich nur mal alle an die gesetzlichen Richtlinien halten würden. Für die meisten meiner Mitmenschen bin ich wohl das traurige, naive, inkompetente Mädchen, das nie über den Tod ihres Vaters hinwegko-"

Ich beende den Satz nicht, lege stattdessen zwei Finger an meine Unterlippe. Auf der einen Seite ist es eine reflexartige Geste der Empörung, auf der anderen Seite schwelge ich kurz in der Hoffnung, damit meine ausgesprochenen Worte wieder einfangen zu können. Verdammt, wie konnte das passieren? So gedankenlos bin selbst ich nicht, normalerweise. Aber das, was Alexander mit meinen Nervenbahnen anrichtet, ist auch nicht normal. Zumindest nicht meine Definition davon. Langsam kommt er mir vor wie ein böser Magier, der allein durch seinen paralysierenden Augenausdruck die dunkelsten Geheimnisse seiner Opfer entlocken kann.

Nun richtet er den Blick wieder genau auf mich, hält immer noch die ausdruckslose Mimik in seinem Gesicht gefangen. Welches Gefühl sich diesmal hinter seiner steinernen Fassade versteckt, kann ich jedoch nicht deutlich erkennen. Mental stelle ich mich schon mal auf Beileidsbekundungen ein, darauf, dass er seine Meinung über mich vielleicht geändert hat. Aber er bleibt stumm, ich nehme nur seine unterdrückte Atmung wahr.

Und so verharren wir beieinander. Entgegen der Norm handelt es sich hierbei um ein angenehmes Schweigen, jedes Wort wäre womöglich zu viel.

Als es plötzlich zum Unterricht klingelt, zucken wir beide synchron zusammen, machen aber keinerlei Anstalten, aufzustehen. Wie gebannt stieren wir aneinander an, können uns nicht vom Blick des jeweils anderen lösen.

Auch, wenn es nur eine harmlose Unterhaltung zwischen Lehrer und Schülerin gewesen ist, so kommt es mir doch vor, als wäre es alles andere als harmlos. Diese knisternde, geheimnisvolle Atmosphäre, die sich in den letzten fünf Minuten zwischen uns aufgebaut hat, würde wahrscheinlich selbst von einem Außenstehenden registriert werden. Noch nie bin ich von einem meiner Lehrer auf solch eine Art und Weise angesehen worden.

Weitere stumme Atemzüge verstreichen, bis ich mich aufgrund des ansteigenden Lärmpegels auf dem Flur von Alexanders hypnotisierenden Pupillen losreißen kann. Benommen springe ich vom Stuhl auf, schnappe meine Tasche vom Tisch, ehe ich schnellen Schrittes auf die Tür zusteure. Auf halber Strecke halte ich jedoch inne und drehe mich noch einmal zu Alexander um. Ich kann nicht schon wieder einfach wortlos davonlaufen, das hat er nicht verdient.

„Danke für deine Entschuldigung."

Ich schenke ihm ein zaghaftes Lächeln, wodurch sich seine Mundwinkel ebenfalls kaum merklich aufrichten. Daraufhin erhebt er sich und kommt auf mich zu, erinnert mich dabei an einen Löwen, der sich an seine Beute heranschleicht. Jede seiner Bewegungen ist so elegant, so fließend. Als würde er sich schwebend über dem Boden fortbewegen. Einen großen Schritt entfernt bleibt er direkt vor mir stehen, schiebt geistesabwesend die Ärmel seines schwarzen Hemdes bis zu den Ellenbogen hoch.

„Ich werde dich nie für naiv und inkompetent halten, Ella. Ganz im Gegenteil."

Und dann wendet er sich zum Gehen.

Seine liebevollen Worte haben eine Art Rauschzustand in mir ausgelöst, sodass ich Alexander erst wieder wahrnehmen kann, als er den Raum schon fast verlassen hat. Wie in Trance betrachte ich seinen muskelösen Rücken, seine langen Arme, die an seinem Körper lässig hin- und herschwingen. Doch als ich plötzlich das Tattoo über seinem Handgelenk entdecke, stockt mir der Atem.

Ich erkenne ein großes Auge, das von Rosenranken und einem Dreieck aus dünnen Linien umrandet ist.

 

****

 

Mein Kopf dröhnt. Ich habe das Gefühl, als würde jemand mit einem Presslufthammer gegen meine Schädeldecke donnern. Wieder und wieder, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Erbarmen. Aber immerhin lenkt mich der stechende Schmerz von meinem aufgewühlten Herzen und meinem verkrampften Magen ab.

Nach unserem fragwürdigen Gespräch habe ich Alexander nicht wiedergesehen, was gut ist, da ich mich jetzt in seinem Unterricht befinde und vorher erst einmal runterkommen musste. Er ist schon sechs Minuten zu spät, weshalb sich in der Klasse ein lautstarkes und wildes Gemurmel gebildet hat, was meinen Kopf beinahe zum Explodieren bringt. Wie sehr ich Menschen doch eigentlich hasse - immer reden sie und reden und reden. Kat gibt hingegen keinen Ton von sich und hat ihren Kopf auf ihren ausgestreckten Armen auf dem Tisch gebettet, die Augen dabei geschlossen. Sie sieht friedlich aus, wunderschön, und ihr Anblick ringt mir ein warmes Lächeln ab. Es beruhigt mich ein wenig, in der Freak Show, die sich mein Leben nennt, eine gute Freundin an meiner Seite zu wissen.

Nach weiteren fünf Minuten der Anarchie wird plötzlich die Tür aufgerissen, jedoch nicht von Alexander. Es ist Elisabeth Schwarz, die stürmisch den Raum betritt und zielstrebig zum Pult schreitet. Wie auf ein Zeichen ist es mit einem Mal mucksmäuschenstill in der Klasse. Die quirlige Dame vom Sekretariat räuspert sich, ehe sie den Grund ihrer Anwesenheit verkündet.

„Guten Tag, meine lieben Schülerinnen und Schüler", beginnt sie, woraufhin ich Kat, die ihre Augen nach wie vor geschlossen hält, einen leichten Hieb in die Seite verpasse. Sie hebt verdutzt ihren Kopf und runzelt die Stirn, als sie Frau Schwarz am Ende des Klassenzimmers entdeckt, die mit einer piepsigen, nervtötenden Stimme fortfährt.

„Keine Sorge, ich werde nicht Ihren Deutschunterricht übernehmen. Aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Herr Jansen kurzfristig erkrankt ist, weshalb die nächsten beiden Stunden für Sie ausfallen werden. Ich wünsche Ihnen hiermit also einen schönen, freien Tag."

Ein paar Jubelrufe hallen durch den Raum, einige Schüler springen direkt auf und laufen zur Tür in die Freiheit. Ich hingegen bleibe einfach sitzen, kann mich keinen Zentimeter bewegen. Ein gewaltiger Haufen Sorge überrollt mich, gemischt mit einem Molotov-Cocktail aus Angst und Scham. Hat seine Abwesenheit etwas mit unserem Gespräch zu tun? Heute Morgen schien er vollkommen gesund zu sein. Aber vielleicht wurde er danach ebenfalls von schlimmen Kopfschmerzen heimgesucht, weshalb er lieber nach Hause wollte, anstatt eine Affenbande zu unterrichten. Ich könnte ihn verstehen.

Nachdem ich beschlossen habe, mein verworrenes Gedankenspiel auf das Gespräch mit Mom zu verschieben, dauerte es keine zehn Minuten, bis sie auf dem Parkplatz der Schule angekommen ist. Bei der Rekordzeit muss sie ziemlich geheizt haben, weshalb ich sie mit einem missbilligenden Gesichtsausdruck begrüße. „Mom, du musst nicht in eine Verkehrssünderin mutieren, nur um dadurch schneller bei mir zu sein. Deine Sicherheit ist mir wichtig."

Betty schließt mich lachend in ihre herzlichen Arme. „Wer von uns beiden ist doch gleich die Mutter?"

Im gemächlichen Tempo und einem Auto voll Musik machen wir uns schließlich auf den Weg in die Stadt. Es ist warm genug, weshalb wir uns für ein Café entscheiden, in dem es einen Außenbereich gibt. Obwohl Mom während der Fahrt versprochen hat, die Rechnung für uns beide zu übernehmen, entscheide ich mich lediglich für einen Kaffee mit Milch, wohingegen sie sich einen großen Cappuccino und einen Erdbeereisbecher mit Sahne genehmigt.

Es füllt mein Herz mit Stolz, sie so ausgelassen essen zu sehen. Vor einigen Monaten musste ich ihr einen Wecker stellen, damit sie die Nahrungsaufnahme nicht vergessen konnte. Und selbst dann war es jedes Mal eine Farce, sie zum Essen zu bringen. Ihre Trauer hat ihr jegliches Hungergefühl verweigert.

„Also, jetzt erzähl doch mal, Liebes. Wer genau ist denn dein Auserwählter?", will Betty wissen, bevor sie sich einen Löffel Eis in den Mund schiebt.

Mal wieder muss ich erst überlegen, was genau ich ihr offenbaren soll. Um also etwas Zeit zu überbrücken, nehme ich einen viel zu langen Schluck von meinem Kaffee, lecke dann den Milchschaum von meiner Oberlippe und lasse ihn genüsslich auf meiner Zunge zerfließen.

„Naja, wie gesagt. Ich kenne ihn aus dem Unterricht. Er ist neu an der Schule, genau wie ich." Damit mich meine anbahnende Wangenröte nicht verraten kann, verstecke ich mein Gesicht erneut hinter der übergroßen Kaffeetasse.

„Dann habt ihr ja schon eine Gemeinsamkeit." Während Mom mich fröhlich anlächelt, taucht sie etwas Sahne in ihren Cappuccino. „Und mag er dich auch?"

„Mom ...", stöhne ich genervt. „Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich ihn mag. Und selbst wenn, ich könnte niemals mit ihm zusammen sein."

Bei dem Gedanken daran dreht sich mir der Magen um. Abgesehen davon, dass eine Beziehung zu Alexander absolut unmöglich ist, ist sie außerdem verboten. Er würde seinen Job verlieren, den er liebt, und das kann ich auf keinen Fall zulassen. So weit wird es ohnehin nicht kommen, denn für ihn bin ich eben nur eine Schülerin.

„Aber warum denn nicht, Kind? Du bist doch eine junge, wunderschöne Frau. Denk nicht immer so schlecht von dir selbst."

Trotz ihrer tröstenden Worte kann ich mich nicht mal zu einem aufgesetzten Lächeln hinreißen lassen. Stattdessen setze ich die Tasse ab und reibe durch mein Gesicht, damit ein bisschen mehr Leben in meinen Körper getrieben wird. Augenblicklich beginnt die Haut an meiner Stirn zu kribbeln.

„Das hat damit gar nichts zu tun. Ich kann nicht mit ihm zusammen sein, weil ... er eine Freundin hat."

Mom legt den Löffel in dem Eisbecher ab und verschränkt die Arme vor der Brust, ehe sie sich in dem gepolsterten Korbsessel nach hinten fallen lässt.

„Daher weht also der Wind", bemerkt sie trocken, aber in ihrem typischen Ich-habe-immer-Recht-Ton.

„Es ist nicht so wie du denkst, Mom. Es interessiert mich nicht, dass er in einer Partnerschaft lebt, weil er mich nicht interessiert. Naja, zumindest nicht so", gebe ich zurück und klinge dabei etwas zu hysterisch für meinen Geschmack, was meiner Mutter offenbar nicht entgangen ist. Mit einem verschmitzten Lächeln lehnt sie sich nach vorn, triezt mich mit ihren vielsagenden Blicken.

„Und warum führen wir dann dieses Gespräch?"

„Mom, bitte!", jammere ich, werde jedoch sofort von ihr unterbrochen.

„Schatz, du hast doch heute Morgen angefangen von diesem Jungen zu erzählen. Du warst traurig wegen ihm, das habe ich doch gemerkt. Also muss er dir irgendetwas bedeuten, ob du das nun willst oder eben nicht."

Mit einer siegessicheren Miene macht sie sich wieder an ihrem Eis zu schaffen, behält die dutzenden Bemerkungen, die ihr wahrscheinlich noch auf der Zunge liegen, für sich. Meine gespielte Empörung über ihre Worte hält nur für kurze Dauer, denn in den Tiefen meines Inneren weiß ich, dass sie recht hat. Menschen denken nicht pausenlos an andere Menschen ohne dem anderen eine Bedeutung zuzuschreiben. Das wäre sinnlos, zeitverschwendend. Über eine Beziehung mit Alexander nachzudenken ist hingegen die viel größere Zeitverschwendung, weshalb ich meine Mutter dafür lynchen könnte, mir diesen Floh überhaupt ins Ohr gesetzt zu haben.

„Lass uns jetzt bitte nicht mehr darüber reden, ich habe meine Meinung geändert", erwidere ich also kleinlaut und widme mich wieder meiner Tasse Kaffee. Er ist derweil fast kalt, doch ich kippe ihn trotzdem in einem großen Schluck hinunter. Ich erschaudere, als die kalte Flüssigkeit auf die Wärme meines Organes trifft.

Mom wirft mir ein herzliches Lächeln zu, ehe sie sich etwas über den Tisch beugt und meine Hand in ihre nimmt. „Na gut, Schatz. Aber du weißt ja, wenn du deinen Kummer nicht mehr alleine tragen kannst, dann gib mir etwas davon ab. Und wenn du den Jungen wirklich magst, dann zeig ihm das. Ich bin mir sicher, dass er dich lieben wird, wenn er dich nur erstmal richtig kennengelernt hat."

Meine Augen stehen kurz davor, sich mit Tränen zu füllen, als plötzlich Moms Handy ertönt. Ohne Eile wühlt sie in der Innentasche ihrer Jeansjacke, ehe sie das altmodische Exemplar eines Mobiltelefons hervorzaubert. Betty hat einfach kein Faible für neumoderne Geräte, eine Eigenschaft, die ich mit ihr teile. Mit zusammengekniffenen Augen blickt sie auf das Display, schaut dann verwirrt in meine Richtung.

„Bettina Lorenz", meldet sie sich schlicht und verstummt. Ich weiß nicht, wer am anderen Ende der Leitung ist und was genau diese Person meiner Mutter erzählt, doch ich weiß, dass es nichts Gutes sein kann. Von einer Sekunde zur nächsten ist ihr Gesicht kreidebleich, ihr Mund leicht geöffnet, und ihr linkes Augenlid beginnt unregelmäßig zu zucken.

„Ja ... verstehe", murmelt sie in den Hörer. „Ich bin gleich da."

Dann legt sie auf und lässt das Handy ungeniert auf den Tisch fallen. Sie presst ihr Gesicht in die Handinnenflächen, ehe ihr ein kehliges Schluchzen entrinnt. Im nächsten Moment schaut sie mit schmerzverzerrter Miene zu mir hoch.

„Das war die Polizei. Sie haben Robin in Gewahrsam genommen."

11| Wenn zwei sich streiten, quält sich die Dritte

 

11.

Ich sah meinem Bruder in die blauen Augen. Sie waren dunkel umrändert und stark gerötet vom Weinen. Er lag zusammengekrümmt auf seinem Bett, eingerollt wie ein Embryo. Sein ganzer Körper zitterte, weshalb ich sanft über seinen Oberarm streichelte.

„Ich habe Dad getötet", flüsterte er immer wieder, als würde ich es irgendwann ebenfalls glauben, wenn er es nur oft genug wiederholte. Aber so war es nicht. Es war nicht Robin, der unseren Vater getötet hatte, es war der Zufall. Es war ein Unfall, nichts weiter, er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Polizei nannte Dad's Tod einmal einen „ungelösten Fall", weil nach wie vor nicht geklärt werden konnte, warum er von der Fahrbahn abgekommen war. Aber der Grund war mir eigentlich egal, denn Gewissheit würde meinen Vater auch nicht mehr lebendig werden lassen. Wir hatten ihn verloren, so oder so, und damit mussten wir uns langsam abfinden. Auch, wenn es mich innerlich zerriss.

Ich saß auf der Bettkante neben Robin, bestimmt schon zwei Stunden lang. Jedes Mal, wenn er die Schuld bei sich suchte, versicherte ich ihm, dass dies nicht stimmte. Jedes Mal protestierte er, doch ich blieb hartnäckig. Irgendwann musste mein Bruder mir einfach glauben.

„Wenn ich mich nicht verpisst hätte, wäre Dad erst gar nicht losgefahren", murmelte er, musste nach jedem seiner Worte schluchzen oder die Nase hochziehen. Es zerbrach mir das Herz, ihn in dieser Verfassung zu sehen, wo er doch sonst immer mein starker, mutiger Bruder gewesen war, zu dem ich stets aufgesehen hatte.

„Er ist tot, meinetwegen." Seine Stimme wurde nun etwas lauter. Mit einem Ruck setzte er sich auf, starrte mit gequälten Augen in mein Gesicht. „Ich werde mir niemals verzeihen können, Ella. Niemals." Dann stand Robin auf, stampfte lautstark von der einen Seite des Raumes zur anderen. Seine Hände waren dabei in seinem Nacken verschränkt, er dachte anstrengend nach.

„Es gibt nichts, was du dir verzeihen musst. Du hast nichts getan, du bist dafür nicht verantwortlich. Unfälle passieren, immer und überall. Man kann sie nicht verhindern", erwiderte ich, was Robin jedoch ein weiteres Mal unbeeindruckt ließ. Seine Gesichtszüge waren schmerzverzerrt, als er plötzlich ausholte und mit voller Wucht gegen die Wand schlug. Allein der Anblick verursachte ein unangenehmes Stechen in meinen Fingerspitzen, doch mein Bruder zuckte nicht mal mit der Wimper. Erneut schnellte seine Faust gegen den harten Beton, dann wieder und wieder. Es war grenzenlose Wut, die in diesem Moment die Macht über seinen Körper ergriff, weshalb ich ihn nicht aufhielt. Ich saß da und beobachtete ihn nur. Robin musste das machen, musste seinen geballten Emotionen freien Lauf lassen, bevor er noch daran zugrunde ging.

Irgendwann - ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war - war sein komplettes Zimmer demoliert. Vor lauter Verzweiflung hatte Robin jedes seiner Möbelstücke zerlegt, den Inhalt jeder Kommode und jedes Regales auf dem Boden verteilt. Lampen und Vasen gingen zu Bruch, Bücher verloren ihre Seiten. Nach einem letzten Tritt gegen den Schreibtisch, der daraufhin unvermittelt in sich zusammenkrachte, fiel auch Robin auf die Knie. Er legte sein Gesicht in die Hände und weinte, stieß dabei einen quälenden Schrei aus. Ich setzte mich neben ihn, schmiegte mich stumm an seinen bebenden Körper. Und dann weinten wir zusammen.

 

 

****

 

„Isabelle, wir sind da."

Ich spüre einen festen Griff an meinem linken Arm, gefolgt von einem heftigen Schütteln. Schlagartig reiße ich die Augen auf und blinzele, bis meine Sehfähigkeit vollkommen wiederhergestellt ist und ich das von Sorgen erfüllte Gesicht meiner Mom erkenne.

„Ich komme ja schon", entgegne ich genervt und unterdrücke ein Gähnen. Ich habe nicht geschlafen, eher gedöst, aber die finsteren Ausflüge in meine Vergangenheit laugen meine mentalen Fähigkeiten ziemlich aus. Ich fühle mich schlapp, als hätte mich sämtliche Kraft und Energie für heute verlassen. Doch als ich auf einmal die Polizeiwache erspähe, auf dessen Parkplatz wir uns gerade befinden, bin ich sofort hellwach. Meine Trägheit ist wie weggeblasen.

Ohne zu zögern springe ich aus dem Auto und folge Mom, die sich bereits schnurstracks auf dem Weg zum Eingang befindet. Nur durch Laufen kann ich sie einholen, sodass wir gemeinsam vor den verglasten Doppeltüren stehenbleiben. Betty drückt auf einen Klingelknopf, woraufhin wenige Augenblicke später ein Summen ertönt, das Signal zum Eintreten. Hektisch schnellt Mom den kalten, leeren Gang entlang und bleibt schließlich atemlos vor einem Schalter stehen, hinter dem sich ein Polizeibeamter befindet.

„Ich muss zu meinem Sohn, er heißt Robin André Lorenz. Ein Kollege von Ihnen hat mich angerufen, sie haben ihn Gewahrsam genommen." Ihre Worte gleichen vielmehr einem Nuscheln, da sie hysterisch nach Luft schnappt und den Tränen nahesteht. Tonlos stelle ich mich neben sie und nehme ihre Hand; ihre Finger sind eiskalt und zittrig. Der Polizist, ein alter, bärtiger Mann, nickt nur und greift zum Telefon, während Betty undeutliche Silben vor sich hinmurmelt. Ich drücke mit der Hand etwas fester zu, um ihr das Gefühl zu vermitteln, nicht allein zu sein. Ich hasse Robin gerade dafür, dass er unserer Mutter schon wieder so einen Stress aufbürgt. Er weiß ganz genau, dass ihre Nerven überstrapaziert sind und er sich derartige Eskapaden nicht mehr erlauben kann. Weiß der Himmel, was er diesmal angestellt hat.

„Kann ich bitte Ihre Personalausweise sehen?", fragt der Beamte schließlich. Mom zückt sofort ihr Portemonnaie aus der Tasche, wohingegen ich mit Schrecken feststelle, dass ich meines nicht dabei habe. Ich habe es heute Morgen nicht eingesteckt, verdammt.

„Ich habe meinen Ausweis nicht bei mir", gebe ich also kleinlaut zu, woraufhin Betty mich mit tadelnden Blicken bestraft.

„Dann kann ich Sie leider nicht ins Gebäude lassen, tut mir leid", bemerkt der ältere Mann, ehe er die Daten meiner Mutter kontrolliert. Ich spüre, wie sie meine Hand beinahe zerquetscht, spüre die Panik, die von jeder Faser ihres Körpers ausgeht. Unauffällig beuge ich mich ein Stück in ihre Richtung, damit der Polizist meine Beruhigungsversuche nicht vernehmen kann.

„Alles wird gut, Mom. Du schaffst das schon, er hat einfach mal wieder eine gehörige Standpauke verdient. Ich warte so lange im Auto auf euch, und wenn irgendetwas sein sollte, dann kannst du mich anrufen."

Betty zieht lautstark die Luft zwischen den Zähnen ein, bevor sie sie in Form eines Stöhnens wieder ausatmet. „Am liebsten würde ich deinen Bruder in seinem Zimmer einsperren bis er alt und senil ist", flüstert sie zurück, was uns beide zum Lachen bringt.

Plötzlich öffnet sich eine Tür am Ende des Ganges und ein weiterer Polizist kommt zum Vorschein. Er bittet Mom ihm zu folgen, weshalb sie mir ein Küsschen auf die Stirn drückt und dann mit ihm verschwindet. Sofort drehe ich mich um und verlasse das Gebäude, ohne mich von dem alten Mann hinter dem Schalter mit der kugelsicheren Glasscheibe zu verabschieden.

Während Mom sich mit ihrem rebellischen Sohn und chauvinistischen Polizeibeamten rumschlagen muss, habe ich mich auf einem kleinen, am Parkplatz angrenzenden Stück Rasen niedergelassen. Die Sonne strahlt in vollen Zügen, die Luft ist angenehm warm und riecht nach Sommer, eine dicke Hummel schwirrt gemächlich an meinem Kopf vorbei. Zu meinem Glück habe ich eine Wolldecke im Kofferraum des Mercedes gefunden, die ich auf dem grünen Gras ausbreiten konnte, um es beim Warten wenigstens gemütlich zu haben. Ich krame meine Kopfhörer aus der Schultasche und schließe um bei Musik von den Kings of Leon die Augen. Der melancholische Sound der E-Gitarre und die rauchige, Gänsehaut erzeugende Stimme des Sängers lullen mich beinahe in den Schlaf.

Als die Hälfte des Albums schon fast durchgelaufen ist, nehme ich plötzlich die Anwesenheit eines Menschen wahr, was nicht zuletzt daran liegt, dass ich mich von jetzt auf gleich im Schatten befinde. In der Hoffnung, dass Mom und Robin endlich fertig sind, reiße ich die Augen auf, doch an Stelle meiner Familie steht ein Polizist vor mir. Mit ausdrucksloser Miene schaut er auf mich hinunter.

„Dürfte ich Sie fragen, wie Sie da machen?"

Sein Tonfall ist freundlich, seine dunklen Augen drücken hingegen alles andere als Freundlichkeit aus. „Ich liege hier", gebe ich zurück, als wäre es nicht offensichtlich. Aber blöde Fragen verdienen nun mal blöde Antworten.

„Und warum liegen Sie hier?"

Verdammt, das kann ihm doch total egal sein. Mich interessiert es doch auch nicht, warum er so einen jämmerlichen Oberlippenbart trägt. „Ich warte auf meine Mutter und meinen Bruder, die gerade ein Gespräch mit Ihren Kollegen führen. Mich haben die da nicht reingelassen."

Der Polizist wirkt sichtlich überrascht und irgendwie überfordert. Dass er gerade einen inneren Kampf mit sich selbst ausfechtet, steht ihm quasi auf der Stirn geschrieben. Er weiß, dass ich hier wahrscheinlich nicht liegen darf, aber er weiß auch, dass es total albern wäre, mich zum Gehen zu bitten. Immerhin warte ich hier auf jemanden. Es ist einfach zu komisch.

Als er gerade etwas erwidern möchte, bemerke ich jedoch Robin und Mom, die das Gebäude verlassen und mit missmutigen Gesichtern auf mich zukommen. Der Ausdruck von Betty ist mir nur allzu vertraut. Sie hat ihn immer dann, wenn sie sich in der Öffentlichkeit am Riemen reißen muss, um das Image einer guten Mutter zu wahren, und dann das Inferno eröffnet, sobald wir unter uns sind. Ohne dem Beamten weitere Beachtung zu schenken, stehe ich schließlich auf und falte daraufhin die Decke zusammen. Im Augenwinkel erkenne ich, wie der Polizist seinen geöffneten Mund wieder schließt und sich zum Gehen wendet. Damit er bloß nicht auf die Idee kommt, dass ich wegen ihm aufgestanden bin, rufe ich ein übertrieben lautes „Hey Mom" aus, ehe ich grinsend zum Auto schlendere.

„Und, wie ist es gelaufen? Was ist überhaupt passiert?", platzt es aus mir heraus, als wir schließlich zu dritt im Mercedes sitzen und den Heimweg antreten. Robin starrt derweil schweigend aus dem Beifahrerfenster, wohingegen Mom immer noch sichtlich mit der Fassung ringt.

„Zu Hause", zischt sie nur, was bedeutet, dass das Thema wohl vorerst beendet ist. Auch, wenn es noch gar nicht begonnen hat.

 

****

 

„Verdammte Scheiße, Robin! Was hast du dir nur dabei gedacht?", brüllt Mom in der Sekunde, in der die Haustür ins Schloss fällt. „Ich dachte, deine kriminellen Machenschaften hast du hinter dir gelassen. Es kann doch nicht schon wieder von vorn losgehen, wir haben uns doch gerade hier eingelebt!"

Ihre Stimme hat mittlerweile so an Lautstärke zugenommen, dass es in meinen Ohren klingelt. Am liebsten würde ich mich einfach in meinem Zimmer verkriechen und dem Streit aus dem Weg gehen, aber ich möchte viel lieber wissen, warum Betty so wütend ist. Es ist schließlich nicht Robins erster Polizeibesuch und bisher hat sie immer relativ ausgelassen reagiert. Mom und Dad sind nie Fans von erhobener Lautstärke gewesen, sie haben Konflikte stets sachlich und konstruktiv gelöst.

Robin schleudert daraufhin seine Jacke in die Ecke des Flurs und stampft dann ohne ein Wort in die Küche. Mom schnellt ihm hinterher, gefolgt von mir. „Mein lieber Freund, ich rede mit dir!", faucht sie und baut sich vor ihrem Sohn auf, sodass er nicht entkommen kann.

„Was willst du denn hören? Ja, ich habe mal wieder Scheiße gebaut, es tut mir leid. Aber dieser Wichser hat mich einfach provoziert, er ist selbst schuld."

Bettys Augen verengen sich zu Schlitzen, weshalb ich automatisch in Deckung gehe. Robin bleibt jedoch regungslos vor ihr stehen und schaut ihr direkt ins Gesicht.

„Du spinnst wohl!", ruft sie wutentbrannt aus. „Dein Vater und ich haben euch doch eigentlich beigebracht, dass Gewalt in keinster Weise und niemals eine Alternative ist. Oder willst du mir sagen, dass du diesem jungen Mann aus Notwehr ein blaues Auge verpasst hast?"

Wie bitte? Robin hat jemanden geschlagen? Plötzlich kann ich die Fassungslosigkeit meiner Mutter nachempfinden. Mein Bruder ist noch nie gewalttätig gewesen, zumindest nicht anderen Menschen gegenüber. Er hat bisher zwar viel Scheiße gebaut, aber Schlägereien gehörten noch nie zu seinem Aggressionsrepertoire. Was ist nur los mit ihm?

„Nein, aber ... Verdammt! Er hat mich provoziert, er hätte einfach seine Schnauze halten sollen", keift Robin dann, ehe er sich an Mom vorbei drängelt und zum Kühlschrank marschiert. Mit einem heftigen Ruck reißt er die Tür auf, um sich eine Cola aus dem Seitenfach zu schnappen. „Er hat Witze über Dad gemacht, er hat sich über ihn lustig gemacht. Was hätte ich denn tun sollen?" Die Kohlensäure des Zuckerwassers zischt, als Robin langsam den Deckel öffnet und die Flasche an seinen Mund setzt.

„Du hättest einfach deine Fäuste unter Kontrolle halten sollen. Man schlägt nicht einfach fremde Menschen, nur weil man sauer oder aufgebracht ist. Meine Güte, du willst soziale Arbeit studieren. Meinst du, die sind begeistert, wenn die hören, dass du mal grundlos jemanden verprügelt hast? Das wird in dein Führungszeugnis kommen, wenn der Mann Anzeige erstattet. Du verbaust dir deine Zukunft wegen so einer Scheiße!"

Während ich Mom und Robin beim gegenseitigen Anbrüllen zuschaue, sinkt auch meine Laune nach und nach in den Keller. Wie ich es hasse, wenn sich meine Familie miteinander streitet. Wie ich es hasse, wenn sie sich derart anschnauzen. Ihre Hälse müssten theoretisch schon völlig trocken sein. Im nächsten Moment spüre ich, wie mir langsam heiße Tränen in die Augen steigen.

„Das weiß ich, Mom. Falls du es nicht bemerkt haben solltest, ich bin gerade selbst ziemlich abgefuckt wegen der ganzen Situation. Ich würde es auch lieber rückgängig machen", erwidert Robin schließlich, woraufhin Mom abfällig schnaubt und sich am Nasenrücken kratzt.

„Dann solltest du das nächste Mal vorher dein Hirn einschalten, wenn du Konflikte zu lösen hast. Deine Faust ist ja ganz offensichtlich keine Alternative mehr."

Die Worte, die mein Bruder daraufhin zurückschleudert, nehme ich nur noch als schrilles Piepen in meinen Ohren wahr. Mein Kopf hat komplett auf Durchzug geschaltet, da mich die harschen Anschuldigungen meiner einzigen Familie zu sehr verletzten. Sie sind zwar nicht direkt gegen meine Person gerichtet, allerdings macht mein Schmerzempfinden diesbezüglich keinen Unterschied. Wenn es um die zwei Menschen geht, die ich mehr als alles auf dieser Welt liebe, dann wird ihr Schmerz auch zu meinem.

„Jetzt haltet doch mal beide eure Klappen!", höre ich plötzlich jemanden schreien, woraufhin es von jetzt auf gleich leise wird. Perplex blicke ich mich um und erschrecke, als ich registriere, dass es meine eigene Stimme gewesen ist, die das Gefecht von Mom und Robin vorerst stillgelegt hat. Beide schauen mir mit aufgerissenen, erwartungsvollen Augen direkt ins Gesicht. Mein altbekannter Halskloß ist mal wieder so groß, dass ich keinen weiteren Ton herausbekomme.

„Was ist denn los, Schatz? Findest du nicht auch, dass-", beginnt Betty auf mich einzureden, bis Robin ihr ungeniert das Wort abschneidet.

„Halt du mal besser die Klappe, Ella. Das hier geht dich einen Scheißdreck an. Hast du nicht sowieso irgendwelche Hausaufgaben zu erledigen? Am besten verziehst du dich in dein Zimmer."

Das Gefühl der Ohnmacht prügelt unkontrolliert auf mich ein. Dabei ist es nicht mal der Inhalt seiner ruppigen Bemerkung, der mich in Tränen ausbrechen lässt, sondern vielmehr sein herablassender, abwertender Tonfall. Genauso gut hätte er mir vor die Füße spucken können. Wortlos drehe ich mich um und will gerade in mein Zimmer stürmen, als ein Schalter in mir umgelegt wird, der die Traurigkeit in unsägliche Wut verwandelt. Diesmal werde ich ihm nicht die Oberhand gewinnen lassen, die Zeiten sind schon lange vorbei.

„Das hier geht mich einen Scheißdreck an, ach ja?", fahre ich meinen Bruder an, während ich einen selbstbewussten Schritt auf ihn zumache. „Willst du mich eigentlich komplett verarschen? Wer ist denn die letzten Jahre immer heulend bei mir angekrochen gekommen, wenn er mal wieder Scheiße gebaut hat? Jedes verdammte Mal bin ich für dich da gewesen, habe meine eigene Trauer zurückgesteckt, nur um deine Schuldgefühle von dir nehmen zu können. Ich habe mir den Arsch aufgerissen, damit es dir endlich besser geht. Hast du eigentlich eine beschissene Ahnung, wie sehr mich dein jämmerlicher Anblick zerrissen hat?"

Ich schreie ihm die Worte förmlich ins Gesicht. Heiße Tränen strömen wasserfallartig über meine Wangen, doch ich versuche erst gar nicht, sie zu unterdrücken. Soll der Kerl doch sehen, was er mit mir anrichtet, wenn er wieder mal zeitweise in ein egoistisches Arschloch mutiert. Jedoch dachte ich, dass diese Phase längst hinter ihm liegt.

Plötzlich will ich nur noch raus hier. Ich kann das gequälte Gesicht von Mom und den arroganten Ausdruck von Robin nicht mehr ertragen. Beide schweigen mich an, dabei stehen doch so viele Dinge, die gesagt werden müssen, mitten im Raum. Ohne noch eine weitere Sekunde in diesem Irrenhaus zu vergeuden, schnappe ich mir meine Handtasche vom Küchentisch, bleibe jedoch noch einmal stehen, bevor ich den Raum verlasse.

„Danke, Robin", füge ich mit einer ruhigeren Stimme hinzu, bevor ich meinen Blick genau in seine blauen Augen richte. „Danke, dass du unseren ersten Schritt in ein neues, unkompliziertes Leben mit deiner selbstgefälligen Art zunichtegemacht hast. Scheiß drauf, ob Mom und ich mal wieder Stress haben und vor lauter Sorge um dich nicht schlafen können. Aber Hauptsache du kannst weiter deinen Selbstzerstörungstrip fahren, weil du offenbar nicht fähig bist, zu verstehen, dass du keine Schuld am Unfall unseres Vaters hast. Vielleicht solltest du mal überlegen, wer aus dieser Familie den meisten Scheißdreck zu fressen hat, wenn du mal wieder durchdrehst."

Und dann gehe ich wirklich, ohne mich ein weiteres Mal umzudrehen.

 

****

 

Planlos schlurfe ich durch die Straßen der kleinen Stadt. Die letzten zwei Stunden habe ich auf einer Bank in einem naheliegenden Park verbracht, habe viel nachgedacht, während ich von Musik von The Fray berieselt wurde. Doch jetzt ist die Sonne beinahe untergegangen, weswegen ich in dem kurzen Leinenkleid zu frieren beginne. Auf dem Weg zu der einzigen Bar, die mir in diesem Bauerndorf vertraut ist, habe ich mich jedoch irgendwie verlaufen, sodass ich nun orientierungslos durch eine mir unbekannte Gegend streife.

Du könntest auch einfach wieder nach Hause gehen, erinnere ich mich, doch allein der Gedanke daran bereitet mir Bauchschmerzen. Ich hasse Robin dafür, dass er mit seiner sinnlosen Aktion - was auch immer eigentlich genau passiert ist - die neugewonnene Harmonie in unserer Familie bedroht. Aber vor allem bin ich enttäuscht, dass er es vorgezogen hat, lieber in alte Verhaltensmuster zu verfallen, anstatt sich Betty oder mir anzuvertrauen. Schon damals waren seine Straftaten nur ein Ventil, um seine grenzenlose Wut gegen sich selbst katalysieren zu können. Es handelte sich dabei lediglich um Auswirkungen von bereits bestehenden Problemen, die er nicht anders ausdrücken konnte. Doch über Gefühle zu reden sollte er mittlerweile eigentlich gelernt haben.

Als ich die Hoffnung schon fast aufgebe und ernsthaft darüber nachdenke, wieder nach Hause zurückzukehren, erspähe ich ein kleines Café am Ende der Straße. Mit dem Ausblick auf ein warmes Plätzchen unter fremden Leuten schlägt mein Herz einen Takt schneller, sodass ich die letzten Meter zu meinem Ziel mit deutlich erhöhtem Schritttempo zurücklege.

Schon während des Eintretens steigt mir ein betörender Duft von Backwaren und Kaffee in die Nase, der meinen Gemütszustand unmittelbar beschwichtigt. Ich lasse den Blick über die überschaubare Anzahl an Gästen schweifen, die sich hier und da an den runden Tischen niedergelassen haben. Eine zierliche Frau mit kupferroten Haaren kommt auf mich zu, lächelt mich dabei freundlich an.

„Hallo, willkommen im Baker's Coffee Store. Sie sind allein?"

Ich nicke nur und spare mir die platonischen Floskeln des Smalltalks, ich möchte einfach nur meine Ruhe haben. Die Kellnerin bittet mich, ihr zu folgen, ehe sie mich an ein paar Tischen vorbei und in den hinteren Teil des Ladens führt. Auf dem Weg dorthin erregt jedoch plötzlich ein Mann meine Aufmerksamkeit, der mit einem Buch in einem Sessel am Fenster Platz genommen hat. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, doch schon allein seine Haare kommen mir mit einem Mal unheimlich bekannt vor. Und noch bevor der Mann das Buch beiseitelegt und seinen Kopf aufrichtet, fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

Natürlich ist es Alexander, der mit einem amüsierten, irgendwie verschmitzten Grinsen in meine Richtung stiert. Das kann doch einfach nicht wahr sein, was für ein Klischee. Bis dato habe ich nicht gewusst, dass mein Leben offensichtlich einer tragischen Liebeskomödie entspringt. Andererseits könnte mein Lehrer auch zu einem krankhaften Stalking-Verhalten neigen, das dafür verantwortlich ist, dass ich ihm immer und überall in dieser winzigen Stadt begegne. Und natürlich immer genau in den Momenten, in denen ich keine Lust auf seine Gesellschaft habe. Als Alexander plötzlich aufsteht und dann direkt auf mich zusteuert, wird mir das erste Mal so richtig bewusst, wie sehr ich die Anonymität von Großstädten doch vermisse.

12| Perspektivwechsel

 

12.

Ihre Augen sind weit aufgerissen, als ich schließlich direkt vor ihr stehe. Sie sieht zwar wie immer wunderschön aus, allerdings signalisiert mir mein flaues Bauchgefühl, dass irgendetwas mit ihr nicht in Ordnung ist. Vielleicht ist es ihre in sich zusammengefallene Körperhaltung, die mir diese innere Unruhe verleiht, oder ihr schlappes, glanzloses Haar. Das Strahlen, welches normalerweise von ihrer gesamten Erscheinung ausgeht, welches mich jedes Mal beinahe außer Gefecht setzt, wenn ich sie ansehe, ist in diesem Moment nicht ganz so überwältigend wie sonst. Erst, als ich jeden Zentimeter ihres Gesichtes nach verdächtigen Merkmalen absuche, erkenne ich die dezente rote Tönung ihrer Augen und die dunklen Ringe, die darunter hervorstechen. Sie sieht übermüdet und furchtbar traurig aus.

„Warum hast du geweint?", falle ich deshalb mit der Tür ins Haus, was Ella sichtlich überfordert. Sie versucht meinem Blick auszuweichen und starrt stattdessen auf ihre Schuhe, bis sie ihren Kopf schließlich wieder hebt und mir direkt in die Augen sieht. Der ständige, offensichtliche Wechsel ihrer Gefühle fasziniert mich, wenngleich er mich auch hin und wieder eiskalt erwischt. Aber diese Herausforderung nehme ich nur zu gern auf mich, obwohl ich weiß, dass ich mich von dieser Frau fernhalten sollte. Doch mit jeder Faser meines Körpers fühle ich mich zu ihr hingezogen, ich kann ihrem zuckersüßen Charme einfach nicht widerstehen.

Ihre Stirn ist leicht gerunzelt, als sie endlich auf meine Frage reagiert. „Woher willst du das wissen? Ich habe nicht geweint."

Das kaum wahrnehmbare Zucken in ihrem linken Augenlid verrät mir, dass sie lügt. Naja, abgesehen davon, dass es ihr quasi wie auf der Stirn geschrieben steht. Doch ich darf sie jetzt nicht zu sehr bedrängen, wenn ich erreichen möchte, dass sie sich mir anvertraut. Und im Moment will ich wahrscheinlich nichts mehr als ihr Vertrauen. Kein Buch der Welt erweckt meine Neugierde so stark wie die Geschichte ihres Lebens. Also lächele ich und versuche es mit Plan B.

„Möchtest du dich vielleicht zu mir setzen? Ich wollte mir gerade einen neuen Kaffee bestellen."

Sofort legt Ella ihre Stirn in noch tiefere Falten. Ganz offensichtlich muss sie über meinen Vorschlag nachdenken, willigt jedoch mit einem zaghaften Nicken ein. Dann taucht plötzlich die rothaarige Kellnerin neben mir auf, die mich mit erwartungsvolllen Blicken und einem aufgesetzten Lächeln anstarrt.

„Die junge Frau hier setzt sich mit zu mir. Bringen Sie uns doch bitte zwei Kaffee, den einen mit Milch", beantworte ich ihre unausgesprochene Frage, ehe ich Isabelle mit einer einladenden Geste auffordere, mir zum Tisch am Fenster zu folgen. Mit einem Seufzen lässt sie sich mir gegenüber in dem antiken Sessel nieder.

Selbst in diesem geräderten Zustand ist sie einfach wunderschön, weshalb ich viel Konzentration aufbringen muss, um dem Drang nach körperlicher Nähe zu ihr nicht nachzugeben. Ich komme mir mittlerweile selbst ziemlich erbärmlich vor, wo es mir doch sonst überhaupt keine Probleme bereitet, mich mit hübschen Frauen zu unterhalten - ganz im Gegenteil. Doch dieses Mädchen vor mir zwingt meinen Verstand mit nur einem Lächeln in die Knie, weshalb ich mich selbst kaum wiedererkenne, sobald ich mich in ihrer Gesellschaft befinde. In Situationen wie dieser sehe ich jedoch nicht meine Schülerin vor mir, sondern einfach einen wunderschönen Menschen mit einer Geschichte. Und wenn ich irgendwelche imaginären Grenzen überschreiten muss, damit ich eben diese zu hören bekomme, dann tue ich das.

„Ich dachte, du bist krank?", platzt es schließlich aus Ella heraus, und ich bin augenblicklich erleichtert, dass nicht ich derjenige bin, der das Eis brechen muss. Ich habe allerdings keine Ahnung, was ich auf ihre direkte Frage antworten soll, denn den wahren Grund meiner Abwesenheit wird sie garantiert nicht erfahren. Also entscheide ich mich für eine spontane Notlüge.

„Es geht mir schon wieder besser. Aber danke, dass du dich nach meinem Wohlergehen erkundigst."

Wie gebannt folge ich den unterschiedlichen Ausführungen ihrer Mimik, die im Sekundentakt ihr Gesicht durchlaufen. Was würde ich dafür geben, um ihre Gedanken lesen zu können, denn so richtig schlau werde ich aus ihrer Körpersprache nicht. Vor allem seit der Auseinandersetzung mit Leonie ist sie irgendwie anders zu mir, eher abweisend, und ich könnte dieses blonde Miststück dafür ohrfeigen, dass sie sich in diese Beziehung eingemischt hat. Ich könnte allerdings auch mich selbst ohrfeigen, weil ich Ella einfach habe gehen lassen, ohne irgendeine Entschuldigung oder Erklärung. Wiederum ... Warum hätte ich das tun sollen? Was zum Teufel erhoffe ich mir eigentlich? Weiter so, Alex, immer schön lachend in die Kreissäge.

Ella ist nicht weiter auf meine Bemerkung eingegangen, weshalb sich mal wieder ein ohrenbetäubendes Schweigen zwischen uns gelegt hat. Es wird jedoch schnell von der Kellnerin unterbrochen, die jeweils einen Kaffee vor uns abstellt und mich eine Sekunde zu lang anlächelt. Zum Glück verschwindet sie sofort wieder, sodass ich mich endlich meiner Tasse Lebenselixier widmen kann. Ich beobachte Ella über den Rand der Tasse hinweg und stelle fest, dass sie nur sehr zögerlich zu ihrem Getränk greift und schon wieder diesen unsicheren Gesichtsausdruck aufgesetzt hat.

„Was ist? Möchtest du lieber etwas anderes trinken?", erkundige ich mich deshalb, woraufhin sie erschrocken den Kopf hebt.

„Nein, es ist nur ... Ich frage mich einfach, woher du weißt, dass ich meinen Kaffee mit Milch trinke." Dann deutet sie ein Lächeln an, während ihre Wangen sichtlich erröten. Gott, sie ist einfach umwerfend, und ich kann nicht anders, als ihr Strahlen zu erwidern. Wenn sie mich so ansieht wie jetzt, bewegen sich meine Mundwinkel ganz automatisch.

„Naja", erwidere ich schließlich. „Nennen wir es mal Intuition."

Ihr Lachen wird breiter, fröhlicher, was mir augenblicklich die Sprache verschlägt. Bevor ich sie kennengelernt habe, habe ich es nicht für möglich gehalten, dass mich ein einfaches Lachen derartig aus der Bahn werfen kann.

„Wird das jetzt eigentlich zum Dauerzustand, dass wir in jeder Lokalität dieser Stadt aufeinandertreffen?", werfe ich dann scherzhaft ein, um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern. Aber vor allem, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Isabelle verzieht ihr Gesicht daraufhin zu einer hämischen Fratze.

„Warum? Hättest du was dagegen?"

Ich nippe an meinem Kaffee, bis ich entschieden den Kopf schüttele. „Nein, ganz und gar nicht. Ich frage mich jedoch, warum du ganz allein und um diese Uhrzeit in einem Café rumlungerst. Und das an einem Montagabend."

Ellas Nasenflügel weiten sich etwas, ehe sie antwortet, was ich irgendwie niedlich finde. „Kann ein Mädchen nicht einfach einen Kaffee trinken gehen, ohne direkt über ihre Einsamkeit ausgequetscht zu werden?"

„Bist du es denn, einsam?"

Es vergehen einige Minuten, in denen sie gedankenversunken in ihren Kaffeebecher starrt, anstatt mir zu antworten. Wie gern ich jetzt ihre Wange berühren würde, ihr sagen würde, dass ich für sie da bin und ihr bei was auch immer helfen werde. Doch meine Lippen bleiben ebenfalls stumm, denn damit würde ich eindeutig über mein Ziel hinausschießen. Wie sehr ich das Schicksal gerade dafür hasse, dass ich dieses bezaubernde Mädchen nicht unter anderen Umständen kennengelernt habe. Wer weiß, wo wir bereits angekommen wären.

„Ja", flüstert Ella nach einer gefühlten Ewigkeit. „Jetzt gerade bin ich ziemlich einsam."

Ich bin mir nicht sicher, was für ein Gefühlsschalter auf einmal umgelegt wird, doch von jetzt auf gleich ist sie wieder das traurige Mädchen, das sie so vor mir zu verbergen versucht.

„Du bist nicht einsam, immerhin reden wir beide doch gerade miteinander", versuche ich sie aufzuheitern, woraufhin sie ihren Blick endlich wieder auf mich richtet.

„Das ist was anderes, Alexander. Du bist schließlich mein ... Lehrer."

Obwohl ihre Worte ein leichtes Stechen in meiner Brust erzeugen, versuche ich trotzdem, eine gelassene Fassung zu wahren. Ella darf auf keinen Fall bemerken, dass ihre Worte mehr Emotionen bei mir hervorrufen, als es wahrscheinlich gut für uns ist. Selbst mit einem zarten Lufthauch schafft sie es, einen ganzen Orkan in meinem Inneren wüten lassen.

„Das mag zwar sein, allerdings könnten wir unsere schulische Beziehung für diesen Moment vergessen, damit du mir erzählen kannst, was mit dir los ist."

Ich schaue ihr direkt in die eisblauen Augen, damit sie meiner Aufforderung nicht entkommen kann. Unsicherheit und Zweifel spiegeln sich in ihrem Gesicht wider, und am liebsten würde ich ihre Hand, die sie neben dem Kaffeebecher auf dem Tisch abgelegt hat, einfach mit der meinen umschließen. Ich kann selbst von hier aus erkennen, dass ihr ganzer Körper zittert, und alles in mir sehnt sich danach, die Trauer von ihr zu nehmen und sie ins Nirwana zu schicken.

Als Ella sich erneut in Schweigen hüllt, beuge ich mich ein Stück über den Tisch nach vorn, damit die anderen Gäste des Cafés meine Worte nicht mithören können. In diesem Dorf kann man schließlich nicht vorsichtig genug sein. Wahrscheinlich riskiere ich gerade allein mit diesem Gespräch meinen Job, aber ich kann mich einfach nicht von der Faszination dieser Frau losreißen.

„Isabelle, ich weiß, dass ich keine sonderlich vertrauensvolle Person für dich darstelle, aber manchmal hilft es, mit neutralen Menschen über ein Problem zu reden. Und du kannst mir wirklich alles erzählen, wenn du es möchtest."

Sie windet sich unter meinem Blick, scheint aber immerhin über meinen Vorschlag nachzudenken. Letzten Endes lässt sie sich in die gepolsterte Lehne des Sessels fallen und faltet sorgsam die Hände in ihrem Schoß. Und dann offenbart mir die schönste Frau dieses Planeten die Geschichte ihres Lebens.

 

 

****

 

Während ich erzähle, ist Alexander vollkommen schweigsam. Er lässt mich derweil nicht ein einziges Mal aus den Augen, auch dann nicht, wenn er gelegentlich an seinem Kaffee nippt oder ein neuer Gast das Café betritt. Nicht mal als zwischendurch die Kellnerin an unseren Tisch kommt und sich nach unserem Wohlergehen erkundigt, kann er den Blick von mir lösen. Ihre kurzweilige Anwesenheit hält mich allerdings nicht davon ab, ihm jedes kleinste Detail meiner Vergangenheit kundzutun. Mit einem Mal ist es mir völlig egal, ob er mein Lehrer ist oder einfach nur irgendein Freund. Er ist hier bei mir, jetzt, und hört mir zu. Das ist das Einzige, was im Moment für mich zählt.

Als ich schließlich beim heutigen Streit von Robin und Mom und somit am Ende meiner unendlichen Geschichte angekommen bin, fährt Alexander angestrengt mit der Hand durch sein Gesicht. Er sieht plötzlich so müde aus, und kurz überkommt mich die Befürchtung, dass ich ihn mit meinem Gerede womöglich gelangweilt habe. Doch dann räuspert er sich, lehnt sich zurück in das dicke Polster des altmodischen Sessels.

„Es tut mir leid, Ella."

Mit so einer Antwort habe ich bereits gerechnet, weshalb ich mich stöhnend mit den Ellenbogen auf dem kleinen, runden Metalltisch abstütze.

„Ich brauche dein Mitleid nicht."

„Ich weiß", entgegnet er behutsam. „Aber es tut mir nun mal leid, dass dein Bruder dich derart enttäuscht hat, sodass du hierher flüchten musstest. Immerhin musst du jetzt mit mir vorliebnehmen."

Sein anzügliches Grinsen ringt auch mir ein Lächeln ab und seine scherzhafte Bemerkung nimmt tatsächlich etwas von der Last auf meiner Brust. Unbewusst lasse ich meinen Arm auf die Tischplatte fallen, woraufhin Alexander wie auf ein Stichwort meine Hand in seine nimmt. Es ist eine intime, irgendwie vertraute Geste und ich lasse ihn gewähren. Ich spüre, dass es seine Art von seelischem Beistand ist, und anders als erwartet erzeugt seine plötzliche Nähe keine komische Stimmung zwischen uns. Meine Finger kribbeln unter der zarten Berührung seines Daumens, der in einem gleichmäßigen Rhythmus über meinen Handrücken fährt.

Währenddessen wandert mein Blick auf seinen Unterarm und durch die hochgeschobenen Ärmel seines Shirts kann ich den Ansatz seines Tattoos erkennen.

„Was hat das Auge eigentlich für eine Bedeutung?", will ich schließlich wissen und deute mit dem Kinn auf sein Handgelenk. Unvermittelt lässt er meine Finger los, woraufhin ich die angenehme Wärme seiner Haut sofort vermisse. Dann krempelt er den Ärmel weiter hoch, sodass ich das farbenfrohe Kunstwerk in seiner vollen Pracht bewundern kann.

Erst aus der Nähe kann ich die Schönheit dieses Bildes so richtig wahrnehmen. Das Auge besteht aus dicken, pechschwarzen Linien, wohingegen die Umrandungen der Rosen eher filigran gehalten sind. Das knallige Rot der Blütenblätter steht in einem krassen Kontrast zu den dunklen, mosaikartigen Symbolen, die sich in dem Freiraum zwischen Dreieck und Auge befinden. Ich frage mich, ob er wohl noch andere Tattoos an seinem Körper trägt. Ich würde es nur zu gern auf eigene Faust herausfinden.

„Nachdem ich meinen Bachelor in der Tasche hatte, war ich mit meinem besten Freund Simon für fünf Wochen in Indien unterwegs", beginnt Alexander daraufhin zu erzählen. „Eine Art Auszeit, das hatten wir uns wirklich verdient. Wir sind mit einem alten, klapprigen Bulli, den wir uns vor Ort geliehen haben, von Stadt zu Stadt gefahren. In der dritten Woche sind wir dann in Mumbai angekommen, und dort habe ich eine wundervolle, alte Dame kennengelernt."

Bei dem Gedanken an die Frau muss Alexander automatisch lächeln, was mir zu verstehen gibt, dass er sie wirklich gern gehabt haben muss. Schnell kippt er daraufhin den Rest des wahrscheinlich schon kalt gewordenen Kaffees hinunter, ehe er fortfährt.

„Diese Frau war eine einzige Inspiration für mich. Sie war die Großmutter eines Einheimischen, den wir zufällig auf dem Straßenmarkt kennengelernt haben. Ihr Name war Amisha, was glaube ich für Wahrhaftigkeit und Reinheit steht. Wir haben uns viel und oft unterhalten, teilweise sogar die ganze Nacht. Ich weiß nicht, ob es ihre Art war oder die Wahl ihrer Worte, zumindest hat sie mich ziemlich zum Nachdenken angeregt, über mich und die Welt. Ich habe sogar fast geheult, als ich sie nach einer Woche verlassen musste. Aber wir haben auch viel miteinander gelacht. Naja, wie der Zufall es so wollte, war Amisha zudem die älteste Tätowiererin im Dorf. Körperkunst gehört in vielen orientalischen Ländern zur Kultur, nur hat die alte Frau keine elektronische Tätowiermaschine benutzt, sondern zwei gewöhnliche Hölzer, eines davon mit einer Nadel am Ende. Und dann wird die Farbe quasi unter die Haut geklopft. Das ist irgendeine uralte Tradition, doch ich war von Anfang fasziniert davon."

Alexander hält kurz inne, sammelt seine Gedanken. Ich bin beeindruckt, wie viel er in seinem Leben bereits erlebt hat, und freue mich gleichzeitig für ihn, dass diese Frau ihm dabei geholfen hat, zu sich selbst zu finden. Ihre Inspiration scheint auf ihn übertragen worden zu sein.

„Wie dem auch sei, Amisha hatte ebenfalls das Auge in dem Dreieck auf ihrem Arm. Sie hat mir erklärt, dass es das Auges Gottes ist, das alles sieht und alle Menschen überwacht, so auch mich. Es soll behüten und beschützen, vor Gefahren warnen. Ich weiß, dass das total absurd klingt und ich auch eigentlich ein Atheist bin, allerdings war ich so von dieser Frau eingenommen, dass ich unbedingt genau dieses Tattoo von ihr haben wollte. Das Dreieck steht in diesem Kontext übrigens für die Dreifaltigkeit, also den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Naja, das war mir dann vielleicht doch etwas zu viel Gottesgequatsche, und so habe ich einfach im Laufe der Zeit die drei Heiligtümer des Todes hineininterpretiert."

Alexander lacht laut auf und ich falle unvermittelt mit ein. Mit den Geschichten vom berüchtigten Harry Potter bin ich sozusagen aufgewachsen, weshalb ich eine besondere Vorliebe für den tapferen Zauberer empfinde. Und es erfreut mich, dass dieser schöne, atemberaubende Mann, der mir gegenübersitzt, meine Leidenschaft mit mir zu teilen scheint.

„Das klingt einfach wundervoll", flüstere ich, doch es handelt sich hierbei eher um einen Gedanken, den ich aus Versehen laut ausgesprochen habe. Zerknirscht beiße ich in die Innenseiten meiner Wangen, wie so oft, wenn ich in seiner Anwesenheit etwas ausspreche, das ursprünglich nur für meine Ohren vorgesehen war.

„Das war es auch. Ich werde diese Frau niemals vergessen."

Alexander schaut mir während seiner Worte so tief in die Augen, dass ich mir plötzlich nicht mehr sicher bin, ob er da gerade die alte Frau aus Indien oder tatsächlich mich gemeint hat. Aber wahrscheinlich ist es nur mein überfüllter Kopf, der mir einen Streich spielt, weshalb ich mich wieder auf das eigentliche Thema konzentriere.

„Hat es nicht verdammt wehgetan?", frage ich also, woraufhin Alexander benommen den Kopf schüttelt.

„Nein, es war auszuhalten. Ich bin den Schmerz von Nadeln ja schon gewohnt, von daher war es okay. Obwohl Amisha zwischendurch echt hart zugeschlagen hat."

Er lässt den Finger über das Bild auf seinem Arm streichen, scheint mit einem Mal völlig abwesend zu sein. Ich beschließe, ihn für einen Moment in seinen Erinnerungen schwelgen zu lassen, um einen kurzen Blick auf mein Handy zu werfen. Doch als ich das Display anschalte, wünsche ich mir sofort, ich hätte es nicht getan. Vier Anrufe in Abwesenheit von meiner Mom, sechs von Robin. Dazu insgesamt fünfzehn Nachrichten. Ich fasse es nicht. Kann man nicht für ein paar Stunden seine Ruhe haben, ohne mit diesem Müll vollgebombt zu werden?

„Hey, äh ...", stammele ich dann, wodurch Alexander leicht zusammenzuckt. „Ich ... Ich muss los. Meine Mom, sie hat mich angerufen und mir geschrieben. Sie macht sich sicher Sorgen und es ist ja auch schon ziemlich spät."

Erst mit einem Blick auf die digitale Anzeige meines Handys bemerke ich, wie spät es tatsächlich schon ist. Scheiße, Mom wird mich umbringen. Es ist schon fast Mitternacht und morgen immerhin Schule. Und dann wirst du Alexander wiedersehen ...

„Oh, t-tut mir leid, wenn du meinetwegen Ärger bekommst. Ich wollte ... Ich wollte dich nicht aufhalten", bringt er hervor, kommt dabei jedoch mehrmals ins Stocken. Warum ist er plötzlich so nervös? Immerhin bin ich diejenige, die den Stress abbekommt, nicht er.

„Schon gut, du musst dich wirklich nicht andauernd entschuldigen."

Hastig reiße ich meine Lederjacke von der Sessellehne und streife sie mir über, ehe ich in das Seitenfach meiner Tasche greife, um etwas Kleingeld ausfindig zu machen. Doch als ich gerade die Münzen auf den Tisch befördern will, steht Alexander auf und legt seine Hand behutsam auf meinen Arm. Meine Körperhärchen richten sich augenblicklich auf, und ich hoffe inständig, dass er meine Gänsehaut nicht bemerken wird.

„Lass. Ich übernehme das schon", raunt er dann, und die plötzliche Tiefe seiner Stimme lässt meine Knie ganz wackelig erscheinen. Zu mehr als einem kleinlauten „Danke" bin ich nicht fähig.

Als ich mich gerade von ihm verabschieden und gehen möchte, packt er mit der Hand etwas fester zu, sodass ich seinem Griff nicht entfliehen kann.

„Warte mal. Wie kommst du eigentlich nach Hause?"

Verdammt. Darüber habe ich tatsächlich noch gar nicht nachgedacht. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll. Ich kann nicht zu Fuß gehen, immerhin ist es dunkel und spät ... und ziemlich weit. Geld für ein Taxi habe ich auch keines, weswegen meine möglichen Alternativen offenbar begrenzt sind. Ich schürze die Lippen und zucke lediglich mit den Achseln, was Alexander hingegen mit einem warmen Lächeln quittiert.

„Komm, ich fahre dich."

 

****

 

Ich habe keine verdammte Ahnung, wie ich mich dazu habe überreden lassen, jedoch stehen wir keine Viertelstunde später am Bordstein direkt vor dem Fachwerkhaus meiner Familie. Während der Fahrt haben wir uns mehr oder weniger locker unterhalten können. Er hat mir von seiner jüngeren Schwester Emilie erzählt und ich ihm von meiner Leidenschaft fürs Malen. Die wenigen Dinge, die ich bisher über Alexander weiß, spornen mich weiterhin an, mehr über ihn erfahren zu wollen, weshalb mir der Abschied schwerer fällt als gedacht. Vorhin im Café hätte ich einfach abhauen können, doch hier in seinem beengten Auto überwiegt das Bedürfnis, die ganze Nacht seiner Stimme zu lauschen.

In der Dunkelheit erkenne ich nur die Silhouette seines Gesichts, jedoch ist die Perfektion darin trotzdem deutlich sichtbar.

„Ich muss jetzt los", flüstere ich, und der Klang meiner Stimme hallt im stillen Innenraum des Autos wider. Ich bin mir zwar unsicher, wie ich ihn nach solch einem Abend verabschieden soll, entscheide mich allerdings für eine Umarmung. Immerhin habe ich ihm heute einen tiefen Einblick in meine schwarze Seele gewährt.

Also lehne ich mich etwas zu ihm herüber, um die Arme um seinen Hals legen zu können. Doch als er plötzlich mit der Hand in meinen Nacken schnellt und mich fest an sich drückt, sodass unsere Lippen aufeinandertreffen, bin ich vollkommen überrumpelt.

Erst nach und nach werde ich mir der Situation bewusst, dass es mein Lehrer ist, der da gerade sanfte Küsse auf meine Unterlippe haucht. Seine Lippen schmecken nach Kaffee und Minze, fast so wie in meinem Traum. Sie sind voll und weich, seine Berührungen vorsichtig und liebevoll. Und auch, wenn ich dieses himmlische Gefühl weiterhin auskosten möchte, stoße ich ihn mit voller Wucht von mir weg. Nach Luft japsend starre ich ihm in die Augen, die in der Dunkelheit begierig aufblitzen.

Nur mit viel Kraft schaffe ich es, das Verlangen nach diesem wundervollen Mann zu unterdrücken und stattdessen gespielt aufbrausend das Auto zu verlassen. Während ich schnellen Schrittes zur Haustür schreite, rinnt mir bereits die erste Träne über die Wange.

Es dauert eine Weile, bis ich den Schlüssel in dem Chaos meiner Handtasche finden kann, als plötzlich der startende Motor von Alexanders Auto ertönt. Schließlich fährt er mit quietschenden Reifen davon; welch ein theatralischer Abgang. Und trotzdem verharre ich regungslos auf der Fußmatte, bis der Klang seines Wagens in der Dunkelheit der Nacht verschwunden ist.

13| Kaffeehaare und Meeresaugen

 

13.

Von meinem Platz in der letzten Reihe kann ich den blühenden Innenhof durchs Fenster erspähen. Es ist mal wieder viel zu warm für einen Morgen im April, doch immerhin lässt das strahlende Grün der Bepflanzungen den Ernst der Schule etwas verschwinden. Erstaunlicherweise nehme ich erst jetzt von dem kleinen Teich Notiz, der sich hinter dem riesigen Rhododendronbusch versteckt hält und im Schein der Sonne glitzert. Gedankenversunken beobachte ich eine Taube, die sich am steinigen Ufer des winzigen Gewässers niedergelassen hat. Vorsichtig bückt sie sich, um etwas Wasser mit ihrem Schnabel auf ihr Gefieder zu tropfen, während sie sich in der Wärme des Feuerplaneten aalt. Dann schüttelt sie sich, plustert sich richtig auf, sodass sie irgendwie wie ein graues Wollknäuel aussieht. Dieses Prozedere wiederholt sie zweimal, bis sie schließlich die zerzausten Federn mit dem Schnabel glattstreicht. Ich bin so gerührt von diesem faszinierenden Anblick, dass ich die plötzliche Stille im Klassenzimmer nur im Hinterkopf wahrnehme.

„Guten Morgen", höre ich jemanden sagen, woraufhin ich erschrocken von der Taube ablasse. Schnell richte ich den Blick nach vorn und erstarre, als ich den Lehrer erkenne, der mich gestern Abend so hingebungsvoll geküsst hat. Wieder einmal sieht er verboten gut aus, und ihm so gegenüberzusitzen, in diesem Umfeld, fühlt sich fremd an. Irgendwie anders.

Letzte Nacht habe ich kein Auge zubekommen. Pausenlos hat sich das Szenario in Alexanders Auto in meinem Kopf abgespielt, wie eine nervige Endlosschleife. Es war so falsch - und doch so unfassbar richtig, zumindest hat es sich so angefühlt. Der Kuss war wunderschön, fast schon überwältigend, aber ich kann die Alarmglocken, die irgendwo in den Tiefen meines Hirns unaufhörlich schrillen, einfach nicht ignorieren.

Jedoch ... Allein bei dem Gedanken an unsere gestrige Verabschiedung, beginnen meine Lippen zu prickeln, mein Herz rastet förmlich aus und die Sehnsucht nach seinen Berührungen kreischt nach Erlösung. Ich sollte mich zu unser beider Wohl von ihm fernhalten, sollte am besten die Kurse wechseln, aber ich weiß, dass ich es nicht kann. Das ist zumindest eine der wenigen Erkenntnisse, die ich mit meinen Grübeleien von letzter Nacht gewonnen habe.

„Ella, der Jansen redet mit dir", zischt Kat plötzlich und stößt mir unsanft ihren Ellenbogen in die Seite. Benommen hebe ich den Kopf, blinzele erst sie und dann unseren Lehrer an.

„Hm, was?"

Als mein Blick schließlich klarer wird, kann ich die eindringlichen, dunklen Augen von Alexander erkennen, mit denen er mich fixiert. Sofort schießt mir ein Kribbeln durch Mark und Bein, das mich bis in mein tiefstes Inneres erschüttert. Ich muss die Luft anhalten, aus Angst, meine hektische Atmung könnte mich womöglich verraten. Und ich versuche, die neugierigen Blicke meiner Klassenkameraden auszublenden, um mich allein darauf zu konzentrieren, diesen Unterricht unversehrt zu überleben.

„Isabelle, ich würde dich bitten, nach der Stunde noch für ein kurzes Gespräch zu bleiben. Frau Schwarz hat mir noch Unterlagen bezüglich deiner Anmeldung überreicht, die du unterzeichnen musst. Außerdem habe ich ein paar Fragen zum Englischunterricht deiner vorherigen Schule."

Seine Mundwinkel beginnen zu zucken, was mir eindeutig zu verstehen gibt, dass Frau Schwarz ihm einen Scheiß gegeben hat und sein Anliegen völlig anderer Natur ist. Am liebsten würde ich jetzt aufstehen und ihm eine Ohrfeige verpassen, weil er es wagt, mich nach gestern Abend in solch eine Situation zu bringen, und das noch vor so vielen potentiellen Zeugen. Doch stattdessen nicke ich nur, wende den Blick von ihm ab und schaue wieder aus dem Fenster. Es versetzt mir einen Stich, dass die Taube inzwischen weitergezogen ist.

Alexander bleibt für ein paar Sekunden stumm, bis er letztlich mit dem Unterricht beginnt. Erleichtert darüber, dass die Aufmerksamkeit der Klasse nun nicht mehr mir gilt, nehme ich einen tiefen Atemzug, was meine Nervosität augenblicklich beschwichtigt. Dann wage ich einen vorsichtigen Blick zur Tafel, aber zucke zusammen, als im nächsten Moment Ninas Stimme ertönt.

Unterlagen, von wegen", murmelt sie, mit einem fiesen, gehässigen Unterton, der sich ebenso ziemlich zweideutig anhört. „Ich kann mir schon vorstellen, was die beiden zu bereden haben."

Das Miststück spricht ihre Vermutung zwar nicht aus, allerdings ist es aufgrund ihrer anzüglichen Betonung und den mit zwei Fingern geformten Gänsefüßchen offensichtlich. Ich muss viel Willenskraft aufbringen, um nicht einfach loszuheulen. Im Sekundentakt rasen mir Beleidigungen für sie durch den Kopf, die ich ihr am liebsten ins Gesicht spucken würde. Doch noch bevor ich zum Rückschlag ausholen kann, übernimmt Kat auf einmal das Wort.

„Sag mal, Nina. Glaubst du den Scheiß, den du von dir gibst, eigentlich selbst? Falls ja, dann frage ich mich ernsthaft, wie du jemals das Abi schaffen willst. Vielleicht solltest du eine Karriere als Detektivin in Betracht ziehen, mit dieser außerordentlichen Begabung in Vermutungen aufstellen. Wo hast du das gelernt, im RTL-Nachmittagsprogramm?"

Und sofort bricht in der gesamten letzten Reihe schallendes Gelächter aus. Alexander, der gerade noch eine Aufgabenstellung an die Tafel geschrieben hat, dreht sich hastig um und starrt mich mit zusammengekniffenen Augen an. Ich erwidere seine stumme Frage mit einem Achselzucken, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, meine selbstbewusste Fassade aufrechtzuerhalten. Nina ist zum Glück nicht weiter auf Kats Bemerkung eingegangen, die mich zugegebenermaßen sehr beeindruckt hat. Ich bewundere meine neue Freundin für ihre Courage, ein bisschen davon würde mir schon ausreichen.

„Dürfte ich wieder um eure Aufmerksamkeit bitten?", fragt Alexander schließlich in einem harscheren Tonfall, woraufhin das Gekicher der Anderen nach und nach verstummt. „Dankeschön."

„Was bildet sich diese dämliche Kuh eigentlich ein?", flüstert Kat mir zu, als die Klasse nach einer Weile wieder im Unterricht vertieft ist. Meine Antwort besteht bloß aus einem Seufzer, weil ich selbst keine Ahnung habe, warum dieses Mädchen mich derart hasst. Ich habe ihr immerhin nichts getan, und sie kann doch nicht ausschließlich von meiner Anwesenheit so genervt sein. Ich hoffe inständig, dass sie zumindest Alexander aus dem Spiel lassen wird, ansonsten könnte sie tatsächlich gefährlich für uns werden. Eine viel zu neugierige, schadenfrohe Mitschülerin würde das Fass der Geheimnisse wahrscheinlich zum Überlaufen bringen. Sie wäre der letzte Tropfen.

 

****

 

Am Ende der Stunde werde ich von grauen Augen angestarrt. Um Alexander für den Rest des Unterrichts ignorieren zu können, habe ich stattdessen zu Bleistift und Papier gegriffen. Am Anfang waren es sinnlose, dünne Striche, um das unbändige Chaos in meinem Kopf zu illustrieren, doch nach und nach verwandelte sich das Durcheinander in ein Paar kräftige, finstere Augen. Ich weiß selbst nicht, warum ich mich gerade für dieses Motiv entschieden habe, doch meine Hand hat sich sozusagen automatisch bewegt, weshalb ich den Malvorgang nicht kontrollieren konnte. Natürlich sind es Alexanders Augen, die mich durchbohren, ganz unverkennbar. Und gerade, als ich die dicken, schwarzen Härchen seiner Brauen nachziehe, klingelt es zur Pause.

Sofort herrscht wildes Treiben im Klassenzimmer, weshalb ich die Zeichnung schnell in meinem Block verschwinden lasse. Mit zitternden Händen verstaue ich daraufhin die Schreibutensilien in meiner Ledertasche, kann dabei aber nicht von Alexander ablassen, der ebenfalls seine Sachen zusammenräumt. Ich habe gar nicht erst angefangen, darüber nachzudenken, warum er schon wieder mit mir reden möchte, aber meine innere Aufregung reicht dennoch von den Haarspitzen bis zum kleinen Zeh. Die Befürchtung, dass er mich um Abstand bitten wird, verursacht mir solche Magenschmerzen, dass ich sie aus Selbstschutz beiseite schiebe.

„Ich warte unten am Eingang auf dich", versichert mir Kat, bevor auch sie das Klassenzimmer verlässt. Und dann bin ich mit meinem Lehrer allein. Schon wieder.

Während ich schweigsam auf meinem Platz sitzenbleibe, schreitet Alexander zur Tür, um sie zu schließen. Sorgsam darauf bedacht, keinen Lärm zu veranstalten, kommt er dann auf mich zu und setzt sich auf den Stuhl von Kat neben mich. Er sagt ebenfalls kein Wort, ist lediglich in dem Blau meiner Augen vertieft, bis er irgendwann ein unsicheres Seufzen von sich gibt.

„Hör mal ...", beginnt er, doch bricht den Satz sofort wieder ab. Es beruhigt mich ein wenig, dass er offenbar ähnlich nervös zu sein scheint wie ich. Ich erkenne kleine Schweißtropfen, die verräterisch auf seiner Stirn liegen, unauffällig zupft er an einem Faden seiner Blue Jeans.

„Ich kann einfach nicht glauben, dass ich das schon wieder sagen muss, aber ... Es tut mir leid, Ella." Plötzlich hebt er den Kopf, wobei seine pechschwarzen Pupillen beinahe meine gleichfarbige Seele erobern. „Ich kann dir nicht sagen, was da gestern in mich gefahren ist, aber ich kann dir versichern, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen wird."

Das war's also, er will sich von mir fernhalten. Auch wenn ich mir bewusst bin, dass er die richtigen Worte ausspricht, fühlen sie sich an wie Nadelstiche auf meiner Haut, wie eine Faust in meinem Gesicht. Der Gedanke daran, dass er mich nie wieder derart berühren wird, tut plötzlich so weh, dass ich die anbahnenden Tränen hinunterschlucken muss. Mein Hals ist ausgetrocknet, gleicht der schwülen Hitze der Sahara. Ich fühle mich wie eine Verdurstende.

Ganz ruhig, er ist dein Lehrer. Er ist dein Lehrer, du kannst ihn nicht haben, ermahne ich mich, doch auch die Wirkung meines gedanklichen Mantras scheint verblasst zu sein. Mit einem Mal spüre ich die altbekannte Verzweiflung, diese Hilflosigkeit, sodass mir nur eine Möglichkeit in den Sinn kommt, um nicht vor Alexander in Tränen auszubrechen.

Ohne auf seine Entschuldigung einzugehen, stehe ich auf und will nach dem Gurt meiner Tasche greifen, als er blitzschnell meinen Arm packt und sich ebenfalls erhebt.

„Jetzt lauf nicht schon wieder direkt davon", weist er mich mit einer behutsamen, aber auch sehr dominanten Stimme an, wodurch ich keine andere Wahl habe, als mich abermals auf dem Stuhl niederzulassen. Alexander stöhnt erleichtert auf, ehe auch er wieder Platz nimmt.

„Es liegt nicht an dir, Ella. Ich meine ... Fuck, es liegt doch auf der Hand, warum wir uns nie wieder so nahekommen können."

Verdammt, was soll das denn jetzt? Es ist ja nicht so, als hätte ich mich an seinen Hals geschmissen und ihn angebettelt, mich zu küssen.

„Moment mal. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Nähe von mir ausging. Du hast mich geküsst!" Die letzten Worte purzeln in einer viel zu hohen Oktave aus meinem Mund, weshalb ich zusammenzucke und mein Kopf unvermittelt Richtung Tür schnellt. Doch zum Glück scheint mich niemand auf dem Flur vernommen zu haben.

„Also bitte, Alexander, lass diese unnötigen Erklärungsversuche. Es war falsch, ja, aber diesen Fehler habe nicht ich gemacht."

Der Lehrer zieht hörbar die Luft durch seine Zähne ein, setzt dann eine nachdenkliche Miene auf. „Ich weiß, aber ... Ich hätte es nicht getan, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, dass du es genauso willst."

Von jetzt auf gleich sieht er so niedergeschlagen aus, dass mir meine Wortwahl fast schon leidtut. Sie war ohnehin gelogen, aber was soll ich ihm auch sonst sagen. Dass es mir gefallen hat? Dass ich mir seitdem ununterbrochen wünsche, dass er es nochmal tut? Stattdessen bleibe ich für einen Moment stumm, fixiere meine ineinander verschränkten Finger in meinem Schoß. Wie gern würde ich jetzt sein Knie berühren, welches sich nur wenige Zentimeter neben dem meinen befindet.

„Alex, ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst. Aber ich denke, dass es besser ist, wenn ... wir solche Zusammentreffen in Zukunft vermeiden", murmele ich nach einer Weile, und jede Silbe verstärkt das Gefühl der Rasierklingen in meinem Hals. Insgeheim hoffe ich, dass er mir die Unehrlichkeit ansehen wird, doch seine Mundwinkel rutschen stattdessen immer weiter nach unten.

„Ja, du hast vermutlich recht", erwidert er schließlich, als seine vorherigen angespannten Gesichtszüge wieder etwas weicher erscheinen. Dann legt er unkommentiert seine Hand auf mein Knie, streicht mit dem Zeigefinger über den Stoff meiner Jeans, was mich augenblicklich erschaudern lässt. Überall da, wo er mich berührt, hinterlässt er eine Spur aus brodelndem Feuer, welche sich leicht schmerzhaft auf meiner Haut ausbreitet.

Was hat er verdammt nochmal an sich, das meinen Körper so verrückt spielen lässt?

Weitere, endlose Minuten der Stille vergehen, bis Alexander sich plötzlich aufrichtet und lautstark räuspert.

„Okay, auch auf die Gefahr hin, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben möchtest ... Und ja, ich weiß, dass ich hier die Verantwortung trage und ich auch eigentlich der Erwachsenere von uns beiden bin, aber ... Ach, scheiß drauf. Isabelle, lass uns heute nochmal einen Kaffee trinken gehen, bitte. Ich möchte mehr über dich erfahren, dich kennenlernen."

Was zum ...? Mit aufgerissenen Augen entgegne ich seinem flehenden Blick, unsicher, ob ich mich nicht gerade verhört habe. „Haben wir uns nicht eben noch darauf geeinigt, dass wir uns nicht mehr treffen sollten? Ich meine-"

„Verdammt ja, ich weiß", unterbricht er mich, wobei seine Stimmfarbe etwas an Härte zugenommen hat. „Schon gut, vergiss es. Ich bin schließlich dein Lehrer und ... sollte jetzt lieber gehen. Wie gesagt, tut mir leid."

Wortlos erhebt er sich, greift seine Aktentasche vom Boden und eilt zielstrebig zur Tür, ohne mich noch einmal anzusehen. Mit einer bebenden Stimme bitte ich ihn zu bleiben, doch Alexander schüttelt mich mit einer abweisenden Handbewegung ab und verschwindet keine Sekunde später im Flur. Perplex schaue ich ihm hinterher, ehe die schwere Holztür mit einem Krach ins Schloss fällt.

Was zum Teufel war das denn?

 

****

 

I'm waking up, I feel it in my bones. Enough to make my systems blow", brülle ich aus voller Kehle. Meine Stimme ist mittlerweile ein einziges Kratzen, doch ich singe mir trotzdem die Seele aus dem Leib. Ich habe das gesamte Haus für mich, habe die Boxen der Anlage auf volle Lautstärke aufgedreht und hüpfe zu Musik von Imagine Dragons durchs Wohnzimmer. Weder Mom noch Robin haben mir Bescheid gegeben, dass ich allein zu Hause sein werde, doch nun koste ich die willkommene Einsamkeit voll aus. Ich wundere mich allerdings, dass die Nachbarn sich noch nicht über den Lärm beschwert haben, immerhin müsste es schon weit nach neunzehn Uhr sein. Doch selbst wenn sie es täten, wäre es mir vollkommen egal. So, wie mir im Moment einfach alles egal ist.

Immer dann, wenn sich zu viele negative Gefühle um einen Platz in meinem Herzen streiten, wenn mein Kopf vor lauter Gedanken zu zerplatzen droht, schalte ich sämtliche Funktionen meines Körpers ab. Eine Art Schutzfunktion, die ich mir im Laufe der Zeit angeeignet habe. Dann tue ich Dinge, die mir Spaß machen, die keinen Sinn ergeben, die mich mein erdrückendes Leben für einen kurzen Augenblick vergessen lassen, genau wie jetzt. Wenn ich wie eine Irre rumtanzen muss, um glücklich zu sein, dann nehme ich eine Beschwerde der Nachbarn in Kauf.

Allerdings ist es nicht das spießige Ehepaar von nebenan, das meine Solokarriere kurzerhand beendet, sondern meine Mutter und mein Bruder, die mit einem Mal im Türrahmen stehen und mich beobachten. Robin wirkt amüsiert, wohingegen die Gesichtszüge von Betty keinerlei Emotionen andeuten. Abrupt halte ich inne und schnappe mir die Fernbedienung der Anlage vom Sofa, um die Musik auszuschalten.

„Danke, dass ihr mich darüber informiert habt, dass ihr unterwegs seid", bemerke ich schnippisch, während meine Familie im Gleichschritt auf mich zukommt. Mom zieht mich in eine intensive Umarmung, drückt mich so fest an sich, dass ich ihren wummernden Herzschlag spüren kann.

„Entschuldigung, Schatz. Aber dein Bruder und ich waren gerade bei der Polizei. Der Anruf kam so überraschend, dass ich in dem ganzen Trubel völlig vergessen habe, dir einen Zettel zu schreiben."

„Außerdem bist du ja offensichtlich gut allein zurechtgekommen", fügt Robin grinsend hinzu, was ich mit einem ermahnenden Augenausdruck erwidere und mich dann wieder Betty zuwende.

„Was wollten die Bullen denn? Und was ist eigentlich genau passiert?"

Mom seufzt und lässt sich in das braune Ledersofa fallen, das mich so sehr an die Couch von Sigmund Freud erinnert. Ich sehe ihr an, dass sie sich Tränen verkneifen muss, weshalb ich mich neben sie setze und behutsam ihre Hand nehme.

„Das erklärt dir dein Bruder am besten selbst", antwortet sie schlicht, woraufhin sie sich auffordernd zu Robin umdreht, der aufgewühlt quer durchs Wohnzimmer stampft.

„Ist ja schon gut", stöhnt er und wirft kapitulierend die Arme in die Luft. „Fuck, ich habe doch nur so 'nem Kerl die Fresse poliert, was ist daran so schlimm? Er ist ja nicht gestorben, oder so."

„Was daran so schlimm ist?", kreischt meine Mutter und springt fast vom Sofa auf, doch ich kann sie gerade noch zurückhalten.

„Mom, beruhig dich. Jetzt lass ihn doch mal erzählen." Mein Plan, den Rest des Tages zu entspannen und keine Sorgen an mich heranzulassen, hat sich somit wohl in Luft aufgelöst. Hakuna Matata.

Robin hat sich derweil neben dem Sofa platziert und die Hände in die Hüften gestemmt. „Übertreib doch nicht so, Mom. Ich habe ihm nicht mal was gebrochen, und der Bulle meinte doch, dass die Schwellungen in ein paar Tagen zurückgehen werden."

„Verdammt, jetzt erzähl mir doch endlich, warum du diesen Mann geschlagen hast!", funke ich dazwischen, da mir so langsam der Geduldsfaden reißt. Ich liebe meine Familie, ja wirklich, aber manchmal treibt sie mich einfach zur Weißglut.

„Weil mich dieser verfluchte Wichser an der Bar provoziert hat, ganz einfach. Er meinte, dass Väter sowieso nur eine Enttäuschung sind, und dass man sie eigentlich gar nicht braucht im Leben. Scheiße, der Kerl hat doch keine Ahnung. Ich ... Ich bin einfach durchgedreht."

Und so langsam kann ich die überschwängliche Wut meines Bruders nachvollziehen. Ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde, wenn mir jemand soetwas ins Gesicht sagen würde. Gut, dieser Mann wird wahrscheinlich nicht gewusst haben, dass unser Vater unter grausamen Umständen aus dem Leben gerissen wurde, allerdings hat er trotzdem nicht das Recht, mit dummen, unüberlegten Aussagen um sich zu schmeißen. Auf einmal empfinde ich sogar Mitleid für Robin, weil er sich mit solch einem Idioten auseinandersetzen musste, und das, obwohl seine Narben doch gerade erst angefangen haben zu heilen.

Mom scheint die Situation hingegen etwas anders einzuschätzen, denn plötzlich ertönt ihre schrille, entkräftete Stimme. „Und das ist trotzdem kein Grund, einfach auf diesen Mann einzuschlagen. Du kannst von Glück reden, dass er keine Brüche erlitten und Anzeige erstattet hat. Was ist nur in dich gefahren?"

„Ist das dein Ernst? Was hättest du denn getan, wenn dir jemand sagen würde, dass Dad sowieso eine Enttäuschung und unwichtig gewesen ist? Könntest du ruhig bleiben?", schreit Robin zurück, fuchtelt dabei wild mit den Armen durch die Luft.

Während Mom wie von einer Tarantel gestochen aufspringt und meinem Bruder Vorwürfe an den Kopf knallt, bin ich schon wieder in meine Gedankenwelt abgetaucht. Dass die beiden immer noch Krieg führen und sich lieber anbrüllen, als sachlich miteinander zu reden, ist das Sahnehäubchen meines heutigen Tages. Ich überlege fieberhaft, wie ich mich schnellstmöglich aus dieser missgünstigen Lage befreien kann, wobei mir nur ein Ort einfällt, an dem ich jetzt lieber wäre als in diesem Affenkäfig.

 

****

 

Die Farbe des frisch aufgebrühten Kaffees erinnert mich an den Ton ihrer Haare. Dieses perfekte, dunkle Braun. Die Tasse ist noch heiß, doch ich setze sie trotzdem an meine Lippen und nehme einen großen, erlösenden Schluck des flüssigen Goldes. Der Schmerz in meinem Rachen hält nur für kurze Dauer, da er schnell von den Erinnerungen an heute Morgen überdeckt wird.

Es war falsch, ... Fehler ...

Ihre harschen Worte hallen noch immer in meinen Gedanken wieder, wie ein zerstörerischer Ohrwurm, der sich in meinem Kopf eingenistet hat. Gott, wie konnte ich nur so blöd sein? Wie konnte ich mich nur so von meinen Gefühlen leiten lassen? Aber gegen diese Frau bin ich machtlos. Ihre Lippen sind ein Magnet, meine aus Metall. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen solch süßen, köstlichen Mund geschmeckt zu haben. Und die Tatsache, dass ich schon jetzt meinen Job verlieren könnte, verliert mit einem Mal an Relevanz.

Jetzt sitze ich hier, seit einer Stunde, und warte nur auf sie. Dabei wird sie sowieso nicht kommen. Ich weiß gar nicht, wovon sich dieses letzte Stück Hoffnung in mir nährt. Ich weiß auch nicht, warum ich mich überhaupt so von ihr angezogen fühle. Ich weiß nur, dass ich sie haben muss, dass ich sie berühren und küssen muss, alles in mir sehnt sich danach.

Und als ich nach einer weiteren halben Stunde den Kopf hebe und im Eingang des Cafés das Meer ihrer Augen erkenne, weiß ich nicht, ob ich jemals die Finger von ihr lassen kann. Ob ich jemals damit aufhören kann, sie zu wollen.

14| Die Welt ist klein

 

14.

Wie gebannt starre ich auf die Uhr an der Wand. Noch elf Sekunden, bis endlich das ersehnte Wochenende beginnt. Noch zehn, neun, acht ...

„Hey, Ella", flüstert Kat mir plötzlich zu. „Was grinst du denn so? Findest du den Kalten Krieg etwa so lustig?"

Abwesend schüttele ich den Kopf, ohne jedoch meine Mundwinkel zu senken. Dafür bin ich viel zu gut gelaunt. Noch drei, zwei, eins ...

Ich weiß nicht, wer auf die glorreiche Idee gekommen ist, den Geschichtskurs in die letzte Stunde am Freitag zu legen, aber nun hat die Qual endlich ein Ende. Zumindest fast, denn Kat und ich haben beschlossen, heute bei mir für den Mathetest am kommenden Montag zu lernen. Ich könnte Herrn Thiele dafür verfluchen, meine Intelligenz nach lediglich zwei Wochen derart beanspruchen zu müssen, doch auch schlechte Mathenoten können dieses mächtige Gefühl in mir nicht aufhalten. Das Gefühl, unbesiegbar zu sein, die Welt erobern zu können. Dieses Gefühl, welches mich unaufhörlich berauscht, seitdem ich am letzten Dienstag mit Alexander im Café gewesen bin.

„Gibt deinem Bruder Zeit, Ella. Du kannst nicht erwarten, dass ein Umzug in eine neue Stadt alle Probleme von jetzt auf gleich beseitigt", redete er auf mich ein, während ich ihm den Tränen nahe gegenübersaß. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, wie so oft, wenn er die Wahrheit aussprach. Vielmehr konzentrierte ich mich auf die Serviette, die ich in kleine Stücke zerpflückte und zwischen meinen Fingern zwirbelte. Selbst ein Blinder konnte sehen, wie nervös ich war.

„Ich weiß", schniefte ich. „Aber ... Scheiße! Ich halte das einfach nicht mehr aus, verstehst du? Ich kann all die Wut, die Trauer, die Angst, all diese negativen Gefühle nicht mehr ertragen. Ich ersticke langsam daran."

Nun kullerte mir doch eine Träne über die Wange, aber komischerweise war es mir nicht mal peinlich. Alexander hatte in den letzten fünfundvierzig Minuten mit seiner mitfühlenden Art dafür gesorgt, dass ich mich vollkommen fallen lassen konnte. Ich war frei von niederschmetternden Gedanken, frei von meinem realen Leben, und das zum ersten Mal nach langer, langer Zeit. Auch, wenn ich diesen Mann am nächsten Tag nie mehr wiedersehen würde, so wäre ich ihm doch ewig dankbar für den Funken Aufmerksamkeit, den er mir schenkte, als ich ihn so dringend gebraucht hatte.

„Ich ... kann deine Situation nicht schönreden, Isabelle, und das will ich auch gar nicht. Aber wenn du das nächste Mal das Gefühl hast, zu ersticken, dann werde ich bei dir sein. Versprochen."

Der Blick, den Alexander dann aufsetzte, schoss mir durch Mark und Bein. Dieses warme, mir vertraute Braun seiner Augen, welches sich wie ein Schutzschild um meinen Körper schmiegte. Alles, was ich in ihm sah, war Ehrlichkeit und Hoffnung. Und ich war so überwältigt davon, dass ich unvermittelt in Tränen ausbrach und mich an seiner Schulter ausheulte.

Seitdem haben wir uns jeden Abend im Baker's Coffee Store getroffen. Die wohltuenden Gespräche mit Alexander sind so etwas wie Routine geworden, ohne die ich vermutlich auch weiterhin keinen ruhigen Schlaf finden würde. Unser Treffpunkt liegt zum Glück etwas außerhalb der Stadt, weshalb die Wahrscheinlichkeit, einem bekannten Gesicht zu begegnen, relativ gering ist. Meiner Mom habe ich hingegen weißgemacht, in der Zeit bei Kat ein Referat vorzubereiten, und zu Beginn ist es mir ziemlich schwergefallen, diese Lüge aufrecht zu erhalten. Mittlerweile stellt Betty jedoch keine Fragen mehr, sodass ich einfach wortlos das Haus verlassen kann, um in meine heimliche Schutzblase zu flüchten.

Dass Alexander mein Lehrer ist und unsere Treffen genaugenommen verboten sind, spielt mittlerweile nur noch selten eine Rolle. Zumindest für mich. Es fühlt sich auch nicht mehr merkwürdig an. In erster Linie ist er ein Mensch, ein wundervoller, schöner Mensch, der für mich da ist, und der Rest ist vollkommen unwichtig. Davon abgesehen machen wir ja auch nichts Verbotenes, wir reden nur, völlig harmlos.

Und doch ...

Es ist so viel mehr als das.

Die Angewohnheit, dass Alexander mich wie eine ernstzunehmende Frau behandelt und nicht wie ein wertloses, dummes Kind, ist wie Balsam für meine Seele. Und diese flüchtigen Berührungen meiner Hand oder meines Knies sind alles andere als harmlos. Noch nie habe ich mich bei einem anderen Menschen so sicher gefühlt, so aufgefangen. Es ist, als würde er all seine Gedanken, all seine Gefühle allein auf mich projizieren, als würde er dabei die Außenwelt komplett ausblenden. Und erst durch seine Existenz ist mir klargeworden, wie sehr ich diese Art von Zuwendung gebraucht habe.

 

****

 

„Jetzt spuck endlich aus, was neuerdings mit dir los ist. Deine übertrieben gute Laune ist ja fast ekelhaft", lacht Kat, als wir nach einer Heimfahrt in dem Auto ihrer Mom mein Zuhause betreten. Ich horche in die Stille des verträumten Fachwerkhauses hinein, kann aber keinerlei Geräusch vernehmen. Wir sind definitiv allein, da meine Familie nicht existieren kann, ohne irgendeinen Lärm zu veranstalten. Himmel sei Dank, denke ich und fordere meine Freundin schließlich auf, mir in die Küche zu folgen.

Um ihrer Bemerkung nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, zucke ich nur mit den Achseln und bringe ein schlichtes „Nichts" hervor, ehe ich uns zwei Limonaden aus dem Kühlfach angele. Das Lächeln, das sich unmittelbar in meinem Gesicht ausbreitet, muss ich geschickt hinter der Kühlschranktür verbergen. Verdammt, ich muss mich wirklich unauffälliger verhalten. Wenn das so weitergeht, wird Kat mein Geheimnis schneller lüften als ich Rausschmiss buchstabieren kann.

Also versuche ich, mich mit regelmäßigen Atemzügen zu besänftigen, bevor ich mich Kat erneut zuwende und ihr eine Flasche reiche.

„Ich bin einfach gut drauf, weil Wochenende ist", füge ich hinzu, um mögliche Verdächtigungen endgültig aus ihrem Kopf zu vertreiben. Das scheint mir sogar zu gelingen, denn auf einmal sind ihre Gesichtszüge viel entspannter und ihr Blick nicht mehr ganz so forschend.

„Ich kann mir schon denken, warum Ella so auf Wolken schwebt", höre ich jedoch plötzlich die Stimme meiner Mutter sagen, die wie aus dem Nichts im Türrahmen der Küche erschienen ist. Einem Herzinfarkt nahe, zucke ich augenblicklich zusammen und werfe ihr daraufhin warnende Blicke zu, mein Puls scheint sich derweil nur langsam beruhigen zu können.

Wie sehr ich es doch hasse, erschreckt zu werden. Das Leben ist immerhin erschreckend genug, da muss man diesen Zustand nicht noch unfreiwillig hervorrufen. Und außerdem gibt mir diese plötzliche innere Unruhe zu verstehen, dass ich Kat so schnell wie möglich von meiner Mom wegschaffen muss.

„Hallo, Frau Lorenz. Ich bin Kat, Ellas Freundin aus der Schule", stellt sich das schwarzhaarige Mädchen meiner Mutter vor, die wiederum ihre ausgestreckte Hand mit einem überschwänglichen Grinsen entgegennimmt. Von den freudestrahlenden Blicken, die die beiden miteinander austauschen, wird mir fast übel.

„Kat, schön dich endlich kennenzulernen. Meine kleine Ella erzählt immer so viel von dir, endlich habe ich dazu auch ein Gesicht. Und dann noch so ein hübsches. Und bitte, nenn mich doch Betty."

„Mom! Kat und ich müssen jetzt wirklich anfangen zu lernen", mische ich mich blitzschnell ein, damit die beiden sich nicht noch leidenschaftlich um den Hals fallen. Unauffällig lege ich meiner Freundin die Hand auf den Arm, um sie Richtung Treppe zu lenken, doch noch bevor wir die Küche verlassen können, meldet sich Mom erneut zu Wort.

„Schon gut, schon gut. Ich lasse euch ja schon in Ruhe. Aber sag mal, Schatz. Wie läuft es denn eigentlich mit eurem Referat?"

Scheiße.

Und plötzlich wird mir klar, warum ich von Anfang an ein schlechtes Gefühl dabei hatte, Kat meiner Mom vorzustellen. Ich habe sie in die Lüge mit dem Referat nicht eingeweiht! Wozu auch? Und wie erkläre ich das jetzt meiner Freundin?

Von jetzt auf gleich weicht mir jegliche Farbe aus dem Gesicht, mein Puls rast, von null auf hundertachtzig. Selbst durch ihre Jacke hindurch spüre ich, dass auch Kat mit einem Mal ziemlich angespannt ist, weshalb ich ihr sofort einen flehenden Bitte-spiel-mit-Blick zuwerfe. Sie scheint zu verstehen, nickt kaum merklich.

„G-gut, Mom. A-alles bestens. Wir gehen dann jetzt in mein Zimmer", stammele ich undeutlich und will gerade zum Treppengeländer greifen, um dieser peinlichen Situation endlich entkommen zu können, als Robin urplötzlich zur Haustür hereinstolpert.

Sehr schön, dann ist Familie Flodder ja nun komplett. Wollen die Spießer von nebenan nicht vielleicht auch noch rüberkommen, um mich bei meinem Glanzmoment zu unterstützten? Spontan beschließe ich, nie wieder eine Schulfreundin mit nach Hause zu bringen. Dieses unnötige, verfluchte Chaos! Es lässt mir überhaupt keine Möglichkeit, darüber nachzudenken, wie ich Kat die offensichtliche Lüge erklären soll. Sie wird Fragen haben, ganz sicher, aber mit einer ehrlichen Antwort würde ich mich wahrscheinlich ins Verderben stürzen. Willkommen in meinem alltäglichen Wahnsinn, ich bin müde.

„Hey Leute, was ist denn hier-", will Robin uns gerade begrüßen, als er nach wenigen Sekunden die Küche betritt. Er wird jedoch sofort von Kats schriller Stimme unterbrochen.

„Was zum Teufel macht der denn hier?"

Verdutzt hält mein Bruder inne und runzelt die Stirn, meine Reaktion fällt ähnlich aus. Schon wieder wird mein Puls in die Höhe getrieben, und ich weiß nicht, wie oft mein Herz derartige Attacken noch mitmachen wird. Ich wusste nicht mal, dass die beiden sich überhaupt kennen, also was ist ihr Problem? Allerdings scheint Robin ebenfalls auf dem Schlauch zu stehen, da er mit einem fragenden Gesichtsausdruck zwischen Mom, Kat und mir hin- und herschaut.

„Was ... Was willst du? Und wer bist du denn überhaupt?", erwidert er in einem schroffen Tonfall, bevor er die beiden Einkaufstüten in seinen Händen auf den Küchentresen befördert. Kurz überrascht es mich, dass er einkaufen war, doch Kat holt mich schnell in das Geschehen zurück.

„Das ist der Typ, von dem Marvin vor ein paar Tagen verprügelt wurde!"

Verdammt. Nein.

Für den Bruchteil einer Sekunde steht die Erde still. Das kann sie jetzt nicht wirklich gesagt haben, das kann doch nicht wahr sein. Das waren genug Hiobsbotschaften für heute, was kommt denn bitte als nächstes? Unvermittelt setzt sich das Chamäleon in mir in Bewegung, zerrt unkontrolliert an meinen Gedärmen, während es einen dreckigen Matschton annimmt.

„Was?!", rufe ich ungläubig aus und lasse meinen Blick nun ebenfalls zwischen Robin und Kat hin-und herschweifen. Ich bin so müde, so unendlich müde. Meine aufmüpfige Freundin geht schließlich als Erste auf meinen Klärungsbedarf ein.

„Ja, habe ich dir das nicht erzählt? Es war letzten Montag, während der Schicht nach der Schule. Der Typ da ...", blafft sie abfällig und deutet mit dem Daumen auf Robin, „der war total besoffen. Marvin hat sich eine Weile mit ihm unterhalten, bis der plötzlich ausgeholt und Marv mitten ins Gesicht geboxt hat. Einfach so, aus dem Nichts. So schnell konnte ich gar nicht gucken."

Mit finsteren, zusammengekniffenen Augen fixiere ich das errötete Gesicht meines Bruders, Kat und meine Mutter tun es mir gleich.

„Stimmt das?", fahre ich ihn an, woraufhin er den Blick von mir abwendet und auf die Einkaufstüten starrt. Dann nickt er, wirkt mit einem Mal wie ein kleiner, verängstigter Junge.

„Ja, verdammt. Es tut mir doch leid. Kann ich ja nicht wissen, dass der Typ offenbar ein Freund von euch ist."

Im Augenwinkel kann ich erkennen, wie Kat ihre Zähne aufeinanderpresst. „Ist doch scheißegal, ob er ein Freund ist oder nicht. Du hast niemanden in meiner Bar zu schlagen, kapiert?"

Ich kann mir nicht erklären, woher dieser plötzliche Sinneswandel in mir stammt, aber so langsam verpufft die Wut auf meinen Bruder und verwandelt sich in das Gefühl, ihn verteidigen zu müssen. Immerhin hat er nicht grundlos zugeschlagen. Und er war betrunken.

„Moment mal, Kat. Robin hat Marvin bestimmt nicht einfach so geschlagen, er hatte seine Gründe. Was jetzt nicht heißen soll, dass ich seine unnötige Gewalt toleriere." Meine Stimme klingt unfreundlicher als beabsichtigt, aber ich finde es mit einem Mal irgendwie unfair, dass mein Bruder einfach so zum gewissenlosen Schläger degradiert wird, ohne sich erklären zu können.

„Achja?", knurrt Kat. „Was hat Marvin denn so schlimmes getan?"

„Er ... hat abschätzige Bemerkungen von sich gegeben ... über Väter. Und, da unser Dad ja tot ist, hat Robin sich provoziert gefühlt. Es war eine Kurzschlussreaktion, er ist einfach noch so wütend. Apropos, ich kann nicht glauben, dass Marvin so einen Blödsinn erzählt."

Die Falten auf Kats Stirn legen sich nach und nach, bis sie schließlich gänzlich verschwunden sind. Da ist es wieder, dieses unausgesprochene Mitleid, das ihr in großen Lettern im Gesicht geschrieben steht. Ich kann es ihren glasigen, himmelblauen Augen ablesen. Doch ich weiß, dass ihr niemals, unter gar keinen Umständen ein Wort des Mitleids über die Lippen kommen würde, und das ist nur einer der vielen Gründe, weshalb ich sie so sehr schätze.

„Hm, achso", murmelt sie, wesentlich leiser als noch vor wenigen Atemzügen. „Okay, das erklärt einiges. Wisst ihr, Marvin wurde als Kind von seinem Dad verlassen. Er hat seit über siebzehn Jahren nichts von ihm gehört, weshalb er ein etwas ... verzerrtes Bild über Vaterschaft in sich trägt. Er hat das mit eurem Dad bestimmt nicht gewusst, es war sicher nicht böse gemeint."

Und mal wieder bewundere ich Kat, dass sie so bedingungslos Partei für ihren Freund ergreift. Ich hoffe, dass sie eines Tages auch für mich einstehen wird, wenn es denn sein muss.

„Schon gut", erwidere ich schließlich und lege ihr tröstlich meine Hand auf die Schulter. Robin schnauft hörbar und nuschelt undeutliche Worte vor sich hin, doch ich gehe nicht darauf ein. Ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, dass der Ärger zwischen Marvin und ihm meine neugewonnene Freundschaft zerstört. Mein Bruder hat mir schon so einiges abverlangt, aber das zwischen Kat und mir wird er nicht bekommen.

Ich verabschiede mich innerlich von der Harmonie, die unser Heim nun endgültig verlassen hat. Wenigstens konnte ich für ein paar Tage das Leben einer normalen Familie genießen, damit ist es wohl vorerst vorbei.

Die nächsten Minuten vergehen schweigend, wobei ich die Anwesenheit meiner Familie als durchaus unangenehm empfinde. Letztlich ist es meine Mom, die hervortritt und angespannt zwei Finger auf die Nasenwurzel drückt. Wahrscheinlich hat sie mal wieder Kopfschmerzen bekommen.

„Ach, Kinder. Nun ist aber auch mal gut. Lasst uns dieses Missverständnis doch einfach aus der Welt schaffen, anstatt weiterhin darüber zu zanken." Ihre zarte, ruhige Stimme wirkt wie ein Wundermittel, welches die Gemüter aller Anwesenden zu beschwichtigen scheint. „Die Scheiße ist ja nun mal passiert, daran kann man jetzt nichts mehr ändern. Es nützt ja nichts, wenn wir uns deswegen jetzt auch noch die Köpfe einschlagen."

Kat seufzt, wohingegen Robin sich verlegen am Haaransatz kratzt. Niemand sagt auch nur ein Wort, die Blicke hängen verlegen in der Luft. Ich bin so müde, dass ich diesem Eiertanz schließlich ein Ende bereite.

 

****

 

Nach weiteren fünfzehn Minuten der Zwangsversöhnung, gelingt es mir endlich, meine Schulfreundin ohne einen weiteren Zwischenfall in mein Zimmer zu bugsieren. Es sind einfach zu viele Gefühle, die im Moment meinen Kopf durchfluten, und einzig der Gedanke an mein späteres Treffen mit Alexander hält mich davon ab, komplett durchzudrehen. Ich rufe mir seine heilsamen Worte in Erinnerung, bevor ich mich auf die Kante des Bettes hocke und neben mir auf die Decke klopfe.

„Setz dich."

Zum ersten Mal, seit ich Kat kenne, weiß sie offensichtlich nicht, was sie sagen soll. Mir geht es genauso, allerdings ist diese peinliche Anspannung einfach unausstehlich, weshalb ich das Wort unaufgefordert an mich reiße.

„Also, sorry, dass ich dich vor Mom in so eine blöde Situation gebracht habe. Ich ... hätte dich wohl besser einweihen sollen. Und sorry, dass du den Irrsinn meiner Familie direkt mit geballter Faust abbekommen hast. Eigentlich sind die zwei ganz nett."

Durch Kats anzügliches Grinsen, scheint sich das Unwetter zwischen uns unvermittelt aufzulösen und einem wolkenlosen Himmel zu weichen. „Alles gut, Ella. Du hast meine Mom noch nicht kennengelernt, die ist zehnmal schlimmer, glaub' mir. Aber, sag mal, sollten wir jetzt nicht lieber das Referat vorbereiten?"

Ihre Augenbrauen wackeln ungeduldig auf und ab, während ich mir innerlich eine glaubhafte Ausrede zurechtlege. Ich hätte vielleicht doch an dem Improvisationskurs teilnehmen sollen, der an meiner alten Schule im Nachmittagsprogramm angeboten wurde. Dann würde ich jetzt nicht diese sinnlosen Wortfetzen von mir geben, als hätte ich einen Schlaganfall.

„Ich ... äh, naja. Weißt du, ich ..."

... bin scharf auf unseren Lehrer und treffe mich heimlich mit ihm, beende ich den Satz in Gedanken, sage jedoch nichts mehr.

„Warum denkt deine Mom, dass wir ein Referat zusammen vorbereiten?", hakt Kat erneut nach, wodurch sie mich dermaßen in die Ecke drängt, dass ich schließlich resigniert nachgebe. Wenn es eine Sache gibt, die ich über meine neue Freundin bereits gelernt habe, dann ist es die Tatsache, dass sie niemals aufgibt. Sie würde wahrscheinlich hier übernachten, bis ich endlich den Mund aufmache und sie bekommt was sie will.

„Ehrlich gesagt ... Ich treffe mich mit jemandem."

Ungläubig starrt Kat mich an.

„Mensch Ellalein, wieso hast du das nicht gleich gesagt?" Viel zu schwungvoll fällt sie mir um den Hals, sodass ich beinahe nach hinten umkippe. Ich kann mich jedoch gerade noch abstützen und erwidere ihre Zuneigung mit einem ziemlich schlechten Gewissen.

„Wer ist es denn? Kenne ich ihn? Moment, ist es überhaupt ein er?", sprudelt es dann aus ihr heraus, doch mit jeder ihrer Fragen wächst meine Verzweiflung ins Unermessliche. Showtime.

„Nein, ich glaube nicht, dass du ihn kennst. Er heißt A ... ndreas und ist ... eine Stufe über uns."

Was zum Teufel rede ich da eigentlich? Kat kennt bestimmt jeden Typen der Oberstufe mit Namen, sie ist immerhin recht beliebt. Wiederum, was hätte ich sonst tun sollen? Sie hält mich wie eine Spinne in ihrem Netz der Neugierde gefangen.

Nachdenklich legt sie einen Finger an ihre Lippe, ihre Pupillen blitzen kaum merklich auf. „Andreas, hm ... ich kenne keinen Andreas. Aber das wird sich ja bald ändern", zwinkert sie mir daraufhin zu, wodurch die Luft in meinem Zimmer mit einem Mal extrem dünn wirkt. Ich kann den Felsbrocken aus Mist, der auf mich zurollt, nicht mehr aufhalten. Er droht mich zu ersticken. Alexander ...

„Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt? Wir hängen doch den größten Teil der Schulzeit gemeinsam ab", führt Kat ihre Inquisition fort, doch ich zucke nur entschuldigend mit den Achseln.

„Irgendwann nach der Schule, du warst schon weg. Hör mal ... Können wir jetzt nicht endlich für Mathe pauken? Mein Schädel explodiert fast und ich bin mir sicher, dass meine Konzentration bald streiken wird."

Meine Freundin muss herzhaft auflachen, ehe sie zustimmend mit dem Kopf nickt und ihren Rucksack aufs Bett schleudert. Ich sehe ihr an, dass ihr noch tausende Fragen auf der Seele brennen, und ich liebe sie dafür, dass sie sie einfach runterschluckt. Bald, denke ich und habe plötzlich ein Déjà-vu.

Als ich Kat schließlich verabschiede, ist es halb acht Uhr abends. Bis zu dem Treffen mit Alexander bleiben mir zwanzig Minuten, die ich größtenteils damit verbringe, mich frischzumachen. Mein unspektakuläres Outfit vom Tag tausche ich in Strumpfhose, Jeansshorts und ein weißes Shirt mit der Aufschrift Empathy is the new black. Ich liebe dieses Stück Stoff, weil Dad es mir damals von seinem Trip nach Amerika mitgebracht hat. Dazu habe ich mir einen grauen Hoodie und meine Lederjacke übergezogen. Die Wahl der Schuhe ist mir diesmal recht leicht gefallen. Ich habe automatisch zu den schwarzen Vans gegriffen, die mich immer so sehr an meinen Lehrer erinnern.

Da der Bus Richtung Café um zwanzig Uhr abfährt, verlasse ich das Haus zehn Minuten vorher, pünktlich und glücklich. Mit Musik in den Ohren, hüpfe ich unsere kleine Verandatreppe herunter, schlendere über den Hof und biege schließlich auf dem Fußgängerweg in die Hauptstraße ab. Die Sonne ist noch nicht komplett untergangen, hier und da tummeln sich Menschen in ihren Vorgärten, die Vögel kündigen mit ihren Gesängen die baldige Nacht an. Ich kann das Dauergrinsen in meinem Gesicht nicht abstellen, während ich fröhlich über den Asphalt tänzele.

Doch als ich in die nächste Seitenstraße abbiege, erregt plötzlich ein schwarzes Auto meine Aufmerksamkeit, welches am gegenüberliegenden Bordstein parkt. Ich erkenne eine Person, die hinterm Steuer sitzt und in meine Richtung giert, doch schon im nächsten Moment erinnere ich mich, um wessen Wagen es sich handelt. Ohne zu zögern laufe ich darauf zu, und je näher ich Alexander komme, desto nervöser werde ich. An dieses Gefühl werde ich mich wohl niemals gewöhnen.

„Hey, was tust du hier?", begrüße ich ihn, als ich mich neben ihm auf dem Beifahrersitz niederlasse. Alexander lächelt zwar, doch die Sorge in seinem Blick entgeht mir nicht. Schlagartig dreht sich mir der Magen um. „Was ist los?"

Dann legt er eine Hand auf mein Knie, streicht in kreisenden Bewegungen darüber, wodurch sich ein wohliger Schauer in meinem Rumpf ausbreitet. „Nichts Schlimmes, aber ins Baker's können wir heute nicht." Seine Stimme ist beherrscht, aber trotzdem so gefühlvoll. Es scheint, als müsste er sich aus mir unerklärlichen Gründen unter Kontrolle halten.

„Wieso?", bringe ich vorsichtig hervor, was er mit einem tiefen Seufzen erwidert.

„Ich war wieder etwas früher da, um unseren Platz freizuhalten. Aber plötzlich kam Lütkemeier, der Schuldirektor in den Laden. Ich konnte mich zum Glück unbemerkt vom Acker machen."

Verdammt, das hätte gehörig schiefgehen können. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn der Direktor nach uns ins Café gekommen wäre. Dieses Aufeinandertreffen wäre auch wirklich alles gewesen, was mein heutiger Tag noch benötigt hätte, um in die Geschichte einzugehen.

„Oh", flüstere ich, und im Auto ist es so still, dass ich kurz Angst habe, Alexander könnte meinen Herzschlag hören. „Und was machen wir jetzt?" Von mir aus könnten wir auch die ganze Nacht in dieser Metalllaube verbringen, immerhin wären wir hier komplett ungestört. Mein Lehrer scheint jedoch etwas Anderes im Sinn zu haben, denn plötzlich beugt er sich mit einem geheimnisvollen Lächeln über die Mittelkonsole.

„Komm, ich habe eine Idee", grinst er und startet schließlich den Motor.

15| La vie en rose

 

15.

Alexander und ich stehen vor einem riesigen, alten Gebäude. Es sieht aus wie eine Art Fabrik, die bereits vor mehreren Jahrzehnten lahmgelegt wurde. Vielleicht eine ehemalige Spinnerei. Die dunkelroten, vermoderten Ziegelsteine sind von Efeuranken, Moos und etwas, das wohl Schimmel zu sein scheint, übersäht. Ich werfe den Kopf in den Nacken, um der eindrucksvollen Höhe des Bauwerkes entgegenzublicken. Jedoch komme ich mir auf einmal ziemlich winzig vor, wie eine Maus, die einem Elefanten gegenübersteht. Wir befinden uns in einem Innenhof, wofür wir zunächst ein gigantisches, gebogenes Holztor durchschreiten mussten. Würde sich nicht fünfzig Meter entfernt eine befahrende, asphaltierte Straße befinden, würde ich fast glauben, in eine andere Welt abgetaucht zu sein. Wahrscheinlich sind wir auf dem Weg nach Mordor, oder so.

„Wo sind wir hier?", will ich schließlich wissen, als Alexander immer noch keine Anstalten macht, mir unseren Ausflug nach Mittelerde zu erklären. Seine Lippen bleiben jedoch nach wie vor versiegelt, mit dem einzigen Unterschied, dass sie nun von einem verschmitzten Grinsen umspielt werden. Stillschweigend nimmt er meine Hand und führt mich zu der großen, schwarzen Stahltür, vor der wir dann stehenbleiben. Im Gegensatz zum Rest des fauligen Gebäudes, scheint sie erneuert worden zu sein, zumindest weist sie keinerlei Rostspuren auf. Sie erinnert mich irgendwie an eine Tür zu einem Atomschutzbunker, wodurch sich mein Herzschlag sofort beschleunigt. Wo bringt er mich verdammt nochmal hin?

Während Alexander einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche fischt und uns damit Eintritt gewährt, erlaubt er sich, endlich auf meine Frage von vorhin einzugehen. Ein „Das siehst du gleich" ist allerdings nicht die Antwort, die ich mir erhofft habe, weshalb ich mir weitere Bemerkungen zu unserem Aufenthaltsort einfach verkneife.

Die Tür führt in eine Art Eingangshalle, wobei es sich jedoch eher um einen kahlen, kalten Raum handelt, von dem lediglich eine Treppe und ein Fahrstuhl abgehen. Fenster sehe es keine. Dass es hier überhaupt so etwas wie Elektrizität zu geben scheint, ringt mir fast etwas Bewunderung ab, obwohl die alte Blechkiste ihre besten Jahre bestimmt schon lange hinter sich hat. Doch als Alexander plötzlich genau auf diese Kiste zusteuert, frage ich mich kurz, ob es sich bei dieser Aktion nicht doch eher um Dexter handelt, statt um Herr der Ringe.

„Einen Augenblick, bitte. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich auch nur einen Fuß in dieses Ding da setze. Das kannst du gepflegt vergessen, mein Leben ist mir wichtig", gebe ich ihm mit viel Nachdruck zu verstehen. Ein Hauch von Amüsement legt sich in sein Gesicht, ehe er zum Fahrstuhl schlendert und auf einen der zahlreichen Knöpfe drückt. Selbst aus dieser Entfernung kann ich erkennen, dass es mindestens sechs Stockwerke sein müssen. Also ein perfekter Ort für mich, ein Mensch mit unsäglicher Höhenangst. Im nächsten Moment öffnen sich die Aufzugtüren mit einem so lauten Knarren, dass selbst die Organe in meinem Körper erschüttert werden.

„Komm", weist Alexander mich an und streckt mir im gleichen Atemzug seine Hand entgegen. „Du kannst natürlich auch die Treppen nehmen, aber du kannst mir ebenso gut vertrauen." Wie automatisiert setze ich mich in Bewegung, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt und mich anbrüllt, es nicht zu tun. Aber mal wieder bin ich zu schwach, um gegen die Anziehungskraft meines Lehrers anzukommen.

Als ich Alexander schließlich erreiche und dankbar seine Hand entgegennehme, besteht seine Mimik aus einer betörenden Mischung aus Wärme und Ernst, aus Begierde und Besorgnis. Genau genommen kenne ich diesen Mann kaum, genau genommen ist er verdammt nochmal mein Lehrer, aber wenn er mich so ansieht wie jetzt, mit diesen wunderschönen, karamellfarbenen Augen, dann glaube ich, alles über ihn zu wissen und ihm gänzlich vertrauen zu können. Vielleicht ist es ein zu gefährliches Terrain, auf dem ich mich bewege, aber ich weiß, dass es für einen Rückzug schon längst zu spät ist.

Also ergebe ich mich meinem Schicksal und betrete gemeinsam mit Alex den kleinen, viel zu engen Aufzug. Habe ich nebenbei bereits erwähnt, dass ich zusätzlich zur Höhenangst auch noch klaustrophobisch veranlagt bin? Allein die Tatsache, dass ich überhaupt hier bin, ist ein Beweis dafür, wie viel mir mein Begleiter letztlich bedeuten muss. Doch als wir uns plötzlich mit einem Ruck in Bewegung setzen, schiebe ich diese intimen Gedanken beiseite und konzentriere mich stattdessen auf die Angst, die ihre langen, dünnen Finger um meinen Hals schlingt und mich beinahe stranguliert.

Alexander scheint schnell Notiz von meiner angespannten Existenz zu nehmen, denn zwischen dem ersten und zweiten Stock legt er vorsichtig einen Arm um meine Hüften und zieht mich eng an seine Seite, sodass ich die Wärme seines Körpers durch meine Kleidung hindurch spüren kann. Ich hasse ihn dafür, dass sich mein Gefühlschaos durch seine Nähe plötzlich verdreifacht, und doch ist es genau die Nähe, die mich diese Fahrt der Hölle ohne Ohnmacht überstehen lässt.

Tatsächlich hält der Fahrstuhl erst im sechsten und somit obersten Stockwerk des Gebäudes. Als die Türen auseinandergleiten, trete ich blitzschnell mit einem großen Schritt hinaus und bin durch den nun wieder festen Boden unter meinen Füßen mehr als erleichtert. Das waren wirklich genug Adrenalinschübe für heute.

Während mein Körper immer noch mit den Nachbeben meines wackeligen Abenteuers beschäftigt ist, gehe ich langsam auf das riesige Panoramafenster zu, das sich auf der anderen Seite des Raumes quer über die komplette Wand hinweg erstreckt. Mit aufgerissenen Augen, drücke ich meine Nase gegen die Scheibe, denn der Ausblick von hier oben ist viel atemberaubender, als ich es mir vorgestellt habe. Die Nacht hat sich allmählich wie ein Mantel um die Stadt gehüllt und taucht sie in ein tiefes Grau. Hier und da erkenne ich Lichter der Straßenlaternen und Autos, die Silhouetten der Menschen huschen geheimnisvoll an den dicht beieinanderstehenden Häusern entlang. Der schwarze Himmel ist an einigen Stellen mit hellen Punkten bedeckt, doch die meisten davon verschwinden hinter den dicken Wolken. Und in diesem Moment beschließe ich, eines Tages ein Bild zu malen von diesem Meer aus tanzenden Glühwürmchen.

Wenige Augenblicke später, spüre ich Alexander neben mir, doch ich kann meinen Blick nicht von dem Kunstwerk vor mir losreißen. „Das ist wunderschön", flüstere ich geistesabwesend und lege eine Hand an das kalte Glas der Fensterscheibe. Meine Höhenangst ist mit einem Mal wie weggeblasen.

„Ja, das ist es." Alexanders Stimme ist ebenfalls nicht mehr als ein Flüsterton, und als ich mich ihm endlich zuwenden kann, wird mir bewusst, dass er seine Augen die ganze Zeit starr auf mich gerichtet hält. Die Gänsehaut, die daraufhin meine Gliedmaßen überrollt, ist nahezu schmerzhaft.

„U-Und ... Was machen wir jetzt hier?", hake ich schnell nach, um das ungezügelte Kribbeln in meinem Magen zu bändigen. Daraufhin setzt er das altbekannte, charmante Lächeln auf, das mich jedes Mal dahin schmelzen lässt, und nimmt mich wieder an die Hand. Er führt mich zu einer weiteren Tür, die er daraufhin aufschließt. Sie sieht genauso aus wie die Eingangstür im Erdgeschoss, allerdings ist diese in einem hellen Grauton lackiert.

„Eins noch", bemerkt Alexander, bevor er den Schlüssel im Schloss herumdreht. „Da es ja nicht unser ursprünglicher Plan war, gemeinsam hierher zu kommen, könnte es vielleicht etwas unordentlich sein. Ich meine, ich weiß ja nicht, was du unter Ordnung verstehst."

Sein Grinsen ist irgendwie ungezogen, während ich immer noch darüber nachdenke, was er damit meinen könnte. Doch diese Frage wird mir bereits in der nächsten Sekunde beantwortet.

 

****

 

Ich kann meinen Augen kaum trauen, als ich schließlich mitten in Alexanders Wohnung stehe. Dass er hier tatsächlich hausiert, habe ich nicht ansatzweise in Erwägung gezogen, da dieses alte Gemäuer nicht gerade nach Strom und fließend Wasser schreit. Ich brauche einen Moment, um die vielen Eindrücke, die gleichzeitig auf mich einschlagen, verarbeiten zu können. Langsam lasse ich den Blick in sämtliche Richtungen schweifen, wohingegen Alex seine Jacke auszieht und über einen Stuhl neben der Eingangstür schmeißt.

Er wohnt in einer Art Loft, jedoch erkenne ich auf Anhieb drei weitere Zimmer, die hinter verglasten Schiebetüren versteckt sind. Links von mir befindet sich der Küchenbereich, mit einer großflächigen Kochinsel, die mitten im Raum thront. Die dunkle Holzplatte bildet daran anbindend einen länglichen Esstisch, an dem auf beiden Seiten jeweils zwei schwarze Lederhocker platziert sind.

Auf der anderen Seite des riesigen Wohnbereiches erspähe ich ein U-förmiges, graues Sofa, dazu einen Wohnzimmertisch aus drei aufeinandergestapelten Europaletten. Dem gegenüber prangt ein überdimensionaler Flachbildfernseher, der mit einer Musikanlage und anderen elektronischen Geräten verkabelt ist, die darunter in einem Sideboard aus Holz untergebracht sind. Auch hier bestehen die Wände aus rotem Ziegel, jedoch eine neue, restaurierte Variante davon. Kein Vergleich zu den dreckigen, modrigen Steinen der Außenwände.

In einer weiteren Ecke erkenne ich ein üppig bestücktes Bücherregal, wodurch mir automatisch das Herz aufgeht. Menschen, die in der heutigen, medialen Welt noch echte Bücher aus Papier lesen, sind mir einfach sympathisch. Der Großteil des Mobiliars ist in Weiß gehalten, allerdings erweckt es eher den Anschein, als bestünde seine Wohnung aus einem Sammelsurium aus unterschiedlichsten Möbelstücken, von modern bis altmodisch. Hier und da entdecke ich gerahmte Fotos oder gemalte Bilder, was im Gesamtpaket eine unglaublich heimische Atmosphäre erzeugt.

Und erst, als ich die ersten Eindrücke einigermaßen verdaut habe, nehme ich dieses Schmuckstück wahr, das sich direkt vor mir in ihrer anmutigen Schönheit entfaltet. Wie besessen steuere ich auf den exorbitanten, weißen Flügel zu, der wahrscheinlich den Mittelpunkt der gesamten Wohnung darstellt. Langsam lasse ich die Fingerspitzen über den glänzenden Lack gleiten, er lässt mich völlig melancholisch werden.

„Spielst du?", frage ich knapp, meine Stimme ist lediglich ein kraftloser Lufthauch. Ich zucke leicht zusammen, als ich realisiere, dass Alexander mittlerweile direkt neben mir steht. In meiner grenzenlosen Begeisterung habe ich seine Anwesenheit beinahe vergessen. Dann nickt er.

„Ja, schon seit meiner frühen Kindheit. Meiner Mutter war es aus mir unerklärlichen Gründen besonders wichtig, dass meine Schwester und ich ein Musikinstrument erlernen."

Bei dem Gedanken an seine Familie beginnt sein Gesicht zu strahlen, und plötzlich fällt mir auf, dass er mir noch gar nichts über seine Eltern erzählt hat. Immerhin kennt er meine halbe Lebensgeschichte und ich weiß nur, dass seine Schwester Emilie heißt und als Lehrkraft im Bereich für Sonderpädagogik tätig ist. Ich habe mir seitdem immer vorgestellt, wie stolz die Jansens auf ihre Kinder sein müssen, wo doch beide so einen vorbildlichen, sozialen Weg eingeschlagen haben.

„Ehrlich gesagt, wäre ich meiner Mom überaus dankbar, wenn sie damals so hartnäckig an meiner Musikkarriere gearbeitet hätte", gebe ich grinsend zurück, Alexander bleibt hingegen verhaltensmäßig kühl. Er atmet hörbar ein und aus, in einem bestimmten, gleichmäßigen Rhythmus.

„Ella, meine Klavierkünste sind nun wirklich nichts gegen dein Talent." Seine Stimme ist plötzlich so beherrscht, dass ich das Gefühl habe, in den letzten fünf Minuten etwas verpasst zu haben.

„Was? Wie meinst du das?"

Verwirrt ziehe ich die Stirnpartie kraus, was augenblicklich Wirkung zu haben scheint. Alex verschwindet in einem der Nebenräume und kommt wenige Sekunden später mit einem Stück Papier in der Hand zurück. Wortlos hält er mir das zerknitterte Blatt entgegen. Ich erstarre, als ich es schließlich sorgsam auseinanderfalte und begreife, um was es sich dabei handelt. Plötzlich werde ich von grauen Augen angestarrt.

 

****

 

Ellas Pupillen weiten sich, als sie letztendlich zu verstehen scheint, was genau sie in den Händen hält. In ihren wunderschönen Kulleraugen kann ich zahlreiche Fragen erkennen, Panik und Unsicherheit. Ich kann es ihr nicht verdenken, immerhin ist dieses Kunstwerk garantiert nur für den Eigenbedarf angefertigt worden. Und trotzdem ärgert es mich, dass ihr ihr außergewöhnliches Talent eine derartige Röte ins Gesicht treibt.

„W-Was? Wie hast du ... Ich meine, woher hast du das?", presst sie hervor, sichtlich darauf bedacht, ihre pseudo-entspannte Fassung zu wahren. Als würde ich es nicht bemerken, dass sie plötzlich um Atem ringt und ihr Augenlid unaufhörlich zuckt. Von dem Zittern in ihrer Stimme ganz zu schweigen. Sie sieht jedes Mal so dermaßen niedlich aus, wenn sie so offensichtlich versucht, sich wegen irgendetwas zusammenzureißen. Meistens in Situationen, in denen sie sich schämt oder ertappt fühlt, was bei genauerer Betrachtung auch sehr häufig vorkommt. Dabei gibt es nichts, was diese Frau sagen oder tun könnte, was auch nur ansatzweise peinlich ist. In meinen Augen ist sie perfekt.

„Nach unserem Gespräch neulich, nach dem ich ... einfach wortlos gegangen bin, bin ich eine Weile später nochmal zurückgekehrt. Ich habe gedacht, ich hätte etwas vergessen. Und dann habe ich dein Bild auf dem Boden gefunden."

Wie in Zeitlupe verändert sich ihre Mimik, aus der vorherigen Unsicherheit ist nun Unverständnis geworden. Vielleicht auch etwas Wut. Sie ist so wandelbar, dass das Chaos ihrer Gefühlswelt die Grenzen meiner Intelligenz weit übersteigt. Ich habe mir jedoch geschworen, mein Bestes zu geben, denn ich will sie so unbedingt verstehen.

„Woher hast du gewusst, dass das Bild von mir ist?", erwidert sie dann und die Skepsis in dem Klang ihrer Stimme ist unüberhörbar. Dabei war mir von Anfang an klar, dass nur sie dazu in der Lage ist, meine Augen auf diese Art und Weise auf Papier zu bringen. Immerhin ist sie die Einzige, die schon so oft in meiner Iris versunken ist.

„Ist das nicht offensichtlich? Ich meine, das sind ja ganz klar meine Augen, also ... Wer käme außer dir schon in Frage? Zumal du mir ja bereits von deiner Leidenschaft für die Malerei erzählt hast."

Während Ella stumm die Zeichnung beäugt, trete ich einen Schritt auf sie zu und umfasse ihr Gesicht. Dabei hebe ich ihr Kinn vorsichtig an, damit sie mich direkt ansehen muss. Ich habe verdammt nochmal keine Ahnung, warum ich das tue, aber ich habe einfach das Gefühl, dass dieses Mädchen meine Unterstützung bitter nötig hat. Davon abgesehen, kann ich meine Finger sowieso nicht von ihr lassen.

„Hey", flüstere ich ihr zu und für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich etwas in dem Meer ihrer Augen aufblitzen. Sie ist so schön, dass ihr Anblick beinahe wehtut. „Es gibt wirklich nichts, wofür du dich in irgendeiner Art und Weise schämen musst. Im Gegenteil, du hast mich total beeindruckt. Dabei bin ich ziemlich anspruchsvoll."

Ella erwidert mein Lächeln, woraufhin ich abrupt meine Hand von ihrer Wange nehme, um nicht dem impulsiven Drang nachzugeben, sie jetzt einfach zu küssen. Stattdessen lasse ich unvermittelt von ihr ab und begebe mich Richtung Küche.

Ganz ruhig, Alex. Ganz ruhig.

Auf dem Weg dorthin frage ich mich, welche Pferde mich eigentlich geritten haben, Isabelle überhaupt mit in meine Wohnung zu nehmen. Es existiert bestimmt irgendein Paragraph im Schulgesetz, der genau das untersagt. Allerdings kam die Alternative, das Treffen mit ihr abzusagen, noch viel weniger Frage, weshalb ich das Gesetz wohl oder übel brechen musste. Ihr umwerfendes Sonnenstrahllächeln und die dezenten Sommersprossen auf ihrer Nase haben mir einfach keine Wahl gelassen.

Ich beschließe, dieses merkwürdige, undefinierbare Gefühl, welches meine Endorphine stetig antreibt, ad acta zu legen und mich vorzugshalber auf den eigentlichen Grund unseres Treffens zu fokussieren - sie.

„Wie war dein heutiger Tag?", rufe ich ihr deshalb zu, bevor ich mich an meinem überteuerten Vollautomaten zu schaffen mache, um uns zwei frische Tassen Kaffee aufzubrühen. Wir sind zwar nicht im Baker's, allerdings möchte ich ihr trotzdem eine möglichst vertraute Atmosphäre schaffen. Ella ist mir derweil in die Küche gefolgt und lässt sich stöhnend auf einem der Lederhocker nieder.

„Bitte, frag nicht. Eigentlich war es wie immer der gewöhnliche Wahnsinn, mit dem Endergebnis, dass Kat jetzt glaubt, dass ich was mit einem Andreas aus der Oberstufe am Laufen habe."

„Okay", antworte ich knapp, bis der Inhalt ihrer Worte vollends bei mir ankommt. „Und warum genau glaubt sie das nochmal? Und wer ist Andreas?"

„Ich habe keinen blassen Schimmer, wer Andreas ist. Das ist auch gar nicht der Punkt. Kat hat mich heute beim Lügen erwischt und stand kurz davor, das mit ... uns zu erfahren. Ich musste mir irgendeine Ausrede einfallen lassen."

Ella lässt erschöpft ihren Kopf in die Hände fallen und stützt ihn mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab. Perplex lasse ich von der Kaffeemaschine ab und setze mich stattdessen neben sie. Erst aus der Nähe erkenne ich die Blässe in ihrem Gesicht.

„Bei was für einer Lüge hat sie dich erwischt, Ella? Und bist du dir sicher, dass sie dir geglaubt hat?"

Mit einem Mal ist mir so heiß, als hätte jemand die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht. Ich spüre Schweißperlen auf meiner Stirn. Die Glühbirne der Deckenleuchte gleicht einem Vulkan, der im nächsten Moment zu explodieren droht und mich mit seiner flüssigen Hitze in Schutt und Asche verwandeln wird.

„Ja, verdammt", zischt sie schließlich und erzählt mir daraufhin von der Lüge mit dem Referat, von dem Aufeinandertreffen mit Kat und ihrer Mom, ihrer anschließenden Notlüge und von der Schlägerei ihres Bruders, der wohl durch Zufall einen Bekannten erwischt hat.

„Dir ist klar, dass sie dich ab sofort auf Schritt und Tritt beobachten wird, oder? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Kat herausfindet, dass dieser Andreas nicht existiert. Was dann?", will ich daraufhin wissen, wobei mein Tonfall vielleicht ein bisschen zu anfeindend ausfällt. Von jetzt auf gleich sackt ihre selbstbewusste Körperhaltung in sich zusammen, ihr Haar wirkt auf einmal so spröde und kraftlos, ebenso wie sie selbst. Auch ihre Augen haben plötzlich an Glanz verloren, sind stattdessen glasig und mit Tränen gefüllt.

Ich weiß, dass sie sich durch meine Fragerei bedrängt fühlt, allerdings bringt mich ihre Dummheit innerlich in Rage. Wie kann sie nur so blöd sein und sich solch eine billige Ausrede einfallen lassen? Sie hätte sonst was behaupten können und entscheidet sich lieber für diese erlogene, unglaubwürdige Scheiße. Wäre ihr Anblick nicht so herzerwärmend, dann wäre ich wahrscheinlich tatsächlich sauer auf sie.

Ella schluchzt leise auf, bevor sie ihren Blick hebt und mir direkt in die Augen sieht. „Ich weiß nicht, was dann ist, Alex. Ich war überfordert, ich hatte keinen Plan, was ich da rede, okay?"

Mittlerweile habe ich den Kaffee vergessen, auch die Atmosphäre ist mir herzlich egal. Während ich stumm meine ineinander verschränkten Finger auf dem Holztisch betrachte, wäge ich meine möglichen Optionen ab. Entweder gehe ich auf Nummer sicher und vermeide das Risiko, dass Ellas Freundin uns auf die Schliche kommen wird, oder ich führe diesen gefährlichen Eiertanz weiterhin fort, bis ich letztlich meinen Job und meinen Ruf verliere. Die Erkenntnis, dass beide Alternativen ausweglos, schlichtweg zum Kotzen sind, trifft mich wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Die Möglichkeit, dass ich sogar irgendeinen polizeilichen Strafbestand erfüllen könnte, lasse ich dabei erstmal außer Acht. Man muss ja nicht direkt den Teufel an die Wand malen.

„Fuck, es tut mir leid, dass ich es verbockt habe. Ich habe mir das alles auch anders vorgestellt, aber ich will nicht, dass unsere gemeinsame Zeit jetzt schon endet", fügt Ella nach einer Weile der Stille hinzu, und es ist die pure Verzweiflung, die sich in ihren feuchten Augen widerspiegelt.

Ihr Geständnis bringt mein Herz für einen Atemzug zum Stillstand. Ein ungewohntes Ziehen breitet sich in meiner Bauchgegend aus, mein Verstand ist plötzlich wie benebelt. Ich fühle mich high, ganz ohne Konsum. Ich weiß nicht, was diese Frau an sich hat, dass sie mit den simpelsten Worten ein solches Inferno in mir entfachen kann, aber ich weiß, dass es mich irgendwann in den Wahnsinn treiben wird.

„Ich will auch nicht, dass es schon vorbei ist", erwidere ich wahrheitsgemäß, als ich endlich die Kraft meiner Stimmbänder wiederfinde. „Aber es ist einfach zu riskant. Ich meine ... Wie sollen wir unsere Treffen in dieser Stadt geheim halten? Und außerdem-"

„Ich weiß", fällt Ella mir abrupt ins Wort. „Ich weiß, dass du vielleicht nicht die beste Wahl bist, um meine Probleme mit mir zu besprechen, aber ..."

Sie beendet ihren Satz nicht, zupft stattdessen am Ärmel ihrer Kapuzenjacke herum.

„Aber was, Isabelle?"

Erschrocken hebt sie ihren Kopf, und ich sehe ihr an, dass in ihrem Inneren gerade ein Kampf zu toben scheint. Sie ist offenbar hin-und hergerissen, ob sie ihr Geständnis um diese Worte erweitern soll oder eben nicht. Schlussendlich entscheidet sie sich dafür, zu meinem Glück.

„Aber ich brauche dich! Ich brauche dich, verdammte Scheiße! Seitdem ich dich kenne, geht es mir zum ersten Mal seit Monaten wieder gut. Ich weiß nicht, wie ich das alles ohne dich schaffen soll. Ich brauche diese Gespräche einfach, verstehst du?"

Und wie ich verstehe.

Im Endeffekt geht es mir genauso wie ihr. Auch sie macht mein Leben irgendwie besser. Zumindest habe ich beim Aufstehen nicht mehr das Gefühl, einfach liegen bleiben zu wollen. Im Gegenteil, bei der Aussicht auf ihre Anwesenheit springe ich fast euphorisch aus dem Bett. Und dass sie unsere Treffen als ebenso wohltuend empfindet, berührt mich, irgendwo in einer tiefen Gegend, die schon viel zu lang im Dunkeln verborgen lag.

 

 

****

 

Wie aus heiterem Himmel springt Alexander vom Hocker auf und schlendert daraufhin in den Wohnbereich. Er ist bisher nicht auf meinen viel zu ehrlichen Gefühlsausbruch eingegangen, stattdessen bleibt er direkt vorm Fernseher stehen und geht daraufhin in die Hocke. Ich habe keinen blassen Schimmer, was er vorhat, allerdings verletzt mich sein Schweigen irgendwie. Es ist eine ziemliche Seltenheit, dass ich einem Menschen nach so kurzer Zeit meine wahren Empfindungen preisgebe, weshalb er wenigstens irgendwas hätte sagen können. Der Gedanke an ein Leben ohne Alexander versetzt mich in pure Angst, sodass ich keinen anderen Ausweg gesehen habe, als einfach ehrlich zu sein. Er hat mein Chamäleon mit seiner bloßen Existenz fest im Griff, und das ist etwas, was nicht mal Frau Dr. Vogt-Krämer in den Therapiestunden geschafft hat.

Der lautstarke Klang von Trompeten dringt in meine Ohren, woraufhin ich unvermittelt zusammenzucke. Mit einem hämmernden Puls lasse ich den Blick in Alexanders Richtung schnellen, der sich mittlerweile mitten im Wohnzimmer platziert hat und mich unverhohlen anstarrt. Er lächelt breit, als er plötzlich seine Hand austreckt und mich stumm auffordert, zu ihm zu kommen. Ohne jegliche Proteste leiste ich ihm Folge, wie ein dummes, naives Schoßhündchen. Mit einem Schritt Abstand bleibe ich schließlich vor ihm stehen und erkenne erst jetzt, dass es sich bei der Musik um La vie en rose handelt, die Version von Louis Armstrong. Oh mein Gott, ich liebe dieses Lied.

Plötzlich greift Alexander meine Hand und zieht mich an seine Brust. Dann stößt er mich wieder von sich weg, wodurch ich schwungvoll um meine eigene Achse gewirbelt werde. Seine eine Hand umfasst meine Taille, wohingegen die andere meine Finger umschließt. Ich spüre, wie er mich leicht an seinen Körper drückt, bevor seine Hüften beginnen, im Takt der Musik zu kreisen. Automatisch werde ich von ihm mitgerissen, unter seiner Führung fällt es mir leicht, schnell den richtigen Rhythmus zu finden. Und dann tanzen wir, während ich lachend den Kopf in den Nacken werfe und Alexander leise den Text des Liedes mitsingt. Wir tanzen, und mal wieder hat er es geschafft, mich aus meinem tiefen, schwarzen Loch herauszuziehen.

16| Mit Rooibos-Tee zurück nach Hause

 

16.

Der Rooibos-Tee in meinen Händen erinnert mich an meinen Vater. Er schmeckt nach Orange, meine Lieblingssorte. Ich nehme einen tiefen Zug des süßlichen Wasserdampfes, der aus der übergroßen Porzellantasse emporsteigt, und denke an die vielen Samstagabende, die ich mit Dad allein verbracht habe.

Mom musste oft Nachtschichten übernehmen und Robin war am Wochenende sowieso immer unterwegs, weshalb wir uns meistens mit einem Rooibos-Orangentee aufs Sofa gekuschelt und einen Film geschaut haben. Manchmal haben wir auch Canasta gespielt oder uns ein waghalsiges Mario Kart-Rennen geliefert, haben zusammen gekocht oder eine Pizza bestellt. Ironischerweise hat er mich an einem Sonnabend für immer verlassen. Mir fällt auf, dass ich seit Dads Tod keinen Orangentee mehr getrunken habe, und auf irgendeine komische Art und Weise bin ich erleichtert, dass ich den ersehnten ersten Schluck in Alexanders Anwesenheit genießen darf.

„Woran denkst du gerade?", fragt er in die Stille hinein, während ich verträumt meine Tasse beäuge und mit dem Band des Teebeutels spiele. Nach der hingebungsvollen Tanzeinlage, die das Dilemma mit Kat und der Lüge erfolgreich aus meinen Gedanken verdrängt hat, haben wir uns mit zwei heißen Getränken auf dem Sofa niedergelassen und seitdem ununterbrochen geredet.

Bis jetzt, denn nun haben mich die Erinnerungen an bessere Zeiten wieder eingeholt. Die flüchtigen Momente, in denen mir mein inneres Haustier erlaubt glücklich zu sein, sind meist so schnell verschwunden, wie sie gekommen sind, aber mit Alexander ist das ständige Auf und Ab wesentlich besser auszuhalten.

„Nichts Wichtiges. Es ist nur ... Diesen Tee haben Dad und ich getrunken, wenn wir mal allein zu Hause waren. Wir haben uns dann meistens einen Film angesehen. Die Auswahl der DVDs haben wir immer in alphabethischer Reihenfolge getroffen, angefangen bei Armageddon. Doch ... Weiter als Nachts im Museum sind wir nicht gekommen."

Mittlerweile ist mein Hals so ausgetrocknet, dass meine letzten Worte eher einem Krächzen ähneln. Vorsichtig setze ich die Lippen an die Tasse, der erste Schluck des flüssigen Heilmittels lindert den trockenen Schmerz sofort. Als ich in Alexanders mitleidigen Augen schaue, werde ich plötzlich von Schuldgefühlen heimgesucht, da ich unsere harmonische Stimmung binnen Sekunden zerstört habe. Mal wieder.

Anstatt etwas zu sagen, beugt sich der schöne Mann neben mir zum Wohnzimmertisch und greift nach einer der unzähligen Fernbedienungen, die darauf fein säuberlich nebeneinander aufgereiht wurden. Dann lässt er sich wieder in das dicke Polsterkissen des Sofas fallen und drückt auf einen der Knöpfe, wodurch keine fünf Sekunden später der Bildschirm des Fernsehers aufleuchtet. Es erscheint eine Art Auswahlmenü, welches verschiedene Optionen für das anstehende Filmvergnügen bereithält. Ohne zu zögern klickt Alexander auf den Netflix-Schriftzug, woraufhin die besagte Seite unvermittelt geöffnet wird. Ich bin etwas verdutzt, beobachte sein Vorhaben jedoch ohne Kommentar.

Als er schließlich ein O in die Suchleiste eingibt und dadurch eine Auflistung verschiedenster Blockbuster erscheint, fällt der Groschen endlich. Danach wandern seine Augen wieder in meine Richtung und bleiben letztlich auf meinem Gesicht liegen.

Ich bin so gerührt von seiner liebevollen Geste, dass ich keinen einzigen Ton herausbekomme. Mein Halskloß ist so riesig, dass ich kurz Angst habe, ihn erbrechen zu müssen. Plötzlich bin ich froh über meine innere Dürre, denn ansonsten würde ich wahrscheinlich hemmungslos in Tränen ausbrechen.

Genau das hier ist einer der vielen, vielen Gründe, weshalb Alexander schon jetzt so wichtig für mich ist. Er redet nicht, er macht einfach. Er hält mir keine gelogenen Vorträge darüber, dass schon alles wieder gut werden wird und ich nur etwas Zeit brauche. Er gibt mir nicht das Gefühl, dass er meinen Verlust bedauert, sich im nächsten Moment aber wieder um eigene Probleme kümmert. Er gibt mir sogar vielmehr das Gefühl, meinen Verlust überhaupt nicht zu bedauern, weil er mich einfach wie einen normalen Menschen behandelt. Er fragt nicht ständig wie es mir geht oder ob ich klarkomme, und wenn doch, dann nicht aus Höflichkeit, sondern aus purem Interesse. Das ist ein gewaltiger Unterschied, denn dieser wundervolle Mann bemüht sich ernsthaft darum, meine Laune zu verbessern, was ihm meistens auch gelingt. Naja, eigentlich immer. Er gibt mir genau das, was ich brauche, ganz unbeabsichtigt. Und so langsam ergibt der Umzug in dieses Dorf für mich einen Sinn.

Weil Alexander mich immer noch anstarrt - mittlerweile hat sich schon wieder diese süße Denkerfalte zwischen seinen Augen gebildet -, zwinge ich mich dazu, den Halskloß hinunterzuwürgen und endlich auf seinen herzzerreißenden Vorschlag einzugehen. Da ich allerdings nicht weiß, was ich sagen soll, entscheide ich mich dazu, mich auf eine andere Weise erkenntlich zu zeigen. Also rutsche ich etwas näher an ihn heran und falle ihm instinktiv um den Hals.

Alexander scheint zunächst überfordert, seine Haltung ist starr und hart, seine Muskeln angespannt. Erst nach und nach, als wir uns an das Gefühl unserer warmen, aneinandergedrückten Oberkörper gewöhnt haben, erwidert er meine Umarmung. Zaghaft legt er einen Arm um mich, und ich kann förmlich spüren, wie seine Anspannung allmählich entschwindet.

Während seine Fingerspitzen über meinen Rücken gleiten, kullert mir schlussendlich doch eine Träne über die Wange, weshalb ich meinen Kopf auf seiner Schulter ablege und mein Gesicht in seine Halsbeuge schmiege. Er soll mich nicht für eine elendige Heulsuse halten. Doch als ich dann den betörenden Duft seiner Haut inhaliere, eine Mischung aus einem maskulinen Parfum und ihm, ist meine trübselige Stimmung wie weggeblasen. Stattdessen überkommt mich das Bedürfnis, ihn küssen zu wollen. Genau da, an dieser verführerischen Stelle hinter seinem Ohr. Um stark zu bleiben, aber vor allem, um mich abzulenken, kaue ich auf den Innenseiten meiner Wangen herum, bis sie fast bluten.

Alexander senkt jedoch plötzlich seinen Kopf und schaut auf mich hinunter, wodurch sich unsere Lippen so nahe sind, dass ich mich nur einen winzigen Zentimeter bewegen müsste, um meinen Trieben nachzugeben. Bilder unserer Verabschiedung in seinem Auto zucken blitzartig durch meinen Kopf und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm diesmal wiederstehen könnte.

Ich spüre die kratzigen Stoppeln seines Dreitagebarts an meiner Stirn, die leicht pieksen. Allerdings ist der daraus resultierende Schmerz eher angenehm, wohlig süß. Das Gefühl von seinem Bart auf meiner Haut in Kombination mit diesem köstlichen Duft erregt mich, und kurz stelle ich mir vor, wie mein restlicher Körper wohl auf seine Gesichtsbehaarung reagieren würde. Wie er mit seinen Lippen die Innenseiten meiner Oberschenkel erkundet und dabei eine Spur aus einem prickelnden Feuerwerk hinterlässt. Wie er ...

Leider ist es mir nicht vergönnt, meinen lüsternen Gedanken zu Ende zu führen, denn Alexander scheint dieser intime Moment irgendwie unangenehm zu sein. Mit einem gespielten Räuspern lässt er plötzlich von mir ab und setzt sich auf, legt seine Hand, die vorher auf meinem Rücken geruht hat, wieder in seinen Schoß. Trotz des gedimmten Lichtes meine ich, eine dezente Röte auf seinen hervorstechenden Wangenknochen zu erkennen, vielleicht ist ihm aber auch einfach nur warm.

„Also. Was ... Was möchtest du gucken? Eine Serie oder lieber einen Film?", stammelt er dann und wirkt auf einmal tierisch nervös. Für eine Millisekunde aale ich mich in dem Glauben, dass er wegen mir zu diesem unsicheren Teenager mutiert, allerdings ist es vermutlich eher die Verzweiflung, weil er eine seiner Schülerinnen mit nach Hause gebracht hat. Schließlich verabschiede auch ich mich von unserer vorherigen Intimität und widme mich meinem Tee, um diese bedrückende, irgendwie peinliche Stimmung zu umgehen.

„Ist mir egal", flüstere ich in die Tasse hinein, doch meine Stimme wird von der Größe des Bechers verschluckt.

Alexander zögert nicht und drückt erneut auf der Fernbedienung herum, bis leise Fernsehgeräusche an mein Ohr dringen. Ich blinzele über den Rand der Tasse hinweg und sehe, dass er Orange is the new black angeschaltet hat, die erste Folge der ersten Staffel. Dass es sich dabei um eine meiner Lieblingsserien handelt und er mal wieder den Puls meines Geschmacks getroffen hat, behalte ich lieber für mich. Stattdessen lasse ich mich weiter in das Kissen des Sofas sinken und versuche, den Ereignissen in der Flimmerkiste zu folgen.

Nach wenigen Minuten legt Alex wortlos seinen Arm um meine Schulter und im Augenwinkel erkenne ich den Ansatz eines Lächelns in seinem Gesicht. Ungewohnte Glücksgefühle bringen mein Herz unmittelbar zum Tanzen. Mit einem Rooibos-Orangentee auf dem Sofa zu liegen und eine Serie zu schauen, in dem Arm eines Mannes, der bisweilen die größte Bereicherung meines Lebens darstellt, ist meine Heimat.

Ich bin endlich angekommen.

 

****

 

Beschämt schloss ich die Haustür auf. Der vertraute Duft nach Moms Parfum und ihrem legendären Zitronenkuchen vom Nachmittag hing in der Luft im Flur. Aus dem Wohnzimmer hörte ich Geräusche des Fernsehers und meinen Dad, wie er wütend vor sich hin fluchte. „Jetzt schieß doch, du Vollhorst!" Er schaute Fußball, natürlich. Ich konnte dieser Sportart noch nie etwas abgewinnen, genau genommen auch keiner anderen. Ich hasste Sport wie die Pest.

Stöhnend streifte ich mir die marineblauen Pumps von den schmerzenden Füßen ab, schmiss sie achtlos neben das Schuhregal. Die dünne Jacke aus olivgrünem Stoff landete direkt daneben, denn ich hatte einfach keine Energie mehr, um alles ordentlich wegzuräumen. Müde und träge schlich ich mich zu Dad ins Wohnzimmer, der sichtlich über meine unerwartete Anwesenheit erschrak.

„Mein Gott, Isabelle! Irgendwann verpasst du deinem alten Herren noch einen Herzinfarkt."

Normalerweise hätten mich seine großen Froschaugen und die Hand auf seiner zitternden Brust jetzt zum Schmunzeln gebracht, aber nicht an jenem Tag.

Tut mir leid, Dad", murmelte ich stattdessen und ließ mich neben ihm in die Sigmund-Freud-Couch fallen. Sein Gesicht war von Sorgenfalten übersäht, während er das Fußballspiel auf stumm schaltete und näher an mich heranrückte. Durch das gekühlte Bier, das er bis eben noch getrunken hatte, waren auch seine Hände eiskalt, als er damit die meinen umschloss.

„Was ist los, mein Schatz? Und außerdem, warum bist du schon wieder zu Hause?" An dem Klang seiner Stimme erkannte ich, wie ängstlich er auf einmal war, und am liebsten hätte ich ihn einfach in den Arm genommen und ihm gesagt, wie sehr ich ihn dafür liebte.

Obwohl meine Eltern uns ausreichend Freiraum gaben, konnte ich die ständige Besorgnis um meinen Bruder und mich in ihren Augen sehen. Trotzdem hatten sie es irgendwie immer geschafft, sich erst dann in unsere Angelegenheiten einzumischen, wenn wir sie darum gebeten hatten. Manchmal vergaß ich, was ich doch für wunderbare Eltern hatte.

„Dad, es ist offiziell", entgegnete ich schließlich und versprühte dabei eine ungewollte Pathetik, die meinem Vater augenblicklich Schweißperlen auf die Stirn trieb. „Ich bin ein ungeliebter, hässlicher und verabscheuungswürdiger Mensch. Jetzt weiß ich es."

Während Dad daraufhin laut auflachte, vergrub ich mein Gesicht und schluchzte in meine verschwitzten Handinnenflächen hinein.

„Endlich siehst du das auch mal ein, Täubchen. Dann müssen Bettinchen und ich nicht mehr so tun, als wärst du uns zugelaufen." Dad hielt sich offenbar für so witzig, dass ihm beinahe die dicke, schwarze Brille von der Nase fiel. Ich fand meine bemitleidenswerte Situation jedoch nicht ganz so komisch, ganz und gar nicht. Sie war ehrlich gesagt zum Kotzen.

„Nein, mal im Ernst. Warum redest du so einen Unsinn?", fügte er dann hinzu, schon eine Spur behutsamer. Seine trüben, graugrünen Augen, die einen angenehmen Kontrast zu seinen blonden Haaren herstellten, waren genau auf mich gerichtet.

Ich konnte die einzelne Träne, sie sich ihren Weg über mein Gesicht bahnte, nicht mehr aufhalten. „Louis hat mich einfach versetzt. Er ist nicht gekommen, hat aber vorher auch nicht abgesagt. Ich bin so eine dumme Kuh."

Ursprünglich hatte ich geplant, meinen Abend mit einem Jungen in einem italienischen Restaurant zu verbringen. Ich hatte ihn eine Woche zuvor auf der Geburtstagsparty meiner Freundin Bonnie kennengelernt und seitdem mit ihm geschrieben. Er war nett und irgendwie süß, ich mochte seinen wilden, mahagonibraunen Lockenkopf. Wie oft hatte er über meine ach so schönen Augen geschwärmt, über die Farbe meines Haares, wenn es in der Sonne leuchtete. Er hatte mich in dem Glauben gelassen, der tollste Mensch auf Erden zu sein, doch offenbar war seine Bewunderung nur von kurzer Dauer.

Nun waren es keine Falten mehr, die die Stirn meines Vaters bedeckten, sondern tiefe Schluchten. Trotz des verschwommenen Blickes konnte ich erkennen, dass sein Kiefermuskel deutlich angespannt war. „Wie bitte? Welcher Halunke kommt denn auf die hirnrissige Idee, meine wunderschöne Tochter einfach sitzenzulassen?" Dann zog er mich auf seinen Schoß, wodurch ich meinen Kopf an seine Brust lehnen und den Tränen freien Lauf lassen konnte.

Ich beruhigte mich nach wenigen Minuten, da Dad pausenlos auf mich einredete. Seine verbalen Liebkosungen hatten den Wasserfluss meiner Augen schnell versiegelt, und im Nachhinein musste ich zugeben, dass er recht hatte. Louis war ein Idiot und hatte es überhaupt nicht verdient, mit mir zusammen zu sein. Es war faszinierend, wie Dad es jedes Mal schaffte, mein angeknackstes Selbstbewusstsein wieder aufzubauen.

„Komm mit. Ich weiß, was jetzt helfen wird", schlug er irgendwann vor und zog mich mit in die Küche. Mit gewohnten Handgriffen füllte er etwas Wasser in einen Topf und setzte es schließlich auf. Ich wusste natürlich, dass er uns einen Rooibos-Orangentee kochen würde, und der Gedanke an das wohltuende, schmerzlindernde Getränk entfernte schließlich auch die restlichen Selbstzweifel aus meinem wirren Kopf. „Wenn du möchtest, dann kannst du dir auch einen Film aussuchen. Wo sind wir denn letztes Mal stehengeblieben?"

Aufgrund der Tatsache, dass er seinen heißgeliebten Fußball gegen einen Filmabend mit mir eintauschen wollte, schoss mir sofort ein Strahlen übers Gesicht. Dad war einfach der liebevollste Mensch, den ich in meinem Leben hatte. Naja, Mom und Robin waren natürlich auch nicht schlecht, aber niemand toppte meinen Vater.

„Ich glaube H ist dran. Haben wir nicht letztes Mal Gangs of New York gesehen?", gab ich fröhlich zurück, ehe ich zur Kommode im Wohnzimmer schlenderte und in der obersten Schublade herumwühlte. Damit wir die korrekte Reihenfolge nicht vergessen konnten, hatten wir irgendwann mal eine Liste erstellt, auf der wir alle Buchstaben und die dazugehörigen Filme notierten. Unter einer Tüte mit Teelichtern wurde ich schließlich fündig.

„Hier ist die Liste!", rief ich Dad zu und gesellte mich wieder zu ihm in die Küche. Über dem Kochtopf mit dem Wasser bildeten sich bereits weiße Wölkchen.

„Okay, wir brauchen tatsächlich einen Film mit H."

„Hm." Dad überlegte. „Wie wäre es mit Hitchcock? Oder vielleicht Harry Potter?" Seine Mundwinkel schnellten unvermittelt in die Höhe, da er ganz genau wusste, welchen Streifen ich mir aussuchen würde. Und so verbrachte ich drei wundervolle Stunden mit meinem Lieblingszauberer, meinem Lieblingstee und meinem Lieblingsmenschen.

 

 

****

 

„Ella, bist du wach?"

Meine Augen öffnen sich nur sehr langsam. Durch die verengten Schlitze meiner Lider kann ich ein schwarzes T-Shirt erkennen. Es scheint, als würde ich darauf liegen. Ein tätowierter Arm kommt auf mich zu und streift mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die mir zuvor mitten im Gesicht gebaumelt und meine Nase gekitzelt hat. Nach und nach realisiere ich das dumpfe Klopfen an meiner Wange und es dauert einen Moment, bis ich verstehe, um was es sich dabei handelt - es ist sein Herzschlag.

Ich befinde mich anscheinend in Alexanders Arm, habe meinen Kopf auf seiner Brust gebettet. Wir liegen ausgestreckt auf dem Sofa, zumindest nehme ich die flimmernden Umrisse des Fernsehers wahr, als ich meine Augen durch die Gegend schweifen lasse. Ich bewege mich nicht, mein ganzer Körper fühlt sich so unglaublich schwer und taub an. Davon abgesehen möchte ich mich auch gar nicht aus dieser viel zu bequemen Position befreien. Ich spüre Alexanders Atem an meinem Haaransatz, spüre, dass er mir sanfte Küsse auf den Scheitel haucht. Wahrscheinlich denkt er, dass ich schlafe.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen ist, aber ich hoffe, dass es noch nicht allzu Anschiss-von-Mom-spät ist. Doch als mein Blick immer deutlicher wird, wird mir plötzlich klar, dass Staffel 1, Folge 3 wahrscheinlich eher Mom-wird-mir-den-Kopf-abreißen-spät sein wird. Wie von einer Tarantel gestochen richte ich mich auf und stemme meinen immer noch schlafenden Oberkörper mit den Armen auf dem dicken Sitzkissen ab.

„Wie spät ist es?", presse ich zerknirscht hervor, da ich schon jetzt das Gefühl von Alex' Lippen auf meinem Haar vermisse. Als auch er sich erhebt und aufrecht neben mich hinsetzt, prangt ihm ein imaginäres Fragezeichen auf der Stirn.

„Viertel vor zwölf oder so. Warte mal, hast du nicht gerade noch geschlafen?"

„Scheiße, Mom wird durchdrehen. Ich muss nach Hause." Ich ignoriere seine Frage und schnappe mir stattdessen meine Handtasche vom Fußboden, um ihr eine Nachricht zu schicken. Womöglich kann ich den bevorstehenden Krieg nicht verhindern, aber ich kann wenigstens versuchen, den Feind zu besänftigen.

„Was machst du da?", will Alex jedoch wissen, bevor ich das Textfeld antippen kann.

„Ich schreibe meiner Mom. Dass ich bei Kat die Zeit vergessen habe, oder sowas in der Art."

Er nickt nur. Seine Gesichtszüge wirken mit einem Mal wie eingefallen. Die dunklen Schatten unter seinen Augen habe ich bisher nicht bemerkt. Daraufhin steht er einfach auf, nimmt die zwei leeren Tassen vom Tisch und begibt sich damit in den Küchenbereich. Okay, was ist jetzt schon wieder los?

„Habe ich irgendwas falsch gemacht?", rufe ich ihm zu, doch meine Stimme ist trotz aller Bemühungen so leise, dass ich mir unsicher bin, ob er mich überhaupt gehört hat.

„Nein, wieso?", antwortet er jedoch entgegen meiner Erwartung, während er das Geschirr unter klirrendem Lärm in die Spülmaschine verfrachtet. „Naja, du bist so komisch. Und-"

Ich bin komisch?", fällt er mir ins Wort, und seine Stimme ist jetzt wesentlich lauter als zuvor. „Weißt du, was ich komisch finde, Ella? Dass du so viel Rücksicht auf deine Mutter nimmst. Du bist volljährig. Sie kann dir überhaupt nichts verbieten oder dir vorschreiben, wann du zu Hause sein sollst."

Was soll das denn jetzt?

Habe ich irgendetwas verpasst?

Plötzlich sind meine Gedanken völlig klar. Ich bin wieder hellwach, was nicht zuletzt daran liegt, dass mich seine harschen Worte ein wenig verletzen. Obwohl ich weiß, dass seine indirekte Frage vollkommen berechtigt ist, verspüre ich schon wieder diesen Brocken auf meiner Lunge, der mir das Atmen erschwert. Ich hole trotzdem tief Luft, so gut es eben geht, und erhebe mich, um ihm bei dieser Unterhaltung in die Augen sehen zu können. Ich folge ihm zur Kochinsel, an der er sich mittlerweile angelehnt hat, und bleibe schließlich direkt vor ihm stehen.

„Ich weiß, dass ich machen kann, was ich will, Alex. Aber findest du nicht, dass sie endlich mal ein Leben verdient, in dem sie sich keine Sorgen um ihre Kinder machen muss? Ihre Nerven liegen immer noch blank, sie braucht einfach Ruhe."

Es scheint, als würde er sich ein Lachen verkneifen, bevor er sich mit den Händen durch Gesicht und Haare fährt. „Findest du nicht, dass du mal ein Leben verdienst, in dem du endlich leben kannst?"

Instinktiv runzele ich die Stirn. „Wie meinst du das? Ich lebe doch."

„Leben besteht nicht nur aus Atmen und Essen, Isabelle. Ich bin einfach der Meinung, dass du dich endlich von deiner Mom lösen solltest. Es ist wirklich bemerkenswert, wie du dich um sie kümmerst, allerdings solltest du dich und deine Bedürfnisse nicht hintenanstellen."

Verdammt, ist das wirklich sein Ernst? Meine Mutter ist doch kein Pflegefall, der mich rund um die Uhr, sieben Tage die Woche beansprucht. Ich habe ein Leben, ich kann tun und lassen was ich will. Ich will doch einfach nur Situationen vermeiden, in denen Betty sich sorgen könnte. Mehr nicht.

„Was soll das? Ich glaube, dass ich genug Freizeit habe, in der ich leben kann. Und Mom ist die Letzte, die mich davon abhält. Sie ist schon immer ein sehr besorgter Mensch gewesen, und seit dem Unfall ist es nur schlimmer geworden. Wozu sollte ich sie unnötig stressen?"

Inzwischen bin ich fast schon genervt. Ich verstehe einfach nicht, warum er mich nicht versteht, aber ich werde jetzt ganz bestimmt nicht nachgeben. Um mein vorgetäuschtes Selbstvertrauen zu untermalen, stiere ich direkt in seine schwarzen Pupillen, die sich daraufhin kaum merklich weiten. Der Ansatz eines lüsternen Grinsens umspielt seine Lippen.

„Dann zeig mir, wie du lebst", säuselt er, wobei sein Gesicht dem meinen immer näherzukommen scheint. Reflexartig trete ich einen Schritt zurück, meine Stimme gleicht nunmehr einem zarten Lufthauch.

„Und wie?"

Seine linke Hand schnellt an meine Taille, wodurch ich ruckartig an Alexanders Oberkörper gepresst werde. Mit der anderen Hand umschließt er meine Wange, streicht dann mit dem Daumen über den dazugehörigen Knochen. Er ist mir dabei so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen berühren.

„Bleib' heute Nacht bei mir, Ella. Bitte."

17| Von Fehlern und dem Himmel

 

17.

Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass Menschen im Laufe ihres Lebens Fehler begehen. Es gibt Leute, die jeden ihrer kostbaren Atemzüge damit verschwenden, alles richtig machen zu wollen, Anderen gefallen zu wollen und irgendwelche unlogischen Regeln zu befolgen. Das sind auch die Menschen, die in der Millisekunde, bevor sie letztendlich sterben, ihr Leben Revue passieren lassen und merken werden, dass sie nie richtig gelebt haben. Zu dieser Art wollte ich nie gehören, aber der Zug zum Himmel ist für mich auch schon längst abgefahren. Ich bin wirklich immer spät dran.

Wobei, was wäre mein Leben auch ohne Fehler? Vielleicht hätte Dad nie diesen Unfall gehabt, wenn ich ihm von Anfang an gebeichtet hätte, dass Robin sich auf eine Party schleichen wird. Wir wären wahrscheinlich immer noch eine glückliche Familie, doch die Solidarität zu meinem Bruder hat mich davon abgehalten. Hätte ich mich damals nicht auf Louis eingelassen, wären mir vielleicht einige Tränen und viel, viel Kummer erspart geblieben. Und trotzdem hat er mir in den wenigen Tagen unserer Zweisamkeit ein so wunderschönes Gefühl geschenkt, dass es den Ärger beinahe wert war. Hätte ich diese und so viele andere Fehler nicht getan, wäre heute alles anders. Vielleicht wäre es besser.

Wenn ich jedoch später vor der Höllenpforte stehen werde, kann ich mir immerhin nicht vorwerfen, nicht gelebt zu haben. Das Leben besteht aus Gefühlen, aus Freundschaft und Vertrauen, aus Liebe und Intimität. Und ich habe gefühlt, ich habe gelebt und ich habe geliebt. Mit Haut und Haaren, Leib und Seele.

Ich habe bereits eine lange Reise hinter mir, die mich durch dunkle Täler und schillerndes Gebirge geführt hat. Und auch, wenn alles so viel besser sein könnte, bereue ich im Endeffekt keinen Fehler meiner endlosen Liste. Ich bin stark, auch wenn ich diesen Charakterzug ab und an vergessen mag. Immerhin habe ich es geschafft, mich durch diese emotionale Barbarei zu schlagen und weiterhin dagegen anzukämpfen.

Wer immer nur die Regeln befolgt, das letzte Schaf der Herde ist, kann auch keine eigene Stärke entwickeln. Etwas, was ich mit aller Kraft verteidigen würde. Hätte ich jedoch vorher gewusst, dass ein simples »Ich bleibe« so viele weitere Fehler mit sich zieht, hätte ich mich wahrscheinlich freiwillig für den Anblick der Schafsärsche entschieden.

 

****

 

Hey Mom. Ich übernachte heute bei Kat, sie hat Liebeskummer und braucht eine Freundin. Hoffe, das ist okay. Wenn etwas sein sollte, dann ruf mich an. - Kuss, Ella.

Kat, wenn meine Mom dich fragen sollte: Ich schlafe heute bei dir und du hast Liebeskummer. Erkläre dir alles morgen. Danke, hab' dich lieb.

Noch während ich auf Senden drücke, versuche ich die flüsternden Stimmen in meinem Kopf, die mir immer wieder sagen, dass das alles eine ganz blöde Idee ist, und ich lieber nach Hause gehen sollte, zu ignorieren. Ich bin mir bewusst, dass es vielleicht nicht die beste Ausgangsposition darstellt, bereits nach zwei Wochen bei meinem Lehrer zu übernachten. Doch die Art und Weise wie er mich zum Bleiben gebeten hat, so flehend, so intensiv, hat mein rationales Denkvermögen in der ersten Runde k.o. geschlagen.

Wir hätten uns beinahe geküsst, wenn er mich nicht plötzlich von sich geschoben hätte und mit dem Kommentar »Ich muss noch Bier aus dem Keller holen« zur Tür hinausgestürmt wäre. Und jetzt sitze ich zusammengekauert auf dem Sofa und beäuge das Display meines Handys, das aufgrund einer neuen Nachricht aufleuchtet. Nach wie vor gleichen meine Beine der Konsistenz von Wackelpudding, und auch mein Puls kann sich nur schwer beruhigen, sodass ich eigentlich froh sein sollte, dass Alex für ein paar Minuten abwesend ist. Insbesondere, weil er mit Alkohol zurückkehren wird.

Kat: Oh mein Gott, ich will morgen ALLES (!!!) wissen. Viel Spaß, meine Liebe, und tu all das, was ich auch tun würde. Hab dich auch lieb.

Mit einem Seufzer schließe ich die Nachricht und schleudere das Handy in die andere Ecke des Sofas. Ich fühle mich so mies bei dem Gedanken, Kat schon wieder anlügen zu müssen. Ich dachte, dabei handele es sich um anfängliche Startschwierigkeiten, die wir mit unserer Freundschaft längst ausgebügelt hätten. Niemals wäre ich davon ausgegangen, dass ich ihr jetzt eine noch viel größere Lüge auftischen muss.

Wobei ich ihr auch eigentlich die Wahrheit sagen könnte. Zumindest die Version, in der ich den Abend mit einem gewissen Andreas aus der Oberstufe verbracht habe. Wenn sie mich dann aushorchen wird, kann ich ihr trotzdem erzählen, womit wir unsere Zeit verbracht haben. Was für ein brillanter Plan, lobe ich mich, als plötzlich das Geräusch von scheppernden Glasflaschen im Hausflur ertönt.

Alexander erscheint einen kurzen Augenblick später mit einer Kiste Becks-Bier in den Händen. Durch die kurzen Ärmel seines Shirts kann ich die herausstechenden Muskeln seiner Oberarme erkennen, und fast sieht es so aus, als würden sie im Takt seines Herzschlages über seine Haut tanzen. Mit hörbarem Schnaufen schleppt er meine Rettung in die Küche und stellt sie lautstark auf dem Tresen ab, ehe er ein paar Flaschen in den Kühlschrank befördert. Dann kramt er ein Feuerzeug aus einer Schublade hervor und kommt schließlich mit zwei geöffneten Exemplaren auf mich zu. Dass er dabei so stillschweigend vorgeht, macht mir irgendwie Angst.

»Danke«, murmele ich, als Alex mir schließlich ein Bier reicht und sich neben mich setzt. Ohne eine Miene zu verziehen, lässt er seine Flasche gegen meine schnellen, bevor er sie ansetzt und den Inhalt in drei großen Zügen halbiert. Irgendetwas sagt mir, dass er aufgeregt ist. Und das hat nicht nur mit seiner zitternden Körperhaltung zu tun.

Ich verstehe ihn einfach nicht. In der einen Sekunde bettelt er mich quasi an, dass ich bei ihm bleiben soll, und in der Nächsten kriegt er kein Wort über die Lippen und starrt abwesend Löcher in die Luft. Nebenbei knibbelt er das Etikett der Bierflasche ab, wodurch auch meine Nervosität deutlich ansteigt. Ich halte diese innere Anspannung nicht mehr lange aus, weshalb ich mein Gehirn krampfhaft nach einem Gesprächsthema abscanne.

»Wie bist du eigentlich zu diesem Schmuckstück an Wohnung gekommen?«

Alexander wirkt, als hätte ich ihn aus einem tiefen Gedanken gerissen. Er lässt seinen Blick nach links und rechts schweifen, dann genau auf mich. »Ich habe eine Annonce in der Zeitung gefunden, in der dieses Gebäude zum wiederholten Mal zum Kauf angeboten wurde. Es ist wohl offensichtlich, warum der Eigentümer das Ding nicht losgeworden ist. Ich konnte ihm wenigstens die oberste Etage abquatschen.«

Er nippt erneut an seinem Bier, wodurch kleine Tröpfchen auf seiner Unterlippe liegenbleiben. Wie gern ich mich jetzt zu ihm beugen und daran saugen würde. Stattdessen kralle ich meine Fingernägel in das kalte, feuchte Glas meiner Flasche, bis sie leicht schmerzen. Schließlich gönne auch ich mir endlich einen Schluck, einen ziemlich Großen sogar.

»Du hast die Wohnung also gekauft?«

»Nein. Ich bin nicht reich, falls du das denkst«, lacht er, und die Fältchen an seinen leuchtenden Augen fühlen sich so vertraut an, dass ich mich endlich wieder in Entspannung wiegen kann. »Ich wohne hier zur Miete. Ich konnte dem alten Mann einreden, dass die Suche nach einem Käufer sowieso hoffnungslos ist, weshalb ich die Bude für einen spottbilligen Preis haben kann.«

Er hätte sich womöglich kein geeigneteres Heim aussuchen können. Je mehr ich mich hier umschaue, desto mehr erkenne ich etwas von ihm in der Einrichtung wieder. Von der Unordnung, die er vor der Haustür angesprochen hat, ist hingegen herzlich wenig zu sehen. Bis auf ein paar Kleidungsstücke, die vereinzelt auf verschiedenen Möbelstücken zu finden sind, ist es ansonsten recht aufgeräumt. Ich habe mir eine Männerbude immer anders vorgestellt, irgendwie dreckiger und nicht so schick, was mal wieder ein Beweis dafür ist, dass nicht jedes Klischee Gültigkeit findet.

»Was für ein Glück«, spreche ich das Offensichtliche aus, »und es ist mir übrigens völlig egal, ob du reich bist oder nicht.«

Ich spüre die heiße Röte meiner Wangen, als Alexander mich daraufhin schief anlächelt. Es treibt mich in den Wahnsinn, dass ich ihn nicht einfach küssen darf. Jetzt, genau auf diese reizvolle Stelle an seinem Mundwinkel. In Momenten wie diesen hat er nichts mehr von dem sonst so selbstbewussten Mann an sich, ganz im Gegenteil. Er wirkt schüchtern, zurückhaltend, beinahe etwas ängstlich. Ich möchte ihn am liebsten mit all den Glücksgefühlen überhäufen, die ich für ihn empfinde, und ihm klarmachen, dass er der Letzte ist, der sich vor irgendetwas fürchten muss. Schließlich bin ich das naive Dummchen, das lachend ihrem Untergang entgegenrennt.

»Wir sollten jetzt schlafen«, bemerkt er nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille. »Du kannst mein Bett haben, ich penne auf dem Sofa.« Ohne eine weitere Bemerkung greift er zu seinem Bier, leert es in einem Zug und erhebt sich. Anders als erwartet bleibt er jedoch neben dem Wohnzimmertisch stehen und stiert auf mich hinab.

»Ich bin aber nicht müde«, protestiere ich lautstark, woraufhin er sich wieder auf die Couch sinken lässt. »Ich meine ... Wozu bin ich denn dann hiergeblieben?« Mein Blick ist direkt an seine Pupillen geheftet, während ich zwanghaft versuche, nicht auf seine aufeinander gepressten Lippen zu starren. Mit einem Mal spiegelt sich Wut in seinen Zügen wider und ich sehe etwas in seiner Iris auflodern, das ich noch nie zuvor an ihm bemerkt habe.

Das Klingeln meines Handys lässt uns zeitgleich zusammenfahren. Es gibt nur eine Person, die mich jetzt um diese Uhrzeit anrufen würde, weshalb ich es einfach bimmeln lasse. Ich habe ihr eine Nachricht geschickt, damit sollte Mom sich zufriedengeben. Ich kann ihrer Besorgnis nicht schon wieder nachgeben. Erst recht nicht nach Alex' Ansage über das freie Leben.

»Was willst du dann machen?«, fragt er, als das nervige Ding endlich verstummt. Mir fällt auf, dass er meiner vorherigen Frage bewusst aus dem Weg geht, aber diesmal lasse ich es nicht zu. Vielleicht ist es auch das mittlerweile geleerte Bier, das aus mir spricht. »Lenk nicht ab. Wieso bin ich hier?«

Resigniert fährt er sich durch die Haare, zieht scharf die Luft ein. Mit einem Mal erweckt es den Anschein, als wäre ich nicht mehr die Einzige in diesem Raum, die eine Last mit sich trägt. Sein unaufhörliches Schweigen schrillt in meinen Ohren wie eine Alarmsirene. Und es sind genau diese Signale, die einen gebrandmarkten Menschen wie mich aufhorchen lassen. Er verschweigt etwas.

»Hör mal, wenn du nicht mit mir reden möchtest, dann kann ich auch gehen«, presse ich möglichst selbstbewusst hervor und unterstüze meinen Auftritt, indem ich ruckartig aufstehe und auf die Haustür zusteuere. Wenn ich ihn schon nicht mit Worten zum Reden bringen kann, dann vielleicht mit Taten. Offenbar mit Erfolg, denn keine Sekunde später höre ich ein »Nein, warte« hinter mir, und Alexanders Schritte, die immer näher auf mich zukommen. Schließlich halte ich inne und drehe mich zu ihm um. »Dann sag mir doch einfach, was mit dir los ist. Du bist schon den ganzen Abend so abweisend. Habe ich wirklich nichts falsch gemacht?«

Ich bin mir nicht sicher, meine aber so etwas wie Verzweiflung in seinen Augen zu erkennen, als er so nahe vor mir stehenbleibt, dass unsere Körper sich fast berühren. »Du hast nichts falsch gemacht, Ella«, flüstert er, wobei sein heißer Atem meine kribbelnde Haut streichelt. »Wenn überhaupt bin ich derjenige, der hier einen großen Fehler macht. Aber bitte, geh nicht.«

»Und wieso? Du stößt mich doch schon seitdem ich hier bin von dir. Und was für einen Fehler überhaupt?«

Seufzend reibt sich Alexander mit den Händen durchs Gesicht. Mal wieder sieht er extrem müde aus, kraftlos. Es scheint, als müsse er sich die passenden Worte im Kopf zurechtlegen, denn es dauert einen Moment, bis er antwortet. »Ich stoße dich nicht von mir weg. Ich ... scheiße, das ist nicht so einfach zu erklären. Du bist schließlich meine ...«

Und plötzlich teile ich seine Verzweiflung. Wobei es sich bei dem beklemmenden Gefühl eher um Panik handelt, die beginnt, mich von innen heraus aufzufressen. »... deine Schülerin, ich weiß«, beende ich seinen unausgesprochenen Satz. »Ich versteh' schon, du hast recht. Ich sollte jetzt lieber gehen.«

Mir ist schlichtweg zum Heulen zumute. Kurz überlege ich, wie es zu dieser unangenehmen Situation zwischen uns kommen konnte, aber wahrscheinlich hat Alexander eingesehen, dass heimliche Treffen mit mir einfach zu riskant sind. Er bittet mich womöglich nur deshalb zum Bleiben, weil er meine Gefühle nicht verletzen möchte. Simple as that. Also mache ich auf dem Absatz kehrt, endlich weg von ihm, doch schon im nächsten Moment spüre ich seinen festen Griff an meinem Arm.

»Verdammt, Ella. Jetzt bleib doch mal stehen«, ruft er, wobei seine Stimme irgendwie zornig klingt. »Ich ... ich habe einfach Schiss, eben weil es mir so egal geworden ist, dass du meine Schülerin bist. Ich breche das Gesetz, verdammte Scheiße. Und es macht mir Angst, dass nicht mal das den Drang in mir kontrollieren kann, dich die ganze Zeit berühren und küssen zu wollen.«

Schlagartig ist mir so schlecht, dass ich die Befürchtung habe, ihm meine Gefühle direkt vor die Füße zu kotzen. Für einen flüchtigen Atemzug scheint die Erde stillzustehen, alles um mich herum wirkt wie eingefroren. Ich höre das Blut in meinen Adern rauschen, den explodierenden Herzschlag in meiner Brust. Ich bin wie eine Maschine, der plötzlich der Stecker gezogen wurde.

Doch auch während ich zwanghaft versuche, meine Selbstachtung aufrecht zu erhalten, entgeht mir Alexanders in sich zusammengesackte Körperhaltung nicht. Seine von dunklen Schatten umrahmten Augen haben sämtlichen Glanz verloren und erinnern mich irgendwie an Edvard Munchs »Der Schrei«. Er sieht so traurig aus, dass sein Anblick meinen inneren Emotionstornado beinahe in die Knie zwingt. Ich bin vollkommen gedankenlos, als mir daraufhin die Worte unbedacht aus dem Mund purzeln. »Dann lass die Kontrolle frei, Alex.«

 

****

 

Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, seine Lippen auf meinen zu spüren. Alexander schmeckt genauso himmlisch wie bei unserem ersten Kuss in seinem Auto, mit dem Unterschied, dass ich diesmal nicht wegrennen werde. Die Art, wie er seinen Mund auf meinen presst, ist voller Hingabe, voller Intensität. Als würde seine gesamte Gedanken- und Gefühlswelt darin stecken, als wäre dieser Moment alles, was er hat. Seine Arme sind eng um meinen Oberkörper geschlungen, wodurch ich so fest an seine Brust gedrückt werde, dass ich beinahe keine Luft bekomme. Es wirkt, als hätte er Angst, dass ich plötzlich verschwinden würde, dabei würde es mir niemals in den Sinn kommen, diesen Augenblick des Himmels zu unterbrechen.

Seine Zunge gleitet sanft über meine Unterlippe, woraufhin ich den Mund leicht öffne, um ihm Eintritt zu gewähren. Er tastet sich nur sehr zaghaft voran, doch als er endlich meine Zunge erobert hat, die sich ihm vorfreudig entgegenstreckt, scheint unsere Euphorie keinen Halt mehr zu kennen. Während seine Hände meine Taille entlangfahren und auf meinen Hüften liegenbleiben, verschränke ich die meinen in seinem Nacken und kraule mit den Fingerspitzen über seine Haut. Durch die feinen Härchen an seinem Körper, die sich daraufhin unvermittelt aufrichten, kann ich mir ein Kichern nicht verkneifen. An meinem Mund spüre ich, dass auch er lächeln muss, ehe er mich noch weiter, noch tiefer und noch besitzergreifender in sich aufnimmt.

Als ich irgendwann seine Erektion an meinem Bauch spüre, muss ich an meinen Traum zurückdenken. Der Traum, in dem Alex und ich uns im Klassenzimmer geküsst haben, übereinander hergefallen sind, genau wie jetzt. Nur, dass er sich in der Realität so viel besser anfühlt. Auf einmal muss ich auch an all unsere Gespräche denken, an unser Kennenlernen im Flur, an die vielen heimlichen Blicke, die wir im Unterricht ausgetauscht haben. Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Jetzt weiß ich wieder, warum das alles ein großer Fehler ist.

Ich komme nun doch nicht umher, Alexander mit voller Kraft von mir wegzuschieben. Er taumelt ein paar Schritte nach hinten, sichtlich um Fassung ringend. »Was zum ...«

»Wie kannst du es wagen?«, schreie ich ihm ins Gesicht, während sich meine Augen schon wieder mit Tränen füllen. Verfluchte Heulsuse. Die Falten auf seiner Stirn sind so tief, dass ich mir sicher bin, dass er Schmerzen in den Augenhöhlen haben muss. Das scheint ihn jedoch nicht davon abzuhalten, mich weiterhin ungläubig anzustarren. »Wie kann ich was wagen? War es nicht das, was du wolltest?«

Mit dem Versuch, nach meiner Hand zu greifen, kommt er wieder langsam auf mich zu, doch ich entreiße sie ihm, sobald er meine Finger zu fassen bekommt. Es fühlt sich so beschissen an, nicht auf seine verzweifelten Annäherungsversuche einzugehen, aber ich kann es einfach nicht. Nicht unter diesen Umständen.
»Scheiße, ja!«, gebe ich schließlich zu. Meine Stimme klingt so heiser, dass man meinen könnte, ich hätte stundenlang geweint. »Das ist genau das, was ich wollte. Aber ... es geht nicht. Nicht so, ich-«

»Ich verstehe schon«, unterbricht er mich plötzlich. Niedergeschlagen lässt er den Kopf hängen, weicht meinen eindringlichen Blicken aus. »Schon klar, du kannst keinen deiner Lehrer küssen.«

»Was? Nein, so war das gar nicht gemeint. Ehrlich gesagt ist es mir scheißegal, dass du mein Lehrer bist. Es hat keinerlei Bedeutung für mich.« Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, hebt Alex seinen Kopf, macht einen großen Schritt auf mich zu und packt mich blitzschnell bei den Schultern. Fast glaube ich, dass er mich wieder küssen möchte, weshalb ich abwehrend meine Hände gegen seine Brust stemme. Er hält mich jedoch fest, nimmt daraufhin mein Kinn in seine Finger. »Was ist es dann?«

Dass er offensichtlich überhaupt keine Ahnung hat, was mit mir los ist, macht mich langsam etwas wütend. Ich verstehe sowieso nicht ganz, warum wir diese Unterhaltung überhaupt führen und wie es in kürzester Zeit zu so viel Intimität zwischen uns kommen konnte. Immerhin ist dieses Problem so präsent wie ein Elefant im Porzellanladen. Ich muss mich stark zusammenreißen, um ihn nicht anzubrüllen. »Du hast eine Freundin, Alexander. Hast du das etwa schon vergessen? Wie kannst du mich nur küssen, wenn du in einer Beziehung bist?«

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass er immer noch keinen blassen Schimmer zu haben scheint, wovon ich eigentlich spreche. Sein erbleichtes Gesicht besteht aus einer einzigen, riesigen Falte, wohingegen seine Augen zu dünnen Schlitzen geformt sind, die mich hilfesuchend mustern.

»Was für eine Freundin? Ich habe keine Freundin, Ella«, bemerkt er dann und seine Stimme wirkt im Gegensatz zu seiner Mimik ruhig und gelassen. Seine Finger liegen noch immer an meinem Kinn, ich glaube sogar, dass sich sein Griff verfestigt hat. »Und was ist mit Leonie?« Bei all den springenden Endorphinen, die sich in den letzten Tagen in meinem Körper ausgebreitet haben, habe ich die blonde Schnepfe beinahe vergessen.

Anstatt jedoch mit Floskeln der Entschuldigung um sich zu werfen, verfällt Alexander augenblicklich in schallendes Gelächter. Verdammt, was soll das denn jetzt? »Schön, dass du das alles so super witzig findest«, zische ich, ehe ich meine Arme demonstrativ vor der Brust verschränke.

»Sorry, aber ...«, stammelt er nach Luft schnappend, » ... mir war nicht klar, dass du ihr dummes Gerede wirklich geglaubt hast.«

Ich kann nichts mehr sagen, kaue stattdessen nervös auf meiner Unterlippe herum, die nach unserem Kuss etwas angeschwollen ist. Währenddessen zieht das altbekannte flaue Gefühl in meine Magenhöhle ein, wodurch Alex' ausgesprochenen Worte nur langsam bei mir ankommen. »Was?«

Vorsichtig legt er die Hand, die vorher an meinem Kinn geruht hat, auf meine Wange und zieht mich dadurch näher an sein Gesicht heran. Sein Atem, der dabei meine Lippen streift, verwandelt sie sofort in ein loderndes Feuer. »Leonie ist nicht meine Freundin, Isabelle.«

»A-aber wieso, ... Sie hat doch gesagt, dass-«

Meine Worte werden von Alexanders Mund erstickt, der sich unaufgefordert auf den meinen legt. Auch wenn ich immer noch nicht ganz verstanden habe, was gerade eigentlich passiert ist, lasse ich es zu. Ich habe keine Lust mehr darauf, mein Handeln von negativen Gedanken leiten zu lassen, möchte vielmehr das überwältigende Gefühl genießen, das er in mir auslöst, als er mich plötzlich hochhebt. Instinktiv schließe ich die Augen, konzentriere mich voll und ganz auf seine weichen, süßen Lippen und nehme seinen Kopf in beide Hände. Als er dann meinen Hintern packt und sich in Bewegung setzt, ohne unseren Kuss zu unterbrechen, nehme ich nur unbewusst wahr, dass er mich geradewegs in sein Schlafzimmer bringt.

18| Der bittere Duft vom Elend

 

18.

Das Gefühl ihrer weichen Haare auf meiner nackten Haut ist unglaublich, als sie den Saum meines Shirts greift und es mir in einer fließenden Bewegung über den Kopf zieht. Achtlos schmeißt sie es zu Boden, bevor sie wieder ihre Arme um meinen Nacken schlingt und mich an sich presst. Ihre Finger wandern in meine Haare, krallen sich darin fest und ziehen unsanft daran, sodass meine wachsende Erektion durch den süßlichen Schmerz zu pulsieren beginnt. Die Art, wie sie mit ihren perfekten Lippen meinen Mund erobert, hat etwas Verzweifeltes an sich, als wäre ich ihr Rettungsanker auf hoher See. Immer wieder lässt sie ihre Zunge um die meine kreisen, mit solch einer Hingabe, dass ich mich in ihr zu verlieren drohe. Es scheint, als würde dieser Kuss die Lösung all ihrer Probleme darstellen.

Instinktiv trage ich sie ins Schlafzimmer und lasse sie erst wieder herunter, sobald wir vor meinem Bett stehenbleiben. Mit aufgerissenen, gläsernen Augen schaut sie zu mir auf, verzieht ihre geschwollenen Lippen zu einem vagen Lächeln. Ihr Blick ist verrucht, leidenschaftlich, und es fühlt sich an, als würde sie durch meine Pupillen hindurch direkt in meine nicht vorhandene Seele blicken. Ihre Schönheit ist unerträglich, ich kann sie kaum ansehen. Stattdessen fokussiere ich ihre reizenden Mundwinkel, beobachte, wie sie vor Erregung zucken. Ich kann nicht anders, als mich ihr entgegen zu beugen und genau diese Stelle mit zarten Küssen zu bedecken. Die unscheinbaren Härchen ihrer Haut richten sich unter meinen Berührungen auf, als ich meinen Mund schließlich hinabgleiten lasse. Behutsam schiebe ich ihre langen Haare beiseite, wodurch mir der Duft nach einer Mischung aus ihrem fruchtigen Parfum und Apfelshampoo in die Nase steigt. Egal, mit welchem meiner Sinne ich ihren Körper wahrnehme, es ist in jeder denkbaren Variation berauschend.

Mit gehauchten Küssen fahre ich den Weg ihrer Halsschlagader entlang, bis hin zu ihren herausstechenden Schlüsselbeinknochen, die ich mit den Fingerspitzen nachziehe. Ich bin so von ihr eingenommen, dass ich es fast nicht bemerke, dass sie sich mittlerweile an meinem Hosenbund zu schaffen macht. Sie lässt jedoch in dem Moment davon ab, in dem ich meine Zunge wieder hinauf zu ihrem Ohrläppchen gleiten lasse, welches ich daraufhin zwischen die Zähne nehme und leicht daran knabbere. Gott, sie schmeckt so unbeschreiblich gut, ich kann mein Glück kaum fassen.

Kurz lasse ich von ihr ab, um ihr mit geschickten Handgriffen das Shirt abzustreifen, bis sie mir schließlich in einem schwarzen BH aus Spitze gegenübersteht. Ich kann meine Augen nicht von ihrem gottesgleichen Körper lassen. Ihr Bauch ist flach, ihre Hüften hingegen verführerisch kurvig. Ihre Pfirsichhaut ist übersäht von hellen Muttermalen, und am liebsten würde ich jedes einzelne davon küssen. Meine Hose scheint fast zu explodieren, als sie plötzlich beginnt, meine Brust mit ihren Lippen zu liebkosen und ihre Hände über meine Bauchmuskeln fahren zu lassen. Es fühlt sich an, als würde sie kleine Blitze durch ihre Fingerkuppen abschießen, die mich genau da treffen, wo sie es niemals sollten. Nicht mal mein bisher bester Sex kann mit den simpelsten Berührungen dieser Frau mithalten, sie ist der reinste Wahnsinn. Als ich stöhnend meinen Kopf in den Nacken werfe, meine ich, den Ansatz eines Lächelns an meinem Hals zu spüren, halte meine Augen jedoch geschlossen. Dieser Moment ist ein einziger Genuss.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. So gern ich dieses aufregende Gefühl auch beibehalten möchte, aber ich kann mich einfach nicht mehr zurückhalten. Zu groß ist der Drang, mit ihr verschmelzen zu wollen, eins mit ihr sein zu wollen. Ich will mich in ihr verlieren, hier und jetzt. Im Augenblick ist es mir egal, wer sie ist oder in welcher Verbindung wir zueinanderstehen. Es ist mir egal, dass der Sex mit ihr ernsthafte Konsequenzen mit sich ziehen könnte, dass er wahrscheinlich gegen jede meiner persönlichen Prinzipien verstößt. Aber für einen Rückzieher ist es sowieso zu spät, ich bin schon längst süchtig nach ihr.

Also packe ich ihre Hüften und schubse sie, sodass sie zwei Schritte nach hinten taumelt und auf meiner weichen Matratze landet. Ich folge ihr nicht sofort, nehme für ein paar Sekunden diesen göttlichen Anblick in mich auf, der sich mir gerade bietet. Sie ist mit großem Abstand die schönste und heißeste Frau, die mein Bett je gesehen hat. Nicht, dass es schon übermäßig viele gewesen wären. Dann öffne ich meine Jeans, streife sie ab und schleudere sie mit den Füßen in die andere Ecke des Zimmers. Sie macht Anstalten es mir gleichzutun, doch ich bin schneller und bei ihr angekommen, bevor sie ihren Hosenbund zu fassen bekommt. Ich knie mich direkt über sie und stütze mich mit dem einen Arm neben ihrem Kopf ab, während ich mit dem Anderen ihre Handgelenke bündele und an ihrer Brust fixiere.

»Ich mache das schon«, hauche ich direkt an ihrem Ohr, was sie leise aufstöhnen lässt. Wir lassen uns erneut zu einem leidenschaftlichen Kuss hinreißen, ehe ich ihre Hände wieder loslasse und stattdessen an ihrem Jeansknopf herumfummele. Es benötigt ein paar Versuche, bis ich ihn schließlich durch das viel zu kleine Loch stülpen kann. Letztlich befreie ich sie von dem unnötigen Stoff, indem ich meinen Daumen darin unterhake und Jeans samt Strumpfhose bis zu ihren Knien herunterschiebe. Den letzten Rest erledigt sie mit ihren zappeligen Füßen.

Unvermittelt verlagere ich mein Gewicht, sodass ich nun auf ihr liege und unsere verschwitzten Körper aneinandergepresst werden. Dabei bohrt sich mein stark erregter Penis zwischen ihre Schenkel, und obwohl er durch die dünnen Boxershorts geschützt ist, ist das Gefühl ihrer Wärme überwältigend. Er ist so hart, dass es beinahe wehtut, und um diesem pochenden Schmerz wenigstens etwas Linderung zu verschaffen, beginne ich, meine Hüften in einem stetigen Rhythmus kreisen zu lassen. Jedes Mal, wenn sich meine Latte gegen ihre Scham drückt, stöhnt sie auf, bis es irgendwann in ein sehnsüchtiges Wimmern übergeht. Derweil vergrabe ich mein Gesicht erneut an ihrem Hals, sauge an ihrer geröteten Haut, trieze sie mit liebevollen Bissen, mit meinem heißen Atem an ihrem Ohr. Fast verzweifelt stemmt sie mir ihr Becken entgegen, immer und immer wieder, wodurch meine innere Ekstase ins Unermessliche geschmettert wird. Währenddessen krallen sich ihre Fingernägel in meinen Oberarmen fest, was sich einfach nur fantastisch anfühlt und die Leidenschaft zwischen uns nur noch mehr anfeuert. Ich will sie, ich brauche sie, jetzt.

Als sie das nächste Mal ihren Rücken durchstreckt, um sich mir entgegenzubeugen, wandern meine Finger zu dem Verschluss ihres BHs, den ich zum Glück beim ersten Versuch aufbekomme. Vorsichtig streife ich die Träger von ihren Schultern, bevor ich das überflüssige Ding im hohen Bogen in die Unwichtigkeit befördere. Der Anblick ihrer perfekten Brüste sendet ein direktes Signal in meine zuckende Lende. Sie haben die ideale Größe, sind nicht zu voll und nicht zu klein, und kurz frage ich mich, ob dieses Mädchen überhaupt irgendeine Macke hat. Ohne zu zögern, umschließe ich daraufhin ihre roséfarbenen, aufgerichteten Nippel mit den Lippen, lasse meine Zunge darum kreisen und necke sie mit den Zähnen.

»Lass es uns tun, bitte«, flüstert sie, mit einer solch lieblichen, flehenden Stimme, dass ich nichts Anderes tun kann, als ihrem Wunsch nachzugehen.

Und dann geht alles ganz schnell. Mit einem Mal befinde ich mich in einem unkontrollierten Rauschzustand, was womöglich auch der Grund dafür ist, dass ich mich im Nachhinein nicht mehr an die folgenden Sekunden erinnern werde. Mein Gedächtnis setzt erst wieder ein, als wir beide vollkommen nackt sind und ich zwischen ihren Beinen liege. Irgendwie habe ich es geschafft, mir ein Kondom überzuziehen, bevor ich endlich durch ihre weichen Schamlippen gleite und in sie eindringe. Das Gefühl ihrer warmen, feuchten Enge lässt sich nicht in Worte fassen, aber ich bin mir sicher, dass das der Himmel sein muss. Ihr Stöhnen ist wie Musik in meinen Ohren und das einzige Geräusch, das ich wahrnehmen kann. Ehrlich gesagt liebe ich es, wie sie auf meinen Körper reagiert. Nur sehr langsam ziehe ich mich aus ihr heraus, nur um sofort wieder zuzustoßen. Und wieder, und wieder, bis ich es schließlich tatsächlich schaffe, mich mit Leib und Seele in ihr zu verlieren.

 

****

 

Es ist dunkel.

Und still.

So still, dass ich meinen rasenden Puls hören kann. Und obwohl alles um mich herum pechschwarz ist, lasse ich meinen Blick durch die Gegend schnellen. Ich kann nichts erkennen, habe aber trotzdem das Gefühl, nicht zu Hause zu sein. Etwas ist anders. Vorsichtig taste ich meine Umgebung ab, während ich versuche, die ansteigende Panik hinunterzuschlucken. Ich liege in einem Bett, so viel steht fest, aber es ist nicht mein eigenes. Das weiche Laken schreit nach einem Trockner, doch Mom weigert sich aus geldtechnischen Gründen, uns endlich einen anzuschaffen. Neben meinem Kopf bekomme ich schließlich eine harte, kantige Holzlatte zu fassen, wahrscheinlich ein Nachttisch. In der Hoffnung, dort auch eine Lampe zu finden, stemme ich meine Ellenbogen in die Matratze und beuge mich etwas nach links, doch das plötzliche Ziehen in meinem Unterleib lässt mich augenblicklich innehalten. Und dann weiß ich wieder, wo ich bin.

Die bittere Erkenntnis, dass ich nicht nur bei, sondern auch mit meinem Lehrer geschlafen habe, trifft mich nicht so hart, wie sie es womöglich sollte. Genau genommen bin ich sogar ziemlich entspannt, wenn ich überlege, wie ich normalerweise auf Stresssituationen reagiere. Wäre der Sex nicht so wunderschön, traumhaft, ganz und gar einzigartig gewesen, würde ich mich jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Wohnung schleichen und mir ein Taxi nehmen. Dennoch, ... allein der Gedanke an seine Lippen auf meinem nackten Körper lässt mich erschaudern, seine kratzigen Bartstoppeln, die mich bis zur Besinnungslosigkeit gereizt haben. Immer wieder hat er mir zugeflüstert wie schön und sexy ich sei, wie sehr er mich wolle. Er hat meinen Namen gestöhnt, während er sich in mir ergoss, und wirkte dabei so verzweifelt, als hätte er Angst mich zu verlieren. Bis auch ich schließlich von einem solch heftigen Orgasmus durchflutet wurde, dass ich am liebsten geschrien hätte. Ich habe zwar nicht viele Vergleichsmöglichkeiten, - streng genommen nur eine -, würde aber trotzdem behaupten, dass es der beste Sex der Welt gewesen ist.

Nach wie vor hängt der verruchte Duft nach Schweiß und Leidenschaft in der Luft, gemischt mit einer dezenten Note seines herben Parfums. Auch mein Körper scheint sich noch nicht von den Nachwirkungen unseres Liebesspiels erholt zu haben, welche mir in Form eines brennenden Muskelkaters in den Knochen stecken. Bei dem Versuch mich aufzusetzen, schießt mir unvermittelt ein lähmender Schmerz durch alle Glieder, der meine Muskeln letztlich zur Kapitulation zwingt. Doch obwohl meine Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt sind, fühle ich mich durchweg gut, beinahe fantastisch. Mein gebrechlicher Körper erinnert mich wenigstens daran, dass es kein Traum gewesen ist.

Nach wenigen Minuten haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, wodurch nun die Umrisse der Möbel sichtbar werden. Bis auf einen monströsen Kleiderschrank, einen Sessel und einer Kommode kann ich kein weiteres Mobiliar erkennen. Naja, abgesehen von dem Bett, in dem ich liege. Dass dieser Raum größer als unser Wohnzimmer ist, habe ich gestern Abend nicht bemerkt; aber ich war ja auch ziemlich abgelenkt. Ich mache mich erneut auf die Suche nach einer Lichtquelle und werde schließlich auf dem besagten Nachttisch fündig. Die kleine Stehlampe ist jedoch so hell, dass ich nur blinzelnd dagegen ankomme. Eigentlich erwarte ich, dass sich jetzt ein mürrischer Alex zu mir umdreht, mit dem nuschelnden Kommentar, doch bitte das Licht wieder auszumachen, aber es bleibt weiterhin ruhig. Mein Blut gefriert in den Adern, als ich meinen Kopf zur Seite gleiten lasse und feststelle, dass niemand neben mir liegt. Ich bin allein.

Enttäuschung macht sich in mir breit. Und etwas, das panischer Angst sehr nahekommt. Sofort schlage ich die Decke beiseite und krabbele aus dem Bett, wobei jeder Knochen meines Körpers qualvoll aufheult. Offensichtlich muss ich unmittelbar nach dem Sex eingeschlafen sein, denn bis auf meinen schwarzen Slip bin ich immer noch nackt. Hastig schnappe ich mir ein graues T-Shirt mit Aufdruck vom Boden und streife es mir auf dem Weg zu den verglasten Doppeltüren über. Der seidige Stoff riecht nach Alexander, und ich erwische mich selbst dabei, wie ich ihn mir über die Nase stülpe und einen tiefen Zug davon inhaliere. Langsam verliere ich wohl doch meinen Verstand.

Der Wohnbereich ist ebenfalls verwaist. Hier ist es allerdings nicht ganz so finster, denn die riesige Fensterfront gewährt den dumpfen Strahlen des Mondes Eintritt. Es sieht fast etwas unheimlich aus, wie das weiße Licht die Dunkelheit des Raumes zum Vorschein bringt, sie wird förmlich untermalt. Plötzlich schnellt mein Blick zu den mausgrauen Vorhängen, die wie von Geisterhand durch die Luft gewirbelt werden. Erschrocken fahre ich zusammen, denn erst im nächsten Moment wird mir klar, dass die geöffneten Balkontüren für den Durchzug verantwortlich sind. Dass die Wohnung überhaupt über einen Balkon verfügt, habe ich nicht gewusst, wiederum konnte ich meine gestrige Konzentration auch nicht von Alexander abwenden. So leise wie möglich, setze ich mich schließlich in Bewegung und tapse der kalten Nacht entgegen.

Die Befürchtung, dass mein Lehrer womöglich abgehauen sein könnte, verpufft in dem Moment, in dem ich ihn auf dem kleinen Balkon stehen sehe. Er hat sich mit dem Rücken zu mir gegen das Geländer gelehnt und lässt den Blick über die Lichter der Stadt schweifen. Die Farbe seiner sonst eher gebräunten Haut hat einen grellen Weißton angenommen, was auch nicht verwunderlich ist, in Anbetracht dessen, dass er nur mit einer dunkelblauen Boxershorts bekleidet ist. Er muss sicher frieren. Nach einer Sekunde des Zögerns, mache ein paar Schritte auf ihn zu und kann erst jetzt die Zigarette in seiner Hand erkennen, dessen Glut aufleuchtet wie ein schwirrendes Glühwürmchen.

»Du rauchst?«, unterbreche ich die Stille, woraufhin Alex sichtlich zusammenzuckt. Ich sehe dichten Qualm an seinem Kopf aufsteigen, der sich nach und nach auflöst und irgendwann vom Wind weggetragen wird. Er dreht sich nicht zu mir um, würdigt mich keines Blickes. Nicht mal dann, als er nach einer halben Ewigkeit endlich antwortet. »Nur noch ab und zu, habe vor zwei Jahren aufgehört.« Damit scheint das Thema beendet.

Er ist anders. Ich erkenne den liebevollen, aufmerksamen Mann, mit dem ich gerade noch Sex hatte, - apropos, wie spät ist es eigentlich? -, nicht mehr wieder. Dabei kann ich nicht mal genau sagen, woran es liegt. Aber wahrscheinlich ist es seine abwehrende Körperhaltung und der schroffe Klang seiner Stimme, oder schlichtweg die Tatsache, dass er sich lieber mitten in der Nacht den Tod holt, statt mit mir im Bett zu liegen. Mit einem Mal bin ich dermaßen angespannt, dass mein vorheriger Muskelkater in Vergessenheit gerät. »Was ist los? Ist alles ... okay?«

»Nichts, alles gut«, presst er hervor, wobei sich sein Tonfall wie ein bedrohliches Knurren anhört. Wie ein Löwe, kurz bevor er eine Antilope reißt. Ich glaube ihm kein Wort, weshalb ich weiterhin auf ihn zukomme und mit den Fingerspitzen sanft seinen Oberarm berühre, als ich direkt hinter ihm stehe. Er ist eiskalt. Gerade will ich mich enger an ihn schmiegen, um ihm etwas von meiner erregten Hitze abzugeben, als er plötzlich meine Hand abschüttelt und sich abrupt umdreht. Seine Pupillen sind so schwarz wie die Nacht, die uns umgibt.

»Lass das«, zischt er dann, woraufhin ich mich ungläubig einen Meter von ihm entferne. Was ist nur mit ihm passiert?

Im Gegensatz zu mir wirkt er unendlich niedergeschlagen. Die gewöhnlichen Schatten unter seinen Augen scheinen noch dunkler, sobald sein schönes Gesicht vom Mondlicht ummantelt wird, und ich kann so etwas wie Verbitterung von seinen zu einer geraden Linie geformten Lippen ablesen. Er holt tief Luft, bevor er mit seiner verbalen Folter fortfährt und mir letztendlich den Todesstoß versetzt. »Du solltest jetzt besser gehen, Isabelle. Ich gebe dir Geld für ein Taxi.«

Wenn er mir eine Ohrfeige verpasst hätte, hätte es wahrscheinlich weniger wehgetan. Es wäre nichts im Vergleich zu dem stechenden Schmerz, den mein Chamäleon zwischen meinen Gedärmen veranstaltet. Wahnhaft krallt es seine Klauen in mein Fleisch, zerrt daran als wäre es seine hilflose Beute, schwärzer als das dunkelste Schwarz. Heiße Tränen drücken in ihren Drüsen, wollen endlich herausschießen, doch ich halte sie krampfhaft zurück. »Warum sagst du das? Ich dachte-«

»Was dachtest du? Dass wir einmal miteinander schlafen und direkt irgendeine komische Art von Beziehung führen? Das wird nicht funktionieren, Ella.« Die Gleichgültigkeit, die in seiner Stimme mitschwingt, stachelt das Biest in mir nur noch weiter an. Mit einem Mal kenne ich die Person, die gerade vor mir steht, nicht mehr. Niemals hätte ich gedacht, dass er sich mir gegenüber jemals so abfällig verhalten würde. Ich dachte er mag mich, ich dachte ... Irgendwo in meinem Inneren höre ich das Zerplatzen meiner Schutzblase, das war's.

»Nein, aber ich bin davon ausgegangen, dass du dich danach nicht wie ein Arschloch aufführen wirst«, erwidere ich so patzig wie möglich, klinge dabei aber so kraftlos, dass meinen Worten jegliche Schärfe genommen wird. »Warum bist du jetzt so?«

»Weil ich möchte, dass du gehst. Ganz einfach.«

Alexander nimmt einen letzten Zug der Zigarette, ehe er sie in Dunkelheit über das Balkongeländer schnipst. Sein Blick ist gesenkt, seine Augen fest zusammengekniffen. Ich versuche, die heftige Woge der Qual zu ignorieren. Es ist besser, gar nichts zu fühlt, statt dieser grausamen Art der seelischen Folter. Aber das ist wohl der Preis, den man zahlt, wenn man anderen Menschen vertraut.

Ich sage nichts mehr, bin vollkommen leer. Ohne noch eine Sekunde in meiner persönlichen Hölle zu vergeuden, mache ich auf dem Absatz kehrt und gehe. Je näher ich dem Schlafzimmer komme, desto schneller werde ich, weshalb ich auf den letzten Metern einen halben Sprint hinlege. Nicht heulen, bloß nicht heulen. Noch nicht, wiederhole ich so lange in meinem Kopf, bis ich endlich am Bett angekommen bin und beginne, meine Klamotten aufzusammeln.

Als ich jedoch plötzlich das benutzte Kondom neben meiner Unterwäsche auf dem Boden erspähe, sind alle Dämme gebrochen. Bitterlich schluchzend schnappe ich mir meinen BH, lasse mich dann auf die Matratze hinabsinken und streife mir mit zitternden Händen die Strumpfhose über, gefolgt von meiner Jeans. Da meine Sicht aufgrund der vielen Tränen stark verschwommen ist, dauert das ganze Prozedere etwas länger als sonst. Letztlich schaffe ich es ohne einen mentalen Zusammenbruch, mich komplett zu bekleiden, daraufhin in meine Schuhe zu schlüpfen und auf dem Weg zur Haustür noch Handy und Tasche einzusammeln. Doch noch bevor ich an meinem Ziel ankomme, bemerke ich Alexander, der plötzlich mit verschränkten Armen hinter mir steht.

»Es war ein Fehler. Das verstehst du doch sicherlich«, bemerkt er schlicht, und es wirkt, als wäre seine Miene noch ausdrucksloser als vor wenigen Minuten. Neue Wellen aus Tränen durchspülen meine Augenlider, strömen über meine hitzigen Wangen. Die Verwüstung des Chamäleons ist mittlerweile so explosiv, dass mein Adrenalin den Schmerz betäuben muss, um ihn einigermaßen erträglich zu machen. Irgendwie schaffe ich es trotzdem, dem gequälten Blick meines Lehrers standzuhalten. »Nein, Alex. Du warst der Fehler.«

Und ohne ein weiteres Wort stürme ich zur Haustür hinaus.

Der Weg durchs Treppenhaus geht nur sehr müßig voran, aus Angst, über meine eigenen Füße zu stolpern. Irgendwann im vierten oder dritten Stock wische ich mir beherzt durch die Augen, damit ich wenigstens ein bisschen auf dem Display meines Handys erkennen kann. Ich ignoriere die Nachrichten und Anrufe meiner Mom, vertippe mich bestimmt dutzende Male, bis sich endlich die Seite von Google öffnet und eine Auflistung von örtlichen Taxizentralen erscheint. Ich entscheide mich für die Erste. Nach drei Freizeichen ertönt eine schrille Frauenstimme, der ich erstmal unter Tränen erklären muss, wo ich abgeholt werden möchte. Ich versuche, mich an alles zu erinnern, jedes Detail, das ich auf dem Hinweg wahrgenommen habe, sodass die Dame schnell versteht. Sie ist wirklich sehr geduldig und versichert mir, dass in fünf Minuten jemand bei mir sein wird.

Nach weiteren, unzähligen Treppenstufen komme ich keuchend im Erdgeschoss an. Die gruselige Atomschutzbunkertür ist so schwer, dass ich mich mit meinem Gewicht dagegenstemmen muss, um sie überhaupt öffnen zu können. Aber wahrscheinlich bin ich einfach nur zu schwach. Erleichtert stolpere ich in die Freiheit, falle unvermittelt auf die Knie. Und dann weine ich. So stark, wie ich es zuletzt vor einem Jahr und drei Monaten getan habe.

19| Sommer im Mai

 

19.

Die Tage ziehen an mir vorüber. Es wird hell, es wird dunkel, hell und dunkel. Ich atme, esse und schlafe. Ich funktioniere.

Der Moment, in dem ich zum wiederholten Male in ein tiefes Loch geschubst wurde, liegt nun knapp vier Wochen zurück. Das beklemmende Gefühl ist jedoch geblieben. Kein Wunder, wenn man dem Grund seines Kummers fast tagtäglich begegnet. Insbesondere, wenn man auch noch freundlich bleiben muss, sobald andere Schüler anwesend sind. Ich habe schon Krämpfe in den Wangen von all dem gezwungenen Lächeln und der aufgesetzten Freude.

Auch meine Noten in Deutsch und Englisch liegen seitdem im Keller, die ersten Klausuren habe ich mehr als verbockt. Von meiner mündlichen Beteiligung mal ganz abgesehen, für die ich auch nur aus Mitleid gerade noch acht Punkte bekommen habe. Ich gehe zur Schule, verbringe den Rest des Tages in meinem Zimmer und gehe irgendwann schlafen, das ist mein Leben. Und ich bin zufrieden damit. Nicht glücklich, aber zufrieden.

Alexander und ich ignorieren uns so gut es eben geht. Manchmal komme ich nicht umher, mich mit ihm unterhalten zu müssen, aber selbst dann klären wir nur das Nötigste. Seinen Job als Lehrer zieht er mit einer solchen Professionalität durch, dass man meinen könnte, es sei nichts zwischen uns passiert. Aber das ist es anscheinend auch nicht, zumindest in seinen Augen.

Letztlich hat es zwei Wochen gebraucht, um zu verstehen, dass ich nur ein Abenteuer für ihn gewesen bin. Der aufregende Gedanke, etwas Verbotenes zu tun. Er hat mir zugehört, mir so viel seiner kostbaren Zeit geschenkt, um sich mein Vertrauen zu erschleichen und mich ins Bett bekommen zu können. Das ist zumindest die einzige Erklärung, die ich als wahrscheinlich bezeichnen würde. Warum sonst sollte er so liebevoll zu mir sein, und mich dann kurz nach dem Sex in den Wind schießen? Ich kann nachvollziehen, dass er durcheinander gewesen sein muss, vielleicht hatte er auch einfach Angst. Aber das ist noch lange kein Grund, mich so abwertend zu behandeln und mich mitten in der Nacht rauszuschmeißen. Mir ging es schließlich genauso. Ich war zwar glücklich, aber nicht weniger verzweifelt. Er ist nicht der einzige Gesetzesbrecher in dieser Geschichte, ich könnte ebenso von der Schule fliegen, wenn die ganze Sache ans Licht kommt. Wobei ich mir darum inzwischen eher weniger Sorgen mache, denn die Sache hat nicht einmal richtig angefangen, bevor sie auch schon zu Ende war.

Nach fast drei Wochen war ich dann endlich dazu in der Lage, ihm direkt in die Augen zu sehen, ohne einen inneren Nervenzusammenbruch zu erleiden. Ich habe akzeptiert, dass ich nie wieder eine unserer besonderen Unterhaltungen mit ihm führen kann, dass wir keinen Kaffee mehr zusammen trinken, dass unsere Leidenschaft für immer erloschen ist.

Ich habe angefangen, mich wieder ab und zu mit Kat zu treffen, auch wenn der Großteil unserer gemeinsamen Zeit von einer niedergeschlagenen Stimmung dominiert wurde. Meistens haben wir einfach nur einen Film gesehen oder in meinem Bett rumgehangen, an der Außenwelt teilnehmen wollte ich noch nicht. Die stetige Gefahr, ihm überall in dieser kleinen Stadt begegnen zu können, hat mich in den schützenden Wänden meines Hauses festgehalten. Kat hat ihre übliche Geduld bewiesen und jede meiner Launen ausgehalten. Nicht ein einziges Mal hat sie mich dazu gedrängt, etwas mit ihr zu unternehmen oder weniger Trübsal zu blasen, was ein weiterer Beweis dafür ist, dass sie ihrem Nachnamen gerecht wird. Sie lässt mir meine Trauer, ist aber trotzdem für mich da, und ich wünschte, der Rest meiner Mitmenschen könnte sich eine Scheibe von ihr abschneiden.

Mom gibt wie üblich ihr Bestes. Ständig versucht sie, mich mit meinem Lieblingsessen oder Mitbringseln aus der Stadt bei Laune zu halten, klopft nun einmal mehr im Vorbeigehen an meine Tür. Ich merke ihr an, wie schwer es ihr fällt, sich in ihrem Sorgenwahn zurückzuhalten, und auch nicht immer gelingt es ihr. Am vergangenen Mittwochabend ist sie mir sogar dermaßen auf die Nerven gegangen, dass ich ihr gezwungenermaßen gebeichtet habe, dass der Junge mich hat sitzen lassen. Sie war sofort auf hundertachtzig und hat mir angeboten, am nächsten Tag mit in die Schule zu kommen, um ihm »gehörig den Marsch zu blasen«. Benutzen eigentlich alle Elternteile so eine komische Sprache?

Natürlich konnte sie es auch nicht unterlassen, direkt meinem Bruder davon zu erzählen, der sie in ihrem gewalttätigen Vorhaben nur noch unterstützt hat. Im Gegensatz zu Betty würde ich es Robin jedoch tatsächlich zutrauen, dass er Alex grün und blau schlägt, falls er jemals von uns erfährt. Nach dem Ausraster in der Bar bin ich mir nicht mehr so sicher, ob er es nicht auch ein zweites Mal tun würde.

Heute ist Sonntag, genau genommen Pfingstsonntag. Die Aussicht auf zwei weitere freie Tage hebt meine Laune ein wenig an, jedoch nicht so sehr, dass ich etwas Anderes tue als im Bett zu liegen und zu existieren. Meine Tante Ulla ist übers Wochenende zu Besuch, da sie uns angeblich so sehr vermisst und sich endlich das Haus anschauen wollte. Doch nicht mal die durchgeknallte Schwester meines verstorbenen Vaters kann mich davon abhalten, in meinem Selbstmitleid zu versinken. Denn genau das tue ich gerade. Wahrscheinlich hält meine Familie meine Reaktion für übertrieben - das ist sie vielleicht auch -, aber das ist mir egal. Ich meine, ich habe immer noch nicht mit dem Tod meines Vaters abgeschlossen, also wie zum Teufel soll ich eine weitere Niederlage unbeschadet überstehen?

Um ehrlich zu sein vermisse ich Alex, so sehr. Ich vermisse das Gefühl, dass er mir gegeben hat, wenn sich die ganze Welt mal wieder gegen mich verschworen hat. Ich vermisse das Gefühl, begehrenswert und nicht allein zu sein, gewollt zu sein. Ich vermisse sein Lachen, das jedes Mal die Sonne in mir aufgehen ließ. Ich vermisse selbst seine Fehler, seine oftmals abweisende Art, die intimen Fragen. Ich hasse es, dass ich ihn so vermisse. Und ich weiß, dass die Sehnsucht nicht abschwillt, solange er mein Lehrer ist und ich ihm ständig ausgesetzt bin. Diese Tatsache hasse ich noch viel mehr.

Ich beschließe, die Grübeleien für heute beiseite zu schieben und mich stattdessen mit meinem Laptop und Pretty Little Liars zu beschäftigen. Allerdings wird mein Vorhaben schnell von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, als ich mir gerade ein dickes Kissen in den Rücken schiebe, um es möglichst bequem zu haben.

»Was ist?«, murre ich, woraufhin meine Tante in einem knallpinken Bademantel mein Zimmer im Sturm erobert. Ihre kurzen, schwarzen Haare stehen wild in alle Richtungen ab, und ohne ihr übliches Make-Up erinnert die Farbe ihres Teints an einen Käse. Schon als Kind konnte ich es nicht glauben, dass Dad und Ulla wirklich Geschwister waren, denn sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Er hat zwar Brief und Siegel darauf gegeben, dass sie nicht adoptiert ist, aber ich bleibe dennoch skeptisch.

»Ich wünsche dir auch einen guten Tag, meine Süße«, trällert sie mir entgegen, bevor sie mir einen Kuss auf die Stirn drückt und eine dampfende Tasse Kaffee auf dem Nachtschrank abstellt. Dann schlendert sie zum Fenster und zieht mit einem Ruck den Vorhang beiseite, den ich eigentlich aus gutem Grund geschlossen hielt.

»Aufstehen, Lieblingsnichte! Du hast genug geschlafen, wir haben schon nach Mittag.«

Wie ein Vampir schnappe ich blitzschnell die Bettdecke und ziehe sie mir über den Kopf, um mich vor den eindringenden Sonnenstrahlen zu schützen. In den letzten Wochen habe ich irgendwie eine Abneigung gegenüber Tageslicht entwickelt, für die sich Tante Ulla allerdings herzlich wenig zu interessieren scheint. Laut kichernd zieht sie mir die Decke weg, sodass ich plötzlich vollkommen schutzlos bin und mit den Händen gegen das Brennen in meinen Augen ankämpfen muss.

»Verdammt, was soll das? Ich will nicht aufstehen«, nörgele ich gequält, doch davon lässt sich der aufdringliche Wirbelwind nicht beeindrucken. Sie lässt meinen Lichtschutz demonstrativ auf den Boden fallen und platziert sich mit in den Hüften gestemmten Händen direkt am Fußende des Bettes. Missbilligend schaut sie auf mich hinab.

»Du verbringst nicht noch einen Tag in dieser Höhle, das kannst du vergessen. Dafür werde ich schon sorgen.«

Das Grinsen, das sich daraufhin in ihrem gesamten Gesicht ausbreitet, lässt nur Böses vermuten. Ich habe sie wirklich gern, allerdings kann ich auf ihre Eigenart, allen Menschen in ihrer Umgebung gute Laune bereiten zu wollen, gut verzichten. Und den Plan, den sie offensichtlich für mich ausgeheckt hat, will ich gar nicht erst hören.

»Wir zwei Hübschen gehen nämlich heute auf die Open Air-Party im Arminiuspark«, verkündet sie jedoch im nächsten Moment, und die Art, wie sie es tut, strotzt nur so vor lauter Stolz und Triumph.

Ich weiß jetzt schon, dass ein Protest meinerseits völlig nutzlos wäre, da Ulla mich wahrscheinlich an Händen und Füßen aus dem Bett zerren würde, wenn es nötig wäre. Ungeduldig spielt sie mit den Zähnen an ihrem Lippenpiercing herum und starrt mich erwartungsvoll an, während ich zu der Tasse Kaffee greife und vorsichtig daran nippe. Schon der erste Schluck fühlt sich an wie flüssiges Glück.

»Ich habe aber keine Lust, Lieblingstante. Außerdem würde ich dir mit meiner schlechten Laune sowieso den Tag vermiesen.«

»Aber genau darum geht es ja«, erwidert sie aufgeregt, ehe sie das Bett umrundet und sich neben mich auf die Kante setzt. »Ich habe den Miesepeter in diesem Haus einfach satt. Es muss sich was ändern, am besten sofort. Deine Mutter und Robin sind heute in der Stadt unterwegs, also haben wir Zeit für uns. Komm schon, Ella-Schatz.«

Plötzlich sehe ich Besorgnis in ihren blaugrauen Augen aufblitzen, ihre schmalen Lippen sind hingegen zu einem warmen Lächeln geformt.

»Na gut«, stöhne ich schließlich, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt. Aber ich kann dieser verrückten Hexe sowieso keinen Wunsch abschlagen, was auch nicht einzig daran liegt, dass sie sich verhält wie ein Staubsaugervertreter.

An sich verbringe ich gern Zeit mit ihr. Allerdings wird wahrscheinlich die halbe Schule auf dieses Open Air gehen, was bedeutet, dass ich unter Garantie Alex begegnen werde. Vielleicht sogar mit irgendeiner Frau, oder schlimmer noch - mit Leonie. Diesen Anblick würde ich wohl nicht verkraften, denn allein der Gedanke daran bereitet mir Bauchschmerzen.

»Wenn du es blöd findest, dann hauen wir wieder ab. Versprochen«, fügt Tante Ulla hinzu und strahlt mit einem Mal solch eine Fürsorge aus, dass ich ihr augenblicklich um den Hals falle. Der süßliche Duft ihrer sonnengebräunten Haut erinnert mich daran, dass ich vorher dringend duschen sollte.

 

****

 

Schon als wir am Eingang der riesigen Grünanlage ankommen, rinnen mir vereinzelte Schweißperlen die Schläfen entlang. Selbst die kurzen Shorts und das T-Shirt scheinen zu viel Stoff an meinem Körper zu sein, und sofort bereue ich es, dass ich nichts Lockereres angezogen habe. Die enge Kleidung scheuert bei jeder Bewegung und bleibt durch die Nässe an meiner Haut kleben. Was für ein ekeliges Gefühl. Wenigstens habe ich daran gedacht, meine dicken Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zu binden, der beim Hin-und Herschwingen einen dezenten, kühlenden Lufthauch in meinem Nacken erzeugt.

Tante Ulla ist mit ihrer Kleiderwahl wesentlich vorausschauender gewesen, denn ihr luftiges, mit einem wilden Muster bespicktes Sommerkleid bietet den idealen Durchzug. Es verfügt über einen Neckholder-Ausschnitt, sodass der obere Teil ihres Rückens freiliegt. Wie gern würde ich mit ihr tauschen, doch ich bezweifele, dass sie freiwillig in mein Jeansgefängnis wandern würde.

Wie ich es bereits erwartet habe, ist im Arminiuspark verdammt viel los, weshalb wir geschlagene zwanzig Minuten an der Kasse anstehen müssen. Die perfekte Gelegenheit für meine Tante, mich über mein inaktives Liebesleben auszufragen. Doch schon nach kurzer Dauer gibt sie sich mit meinen einsilbigen Antworten geschlagen und widmet sich lieber ihrem Handy.

Derweil schaue ich mich ein wenig um und lasse meinen Blick zu den verschiedenen Ständen und Bühnen, die ich von hier aus erkennen kann, schweifen. Von mehreren Getränkebuden, einem Stand mit Sonnenbrillen und Accessoires, bis hin zu einer Reihe an Street Food-Trucks ist alles vorhanden. Der Bass der lauten Musik dröhnt schon jetzt in meinen Ohren, obwohl sich der Tanzbereich im hinteren Teil des Parks befindet. Wahrscheinlich bekomme ich einen Hörsturz, sobald ich direkt davorstehe.

Die meisten Partybesucher haben sichtlich Spaß, unterhalten sich angeregt mit ihren Freunden oder lauschen einfach der Musik, weshalb ich mich äußerst deplatziert fühle. Selbst beim Anblick der vielen lachenden Gesichter, kann ich mir kein einziges Lächeln abgewinnen, nicht mal ein klitzekleines. Und dann erwische ich mich auch noch selbst dabei, wie ich die Menschenmenge unbewusst nach Alexander absuche. Zum Glück erfolglos.

Als Tante Ulla und ich endlich ein buntes Stoffbändchen am Handgelenk tragen, welches dem Personal signalisiert, dass wir Eintritt bezahlt haben, steuert sie direkt auf die erste Bierbude zu. Natürlich, wie hätte es auch anders sein sollen.

»So, meine Liebe. Und nun Schluss mit sieben Tage Regenwetter. Heute machen wir uns ein paar richtig schöne Stunden«, flötet sie mir entgegen und gibt daraufhin dem Mann hinter dem hohen Tresentisch unsere Bestellung durch. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, gehe jedoch nicht auf ihre Bemerkung ein.

Stattdessen wandern meine Augen schon wieder zu den ganzen Leuten, die an mir vorbeischlendern oder sich an den dutzenden Ständen zusammengefunden haben. Seitdem ich hier bin, schlägt mein Herz schneller als noch während der Hinfahrt mit dem Bus, und auch meine Beine fühlen sich komisch wackelig an. Die panische Angst, Alexander über den Weg zu laufen, ist mittlerweile so präsent, dass ich sie nicht mehr in den Tiefen meines Unterbewusstseins verschwinden lassen kann. Meine Augen schießen in alle möglichen Richtungen, immer auf Alarmbereitschaft, sein schönes Gesicht zu erspähen, jedoch ist von ihm weit und breit keine Spur. Ich hoffe, dass es so bleibt, bis wir wieder nach Hause fahren.

»Vergiss ihn«, höre ich plötzlich Ullas besorgte Stimme sagen, während sie mir einen Plastikbecher mit gekühltem Bier hinhält. Entgeistert starre ich sie an, bis ihre pinkbemalten Lippen von einem verschmitzten Grinsen umschmeichelt werden. »Nun guck nicht so. Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass Betty deinen Liebeskummer für sich behalten hat.«

Na super. Wenn das so weitergeht, werde ich das Titelbild der nächsten Ausgabe der Schülerzeitung zieren. Ach, wieso nicht direkt einen Beitrag in den Abendnachrichten senden? Damit auch wirklich jeder über meine Probleme Bescheid weiß. Ich muss mir förmlich auf die Zunge beißen, um keinen gehässigen Kommentar vom Stapel zu lassen. Immerhin kann Ulla nichts dafür, dass meine Mutter in eine gewissenlose Quatschtante mutiert ist.

»Ich habe keinen Liebeskummer«, zische ich stattdessen und nehme einen Schluck aus dem Becher. Das eiskalte Bier fließt wie wohltuendes Balsam meine getrocknete Kehle hinunter, es fühlt sich einfach himmlisch an. Und ist genau das Richtige an einem heißen Tag wie diesem.

»Und wer ist dann Andreas?«, hakt meine neugierige Tante daraufhin nach, und für den Bruchteil einer Sekunde habe ich keine Ahnung, wovon sie überhaupt redet. Doch dann fällt mir meine Ausrede sofort wieder ein. Hilfesuchend beäuge ich das Bier in meinen Händen, als könnte ich die passende Antwort in den Bläschen des Schaumes ablesen.

»Ich weiß ja nicht, was Mom dir erzählt hat, aber ich bin schon lange nicht mehr an diesem Jungen interessiert.« Lüge.

»Und nach wem hältst du dann die ganze Zeit Ausschau?«

Verdammt, sie ist viel zu aufmerksam. Ich sollte mich in meinem Verfolgungswahn wirklich zurückhalten. Im Endeffekt sind meine Befürchtungen auch komplett unbegründet, immerhin sehe ich Alexander jeden Tag in der Schule. Und trotzdem wächst der Kloß in meinem Hals, sobald ich einen einzigen Gedanken an ein mögliches Zusammentreffen verschwende.

»Ich suche meine Freundin Kat. Sie hat mir geschrieben, dass sie auch hier ist.«

Himmel sei Dank fällt die Schamesröte meiner Wangen nicht auf, da mein Gesicht durch die Hitze sowieso schon am Glühen ist. Ulla scheint sich mit meiner Antwort zufriedenzugeben, denn ohne eine weitere Gegenfrage nickt sie mir zu und setzt daraufhin ihren Becher an den Mund. Fasziniert beobachte ich, wie sie das Bier fast komplett austrinkt und es dabei nicht ein Mal absetzt. Nur ein letzter Spuckerest bleibt übrig.

Der Tag vergeht viel zu schnell. Und ich hatte tatsächlich Spaß. Nachdem wir ein zweites Bier bestellt und die zahlreichen Stände unsicher gemacht haben, haben wir uns die meiste Zeit mit Tanzen vertrieben. Es dauerte eine Weile, bis ich mich den melodischen Klängen der Technomusik hingeben konnte, doch irgendwann hatte ich das kribbelnde Gefühl, mit dem Bass verschmolzen zu sein. Vielleicht lag es auch am vierten oder fünften Bier, aber ausnahmsweise konnte ich mich komplett gehen lassen. Ich habe aufgehört, krampfhaft nach Alexander zu suchen, habe ihn sogar zwischenzeitlich vergessen können. Er hat sich zwar immer wieder in meinen Kopf geschlichen, aber ich habe ihn jedes Mal erfolgreich abgewehrt.

Die Dämmerung hat mittlerweile eingesetzt, wodurch die wahre Schönheit des Parks erst so richtig zur Geltung kommt. Der kleine Tanzbereich, in dem Tante Ulla und ich gerade abzappeln, wird von dichten Bäumen umrundet, deren Geäste mit bunten Laternen geschmückt sind. In der Dunkelheit der Blätterkronen leuchten sie wie Sterne in der Nacht, was einen einzigartigen Wohlfühleindruck erzeugt. Auch an den dicken Stämmen sind Lichterketten angebracht, die das traumhafte Ensemble komplettieren. Am Rand der Tanzfläche wurden mehrere Fackeln in die Erde gesteckt und angezündet, sodass die Gesichter der Menschen in ein warmes Rotgelb getaucht werden. Die Luft ist trotz der bereits untergehenden Sonne noch immer stickig und schwül, ab und zu surrt ein Insekt an meinem Kopf vorbei. Es ist ein ganz und gar wunderbarer Moment, und ich schließe die Augen, um ihn richtig genießen zu können.

Als ich sie jedoch wieder öffne, scheint es, als würden die bunten Lichter mit einem Mal erlöschen. Plötzlich steht mir meine Angst direkt gegenüber. Und sie ist schlimmer, als ich es für möglich gehalten habe.

 

****

 

Abrupt halte ich inne, mein Körper versteift sich. Die Umrisse der Menschen verschwimmen, die Musik ist ein einziges Piepen in meinem Ohr. In einem Film wäre es wahrscheinlich irgendein schriller Geigenton. Doch es ist kein Film, es ist mein reales Leben, das dort auf der anderen Seite der Tanzfläche steht und seinen Körper an einer Blondine reibt.

Zunächst kann ich das Mädel nicht genau erkennen, doch als er plötzlich ihre Hände nimmt und sie um ihre eigene Achse wirbelt, dringt Erbrochenes meine Speiseröhre hinauf. Die Frau, die er mit seinen perfekten Augen anhimmelt, ist Leonie. Und er tanzt genauso mit ihr, wie er es mit mir an jenem Abend getan hat.

Eine ganze Weile stehe ich einfach nur da und beobachte das Treiben der beiden Miststücke. Ulla versucht derweil auf mich einzureden und schnippst mit ihren Fingern vor meinem Gesicht herum, doch ich beachte sie nicht. Alex und Leonie sind wie ein Autounfall - der Anblick tut weh, aber wegsehen kann ich nicht.

Mein ganzer Körper ist taub, wie gelähmt. Ich möchte wegrennen, kann mich jedoch nicht bewegen. Ich möchte schreien, bleibe aber stumm. Ich möchte weinen, doch meine Tränen bleiben versiegelt. Ich möchte so vieles in diesem Augenblick, aber Alexander mit einer anderen Frau zu sehen gehört definitiv nicht dazu.

Nur sehr wiederwillig schaffe ich es, die Galle in meinem Rachen herunterzuwürgen. Es scheint, als wäre die Technoparty in meinen Magen verlegt worden. Das Chamäleon hätte garantiert seinen Spaß. Ich schaffe es einfach nicht, meinen Blick nicht an Alexanders ansehnlichen Körper zu heften. Er trägt ein dunkles Shirt mit Aufdruck, dazu enge Jeans, die an den Knöcheln ein paar Zentimeter hochgekrempelt ist, und ein Paar weinrote Vans. Es ist so verführerisch, wie sich der Stoff an seinen schlanken Körper schmiegt, wie er ihn umschmeichelt, so elegant. Dass ich nie wieder auf diese Art und Weise mit ihm tanzen werde, überrollt mich wie ein tonnenschwerer Güterzug.

Tante Ulla hat sich währenddessen an meinem Arm zu schaffen gemacht, der unter ihrem starken Griff durchgeschüttelt wird. Kurz kann ich mich von Alex abwenden und schaue stattdessen in ihr von Sorgen überzogenes Gesicht.

»Sag mal, ist das letzte Bier schlecht gewesen? Was ist denn plötzlich los?«, ruft sie mir über die laute Musik hinweg zu, doch mein Hals ist wie zugeschnürt. Mal wieder bekomme ich einfach kein Wort heraus. Das ist aber auch besser so, wenn ich bedenke, dass ich ihr die Situation erklären müsste, ohne meinen Lehrer zu erwähnen. Und das würde mir in meinem jetzigen Zustand womöglich mehr als schwerfallen. Also lächele ich schlicht und lasse meinen Blick erneut in die Richtung der Hölle schnellen. Doch diesmal ist etwas anders.

Erst nach und nach realisiere ich, dass Alexanders dunkle Teufelsaugen genau auf mich gerichtet sind. Er hat mich gefunden.

20| Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt

 

20.

Ich habe Krankenhäuser schon immer gehasst. Dabei spielt es keinerlei Rolle, ob ich Patientin oder nur Besucherin bin, die Abneigung ist dieselbe. Dieser moderige Geruch nach Krankheit und Tod, gemischt mit dem beißenden Gestank nach billigem Desinfektionsmittel ruft jedes Mal aufs Neue Übelkeit in mir hervor. Dazu die Hektik der auf den Gängen umherschwirrenden Ärzte und Krankenpfleger, verzweifelte Angehörige, die mit aufgequollenen Augen ein letztes Stoßgebet gen Himmel schicken, um das unsägliche Leid ihrer Liebenden zu beenden. Und dann noch diese braune Plörre, die einem in der Cafeteria als Kaffee verkauft wird. Ich verbinde wirklich nichts Positives mit diesem Ort, doch der Anblick meines lädierten Lehrers lässt den Inhalt der schlichten Keramiktasse beinahe nach Champagner schmecken.

Wie Alex so daliegt, in dem winzigen Einzelbett mit diesen hässlichen Lacken aus weißem Polyester, passt überhaupt nicht zu seinem sonstigen Erscheinungsbild. Er wirkt schwach und verletzt. Und das liegt nicht allein an dem Verband, der mehr als die Hälfte seines Kopfes bedeckt. Es ist vielmehr sein Gesichtsausdruck, der mich traurig stimmt, denn obwohl er schläft, sind seine Züge angespannt, schmerzverzerrt. Als würde er gerade in einem Albtraum aus Qualen feststecken, dem er nicht entfliehen kann. Jedoch ist es auch erst drei Stunden her, dass ihm von der Ärztin Schmerzmittel eingeflößt wurden, die nach ihren Worten »selbst den stärksten Elefanten umhauen würden«. Er wird also noch eine ganze Weile im Land der Horrorträume schlummern, was mir hoffentlich ausreichend Zeit lässt, um mir zu überlegen, was ich ihm sagen werde, wenn er die Augen öffnet. Schließlich ist das alles meine Schuld.

Ich weiß nicht, wie lange ich den unbequemen Sessel neben dem Krankenbett schon in Beschlag nehme. Dem Horizont nach zu urteilen, der bereits in den verschiedensten Orangetönen aufleuchtet, ist es vielleicht fünf oder sechs Uhr morgens. Aber die Zeit ist sowieso unwichtig, da ich mich nicht vom Fleck bewegen werde, bis Alexander endlich aufwacht. Zum Glück ist das andere Bett des sterilen Zimmers unbelegt, denn sonst würde ich womöglich andauernd von irgendwelchen Angehörigen oder Krankenpflegern gestört werden. Das würde meiner Müdigkeit und den stechenden Schmerzen hinter meiner Stirn den Rest geben. Ich hätte die Ärztin nach einer Tablette fragen sollen, verdammt.

Das regelmäßige Piepen des EKGs nervt und beruhigt mich gleichermaßen. Auf der einen Seite erinnert es mich an das laute Ticken einer Uhr, das mich nachts nicht einschlafen lässt und stattdessen an den Rand des Wahnsinns treibt. Auf der anderen Seite ist es jedoch der Beweis dafür, dass es Alex gut geht, also muss ich mich wohl oder übel damit arrangieren. Ich will mich eigentlich auch gar nicht beschweren, denn genau genommen dürfte ich nicht mal hier sein; außerhalb der Besuchszeiten und so. Allerdings habe ich mich beim Eintreffen des Krankenwagens als Alexanders Verlobte ausgegeben, damit ich mitfahren und schließlich bei ihm bleiben durfte. Die zuständige Krankenpflegerin hat zwar nur sehr wiederwillig zugestimmt, aber mein hysterischer Heulanfall hat sie wohl schlussendlich überzeugt.

Ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag - es ist fünf nach halb sechs. Erst jetzt bemerke ich die Anrufe in Abwesenheit, alle von Tante Ulla. Kein Wunder, immerhin bin ich ohne großartige Erklärungen in den Krankenwagen gesprungen und davongebraust. Ich bin erleichtert, dass sie wenigstens nichts von dem Gespräch zwischen Alex und mir mitbekommen hat, sondern erst danach zu uns gestoßen ist. Sie macht sich bestimmt trotzdem tierische Sorgen, und diesmal kann ich es ihr nicht mal verdenken.

Kurz ringe ich mit mir selbst, ob ich wirklich zurückrufen soll. Was soll ich ihr sagen, wenn sie mich nach Alexander fragt? Dass der attraktive, bärtige Gott von einem Mann mein Mitschüler Andreas ist? Andere Menschen würden mir das wahrscheinlich abkaufen, aber nicht meine Tante Ulla. Mit der mittlerweile dritten geschiedenen Ehe - und sie ist erst dreiundvierzig - hat sie gelernt, den Braten schon auf fünfzig Meilen zu riechen. Immerhin bestand jeder der Scheidungsgründe aus einem Ehemann, der sie mit einer anderen Frau betrogen hat. Letztendlich drücke ich trotzdem auf das Symbol mit dem grünen Hörer. Bereits nach dem ersten Freizeichen nimmt sie ab.

»Ella-Schatz, geht es dir gut?« Ullas Stimme klingt rau, irgendwie kratzig, als hätte sie bisher kein Auge zugetan und durchgehend geraucht. Doch vielleicht ist auch die schlechte Netzverbindung daran schuld.

»Ja, keine Sorge. Bei mir ist alles okay. Bei dir hoffentlich auch?«

»Na Gott sei Dank, da bin ich beruhigt«, erwidert sie und stößt dabei einen tiefen Seufzer aus. »Aber ... Wo wir gerade von meinem Wohlbefinden sprechen, da hätte ich zuerst noch eine Frage. Bist du eigentlich VOLLKOMMEN VERRÜCKT GEWORDEN?«

Die plötzliche Lautstärke lässt mich zusammenzucken, und bei ihren letzten Worten muss ich das Handy vom Ohr nehmen, damit mein Trommelfell nicht platzt.

»Ich k-kann das erklären. Ich-«, stammele ich, doch das lautstarke Organ meiner Tante kommt mir zuvor.

»Auf die Erklärung bin ich aber mal gespannt, meine Liebe. Du kannst froh sein, dass deine Mutter schon am Schlafen war, als ich heimkam. Ich hätte nämlich keine Ahnung gehabt, wie ich ihr erklären soll, dass ihre Tochter mal eben in einem Krankenwagen abgezischt ist. Und das ohne irgendeine Erklärung. Du hättest wenigstens eine Nachricht schreiben können. Ich bin fast durchgedreht vor Sorgen, mach das nie wieder mit mir.«

Ulla schnappt hörbar nach Luft, als sie ihre Moralpredigt schließlich beendet. Ich vergewissere mich, dass sie nicht zum Rückschlag ausholt, ehe ich mich ins Gefecht stürze. »Es tut mir leid. Mein ... Kumpel hatte einen Unfall, es ging alles so schnell. Ich hatte einfach keinen klaren Kopf in dem Moment. Und eine SMS habe ich bei all dem Trubel im Krankenhaus irgendwie vergessen. Aber kein Grund zur Sorge, es geht mir gut.«

»Ein Kumpel also, ja?« Ich kann das schäbige Grinsen auf ihren Lippen durch den Hörer spüren.

»Ja, ein Kumpel. Ich kenne ihn aus der Schule. Ich wollte ihn einfach nicht allein lassen.«

Dann herrscht für ein paar Sekunden Stille.

»Ich hoffe, es geht ihm gut«, bemerkt Ulla irgendwann, und ich bin mir unsicher, ob es sich dabei um eine Frage oder eine Aussage handelt. Kurz lasse ich meinen Blick zu Alexander schweifen, als könnte er die Antwort darauf selbst geben. Mit feuchten Pupillen beäuge ich die Halskrause und den Verband an seinem Kopf, beobachte die auf-und abspringende Linie auf dem großen Monitor. Wie sehr ich hoffe, dass es ihm gut geht.

Ein gespieltes Räuspern holt mich schließlich in das Telefonat zurück. »Ja, ich denke schon. Er schläft, aber die Ärztin meinte, dass alles soweit in Ordnung scheint.« Die genaue Diagnose behalte ich lieber für mich.

»Das freut mich. Was ist eigentlich genau passiert?«, will sie daraufhin wissen, wodurch sich augenblicklich kalter Angstschweiß auf meiner Stirn sammelt. Nervös kaue ich auf dem Rand der Kaffeetasse herum, das Klappern meiner Zähne hallt durch den ganzen Raum. Sie sollte nicht fragen was passiert ist, sondern vielmehr warum es passiert ist. Denn genau das ist das Rätsel, das mich in die Verzweiflung treibt. Ich habe keine beschissene Ahnung, was in mich gefahren ist.

Als hätte jemand meine stillen Gebete erhört, klopft es plötzlich an der Tür. Offenbar habe ich heute mehr Glück als Verstand.

»Sorry, ich muss Schluss machen. Es hat geklopft. Ich erkläre dir alles, wenn ich zu Hause bin. Und bitte, erzähl es nicht Mom. Danke, bis später«, nuschele ich in einem viel zu schnellen Tempo, ehe ich meine Tante abwürge und die Person, die geduldig vor dem Zimmer wartet, hereinbitte. Sie kommt wirklich wie gerufen.

Seit der letzten Visite der Krankenpflegerin - ich glaube, ihr Name ist Nicole - sind zweieinhalb Stunden vergangen. Es ist gut möglich, dass ich zwischendurch eingenickt bin, aber ganz so sicher bin ich mir nicht. Ich habe mich in einem dieser Zustände befunden, bei denen man im Nachhinein nicht mehr weiß, ob man tatsächlich geschlafen hat oder die ganze Zeit wach war. Ausgeruht fühle ich mich zumindest nicht.

Die Sonne ist derweil aufgegangen und schimmert mit voller Kraft durch die halbtransparenten, kaminroten Gardinen, die ich vor wenigen Minuten zugezogen habe. Irgendwie glaube ich, dass grelles Licht Alexanders Schmerzen nur verstärken würde, auch wenn er äußere Einflüsse gar nicht wahrnehmen kann. Aber einfach nur untätig rumzusitzen und ihm nicht helfen zu können, bringt mich so langsam aber sicher um den Verstand. Frau Dr. Maywald hat mir zwar versichert, dass es keine schlimmen Verletzungen sind, allerdings ist sie auch keine Hellseherin. Ich würde es mir wohl nie verzeihen, falls er ernsthafte Folgeschäden davontragen würde. Wie sollte ich mit dieser Gewissheit leben?

Zum ersten Mal in dieser Nacht nehme ich mir fest vor, der Spinnerei meiner Gedanken keine Beachtung mehr zu schenken. Es bringt sowieso nichts, ich kann nichts anderes tun als zu warten. Also ziehe ich mein Handy hervor, um mir die endlose Zeit ein wenig mit Facebook zu vertreiben, bis es plötzlich erneut an der Tür klopft. Im Gegensatz zu den letzten Visiten, stürmt der Störenfried jedoch sofort ins Zimmer, ohne darauf zu warten, hereingebeten zu werden. Mir gefriert das Blut in den Adern, als ich Leonies wutentbranntes Gesicht erkenne, das direkt auf mich zukommt. Der Lärm ihrer Pumps auf dem Linoleum lässt mein Gehirn bei jedem Schritt schmerzhaft zusammenzucken. Eigentlich habe ich gedacht, dass die Situation nicht mehr schlimmer werden könnte, aber da habe ich mich wohl getäuscht.

»Was willst du denn hier?«, blafft sie in ihrem gewohnten abfälligen Tonfall. Wenn Blicke töten könnten, würde ich von ihren funkelnden, zu Schlitzen geformten Augen erdolcht werden. Ich versuche, eine ähnlich bedrohliche Miene aufzusetzen und kneife die Augenbrauen zusammen.

»Das Gleiche könnte ich dich fragen. Es hat dich niemand hergebeten.«

Mit gespielter Empörung lässt sie sich daraufhin auf der Bettkante nieder und schaut zu Alex hinunter, ehe sie ihm behutsam mit den Fingern über die Wange streichelt. Ich halte es kaum aus, die beiden so zu sehen, und schaffe es nur mit sehr viel Mühe, nicht aus dem Zimmer zu stürmen. Ich werde Alexander bestimmt nicht mit dieser Schnepfe allein lassen. Am liebsten würde ich sie vom Bett schubsen und mit einem ihrer nuttigen Heels auf sie einschlagen.

»Im Ernst. Es geht ihm gut, du kannst wieder gehen«, wiederhole ich mit Nachdruck, da sie mich einfach stumpf zu ignorieren scheint, als wäre ich Luft.

»Oh mein Gott, willst du mich verarschen, Schätzchen?« Ihr höhnisches Gelächter ähnelt dem einer Hyäne. »Ich glaube, du hast da was falsch verstanden. Ich bin Alex' Freundin. Wenn hier jemand gehen sollte, dann bist das du.«

Meine ungezügelte Wut hat mittlerweile ungewohnte Maße angenommen. Ich bin bisher noch nie gewalttätig geworden, aber wenn dieses Weibsstück nicht sofort verschwindet, kann ich für nichts garantieren. In Gedanken kauert sie schon längst mit ausgerupften Haaren und einer blutenden Nase auf dem Fußboden. Damit sie mir meine Anspannung jedoch nicht anmerkt, atme ich tief durch und zähle innerlich bis drei, den Blick auf Alexanders perfektes Gesicht geheftet.

»Was soll ich an ,Leonie ist nicht meine Freundin' falsch verstanden haben? Das hat er mir nämlich gesagt, bevor wir miteinander Sex hatten.«

Fuck, was zum Teufel rede ich da? Nach müde kommt dumm, würde meine Mutter jetzt sagen. Während sich Leonie ihr dreckiges Lachen verkneifen muss, um Alexander nicht zu wecken, werde ich in dem Sessel immer kleiner. Ich würde am liebsten im Boden versinken. Instinktiv verändere ich meine Sitzposition, sodass die Hälfte meines Gesichts von der Tasse und meinen Knien verdeckt wird. Ich möchte dem Biest meine knallroten Wangen nicht auf dem Silbertablett servieren, die Peinlichkeit sitzt tief genug.

»Ach, Isabelle. Du bist wirklich zum Schießen«, prustet sie, und widmet sich wieder den Liebkosungen in Alexanders Gesicht.

Wenn du so weitermachst, werde ich dich gleich ERschießen, erwidere ich in Gedanken, sage jedoch nichts. Muss ich auch nicht, denn die blonde Schlange macht auch weiterhin nicht den Anschein, als würde sie ihre Wortkotze für sich behalten können. »Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass er mir nicht von eurem ... Tête-à-Tête erzählt hat. Ganz im Gegenteil, wir haben uns köstlich darüber amüsiert.«

Das reicht, ich habe genug. Ihr sinnentleertes Gelaber mag mich zwar vorher kalt gelassen haben, aber der Schlag unter die Gürtellinie ist dann doch zu viel. Obwohl sich bereits irrationale Wut und Enttäuschung in meinem Inneren bekriegen, gebe ich mein Bestes, um mich möglichst unbeeindruckt zu präsentieren. Immer schön die Contenance bewahren, der Feind darf deine Angst niemals spüren. Etwas, was mir mein Dad einst beigebracht hat. Wortlos nehme ich meine Tasche von dem kleinen Beistelltischchen und stehe auf, ehe ich mich mit gesenktem Kopf auf den Weg zur Tür begebe. Selten habe ich mich derart erbärmlich gefühlt. Im Vorbeigehen werfe ich einen letzten Blick auf Alexander, bleibe jedoch abrupt stehen, als ich plötzlich in seine Karamellaugen schaue.

»Oh Gott, Alex!«, platzt es aus mir heraus, gefolgt von dem Aufprall des Steines, der mir in diesem Moment vom Herzen fällt. Mit drei großen Schritten bin ich auf der anderen Seite des Bettes angekommen, nehme automatisch seine Hand in meine, als wäre es nie anders gewesen. Leonie redet derweil ohne Punkt und Komma auf ihn ein, seine Iris ist jedoch starr auf mich gerichtet. Sein unsicherer Gesichtsausdruck schreit nach Verwirrung, doch ich meine auch den Ansatz eines Lächelns zu erkennen. Für einen flüchtigen Moment verliere ich mich in seinem Anblick, sodass ich Leonies Gequassel komplett ausblende.

»Hey, geht es dir gut? Hast du Schmerzen?«, frage ich so ruhig und langsam, wie es in meinem geräderten Zustand eben möglich ist. Alex antwortet jedoch nicht, lässt stattdessen seinen Blick zwischen der Blondine und mir hin-und herschweifen. Er wirkt apathisch, orientierungslos, wie ein kleines Kind, das seine Eltern im Supermarkt verloren hat. Um Himmels Willen, was ist, wenn er uns nicht mehr wiedererkennt? So etwas in der Richtung hat die Ärztin doch angedeutet, oder?

»Ich bin's, Ella. Nun sag doch bitte was. Du bist im Krankenhaus, Alex. Aber keine Angst, es geht dir gut.«

Naja, das hoffe ich zumindest.

Er führt den Blickwechsel noch eine Weile fort, bis sich seine Pupillen sichtlich verengt haben. Dann bleiben sie schließlich auf Leonies Gesicht liegen.

»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du jetzt gehen würdest.«

Ungläubig reißt sie ihre Augen auf, ihre Kinnlade reicht förmlich bis in den Keller dieses Betonkomplexes. Wäre ihr Anblick nicht so dermaßen amüsant, wäre ich wahrscheinlich wegen Alexanders rauen, kraftlosen Stimme besorgt. Doch jetzt bin ich diejenige, die sich das Lachen verkneifen muss.

»Aber ...«, setzt das Miststück an, doch Alex fällt ihr blitzschnell ins Wort.

»Ich bitte dich, geh. Ich rufe dich später an.«

Nun scheint ihre Empörung tatsächlich von echter Natur zu sein. Sie hadert ein paar Sekunden mit sich, ob sie seinem Wunsch nachkommen sollte oder nicht, entscheidet sich dann aber zu meiner Verwunderung dafür. Mit einem aggressiven Schnauben erhebt sie sich und wackelt schließlich auf ihren roten Pumps davon. Die Tür fliegt beinahe aus ihren Angeln, als sie mit voller Wucht zugeschlagen wird.

Fassungslos starre ich ihr hinterher, widme mich dann aber wieder dem Unfallpatienten. Ich kann noch immer nicht glauben, dass er sie wirklich weggeschickt hat - und mich hierbehalten möchte. Mit konzentrierter Miene fixiert irgendeinen Punkt in meinem Gesicht, bevor er endlich auf meine Anwesenheit eingeht.

»Was ist passiert, Ella?«

 

****

 

Ich wollte nur noch weg. Weg von all den Leuten, weg von der immer lauter werdenden Musik, aber vor allem weg von ihm und seinen finsteren Blicken. Während ich die heißen Tränen zurückhielt, die sich bereits in den unteren Lidern meiner Augen sammelten, tischte ich Ulla eine halbherzige Entschuldigung auf. Sie bestand nur aus irgendwelchen nuschelnden Wortfetzen, doch meine Tante hakte nicht weiter nach und ließ mich gehen. Zumindest unter der Bedingung, dass ich nach zehn Minuten wieder zurückkehrte. Doch das tat ich nicht.

Einem Nervenzusammenbruch nahe, drängelte ich mich durch die feierwütige Menschenmenge, stolperte dabei mehrere Male. Meine Umgebung war komplett verschwommen, lediglich den Ausgang hatte ich klar im Blick. Mein Ziel. Ich war froh, dass es bereits dunkel war, denn so konnte niemand den Frust in meinem Gesicht erkennen. Mein mäßiges Schritttempo ging irgendwann in eine Art Joggen über, und ich musste aufpassen, um die anderen Besucher nicht anzurempeln. Hier und da fing ich mir trotzdem einen bösen Blick ein. Schließlich kam ich an einem der Nebenausgänge an, die in Form von schmalen Trampelpfaden zu den anliegenden Straßen führten.

Schon nach dem ersten Meter auf dem Fußgängerweg, war ich völlig außer Atem, weshalb ich kurz verschnaufte und die Hände auf meinen Oberschenkeln abstützte. Gleichzeitig versuchte ich, mich mit meinen seelischen Mantras zu beruhigen und redete mir immer wieder ein, dass alles halb so schlimm sei. Doch es half nicht, in Wahrheit fühlte es sich noch viel schlimmer an. Ich hatte ihn verloren, endgültig.

»Ella!«, hörte ich plötzlich jemanden rufen und musste nicht aufschauen, um zu wissen, dass es Alexander war. Meinen Namen aus seinem Mund zu hören, ähnelte dem Gefühl von Säure in meinem Ohr. Im nächsten Moment stand er direkt vor mir, keuchend und mit kleinen Schweißperlen auf der Stirn. Nach einem Tag in der Sonne sah er einfach noch attraktiver aus. Außerdem roch er nach Sommer und Urlaub.

»Was ist?«, knurrte ich, obwohl ich mir eigentlich geschworen hatte, nicht mit ihm zu reden. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass es mich glücklich machte, dass er mir gefolgt war. Insbesondere, weil er Leonie dadurch alleine ließ. Und so abseits des Geschehens würde sie uns auch erstmal nicht finden.

Alexander strahlte Unsicherheit aus. Seine Hände waren in den Vordertaschen seiner Jeans vergraben, ungeduldig kickte er einen Kieselstein in ein angrenzendes Gebüsch. Seine Blicke lagen überall, nur nicht auf meinem Gesicht. Und im Licht der Straßenlaterne sah es so aus, als würde er auf seiner Unterlippe kauen. Es war befremdlich, ihm nach vier Wochen der Ignoranz gegenüberzustehen.

»Ich ... Ich will mich bei dir entschuldigen, Isabelle. Es-«

»Weißt du was? Das kannst du dir sparen. Eine Entschuldigung ist unnötig, ich brauche dich nicht in meinem Leben.« Ich hoffte, dass er mir meine Lüge abkaufte, denn ich tat es nicht. Ich brauchte ihn, mehr als mir lieb war, doch das durfte er niemals wissen. Ich musste stark sein, nur für diesen Moment.

»Bitte, lass es mich erklären«, erwiderte er, und es schwang tatsächlich so etwas wie Reue in dem Klang seiner Stimme mit. Davon ließ ich mich jedoch nicht beirren. Ich war zwar verletzt, aber nicht blöd.

»Was willst du mir erklären? Dass du mich eiskalt abserviert und mich um vier Uhr morgens auf die Straße gesetzt hast? Und mich danach einfach wie Luft behandelt hast? Deine Entschuldigung kommt vier Wochen zu spät, Alex.«

Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, zog dabei scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Ich weiß, und auch das tut mir unendlich leid. Aber ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte.«

»Willst du mich eigentlich verarschen?«, schrie ich daraufhin, und die Aufmerksamkeit, die ich dadurch erregte, war mir völlig egal. Ich konnte einfach nicht glauben, was er da zu mir sagte. »Ich wusste genauso wenig, was ich tun sollte, du Blitzmerker. Ich meine ... hallo? Ich habe mit meinem Lehrer geschlafen. Das war auch nicht so einfach für mich.«

»Nicht so laut«, zischte er, doch ich dachte gar nicht daran.

»Mach mir gefälligst keine Vorschriften, wir sind nicht in der Schule!«

»Okay, schon gut.« Beschwichtigend hob er die Arme, als wäre ich ein wildes Tier, das im Zaum gehalten werden musste. Der Vergleich passte sogar, denn ich war wirklich stinkwütend. Und ohne jegliche Hemmungen.

»Hast du eigentlich eine Ahnung, wie erbärmlich und benutzt ich mich gefühlt habe? Ich habe dir vertraut, verdammt nochmal. Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass du mein Vertrauen nicht missbrauchen wirst. Und dann vögelst du mich und wirfst mich weg wie eine benutzte Serviette.«

»Du sagst das so, als hätte mir das alles zwischen uns gar nichts bedeutet. Ich habe dich doch nicht einfach weggeschmissen, Ella«, lenkte Alex stirnrunzelnd ein, wofür ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte. Wenn das seine Art von Bedeutung zeigen war, dann wollte ich nicht mit ihm in einem Raum sein, wenn er mal so richtig wütend werden würde.

»Du hast mich rausgeschmissen und seitdem ignoriert. Ja, entschuldige, dass ich davon ausgegangen bin, dass dir der Sex nichts bedeutet hat. Übrigens, deine blonde Freundin wird bestimmt nicht begeistert sein, wenn sie herausfindet, dass du sie betrogen hast.«

Bei der Erwähnung von Leonie verengten sich seine schwarzen Augen, seine Muskeln spannten sich sichtbar an.

»Ella ...«, stammelte er, doch brach direkt wieder ab. Ich wusste nicht, was in seinem wirren Kopf vor sich ging, aber dieses Rumgedruckse feuerte meine innere Wut nur weiter an. Er hatte mir offensichtlich nichts zu sagen - ein weiterer Schlag in die Magengrube.

»Ich bin müde, Alex. Ich werde jetzt nach Hause gehen«, stieß ich möglichst selbstbewusst hervor, ehe ich mich an ihm vorbei drängelte und ging. Schnellen Schrittes entfernte ich mich von ihm, musste mich zusammenreißen, um nicht einfach loszuschreien.

In diesem Augenblick hasste ich ihn.

Und der Hass überwältigte mich, als Alexander mich am Ellenbogen packte und herumwirbelte. Instinktiv streckte ich ihm die Arme entgegen, stemmte sie gegen seine Brust, er sollte mir nicht näherkommen. Ich konnte seine Berührungen nicht ertragen, es fühlte sich falsch an.

Der Hass überwältigte mich, als ich ihn mit all meinen Kräften von mir stieß und dabei die Bierflasche auf dem Boden übersah. Das Geräusch seines auf den Asphalt aufschlagenden Kopfes war das Schlimmste, das ich je in meinem Leben gehört hatte.

21| Ich Steine, du Steine

 

21.

Eine kleine Fliege hat sich auf meinem Knie niedergelassen. Mit ihren kurzen, flinken Beinchen krabbelt sie über meine Haut, bleibt aber zwischendurch stehen, um ihre winzigen Flügel zu putzen. Es kitzelt, doch ich lasse sie in Frieden. Jeder hat das Recht auf einen Platz auf dieser Erde, selbst eine unscheinbare Fliege.

Außerdem lenkt sie mich von Alexander ab, der sich seit gefühlt zehn Minuten in Schweigsamkeit hüllt und ununterbrochen an die Zimmerdecke starrt. Nicht mal auf meine Entschuldigungsversuche hat er reagiert, sondern lediglich behauptet, sich nicht an den Unfall erinnern zu können. Wahrscheinlich ist er stinksauer auf mich und sucht nach angemessenen Worten, um mich zum Gehen zu bitten.

Wenn mich meine Gewissensbisse nicht an diesen blöden Sessel festketten würden, hätte ich das auch schon längst getan - schließlich bräuchte ich dringend eine Mütze Schlaf. Durch die Müdigkeit fühlt sich mein ganzer Körper an wie gelähmt, meine Augen können sich kaum noch offenhalten. Auch eine aufrechte Haltung habe ich inzwischen aufgegeben, stattdessen hänge ich wie ein Tropfen Wasser in der Kurve. Alles in mir schreit nach Koffein, nach Lebensenergie, ansonsten werde ich früher oder später im Sitzen einschlafen.

Also rappele ich mich schnell auf, um zum fünften Mal an diesem Tag die Cafeteria heimzusuchen. So langsam könnte ich wirklich Mengenrabatt verlangen.

»Ich hole mir einen Kaffee, willst du auch was?«, frage ich Alexander im Vorbeigehen, obwohl es ihm bestimmt scheißegal ist, was ich tue oder wo ich hinwill. Doch entgegen meiner Erwartung, reißt er plötzlich die Augen auf und schnellt mit seinem Blick in meine Richtung. Kurz verzieht er das Gesicht, die ruckartige Bewegung war offenbar zu schmerzhaft.

»Du kommst wieder, oder?«

Mit einem Mal sind seine Züge noch angespannter als zuvor. Würde sein Unterkiefer nicht zur Hälfte von der Halskrause bedeckt werden, würde dieser vermutlich hervorstehen. Ich merke, wie es in meiner Herzgegend nach und nach wärmer wird. Alex möchte nicht alleine sein. Ich kann es in seiner flackernden Iris erkennen. Also nicke ich zaghaft, deute ein Lächeln an und verschwinde daraufhin im menschenvollen Flur.

Auch in der Cafeteria wimmelt es nur so von Patienten, Ärzten und Besuchern, weshalb ich erst nach einer geschlagenen halben Stunde in Alexanders Zimmer zurückkehre. Er ist jedoch nicht mehr allein, denn die zuständige Ärztin führt gerade eine Untersuchung bei ihm durch. Abrupt bleibe ich im Türrahmen stehen, wobei etwas von dem brühendheißen Kaffee über den Rand der Tasse auf meinen Handrücken schwappt. Es tut höllisch weh, sodass ich mir beinahe auf die Zunge beißen muss, um nicht laut aufzuschreien.

»Oh. Ich ... Ich komme später wieder«, presse ich unter Schmerzen hervor, doch die junge Brünette schüttelt energisch den Kopf und winkt mich herein. »Nicht doch. Die Verlobte des Patienten darf natürlich reinkommen.«

Nun beiße ich mir tatsächlich auf die Zunge. Verdammt, das kann einfach nicht wahr sein. Warum tut diese Frau mir das an? Sie kann mich doch nicht schon nach den ersten zehn Sekunden als Lügnerin entlarven.

Ich sollte nach Hause gehen, schießt es mir spontan durch den Kopf, aber stattdessen versuche ich, den randvollen Kaffeebecher in Richtung Beistelltisch zu balancieren, und das möglichst unfallfrei.

Während ich meinem vertrauten Platz neben dem Bett immer näher komme, spüre ich Alexanders Blicke in meinem Nacken. Ich weigere mich jedoch, ihn nach dieser abgrundtiefen Peinlichkeit anzusehen. Beklommen verkrieche ich mich stattdessen wieder auf den Foltersessel, meine Augen starr auf die bittere Plörre in meinen Händen gerichtet.

»So, Herr Jansen«, bemerkt Frau Dr. Maywald schließlich, als sie ein letztes Mal mit einer kleinen Taschenlampe in seine Augen leuchtet. »Wir sind soweit fertig. Ihre Reflexe sind einwandfrei, ich sehe da keinen Grund zur Sorge. Die Wunde am Hinterkopf dürfte in ein paar Tagen verheilt sein, und auch die leichte Gehirnerschütterung scheint sich im Rahmen zu halten. Von daher haben Sie das Gröbste überstanden. Ich würde Sie trotzdem gern zur Beobachtung über Nacht hierbehalten. Für die kommende Woche stelle ich Ihnen ein Attest für die Arbeit aus. Wenn Sie Schmerzen haben oder etwas benötigen, dann rufen Sie bitte Nicole. Ansonsten wünsche ich Ihnen beiden noch einen angenehmen Tag.«

Daraufhin schenkt sie uns abwechselnd ein strahlendes Lächeln, ehe sie sich von der Bettkante erhebt und zur Tür hastet. Alex kann ihr gerade noch ein »Danke« hinterherrufen, als sie auch schon im Krankenhauslärm verschwunden ist.

Die danach eintretende Stille wird allein durch das gleichmäßige Piepen des EKGs unterbrochen. Noch immer schaffe ich es nicht, meinen Kopf zu heben und meinen Lehrer anzusehen, bin lieber im Braun des Kaffees versunken. Mir fällt auf, dass ich noch keinen Schluck davon getrunken habe, aber das brauche ich auch eigentlich nicht mehr - ich bin wieder hellwach. Nichts pusht einen Menschen mehr wie das Kribbeln, das seinen gesamten Körper durchfährt, wenn er sich in einer peinlichen oder gefährlichen Lage befindet. Ich nippe trotzdem an dem flüssigen Koffein, um überhaupt irgendetwas zu tun. Diese unangenehme Stimmung ist ja kaum auszuhalten.

Als hätte Alexander meine Gedanken gelesen, wird die dicke Luft im nächsten Moment von seiner angeschlagenen Stimme zerschnitten.

»Die Verlobte des Patienten?«, wiederholt er den Wortlaut der Ärztin, gefolgt von einem dunklen Lachen. Im ersten Augenblick klingt es irgendwie abwertend, doch als ich ihm dann endlich direkt ins Gesicht schaue, erkenne ich ehrliches Amüsement. Das Strahlen in seinen wunderschönen Augen lässt mich den Grund unseres Krankenhausaufenthalts für den Bruchteil einer Sekunde vergessen. Ganz kurz fühlt es sich heimisch an. Dann zucke ich entschuldigend die Achseln.

»Irgendwas musste ich ja sagen, um im Krankenwagen mitfahren zu können.«

Alexander lacht erneut auf. »Und das haben die nicht nachgecheckt?« Mit hochgezogener Augenbraue beäugt er mich, während ich versuche, gegen die aufsteigende Galle in meinem Rachen anzukämpfen.

»Wenn ich gehen soll, dann sag es doch einfach«, blaffe ich ihn an und stelle mich innerlich schon mal darauf ein, erneut von ihm rausgeschmissen zu werden. Ich sollte endlich einsehen, dass er mich nicht will.

Zu meiner Überraschung richtet sich Alex jedoch auf und streckt vorsichtig seine Hand nach mir aus. Ich fokussiere seine dünnen Finger, die nach meinem Knie greifen wollen, aber noch bevor er mich erreichen kann, ziehe ich meine Beine beiseite. Seine Stimme ist nun wesentlich klarer, nicht mehr ganz so brüchig.

»Ella, wenn ich dich nicht hierhaben wollen würde, dann hätte ich dich weggeschickt, nicht Leonie.« Mit einem Seufzer lässt er von meinem Knie ab. »Du solltest nicht alles, was ich sage, auf die Goldwaage legen.«

»Achso, und was ist mit der Tatsache, dass du mich aus der Wohnung geschmissen und mich seitdem ignoriert hast? Dass du behauptet hast, dass Leonie nicht deine Freundin sei, bevor wir miteinander geschlafen haben, ihr dann aber vor meinen Augen Trockensex auf der Party hattet? Soll ich das auch nicht auf die Goldwaage legen, Alex?«

Eigentlich habe ich mir fest vorgenommen, ihn heute nicht mehr mit Anschuldigungen zu konfrontieren. Es ist immer noch meine Schuld, dass er im Krankenhaus liegt, doch seine Worte machen mich einfach so unglaublich wütend. Als würde ich mich nur schlecht fühlen, weil ich mir zu viele, unnötige Gedanken mache.

Mein Lehrer übt sich wieder mal in Schweigsamkeit. Kurz überlege ich, nun doch nach Hause zu fahren, allerdings weiß ich nicht, wann ich das nächste Mal mit ihm allein sein werde. Und ich will endlich wissen, was in seinem Kopf vorgeht. Also beiße ich die Zähne zusammen und hole tief Luft.

»Sag es mir bitte, Alex. Was ist das zwischen dir und Leonie? Und warum hast du mich einfach vor die Tür gesetzt? Du bist mir eine Erklärung schuldig, findest du nicht?«

Anstatt mich anzusehen, schließt er seine Augen. »Ich habe ihr nicht von unserer gemeinsamen Nacht erzählt«, bringt er dann schlicht hervor, wodurch sich meine Stirn automatisch in Falten legt. Das ist nicht die Antwort, die ich erwartet habe, und ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, was er mir damit sagen will.

»Wie meinst du das?«

»Ich habe euer Gespräch mit angehört, ich habe nicht geschlafen. Nicht mehr. Ich meine, wer könnte bei der Anwesenheit dieser penetranten Furie schon schlafen? Sie hat gelogen, Isabelle. Ich habe ihr nichts über dich oder uns erzählt«, antwortet er ruhig, ehe er die Augen wieder öffnet und mich mit einer Mischung aus Skepsis und Hilflosigkeit anstarrt.

Zugegeben, dass Leonie offenbar gelogen hat und sich die beiden nicht über den besten Sex meines Lebens amüsiert haben, gibt meinem Selbstbewusstsein einen kleinen Schub, wiederum hat Alex damit keine meiner Fragen beantwortet.

»Wenn du sie nicht leiden kannst, warum triffst du dich dann mit ihr?«

Sobald die Worte meinen Mund verlassen haben, wird mein Magen von einem heftigen Krampfanfall erschüttert. Schnell nippe ich am Kaffee, in der Hoffnung, die Wärme könnte das flaue Gefühl lindern, jedoch tritt genau das Gegenteil ein - es wird schlimmer. Wie dumm von mir, davon auszugehen, dass Koffein mein Chamäleon besänftigen könnte.

»Weil ich geglaubt habe, dass sie mich von einem viel größeren Problem ablenken kann«, erwidert Alex schließlich. »Aber ich weiß jetzt, dass sie es nicht kann. Eigentlich wusste ich es schon immer. Wenn ich mit ihr zusammen war, habe ich immer nur dich gesehen.«

»Aha, du meinst also, dass ich das Problem bin?«, gebe ich empört zurück und kralle meine Finger in die Keramik der Kaffeetasse. Dann kneife ich die Lider meiner Augen zusammen und bedecke sein Gesicht mit giftigen Blicken. Wie in Zeitlupe, wandern seine Mundwinkel aufwärts, während sich seine Nasenflügel kaum merklich aufplustern. Er hat wirklich eine fragwürdige Art von Humor.

»Du willst es nicht verstehen, oder? Das Problem ist, dass ich dich will, Ella. Seitdem du vor einigen Wochen vor dem Büro des Direktors gestanden hast. Meinst du, mir ist es leichtgefallen, so kalt zu dir zu sein? Jedes Mal im Unterricht musste ich mich zusammenreißen, um dich nicht die ganze Zeit anzustarren. Ich habe mich von dir ferngehalten, weil ich dein Lehrer bin, verstehst du? Und ich habe dich rausgeschmissen, weil ich dich so sehr wollte. Wie soll das funktionieren, wenn ich dich nicht mal anfassen darf? Ich bin sowieso schon viel zu weit gegangen. Ich ... bin ein beschissener Lehrer.«

Plötzlich erkenne ich die Sonne am Horizont meiner Seele aufgehen. Nach und nach erobern die Strahlen der Hoffnung jeden Winkel meines Körpers, wodurch sich meine innere Dunkelheit buchstäblich in Luft auflöst. Die Wirkung seiner Worte ist so intensiv, dass ich weder denken noch fühlen kann. Einzig die Zeile eines Songtextes von Peter Fox hat sich in dem verworrenen Netz meines Hirns verfangen.

»Mein Herz voll, mein Kopf leer. Gestern war es umgekehrt.«

Ich weiß nicht, warum mir gerade jetzt dieses traurige Lied in den Sinn kommt. Vermutlich, weil es meine momentane Situation perfekt beschreibt. Und weil ich nun endlich weiß, was es bedeutet.

»Zusammen allein, denn wir haben kein Alphabet, das wir beide teilen.«

Ich muss etwas sagen, aber ich kann nicht. Viel zu sehr bin ich darauf konzentriert, den überwältigenden Schwall an Tränen zurückzuhalten, der in meiner Kehle drückt wie Erbrochenes. Obwohl ich eigentlich glücklich sein sollte, dass Alex endlich ehrlich zu mir ist, verspüre ich dennoch diese tiefe Traurigkeit. Er hat recht, wir können uns nicht treffen. Nicht, solange ich nicht meinen Abschluss habe, und der lässt noch knapp anderthalb Jahre auf sich warten. Diese Erkenntnis ist zu deprimierend, als dass ich sie zulassen kann.

»Es fühlt sich trotzdem richtig an«, flüstere ich deshalb, woraufhin Alexander abrupt zu mir aufschaut. »Außerdem bist du ein wundervoller Lehrer.«

Er versucht, sich ein schiefes Grinsen zu verkneifen, was ihm jedoch misslingt. Der Anblick seiner minimalen Grübchen verschlägt mir beinahe die Sprache. Er wirkt irgendwie beschämt, und dieser Eindruck wird durch die plötzliche Röte auf seinen Wangen nur verstärkt. Wenn es nicht äußerst unangebracht wäre, dann würde ich ihn jetzt küssen. Wie sehr ich die menschliche Eigenschaft, dass man etwas noch mehr will, wenn es verboten ist, verfluche.

In gewisser Hinsicht ist diese Heimlichtuerei unfassbar erregend. Ich beuge mich nach vorn, um den Drang wenigstens ein bisschen befriedigen zu können, indem ich seine Finger mit den meinen umschließe. Sie sind weich und schwitzig, außerdem meine ich, ein leichtes Zittern zu spüren.

»Ein Lehrer, der seine unschuldige Schülerin verführt. Ja, ganz wundervoll«, gibt er mit einem Hauch Sarkasmus zurück, was mir unvermittelt ein abfälliges Schnauben abringt. »Ich bin alles andere als unschuldig, Alex. Und du hast mich nicht verführt, ich wollte dich genauso. Du hast mich nie wie ein Kind behandelt, also fang jetzt bitte nicht damit an.«

Plötzlich drückt Alexander meine Hand so fest, dass sich seine Fingernägel in mein Fleisch bohren und rote Furchen hinterlassen. Vor Schreck will ich sie ihm entziehen, doch er lässt es nicht zu. Mit einem Mal sind wir uns viel näher als noch vor wenigen Sekunden, sein heißer Atem bringt die Härchen in meinem Gesicht zum Kitzeln.

»Es tut mir so unendlich leid, Ella. Alles. Ich bin ein Idiot, der davon überzeugt war, das Richtige zu tun. Ich-«

»Wie kannst du ernsthaft glauben, dass es der richtige Weg ist, mich von dir zu stoßen?«, falle ich ihm ins Wort. »Ich würde mir auch wünschen, dass wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten. Aber dass du mein Lehrer bist, ändert nichts an der Art und Weise, wie ich über dich denke. Auch jetzt nicht.«

Mein nächster Atemzug wird durch Alexanders Hand abgeschnitten, die aus heiterem Himmel in meinen Nacken prescht und meinen Kopf mit einem Ruck zu sich heranzieht. Unsere Nasenspitzen berühren sich, seine aufgerissenen Augen wirken unendlich weit und klar.

»Du bist so dumm, Isabelle. So dumm«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ehe seine trockenen Lippen meinen Mund erobern. Dabei drückt er mein Gesicht mit solch einer Kraft an sich, dass kein Blatt zwischen uns passen würde. Ich verbanne die unzähligen Fragen, die er mir noch immer nicht beantwortet hat, aus meinen Gedanken, gebe mich ihm stattdessen vollkommen hin. Nichts anderes ist mehr wichtig, nur dieser Moment.

 

****

 

Die digitale Anzeige der Mikrowelle verrät mir, dass es bereits halb eins ist, als ich endlich zu Hause ankomme. Ich habe den gesamten Weg vom Krankenhaus hierher zu Fuß gemeistert, was wahrlich an ein Wunder grenzt. Dass ich meine Füße nach den ersten fünfzehn Minuten nicht mehr gespürt habe, hat womöglich dabei geholfen. Dennoch fühle ich mich, als hätte mich ein Lastwagen überrollt.

Zweimal.

Mit letzter Kraft krame ich das Abendessen von gestern aus dem Kühlschrank, löffele etwas von dem vegetarischen Erbseneintopf in eine Schale und stelle die Aufwärmzeit auf vier Minuten. Dann hocke ich mich auf einen Stuhl am Küchentisch, wobei mich das penetrante Summen der Mikrowelle fast in den Schlaf lullt. Selbst nach dem Hurricane-Festival letztes Jahr, war ich nicht ansatzweise so im Eimer wie jetzt. Ich will nur noch essen und dann ins Bett.

»Guten Morgen, mein Schatz«, höre ich plötzlich die liebevolle Stimme meiner Mutter sagen. Nach Luft ringend hebe ich den Blick und sehe sie mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen. Sie trägt noch immer ihren flauschigen, roséfarbenen Pyjama mit weißen Sternen darauf, dazu ihre ausgelatschten Hausschlappen aus pinkem Plüsch. Ihre ungewaschenen Haare sind zu einem chaotischen Dutt gebunden, die Lesebrille hängt schief auf ihrer spitzen Nase. Während sie auf mich zukommt, gähnt sie lautstark und streckt all ihre Glieder von sich.

»Ach, wie schön so ein freier Tag doch sein kann. Hattest du Spaß bei Kat, Liebes?« Mit einem warmen Lächeln auf den Lippen, drückt sie mir einen Schmatzer auf die Stirn. Dann schlendert sie zum Küchentresen und schaufelt etwas Kaffeepulver in den Maschinenfilter.

»G-Guten Morgen, Mom. Hast du bist jetzt geschlafen?«, weiche ich stattdessen aus, da ich keinen blassen Schimmer habe, wie Ulla meine nächtliche Abwesenheit entschuldigt hat. Offensichtlich hat es was mit Kat zu tun, aber ich sollte wohl erst das Gespräch mit meiner Tante aufsuchen, bevor ich mich aus Versehen in weitere Lügen verstricke. Wo steckt Ulla überhaupt?

Das Klirren von Geschirr holt mich aus meinen Gedanken zurück, gefolgt von Moms kindlichen Lachen. »Schön wär's. Aber du weißt doch, meine innere Uhr will mich nie ausschlafen lassen. Bin schon seit neun wach, habe aber seitdem im Bett gelümmelt und gelesen.«

Daraufhin angelt sie ihre Lieblingstasse -ein klumpiger Tonbottich mit einem hässlichen Blumenmuster, den ich ihr mal mit acht oder neun Jahren zu Weihnachten geschenkt habe - aus dem verglasten Hängeschrank und stellt sie unter die Düse der Kaffeemaschine. Sekunden später ertönt das Geräusch von mahlenden Bohnen, woraufhin ich mir reflexartig an die Schläfen packe, um diese zu massieren.

»Was ist los, mein Schatz? Du siehst müde und unerholt aus. Hast du bei Kat nicht gut geschlafen?«

Aha. Mom denkt also, dass ich bei meiner Freundin übernachtet habe. Was für ein Glück! Ich muss Ulla unbedingt dafür danken, dass sie für mich gelogen hat. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie Betty reagiert hätte, wenn sie die Wahrheit wüsste. Dann würde der Tag bestimmt nicht so harmonisch ablaufen.

»Ehrlich gesagt habe ich fast gar nicht geschlafen. Ich bin hundemüde«, antworte ich schließlich wahrheitsgemäß, als die Mikrowelle im nächsten Moment zu Piepen beginnt. Es erinnert mich an das Geräusch des EKGs im Krankenhaus.

»Bleib sitzen, Kind. Ich bringe dir das Essen.«

Während ich hastig den Eintopf in mich hineinschaufele, hat Mom sich mit ihrem Kaffee zu mir gesellt. Sie hat mich nicht weiter über die Nacht bei Kat ausgefragt, sodass wir uns relativ unbeschwert über den gestrigen Tag unterhalten können. Das Ende lasse ich dabei lieber aus. Sie berichtet mir im Gegenzug von ihrem Tag mit Robin in der Stadt, und dass sie sich mit einem unfreundlichen Eisverkäufer angelegt hat. Oh ja, das kann sie besonders gut.

Nach weiteren zehn Minuten ist mein Essen schließlich geleert, mein Magen gefüllt und der Rest meines Körpers eingeschlafen, im wahrsten Sinne des Wortes. »Mom, entschuldige mich, aber ich muss mich jetzt erstmal hinlegen«, murmele ich deshalb, was sie mit einem Nicken und dem Ansatz eines Lächelns erwidert. Dann schleppe ich mich hoch in die erste Etage, so träge wie schon lange nicht mehr.

In meinem Zimmer angekommen, lasse ich mich rücklings auf die Matratze meines Bettes fallen. Es fühlt sich augenblicklich an, als würde ich auf Wolken schweben. Was für eine Genugtuung. Genervt schäle ich mich aus den Jeansshorts, streife mir dann das klamme T-Shirt über den Kopf, bis ich allein in Unterwäsche auf der Bettdecke liege. Dieses ungewohnte, freie Gefühl entspannt mich dermaßen, dass meine Augenlider unvermittelt zufallen. Und gerade, als ich beinahe in einen wohligen Schlaf abgedriftet bin, klopft es an der Tür.

Nein, bitte nicht.

»Ich schlafe!«, rufe ich in einem grimmigen Tonfall, der seine abschreckende Wirkung leider weit verfehlt. Kurz darauf höre ich, wie die Tür schwungvoll aufgerissen wird, und eine Person schnaufend in mein Zimmer stampft. Blinzelnd öffne ich die Augen und kann die verschwommenen Umrisse meiner Tante erkennen.

»Nicht jetzt Ulla, bitte. Ich bin todmüde.«

Im gleichen Atemzug stellen sich meine Nackenhaare auf, eine heftige Gänsehaut fegt über meine Arme. Ullas Gesichtszüge sind aus Stein, weisen keinerlei Spur von Spaß oder Fröhlichkeit auf, so wie sonst. Ihre ohnehin schon dünnen Lippen sind zu einer noch dünneren Linie gepresst, während sie mich mit düsteren, zusammengekniffenen Augen anstiert.

»Der Typ ist also ein Mitschüler, ja?«, fragt sie spitz und klingt dabei genauso eiskalt wie sie aussieht.

Schlagartig wird mein Puls in die Höhe getrieben, wohingegen meine Atmung ins Stocken gerät. Die Tatsache, dass ich lediglich mit Unterwäsche bekleidet bin, ist mit einem mal unwichtig. Zögernd nicke ich, entdecke aber plötzlich das knittrige Blatt Papier in ihren Händen, welches sie mir daraufhin ohne Vorwarnung unter die Nase hält.

Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, was genau sie mir damit zeigen möchte. Bei dem Zettel handelt es sich um eine ausgedruckte Version der Schulhomepage.

»Newsletter vom 30. März 2017: Junger Zuwachs - Das Kollegium des Ratsgymnasiums begrüßt neue Lehrkraft für die Fächer Deutsch und Englisch«, lese ich stumm. Unter der Headline befindet sich ein kurzer Text, daneben ein Foto von Alexander.

Verdammte Scheiße.

Schon wieder spüre ich diese säuerliche Galle in meinem Hals aufsteigen, das Wummern meines Herzens scheint unkontrolliert. Meine Tante setzt sich neben mich aufs Bett, doch ich starre weiterhin auf das riesengroße Problem in meinen Händen.

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

»Isabelle Lorenz, hast du etwa eine Affäre mit einem deiner Lehrer?«

22| Realitätsverlust

 

22.

»Was? Nein!«

Mehr bekomme ich nicht heraus. Ich kann nicht glauben, was hier gerade passiert, fühle mich wie in einem Traum. Krampfhaft halte ich mich an dem Papier fest, als würde es sich im nächsten Moment in einen fliegenden Teppich verwandeln, auf dem ich davonschweben kann. Ullas kalte Hand auf meiner Schulter verdeutlich mir jedoch, dass ich nicht träume, dass ich in der Realität feststecke und nicht flüchten kann.

Nicht ein einziges Mal wendet sie ihren prüfenden Blick von mir ab, ihr Griff wird immer fester. Und mit jeder stillen Sekunde, die verstreicht, wächst die Angst in mir weiter an. Diese panische, unbezähmbare Angst. Würde mich Frau Dr. Vogt-Krämer jetzt darum bitten, meine Gefühle zu beschreiben, würde ich ihr von dem roten Stier aus »Das letzte Einhorn« erzählen. Tragischerweise geht es mir dabei nicht darum, dass ich eventuell von der Schule fliegen und mich von meinem Abi verabschieden könnte. Ich habe Angst, Alexander nie mehr wiederzusehen.

»Ella-Schatz, kannst du mir bitte mal erklären, was hier los ist? Das ist doch der Kerl von gestern Abend, oder nicht?«, bemerkt Ulla dann und zeigt mit ihrem manikürten Finger auf das Schwarz-Weiß-Foto von Alex. Es ist an seinem ersten Tag in der Schule aufgenommen worden, ich erkenne es an seiner Kleidung. Dass er dabei so charmant in die Kamera lächelt, gestaltet die jetzige Situation nicht gerade leichter für mich. Selbst diese kleine, farblose Variante von ihm lässt mein Herz zu Butter werden.

Schnell zerknülle ich das Papier und pfeffere es im hohen Bogen Richtung Mülleimer, damit mein Gesichtsausdruck mir nicht in den Rücken fallen kann. Natürlich werfe ich daneben. Ich muss mir schleunigst etwas Gescheites einfallen lassen, denn je länger ich schweige, desto verdächtiger wirke ich. Obwohl mich meine zitternden Hände und die kläglichen Versuche, Ullas Blicken auszuweichen, wahrscheinlich schon verraten. Ruhig bleiben, ganz ruhig. Und tief durchatmen.

»Ich habe keine Affäre mit meinem Lehrer«, lüge ich schließlich. Komischerweise klingt meine Stimme ziemlich selbstbewusst, dabei bin ich innerlich am Verzweifeln. »Ich ... Ich habe gestern Abend gesehen, wie er ausgerutscht und gefallen ist. Und dann habe ich halt den Notarzt gerufen.«

»Erzähl mir keine Märchen! Du warst völlig aufgelöst, als der Typ von den Sanitätern weggetragen wurde. Hast ihm zigmal gesagt, dass du das nicht wolltest und es dir leidtut. Dabei hast du geheult wie ein Wasserfall und bist sogar mit ins Krankenhaus gefahren. Das macht man nicht für einen Lehrer, Ella. Außerdem hast du am Telefon von einem Kumpel gesprochen.«

Ihre krallenartigen Fingernägel bohren sich in meine Schulter. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um einen Ausdruck ihrer Wut handelt oder ob sie verhindern möchte, dass ich einfach abbaue.

Irgendwie fühle ich mich ertappt, bedecke daraufhin meinen halbnackten Oberkörper mit den Armen, als würde die Lüge auf meiner Haut geschrieben stehen. Ulla mustert mich kurz, steht dann auf und streift ihren pinken Bademantel ab. Mit einer Miene, die nun etwas mehr Herzlichkeit aufweist, reicht sie ihn mir.

»Hier. Zieh den an.«

Stumm nicke ich und leiste ihr Folge.

»Also?«, fordert sie mich erneut auf, während sie sich wieder aufs Bett setzt und meine Augen mit ihren fixiert. Ich schlinge das Band des Bademantels um meine Taille und binde einen unordentlichen Knoten, ehe ich schlussendlich mit geschürzten Lippen kapituliere.

»Um genau dieses Gespräch zu vermeiden. Deshalb habe ich gesagt, dass er ein Kumpel ist. Weil ich nicht wollte, dass Mom oder du etwas Falsches denkt.«

»Dann klär' mich auf, Liebes. Damit ich das Richtige denken kann.« Der Blick meiner Tante ist nun wesentlich fürsorglicher, die Kieferpartie nicht mehr ganz so eisern. Offensichtlich macht sie sich Sorgen um mich, was ich ihr in diesem Fall nicht mal verdenken kann. Wenn ich das Gefühl hätte, meine Nichte würde etwas mit ihrem Lehrer haben, würde ich auch nicht lockerlassen.

Zum Glück bin ich mit ihr auf dem Open Air gewesen, und nicht mit meiner Mom. Die würde wahrscheinlich auf der Stelle ins Krankenhaus marschieren und Alex nochmal k.o. schlagen, während sie gleichzeitig den Direktor der Schule und die Polizei anruft. Ich weiß, dass ich meiner Tante eigentlich jedes Geheimnis anvertrauen kann, dass sie es niemals gegen meinen Willen ausplaudern würde, aber in dieser Situation ist das Risiko einfach zu groß. Sie wäre quasi dazu gezwungen, es meiner Mutter zu erzählen, und das kann ich auf gar keinen Fall verantworten. Das mit Alexander darf meine Lippen nicht verlassen, nicht mal bei Tante Ulla.

»Weißt du, ... Herr Jansen ist zwar mein Lehrer, aber wir verstehen uns trotzdem ziemlich gut. Er hat mir viel geholfen, seitdem ich hierher gezogen bin, und hat mir oft zugehört. Er ... ist eine Art Vertrauensperson für mich geworden, die-«

»Hat er dich zu irgendetwas gezwungen?«, unterbricht meine Tante mich plötzlich und hält dabei erschrocken die Hand vor ihren Mund. Augenblick läuft mein Puls zur Höchstform auf, mein Kopf dröhnt gnadenlos.

»Oh Gott, nein! Das würde er nie tun, er ist kein Sexist. Wie gesagt, wir haben nichts miteinander. Er ist einfach nur für mich da. Er hört mir zu, wenn Andere es nicht tun.«

Ulla erweckt den Anschein, als müsse sie kurz über mein Gesagtes nachdenken. Also nutze ich die kleine Pause, um den bisherigen Gesprächsverlauf Revue passieren zu lassen. Bisher habe ich mich ziemlich wacker geschlagen, allerdings kann sich das Blatt noch ganz schnell wenden. Normalerweise kann ich dieser Frau nichts vormachen. Sie ist ein wandelnder Lügendetektor und kennt vermutlich jede Polizeiserie dieser Welt auswendig. Auch jetzt habe ich im Gefühl, dass sie mich schon längst durchschaut hat, doch aus einem Grund, der sich mir nicht erschließen lässt, lässt sie sich nichts anmerken. Und das macht es noch viel schlimmer.

Tante Ulla schweigt noch eine Weile, bis sie sich schließlich mit einem tiefen Seufzer zurückmeldet.

»Sag mal, Ella. Bist du in diesen Mann verliebt?«

Abrupt halte ich inne und starre stirnrunzelnd in ihr mittlerweile wieder ernst gewordenes Gesicht. Das soll wohl ein schlechter Scherz sein, ich und verliebt. Im Leben nicht. Ich war noch nie so richtig verliebt, und nach dem Tod meines Vaters ist mein verkrüppeltes Herz erst recht nicht dazu im Stande. Außerdem kann ich keine Gefühle für meinen Lehrer haben, das ist vollkommen absurd. Eine Romanze - okay. Aber eine Beziehung? Nein danke! Entschieden schüttele ich den Kopf und verschränke die Arme vor der Brust.

»Ich bin bestimmt nicht in meinen Lehrer verliebt, nein.«

»Bist du dir ganz sicher?«, hakt sie mit dem Ansatz eines Grinsens nach, woraufhin mein Kopfschütteln in ein energisches Nicken übergeht.

»Ja, ich bin mir sicher. Mehr als sicher. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, da ist nichts. Herr Jansen hat mir nur dabei geholfen, mich hier einzuleben, das ist alles. Ich mag ihn, ja, aber auf einer distanzierten Lehrer-Schüler-Beziehung.«

Für diese oscarreife Darstellung sollte ich einen Preis bekommen.

Ulla nickt ebenfalls, wirkt allerdings nicht hundertprozentig überzeugt. »Ich hoffe, du weißt, dass du mir alles sagen kannst, Ella-Schatz.«

Daraufhin schlingt sie ihre Arme um meinen Oberkörper und zieht mich in eine enge Umarmung. Ich rieche Sonnencreme und fühle ihre erhitzte Haut. Der Holmes-Abklatsch hat vermutlich im Garten geschmort, bevor er sich an die Detektivarbeit gemacht und mich beinahe überführt hat.

»Ja, das weiß ich, danke. Aber es gibt nichts, das ich dir sagen kann. Bitte vertrau mir«, erwidere ich, bevor Ulla mich wieder freigibt und sich erhebt.

»Ich vertraue dir immer, mein Liebling. Und ich hoffe wirklich, dass ich das auch weiterhin kann.« Das Lächeln, das sie mir noch zuwirft, erreicht ihre Augen nicht. Und dann dreht sie sich um und verlässt ohne ein weiteres Wort mein Zimmer.

 

****

 

Heute ist das Wetter angenehmer als die letzten Tage. Es ist zwar sonnig und warm, allerdings nichts diese schwüle Hitze, die einem bei jeder noch so kleinsten Bewegung auf die Lunge drückt und einen Schweißfluss im Rücken verursacht. Ab und zu weht ein laues Lüftchen, wodurch meine Haare in mein Gesicht gefegt werden und meine Kopfhaut zu kribbeln beginnt. Wie oft habe ich schon mit dem Gedanken gespielt, meine lange Mähne einfach abzurasieren, um den Wind auf meiner nackten Haut zu spüren. Doch ich kenne mich: Spätestens nach drei Stunden würde ich heulend einen Perückenladen aufsuchen.

Die enge Jeans und das Shirt vom Tag habe ich in ein weinrotes Leinenkleid getauscht, welches an der Brust und am Saum mit einem dezenten, floralen Muster bestickt ist. Es sind dünne Blumenranken, die sich entlang der Nähte schlängeln.

Auf dem Weg zum Krankenhaus schlendere ich an sämtlichen Vorgärten vorbei, treffe dabei auf Menschen verschiedenster Art. Manche führen ihren Hund aus, manche vertreten sich im milden Sonnenschein die Beine. Andere erledigen letzte Einkäufe oder kommen von der Arbeit heim. Ein paar davon nicken mir höflich zu, bevor sie an mir vorbeispazieren, was ich mehr als nur befremdlich finde. In meiner Heimatstadt haben sich die Bewohner größtenteils ignoriert, doch hier im Dorf ist das wohl anders. Ich habe mich immer noch nicht ganz daran gewöhnt, dass ich meine Anonymität vorerst abgeben muss.

Der schwarze Lederrucksack, der in meiner Hand zum Takt meiner Schritte hin-und herbaumelt, ist mit Pfannkuchen und einer Thermoskanne Kaffee bestückt. Nach dem nervenaufreibenden Gespräch mit Tante Ulla habe ich sowieso kein Auge zubekommen, weshalb ich es mir lieber zur Aufgabe gemacht habe, Alexander eine kleine Freude zu bereiten.

Obwohl ich fix und fertig war - und immer noch bin -, habe ich den halben Nachmittag in der Küche gewütet. Bei einem unserer Treffen im Café hat er mal von seiner Vorliebe für Eierpfannkuchen geschwärmt und gleichzeitig bedauert, dass er nicht dazu in der Lage ist, sich selbst welche zuzubereiten. Ein Lächeln legt sich in mein Gesicht, als ich daran denken muss, wie er über seine nicht vorhandenen Kochkünste gewitzelt hat. Außerdem hat er von dem Krankenhausessen und der wässrigen Plörre bestimmt schon die Schnauze voll.

Nach knapp vierzig Minuten Fußmarsch erreiche ich den riesigen Betonkoloss endlich. Schon von Weitem kann man die verschimmelte, weiß-rote Fassade erkennen, die zur Hälfte mit einem ähnlich großen Netz bespannt ist. Unzählige Fenster reihen sich aneinander, einige davon sind hell beleuchtet. Insgesamt zähle ich fünf Stockwerke.

Schwer atmend stolpere ich letzten Endes in den Eingangsbereich, vorbei an der überfüllten Cafeteria und einem Empfangstresen, und steure daraufhin auf die üppigen Fahrstühle zu. Mich überkommt zwar sofort ein mulmiges Gefühl, allerdings würde ich mit den Treppen wohl ein Beatmungszelt benötigen. Der Lift in der Mitte öffnet sich als Erster, woraufhin ich vorsichtig eintrete und auf den Knopf mit der drei drücke. Wenige Sekunden später setzt sich der Aufzug in Gang. Zu meinem Glück ohne zu stocken und in einer recht fließenden Bewegung, sodass ich die Fahrt relativ entspannt überstehe.

In der dritten Etage angekommen, biege ich in den Flur zu meiner Linken ab und bleibe daraufhin vor der fünften Tür auf der rechten Seite stehen. Ich klopfe und warte, bis Alexanders Stimme ertönt und mich hineinbittet. Als er mich beim Eintreten erkennt, schnellen seine Mundwinkel augenblicklich in die Höhe.

»Hey, was machst du denn hier? Also, ich meine ... Schön, dich zu sehen, Ella.«

Ich erwidere sein Lächeln und setze mich schließlich zu ihm auf die Bettkante. Die »Psychologie heute«, in die er gerade noch vertieft war, lässt er in der Schublade des Nachtschränkchens verschwinden.

»Naja, ich dachte mir, dass es im Krankenhaus bestimmt langweilig ist, so ganz allein. Vielleicht kannst du ja etwas Gesellschaft gebrauchen?«

Sein Grinsen wird breiter, während seine Augen in einem flüssigen Goldbraun schimmern. Sofort richtet er sich auf und kommt mir mit seinem Gesicht immer näher, indem er seinen Oberkörper mit den Armen abstützt, bis seine Lippen die meinen berühren. Er haucht ein paar Küsse auf meine Unterlippe, lehnt sich jedoch wieder zurück ins Kissen, bevor meine Zunge seinen Mund ertasten kann.

»Sorry, mein Schädel explodiert, wenn ich ihn anhebe«, gibt er zerknirscht zu, verzieht dabei sein Gesicht zu einer leidvollen Fratze. Er sieht blass und eingefallen aus, fast schon abgemagert. Sein Dreitagebart ähnelt mittlerweile eher einem Fünftagebart, doch der dichte Haarwuchs macht ihn nicht weniger attraktiv - ganz im Gegenteil. Die vollen Lippen, die unter seiner schmalen, langen Nase hervorstechen, sind spröde und rissig, als hätte er viel zu wenig getrunken. Alles in allem ist sein Anblick mehr als mitleiderregend.

Plötzlich kneift er die Augen zusammen und bedeckt mich mit erwartungsvollen Blicken, bis ich realisiere, dass ich ihn bloß wortlos anstarre, statt etwas zu sagen.

»Äh, schon gut. Ruh dich lieber aus«, stottere ich nervös, ehe ich mich nach vorn beuge ich und ihn zärtlich auf die Stirn küsse. Dann befördere ich den mitgebrachten Rucksack auf meinen Schoß und knote die zugeschnürten Bänder auf. Der Duft nach süßen Teigwaren steigt daraus empor und verteilt sich blitzschnell im ganzen Raum.

»Ich habe dir was mitgebracht«, gebe ich daraufhin feierlich bekannt, als wäre es nicht offensichtlich. Neugierig setzt Alex sich auf und beäugt den Klumpen aus Alufolie, den ich bereits hervorgezaubert habe. Ich erkenne leichte Skepsis in seinem Blick, was mir ein zurückhaltendes Kichern entlockt.

Das dünne Metall knistert lautstark, während ich es möglichst sorgsam auseinanderfalte. Als mein Lehrer schließlich zu verstehen scheint, legt sich in Sekundenschnelle ein Lächeln auf seine Lippen, das von einem Ohr zum anderen reicht. »Du hast mir Pfannkuchen mitgebracht?«

Ich nicke zaghaft, denn mit so einer Reaktion habe ich irgendwie nicht gerechnet. Er scheint sich wirklich zu freuen, zumindest spüre ich ein Zittern in den Fingern, die er mit meinen verschränkt hat.

»Nicht nur das«, erwidere ich fröhlich und präsentiere ihm die Thermoskanne, als wäre sie ein Preis, den er gerade gewonnen hat. Sein Lachen geht nunmehr in Gelächter über. »Ohne Scheiß, wenn da jetzt Kaffee aus einer richtigen Maschine drin ist, dann bekommst du in deiner nächsten Deutschklausur 'ne Eins.«

»Meines Wissens nennt man so etwas Bestechung, Herr Jansen«, gebe ich amüsiert zurück und setze dabei ein zuckersüßes Lächeln auf.

»Ich würde es eher Verhandlung nennen, Fräulein Lorenz. Und jetzt spannen Sie mich gefälligst nicht auf die Folter. Für einen anständigen Kaffee würde ich im Moment töten.«

Nun muss auch ich laut auflachen und schraube daraufhin den Deckel der silbernen Kanne auf, um ihm gnädigerweise Erlösung zu beschaffen. Der Anblick seines lädierten Kopfes serviert mir meine Schuldgefühle quasi auf dem Silbertablett, weshalb ich nicht mal zu einem banalen Scherz im Stande bin.

»Seit wann sind wir denn eigentlich beim Sie?«, frage ich neckend, während ich etwas von dem Kaffee in eine Tasse gieße, die ich auf dem Nachttisch gefunden habe.

»Keine Ahnung, du hast damit angefangen. Und jetzt gib schon her.« Ungeduldig reißt er mir den Becher aus den Händen und setzt ihn ohne zu zögern an seine Lippen. Nach zwei großen Schlucken stöhnt er erleichtert auf. »Oh mein Gott. Das ist der flüssige Himmel.«

Dann machen wir uns gemeinsam über das Carepaket her.

Mein Magen streikt bereits nach dem ersten Pfannkuchen, wohingegen Alex die restlichen sechs im Handumdrehen verputzt. Während er sich Stück für Stück des goldbraun gebackenen Teigs auf der Zunge zergehen lässt, - zugegeben, sie sind auch wirklich köstlich - unterhalten wir uns nochmal über den gestrigen Abend. Zum gefühlt zwanzigsten Mal entschuldige ich mich bei ihm, woraufhin er mir zum gefühlt zwanzigsten Mal versichert, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss und es nicht meine Schuld war. Natürlich war es meine Schuld, schließlich habe ich ihn geschubst, aber ich finde es ungeheuer nett von ihm, dass er mir keine Vorwürfe macht.

Zudem erklärt er mir auf ein Neues, dass Leonie ihm nichts bedeutet und er sich lediglich mit ihr abgegeben hat, um nicht an mich denken zu müssen. Mein Herz zieht sich mit jedem seiner liebevollen Worte enger zusammen, sodass ich irgendwann das Gefühl habe, vor lauter Harmonie zu platzen. Ich bin so glücklich, dass ich am liebsten jeden Menschen in diesem Krankenhaus umarmen würde. Die Skepsis meiner Tante Ulla habe ich schon längst in den Teil meines Hirns befördert, der für die Unwichtigkeiten zuständig ist.

Als sich Alexander schließlich den letzten Bissen Pfannkuchen in den Mund schiebt, sieht er schon wesentlich gesünder aus. Sein Gesicht hat nun an Farbe zugenommen, außerdem wirkt es voller und erholter. Seine nun wieder rosigen Lippen sehen weicher aus und werden von einem zufriedenen Lächeln umschmeichelt.

»Wenn du dich jedes Mal so rührend um mich kümmerst, sollte ich mir wohl öfter den Kopf anschlagen«, bemerkt er in einem lüsternen Tonfall und richtet sich ruckartig auf, sodass wir uns nun auf einer Augenhöhe befinden. Ich will ihm gerade antworten, doch im nächsten Moment spüre ich bereits seinen Mund, den er sehnsüchtig auf den meinen presst. Behutsam fährt er mit der Zungenspitze über meine Lippen, bis ich ihm Eintritt gewähre und wir vollends miteinander verschmelzen. Er schmeckt nach Vanillezucker und Kaffee.

Doch plötzlich lässt Alexander abrupt von mir ab und schiebt mich an den Schultern von sich weg. Seine Augen sind so weit aufgerissen, dass sie mich an die einer Katze erinnern, dazu strahlen sie die blanke Panik aus. Regungslos fixiert er einen Punkt hinter mir, bis ich mich schließlich selbst umdrehe und augenblicklich zu einer Eisskulptur erstarre. In meinem Inneren höre ich das Zersplittern einer Glasscheibe, die in diesem Fall mein Leben repräsentiert.

Meine Mom und Tante Ulla stehen mitten im Raum. Ihre Gesichter sind dem von Alex sehr ähnlich.

»M-Mom, was z-zum Teufel macht ihr-«, stottere ich, doch meine jämmerlich klingenden Worte werden von der scharfen Stimme meiner Mutter abgeschnitten.

»Sei still, Isabelle! Und wag' es nicht, mich weiterhin anzulügen! Ulla hat mir alles erzählt. Willst du mich eigentlich KOMPLETT VERARSCHEN?«

Heilige Scheiße, sie ist fuchsteufelswild. Vor lauter Überforderung weiß ich nicht, was ich sagen soll, lasse stattdessen den Blick zwischen Alex und meinen Verwandten hin-und herschweifen.

»Scheiße, das ist deine Mom?«, höre ich meinen Lehrer murmeln, woraufhin sich zu allem Überfluss auch noch meine Tante zu Wort meldet. Diese Verräterin.

»Sag mal, spinnst du eigentlich, mir so dreist ins Gesicht zu lügen? Du hast gesagt, ich soll dir vertrauen, dass da nichts zwischen dir und diesem Penner läuft. Von wegen!«

»Moment mal, er ist kein-«, setze ich daraufhin an, werde jedoch erneut von meiner Mom unterbrochen. »Ich habe gesagt, dass du deine Klappe halten sollst! Was fällt dir eigentlich ein? Ich erkenne dich gar nicht mehr wieder, Ella. Ist es wegen Dad? Ist es, weil dir eine Vaterfigur fehlt?«

»Verdammt, jetzt reicht's aber!«, schreie ich aufgebracht zurück. »Du hast sie doch nicht alle! Vaterfigur, ich bitte dich. Und hört gefälligst auf, so abfällig über ihn zu reden. Ihr kennt ihn doch gar nicht!« Hinter mir nehme ich Alex' aggressives Schnauben wahr, aber ich kann meinen finsteren Blick einfach nicht von Betty und Ulla lösen. Ich würde den beiden am liebsten die Augen auskratzen.

Und als wäre dieses Szenario nicht schon die Hölle auf Erden, wird die Zimmertür plötzlich erneut aufgerissen - diesmal von Robin. Wie ein wild gewordener Löwe steuert er auf Alex und mich zu, jeder Muskel seines Oberkörpers scheint unter Spannung zu stehen. Doch noch bevor ich überhaupt realisieren kann, was hier gerade geschieht, werde ich von meinem Bruder zur Seite geschubst und unsanft auf den Fußboden befördert. Im Augenwinkel erkenne ich, wie er daraufhin seine geballte Faust anhebt und mitten auf den Kopf meines Lehrers zielt.

»Nein!«, schreie ich, doch die Versuche, die unkontrollierte Wut meines Bruders zu bändigen, kommen zu spät.

Immer wieder schlägt er auf das Gesicht von Alex ein, Blut strömt aus seiner Nase. »Nein, hör auf. Du bringst ihn noch um!« Doch Robin hört nicht auf mich, scheint wie in einem Rausch.

Irgendwann packt er Alexanders Haare und zieht seinen Rumpf ein Stück hoch, um daraufhin seinen verbundenen, lädierten Kopf gegen die Wand zu hämmern. Der Anblick ist derart grotesk, dass ich meine Hand auf den Mund pressen muss, um mich nicht zu übergeben.

»Ella!«, ruft meine Mutter plötzlich, woraufhin ich mich hilflos zu ihr umdrehe. Doch sie ist weg, genau wie Tante Ulla. Das Zimmer ist mit einem Mal vollkommen leer.

»Ella, es ist alles gut. Ich bin hier.«

Mit dem nächsten Atemzug schlage ich panisch meine Augen auf. Ich bin nicht im Krankenhaus. Ich bin zu Hause in meinem Bett, schweißgebadet.

23| Hey Darling

 

23.

Die Nacht war beschissen. Und das lag nicht nur daran, dass ich wegen eines donnernden Gewitters aus dem Schlaf gerissen wurde. Ich habe von ihr geträumt, jedes Mal, wenn ich endlich für kurze Zeit Ruhe fand. Wir waren glücklich, während wir gemeinsam in meiner Karre Lieder von Oasis mitsangen, ihr wahrhaftiges Lachen war dabei nur auf mich gerichtet. Wir sind endlose Landstraßen entlanggefahren, vorbei an dichten Wäldern und grünen Wiesen. Ihre Hand lag auf meinem Oberschenkel, ihre seidigen Haare wurden durch den Windzug des geöffneten Fensters umhergewirbelt. Sie war schlichtweg wunderschön. Für diesen magischen Augenblick war ich der glücklichste Mann auf Erden. Doch dann hat mich der Donner - oder das nervige Piepen des Ungetüms neben mir - in die Realität zurückgeholt, was jedes Mal aufs Neue einem Schlag ins Gesicht ähnelte. Isabelle war nicht bei mir, wir waren nicht glücklich. Ich lag noch immer im Krankenhaus, allein, mit den schlimmsten Kopfschmerzen meines bisherigen Lebens.

Ich weiß nicht, wie spät es mittlerweile ist. Zumindest ist die Sonne schon aufgegangen. Am liebsten würde ich mir sofort den Schlauch aus meiner Ellenbogenbeuge ziehen und einfach verschwinden, aber es wäre wohl intelligenter, auf die Ärztin zu warten. Außerdem brauche ich noch das Attest für die Schule.

Bei dem Gedanken daran, Ella eine ganze Woche nicht zu sehen, zieht sich mein Magen unverzüglich zusammen. Es war schlimm genug, sie die letzten vier Wochen ignorieren zu müssen, und ich hasse mich dafür, dieses wundervolle Mädchen derart von mir gestoßen zu haben. Ich kann froh sein, dass sie überhaupt noch mit mir redet. Dieser abgrundtiefe Hass in ihren Augen, als sie mich mit voller Wucht geschubst hat, hat sich für immer in mein Gehirn eingebrannt. Vermutlich habe ich den Schlag auf den Hinterkopf sogar verdient, immerhin habe ich sie wie ein Stück Dreck behandelt. Ich musste mich zwar stark zusammenreißen, um sie nach dem Unterricht nicht einfach beiseite zu ziehen und zu küssen, aber das macht es irgendwie auch nicht besser. Und trotzdem haben mich ihre reizenden Entschuldigungen tief getroffen und eine Hoffnung entfacht, die mich glauben lässt, dass sie mich wirklich mag.

Plötzlich muss ich auch an unsere gemeinsame Nacht zurückdenken, wodurch mein Penis unwillkürlich zu zucken beginnt. Gott, der Sex war unbeschreiblich. Ich würde alles Menschenmögliche dafür tun, um dieses außergewöhnliche Gefühl noch einmal zu erleben. Das Bild ihres perfekt geformten, nackten Körpers taucht vor meinem inneren Auge auf, ihrer makellosen, weichen Brüste. Ellas Haut ist genauso geschmeidig, wie ich sie mir immer vorgestellt habe, und so langsam bereue ich es, dass ich nicht jeden Zentimeter davon erkundet habe, bevor wir miteinander schliefen. In meinem Kopf hole ich die Liebkosungen jedoch nach, weshalb meine Hand instinktiv unter die Bettdecke wandert. Ich muss diesem sehnsüchtigen Bedürfnis unbedingt Abhilfe verschaffen.

Mit dem Gedanken an ihre feuchten, angeschwollenen Lippen, gleite ich daraufhin an meinem Penis auf und ab, bis das Gefühl so intensiv ist, dass ich leise aufstöhnen muss. Ihre Stimme in meinem Kopf, die lüstern meinen Namen wimmert, macht mich fast wahnsinnig. Eigentlich ist es ziemlich erbärmlich, sich auf seine neun Jahre jüngere Schülerin einen runterzuholen, allerdings bin ich gegen die Reize dieser Frau machtlos. Sie zu wollen gleicht mittlerweile einem Urinstinkt. Ich brauche sie wie ein Abhängiger seine Droge.

Als sich so langsam ein heftiges Kribbeln in meinen Lenden ausbreitet und sich mein gesamter Unterleib zu verkrampfen beginnt, wird Ellas süße Stimme durch das Geräusch einer aufgehenden Tür ersetzt, gefolgt von klackernden High Heels auf dem Fußboden. Vor Schreck fahre ich zusammen und lasse blitzschnell von meinem steifen Penis ab. Bei dem Anblick von Leonie spüre ich förmlich, wie die Lust in mir schlagartig abschwillt. Dieses verfluchte, nervige Miststück.

»Schon mal was von anklopfen gehört?«, blaffe ich sie an, ehe sie auf mich zu wackelt und sich ganz selbstverständlich auf der Bettkante niederlässt. Mal wieder ist sie viel zu stark parfümiert, aber immerhin kann ihr beißender Gestank den kopfschmerzerregenden Krankenhausmief übertünchen.

»Hallo Alex, ich freue mich auch, dich zu sehen.« Leonies Tonfall ist so gehässig, dass ich schon jetzt das dringende Bedürfnis verspüre, sie nie wiedersehen zu wollen.

Ich könnte mich selbst durch den Fleischwolf jagen, sie überhaupt jemals angesprochen zu haben. Wiederum kannte ich Ella zu dem Zeitpunkt noch nicht. Hätte ich vorher gewusst, dass ein paar Tage später eine Frau in mein Leben stolpern wird, die meine Gefühlswelt komplett auf den Kopf stellt, hätte ich mich von der blonden Nervensäge ferngehalten.

Durch ihr aufgesetztes Lächeln kann ich erkennen, dass etwas von ihrem billigen, knallroten Lippenstift auf ihren Schneidezähnen klebt, was sie wie ein Clown aussehen lässt. Ihr blaues Kleid könnte gut eine Nummer größer sein, denn ihre üppigen, hochgepushten Brüste erinnern mich an eine trächtige Kuh. Nicht, dass sie sonderlich dick wäre, aber ihre Selbsteinschätzung verläuft wohl etwas an der Realität vorbei. Mit der zu Locken gedrehten, wasserstoffblonden Mähne ist sie immerhin recht attraktiv, doch im Gegensatz zu Isabelle benötigt sie einen Haufen Kosmetikprodukte, um so auszusehen. Ella schafft es auch ohne diesen ganzen Schnick-Schnack, atemberaubend schön zu sein. Keine Frau der Welt kann sich mit ihr messen, sie sprängt sämtliche Ideale.

»Was willst du?«, knurre ich schließlich, da Leonie es noch immer nicht für nötig hält, mir den Grund ihres Besuches zu erklären. Dabei versuche ich, so desinteressiert wie möglich zu klingen. Sie soll bloß nicht glauben, dass ich mich in irgendeiner Art und Weise über ihre Anwesenheit freue.

»Du hast mich nicht angerufen, obwohl du es versprochen hast.« Irgendwie wirkt sie tatsächlich verletzt, was mich aber auch eigentlich gar nicht wundern sollte. Die Blondine war ein Notnagel, ein Lückenbüßer, mit dem ich mich lediglich getroffen habe, um meine Schülerin aus dem Kopf zu bekommen. Doch um ehrlich zu sein, war Leonie die reinste Zeitverschwendung. Und dessen ist sie sich ganz genau bewusst. Ich bin ein verkacktes Arschloch, ich hätte Ella niemals abweisen sollen.

»Ich habe dir gar nichts versprochen, Leonie. Ich verstehe nicht, warum du hier immer wieder auftauchst«, erwidere ich dann und schüttele die Hand ab, mit der sie versucht, meine Wange zu streicheln. Unsicher starrt sie mich an, quittiert meine abweisende Art mit einem verächtlichen Schnauben.

»Weil ich deine Freundin bin, du Dummerchen. Du hast dir den Kopf offenbar sehr stark angeschlagen.«

Perplex reiße ich meine Augen auf, sichtlich irritiert, ob sie sich gerade wirklich als »meine Freundin« betitelt hat. Was für ein Schwachsinn, dieses Weib ist vollkommen durchgedreht.

»Spinnst du? Wir sind doch nicht zusammen, nur weil wir uns zwei, drei Mal getroffen haben.«

»Ach nein? Und warum bist du dann immer wieder bei mir angekommen? Du hast gesagt, ich sei dir wichtig, Alex. Du wolltest dich mit mir treffen, nicht andersherum«, gibt sie in einem schnippischen Tonfall zurück, und zugegebenermaßen macht sie mich für den Bruchteil einer Sekunde sprachlos.

Sie hat recht, verdammte Scheiße. Ich bin derjenige, der sie angerufen hat, jedes verkackte Mal, wenn ich kurz davorstand, von meinem Selbsthass zerrissen zu werden. Ebenso habe ich behauptet, dass sie mir etwas bedeuten würde. Dabei habe ich lediglich ein Ventil benötigt, um Ellas Ignoranz irgendwie erträglicher zu machen. In welche Scheiße habe ich mich da wieder reingeritten?

»Ich weiß. Aber ... Das war falsch. Es tut mir wirklich leid, aber ich will nicht mit dir zusammen sein. Ich empfinde nichts für dich«, gebe ich letztlich zu, und auch wenn es hart klingt, so fühlt es sich doch richtig an. Ich werde Leonie niemals wollen, genauso wenig wie irgendeine andere Frau. Es wird immer nur Ella sein.

Ich kann beobachten, wie sich ihre Augen nach und nach mit Tränen füllen, sie aber trotzdem versucht, ihre Fassung zu wahren. Ihr Blick ist auf ihren Schoß gerichtet, in dem sie nervös an ihren langen Fingernägeln herumknibbelt. Ich habe noch nie verstanden, warum das weibliche Geschlecht der Meinung ist, dass glitzernde, mit Leopardenmuster bespickte Krallen ästhetisch aussehen. Dafür sollte man einen Waffenschein beantragen müssen.

Leonie seufzt, ehe sie sich eine Haarlocke aus der Stirn wischt. »Es ist wegen der kleinen Schlampe, oder?«

Okay, so langsam werde ich wirklich wütend. Instinktiv kneife ich die Augenbrauen zusammen, um sie mit einer möglichst bedrohlichen Miene zu mustern. Ich spüre, wie mein linker Mundwinkel vor Anspannung zu zucken beginnt, mein Unterkiefer verwandelt sich kurzerhand in Stahl.

»Sie ist vieles, aber sicherlich ist sie keine Schlampe.«

Das Grinsen, das die Furie mir daraufhin zuwirft, wirkt falsch, wenn nicht sogar hinterlistig. Auf eine pathetische Art und Weise, die mich von Anfang an bei ihr angekotzt hat, wirft sie dann die voluminöse Haarmähne hinter ihre Schultern und stützt sich mit einem Arm auf der Matratze ab.

»Was soll das? Sag mir bitte nicht, dass sie mit ihrer Sexbeichte recht hatte. Du fickst also eine deiner Schülerinnen? Das ist selbst für dich ganz schön armselig.«

»Es geht dich einen Scheißdreck an, wen ich ficke«, schleudere ich patzig zurück, und in meiner Stimme könnte nicht mehr Verachtung mitschwingen. Mittlerweile frage ich mich, wie sie sich eigentlich selbst erträgt.

»Alex, ich an deiner Stelle würde nicht so mit mir reden. Es soll schließlich keiner wissen, wie sich die jungen, unschuldigen Mädchen bei dir ihre Einsen verdienen, oder? Was würde wohl der Direktor sagen, wenn er erfährt, dass sein ach so toller Lehrer die kleine, süße Isabelle vögelt?«

Trotz meiner pazifistischen Veranlagung, muss ich mich gerade stark zurückhalten, um ihr nicht direkt ins Gesicht zu schlagen und sie so zum Schweigen zu bringen. Wie sie mich ansieht, so voller Schadenfreude und Genugtuung. Am liebsten würde ich ihr das dreckige Lachen aus der Fresse boxen. Um jedoch nicht völlig die Kontrolle zu verlieren, hefte ich stattdessen meinen Blick auf mein Tattoo aus Indien, das mich in brenzligen Situationen stets an das Gute der Welt erinnert.

»Verpiss dich.«

Zu mehr bin ich nicht fähig, ohne mich komplett zu verlieren. Leonies Anwesenheit bringt Seiten in mir zum Vorschein, vor denen ich mich selber fürchte.

Zu meiner Überraschung kommt sie meiner schroffen Aufforderung tatsächlich nach. Normalerweise lässt sie sich nicht so einfach abwimmeln, wie man an diesem Besuch wohl offensichtlich erkennt. Und plötzlich überkommt mich die bittere Erkenntnis, dass es ein riesengroßer Fehler war, Ella Leonie als meine Schülerin vorzustellen.

»Es wird dir noch leidtun, mich abserviert zu haben. Sie werden schon sehen, Herr Jansen«, murrt die Schlange dann mit einem bedrohlichen Unterton, ihre Worte strotzten nur so vor lauter Arroganz. Daraufhin macht sie auf dem Absatz kehrt und steuert zielstrebig auf die Tür zu, die aufgerissen und schlussendlich mit einem lauten Knall wieder zugeschlagen wird.

Es dauert keine fünf Sekunden, bis ich meine grenzenlose Wut an den Utensilien auf dem Nachtschrank auslasse.

 

****

 

Auch wenn ich Tante Ulla wirklich gernhabe, so bin ich doch sehr erleichtert, dass sie gestern Abend den Heimweg angetreten hat. Pfingsten ist vorbei, demnach fängt heute für die meisten Menschen die Arbeitswelt wieder an. Außer für mich, denn die Schule hat uns gnädigerweise einen weiteren freien Tag vergönnt.

Wenn ich jedoch daran denke, dass ich den Rest der Woche ohne Alexander auskommen muss, würde ich mich am liebsten in meinem Bett verkriechen, bis er wieder genesen ist. Es scheint, als wäre er meine einzige Motivation, mein Antrieb. Selbst wenn ich ihn im Unterricht nur aus der Ferne anschmachten kann, so gibt er meinem Dasein dennoch einen Sinn. Ohne ihn kommt mir sogar der Zauber des Schulschlosses weniger zauberhaft vor. Davon abgesehen könnte ich mich sowieso nicht auf den Lernstoff konzentrieren, denn mein Kopf ist allein mit Gedanken an diesen einzigartigen Mann gefüllt. Und mit Schuldgefühlen, die ich nach wie vor nicht abschütteln kann.

Zum Glück hat Ulla mich nicht noch einmal auf meinen Lehrer angesprochen. Nach meinem Albtraum haben wir ohnehin nicht viel miteinander geredet, und bei den wenigen Malen ging es größtenteils um belanglosen Smalltalk. Doch obwohl sie auf den ersten Blick völlig normal rüberkam, habe ich eine Veränderung in ihrem Wesen wahrnehmen können. Sie hat mich zwar nicht direkt ignoriert, aber trotzdem ist sie irgendwie distanziert gewesen, auf eine ganz unauffällige Art und Weise.

Zudem hat sie immer mal wieder Äußerungen von sich gegeben, die mich auf eine gewisse Skepsis ihrerseits schließen lassen. So hat sie mir bei unserer Verabschiedung »Viel Glück« gewünscht und mich quasi davor gewarnt, dass ich bloß »aufhören soll, wenn es zu viel wird.« Auf meine Frage, was genau sie damit meint, ist sie nicht weiter eingegangen, sondern hatte es plötzlich ziemlich eilig, endlich nach Hause zu kommen. Tief in meinem Inneren weiß ich, dass sie mir meine Lügen nicht abgekauft hat und vermutlich denkt, dass ich mit meinem Lehrer schlafe. Aber da sie ihre Befürchtungen nicht vor Mom ausgeplaudert hat, stellt meine Tante eigentlich keine große Bedrohung dar. Zumindest fürs Erste.

Wie so oft, bin ich den gesamten Tag allein zu Hause, weshalb ich beschließe, Alex bei der Entlassung zu begleiten. Ich wollte ihn eigentlich gestern Abend noch einmal besuchen, allerdings hatte ich nach dem Traum zu große Angst, dass er Wirklichkeit werden würde. Er war einfach so real, dass ich eine Viertelstunde gebraucht habe, um mich wieder zu beruhigen. Ich versuche zwanghaft, ihn nicht als böses Omen zu deuten, doch je mehr ich darüber nachdenke, desto schwerer fällt es mir.

Die Alternative, Alexander nicht mehr nahe zu sein, gefällt mir jedoch viel weniger, weshalb ich meine innere Unruhe einfach ignorieren muss. Ich habe mir vorgenommen, ihm weder von dem Gespräch mit Ulla, noch von dem Traum zu erzählen. Diese eigentlich unwichtigen Kleinigkeiten würden ihn nur verunsichern, grundlos, und ich möchte unsere neugewonnene Zweisamkeit lieber genießen, anstatt dieses »Was wäre, wenn«-Spielchen zu spielen. Er will mich, ich will ihn, und auf nichts anderes werde ich mich konzentrieren.

Komischerweise bin ich nervös, als ich eine Stunde später vor der Tür seines Krankenhauszimmers stehe. Fast hätte ich ihm wirklich ein paar Pfannkuchen mitgebracht, doch dafür hätte ich zunächst einkaufen gehen müssen, was sich ohne Auto als Hochseilakt herausgestellt hätte. Abgesehen von der Dauer des Weges, hätte ich keine Lust - und Kraft - gehabt, zwei Kilo Mehl und Zucker durch die halbe Stadt zu schleppen. Dafür ist meine Muskelmasse zu ausbaufähig, um es nett auszudrücken. Wenigstens habe ich an die Thermoskanne Kaffee gedacht, denn diesbezüglich erschien mir Alexanders Reaktion im Traum als durchaus realistisch.

Nach drei tiefen Atemzügen trete ich schließlich ein und steuere direkt auf ihn zu, wobei er mich wie gewöhnlich mit einem warmen Lächeln bedeckt. Im Gegensatz zu gestern sieht er schon wesentlich vitaler aus, und auch seine Lippen sind nicht mehr ganz so spröde. Zumindest fühlen sie sich weich und sanft an, als er mir zu Begrüßung einen Kuss aufdrückt.

»Hey, Darling«, säuselt er an meinem Mund, wodurch mein Herz für einen Takt aussetzt. Er hat mich noch nie bei einem Kosenamen genannt, und erst jetzt bemerke ich, was ich die ganze Zeit verpasst habe. Vor allem bin ich froh, dass er sich nicht für »Baby« entschieden hat. Ein abschätzigeres Wort hat man für das weibliche Geschlecht wohl nicht gefunden.

»Hey, wie geht's dir heute?«, lächele ich zurück, während ich meine Fingerspitzen durch seinen Bart fahren lasse. Es fühlt sich wunderbar an, wie wir uns mittlerweile berühren, als wäre es selbstverständlich, als wäre es nie anders gewesen. Dabei habe ich ihm vorgestern noch die Pest an den Hals gewünscht. Erstaunlich, wie schnell sich Dinge ändern können.

»Du bist hier, es geht mir bestens, Ella. Und wie sieht's bei dir aus?«

Bei seinen liebevollen Worten muss ich mir ein mädchenhaftes Kichern verkneifen, grinse stattdessen wie ein Honigkuchenpferd. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich die Frauen aus Liebesromanen verstehen, die ihre Prinzipien bei jeder noch so kleinsten Bemerkung ihres Schwarms über Bord werfen. Ich bin ein wandelndes Klischee, wie jämmerlich.

»Mir geht's auch gut, danke. Hast du noch starke Schmerzen?«

Vorsichtig schüttelt Alex den Kopf, der noch immer von einem dicken Verband verziert wird. Die Halskrause ist ihm hingegen abgenommen worden. »Nicht mehr ganz so schlimm. Es ist jetzt eher ein unangenehmer Druck.«

»Verdammt, es tut mir einfach so-«, will ich mich erneut entschuldigen, doch Alexander bringt mich zum Schweigen, indem er meine Lippen mit seinen versiegelt. Leider ist der Kuss nur flüchtig.

»Hör auf damit. Ich bin nicht deinetwegen hier, sondern wegen meiner eigenen Blödheit. Mach dir bitte keine Sorgen.« Schließlich nicke ich, wenn auch nur sehr widerwillig.

Die nächsten Minuten unterhalten wir uns darüber, was wir seit meinem letzten Besuch getrieben haben. Dabei schaffe ich es tatsächlich, mich nicht zu verplappern, sodass Ulla und der Traum weiterhin mein Geheimnis bleiben. Ich erzähle ihm stattdessen, dass meine Tante wieder abgereist und ansonsten nichts Spannendes passiert ist.

Als ich ihn jedoch nach seinem bisherigen Tag frage, ist er von jetzt auf gleich völlig in sich gekehrt. Die Antworten auf meine Fragen fallen meistens einsilbig aus, während er meinen forschen Blicken erfolgreich ausweicht. Seine Augen fixieren irgendwann nur noch den Zipfel der Bettdecke, den er zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelt und daran herumzupft. Angeblich hat er nur geschlafen, gelesen oder ferngesehen, doch sein abwesendes Verhalten gibt mir genug Anlass zur Sorge.

»Ist alles in Ordnung, Alex? Du bist plötzlich so anders«, vergewissere ich mich also, da mir meine Gedanken ja doch keine Ruhe lassen würden. Ausnahmsweise besteht seine Antwort diesmal aus mehr als nur einem Wort.

»Sorry, ich ... Ich denke nur über die kommende Woche nach, das ist alles.«

»Und was genau denkst du so?« Jede Faser meines Körpers signalisiert mir, dass er nicht die Wahrheit sagt. Ich spüre, dass er nervös ist, schon allein deswegen, weil er seine Finger nicht stillhalten kann. Außerdem ist sein Gesicht viel blasser als vorhin, dazu dieser kalte Schweiß an seinem Haaransatz. Er hält kurz inne, um sich wahrscheinlich die passenden Worte zurechtzulegen. Dass er nicht spontan antwortet, lässt meine inneren Alarmsirenen laut aufheulen.

»Naja, ich denke, dass wir uns die nächsten Tage gar nicht sehen werden. Und das finde ich ziemlich beschissen.«

Und prompt lösen sich meine Ängste in Luft auf. Ich kann nicht anders, als ihn wie eine Verrückte anzulächeln. »Vielleicht kann ich dich in der Zeit ja mal besuchen kommen? Ich bin für jede Minute dankbar, die ich nicht zu Hause verbringen muss.«

Na gut, ganz so schlimm, wie ich es gerade darstelle, ist es vielleicht nicht im Hause Lorenz, allerdings ist Mom einfach zu neugierig. Sie geht noch immer davon aus, dass ich in einem Meer aus Liebeskummer versinke, und taktisch gesehen sollte ich sie auch besser in dem Glauben lassen. Am Ende verlangt sie von mir, dass ich Alex zum gemeinsamen Abendessen einladen soll. Ich bin froh, wenn ich ihrer aufdringlich fürsorglichen Art wenigstens für ein paar Stunden entfliehen kann.

»Wann hast du am Freitag Schluss?«, will er dann aus heiterem Himmel wissen. Er hat wirklich ein Händchen dafür, ein Gesprächsthema so geschickt wie möglich zu wechseln. Unsicher runzele ich die Stirn, da ich absolut keine Ahnung habe, worauf er hinaus möchte.

»Nach der Sechsten. Wieso?«

Plötzlich schenkt er mir ein süffisantes Grinsen, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Freude oder Angst empfinden sollte. Was auch immer er im Schilde führt, es verstärkt das Ziehen in meinem Magen ungemein.

»Perfekt, dann werde ich dich von der Schule abholen. Nimm ein paar Sachen zum Wechseln mit.«

24| Alles eine Frage der Freiheit

 

24.

Wenn ich meine Augen geschlossen halte, kommt es mir vor, als stünde ich inmitten einer blühenden Erdbeerplantage. Doch der fruchtige Duft wird lediglich durch das Stück Kuchen erzeugt, welches vor mir steht und darauf wartet, von mir verputzt zu werden. Es besteht aus mehreren Schichten, die sich aus Teigboden, einer Joghurtcreme und Erdbeermousse zusammensetzen. Die Kombination sieht schlichtweg köstlich aus, weshalb es mir ausnahmsweise egal ist, dass der Tortenguss vermutlich tierisches Gelatine enthält. Es liegt einfach nicht in meiner Natur, an einem Kuchen vorbeizugehen, ohne ihn zumindest zu probieren. Anders als Alexander, der mir gegenübersitzt und mich verschmitzt anlächelt, während er an dem einfachen, schwarzen Kaffee nippt. Ich kann es kaum glauben, dass er tatsächlich dazu fähig ist, den unzähligen Leckereien von McCafé zu widerstehen.

»Also, wohin fahren wir?«, hake ich also zum gefühlt dreizehnten Mal nach, bevor ich mir genüsslich eine Gabel Erdbeerhimmel in den Mund schiebe. Gott, er ist so unfassbar lecker, dass ich mir fast ein Stöhnen verkneifen muss. Alex scheint sich über meinen befriedigten Gesichtsausdruck nur zu amüsieren, denn seine aufgerichteten Mundwinkel deuten den Ansatz von Grübchen an.

»Wie gesagt, das wirst du schon noch früh genug sehen. Aber schön, dass dir der Kuchen zu schmecken scheint.«

Ich nicke nur und lächele zurück. So langsam nervt mich seine Geheimnistuerei ein wenig, weil er mich seit den zweieinhalb Stunden, die wir nun unterwegs sind, mit immer derselben Antwort abspeist. Eigentlich mag ich Überraschungen nicht, doch wenn sie von Alexander kommen, bin ich dem gegenüber immerhin nicht ganz so negativ gestimmt. Wenigstens konnte ich ihn überreden, endlich mal eine Pause einzulegen, um einen Kaffee zu trinken und wieder zu Kräften zu kommen. Wenn ich bedenke, dass ich seit sechs Uhr wach und ununterbrochen auf den Beinen bin, gleicht es einem Wunder, dass ich noch nicht im Auto eingeschlafen bin.

»Bist du dir denn sicher, dass du fit genug bist für ... was auch immer wir tun werden?« Beim Reden fallen ein paar Krümel aus meinem Mund und landen auf der Tischplatte. Ich beäuge sie wortlos und ringe mit mir selbst, ob ich sie wieder aufsammeln sollte oder nicht. Schlussendlich entscheide ich mich dagegen, konzentriere mich stattdessen darauf, meinem Kuchenwahn nicht die Kontrolle über mich gewinnen zu lassen.

»Du solltest dir weniger Sorgen um mich machen, Darling«, raunt er, was eine heftige Gänsehaut in meinem Nacken erzeugt. Dann greift er über den Tisch hinweg nach meiner Hand. »Es ging mir nie besser.«

Kurz versinke ich in dem Karamell seiner Augen, welches im Licht der großen, runden Leuchte, die direkt über uns an der Decke prangt, begierig auflodert. Was genau in seinem Blick liegt, kann ich nicht klar deuten, jedoch vermittelt es mir ein vertrautes, wohliges Gefühl. Wie so oft drängelt sich das Bedürfnis nach seinen Lippen in die Mitte meines Gedankenzentrums, aber bei so vielen Leuten um uns herum kommt es mir unangemessen vor. Die Angst, ihn verlieren zu können, ist selbst in einem über zweihundert Kilometer entfernten Autobahnrestaurant zu groß.

Mit einem tiefen Seufzen lasse ich von seinen unendlichen Pupillen ab und widme mich wieder dem traumhaften Kuchen, der zu meiner Enttäuschung schon halb geleert ist. »Aber versprich mir, Bescheid zu geben, falls dir schwindelig wird oder du Kopfschmerzen bekommst.«

»Keine Angst, Frau Doktor. Ich bin ein großer Junge.«

Sein folgendes Lachen ist derart mitreißend, dass ich es automatisch erwidere. Ganz wohl ist mir bei diesem Ausflug trotzdem nicht, wo der Lehrer doch eigentlich immer noch krankgeschrieben ist. Vorhin habe ich einen flüchtigen Blick auf seinen Hinterkopf erhaschen können und war schockiert, als ich erkannt habe, was die ganze Zeit unter dem Verband verborgen lag. Die Stelle des Aufpralls ist komplett kahlrasiert und in der Mitte davon befindet sich eine circa zehn Zentimeter lange, mit vier Stichen genähte Platzwunde, die in sämtlichen Rot-und Blautönen eingefärbt ist. Zum Glück sind Alexanders Haare lang genug, um den Schaden ansatzweise überdecken zu können. Ich halte es ohnehin für fragwürdig, dass er bereits ohne Verband oder Pflaster herumlaufen darf. Wiederum hat die Ärztin bei der Entlassung irgendwas davon gefaselt, dass Wunden an der frischen Luft schneller heilen. Sie wird es zwar besser wissen, allerdings bleibe ich dennoch misstrauisch.

Nach einer halben Stunde befinden wir uns schließlich wieder auf der Autobahn. Ich beobachte die Felder und Wiesen, an denen wir vorbeisausen, während eine männliche, rauchige Stimme von der Liebe zu einer Frau singt. Der Song gefällt mir auf Anhieb, weshalb ich die Lautstärke der Boxen mit einem kleinen Rädchen am Armaturenbrett aufdrehe. Dann lasse ich meine Finger zu Alex' Oberschenkel wandern, die unvermittelt darauf liegenbleiben und in kreisenden Bewegungen über den rauen Stoff seiner Jeans fahren. Im Augenwinkel erkenne ich, dass er mich kurz mit einem warmen Lächeln ansieht und sich dann wieder auf den Straßenverkehr konzentriert, bis er letztendlich die Stille zwischen uns bricht.

»Von diesem Moment habe ich neulich geträumt.«

»Äh ... Was? Ehrlich?«, stoße ich ungläubig hervor, da ich nicht auf das überwältigende Kribbeln in all meinen Gliedern vorbereitet bin. Ehe seine Worte gänzlich in meinem Hirn ankommen und verarbeitet werden, schießt mein Blick in seine Richtung. Sein vorheriges Lächeln ist verschwunden und einer ernsten, aber irgendwie wehmütigen Miene gewichen.

»Was denn? Ist es so abwegig, dass ich von dir träume?«

Argwöhnisch zucke ich mit den Achseln, fixiere nun wieder das an mir vorbeirauschende Grün. »Ehrlich gesagt schon, ja.«

Ich werde wohl nie verstehen, was genau er eigentlich an mir findet. Er ist ein selbstständiger, attraktiver, junger Mann, der vermutlich jede Frau haben könnte, die an ihm interessiert ist. Ich hingegen bin ein viel jüngeres, unerfahrenes Mädchen, das zu allem Überfluss auch noch seine Schülerin ist und bei ihrer Mutter wohnt, die nichts von ihm wissen darf. Ich meine, das muss einen erwachsenen Mann doch abschrecken, oder nicht? Vielleicht ist es aber auch ein ausgeprägtes Helfersyndrom, welches ihn nicht mehr als ein mitleidiges Opfer in mir sehen lässt. Aber vielleicht ist es auch einfach wie es ist, und mein Leben meint es nach all den Niederschlägen endlich mal gut mit mir. It's always darkest before the dawn.

Schließlich reißt Alexander mich aus meinen Gedanken, indem er lautstark die angestaute Luft aus seinen Lungen stößt und sie mit einem Zischen wieder einsaugt. Dann legt er seine rechte Hand auf die meine, die nach wie vor auf seinem Bein ruht.

»Manchmal wünschte ich, du könntest dich durch meine Augen betrachten. Dich so sehen, wie ich dich sehe.«

In Sekundenschnelle breitet sich das Kribbeln in meinem gesamten Körper aus, so stark und kontrolliert, dass es wehtut. Wie eine Schallwelle drückt es gegen meine Lungenflügel, zerquetscht sie, wodurch ich für einen kurzen Moment nicht Atmen kann. Tränen schießen mir in die Augen, selten war ich dermaßen gerührt. Ich versuche, sie wegzublinzeln und vermeide seinen Anblick, obwohl ich ihm jetzt so gern um den Hals fallen würde.

Auch das Chamäleon ist mittlerweile aus seinem Versteck gekrochen, doch im Gegensatz zu den letzten Tagen strahlt es nun in einem hellen Roséton. Mit einem zufriedenen Grinsen streckt es alle Glieder von sich, bevor es sich einmal bis in die Schwanzspitze schüttelt. Es scheint sich in seiner neuen Haut sichtlich wohlzufühlen.

Für eine geraume Zeit bleibe ich einfach stumm und genieße das mächtige Gefühl, das Alexander in mir auslöst. Auch wenn ich ihn nicht sehen kann, spüre ich dennoch, dass seine Augen auf mir liegen. Zumindest soweit es der Autobahnverkehr zulässt. Noch immer singt der Mann im Radio von seiner Liebe, und der Mann neben mir beginnt irgendwann, leise mitzusingen. Dieser Augenblick ist der Inbegriff von Unbeschwertheit.

Ich bin glücklich, mehr nicht.

 

****

 

Nach weiteren zwei Stunden kippt die Fahrt ins Merkwürdige. Wir mussten zwischenzeitlich an einer Tankstelle halten, da der Wagen bereits auf Reserve lief. Die kurze Pause wäre auch erstmal nicht weiter tragisch gewesen, wenn da nicht die Augenbinde aus schwarzem Satin gewesen wäre, die ich für die Weiterfahrt aufsetzen musste. Die umfunktionierte Schlafmaske ließ dann doch etwas Unbehagen in mir aufsteigen.

Mittlerweile wird die Möglichkeit, dass Alexander mich in Wahrheit ins Ausland verschleppt, immer wahrscheinlicher. Auch wenn er mir geschworen hat, keine Angst haben zu müssen, und dass es sich lohnen würde. Womöglich würde ich es nicht mal merken, wenn er mich entführt, da ich mein Zeitgefühl und meinen Orientierungssinn schon längst verloren habe. Nach einer Weile habe ich sogar damit aufgehört, dagegen zu protestieren, und jetzt sitze ich stillschweigend da, mit der Schläfe gegen die kalte Scheibe gelehnt, auf dem Weg ins Nirgendwo.

Es vergeht eine weitere Ewigkeit, bis ich Alex endlich die erlösenden Worte sagen höre.

»Okay, du kannst sie jetzt abnehmen.«

Ohne zu zögern, reiße ich mir das Stück Stoff vom Kopf, woraufhin ich sofort von der grellen Sonne geblendet werde. Nur sehr langsam kann ich mich an die plötzliche Helligkeit gewöhnen, meine Augen blinzeln in Rekordzeit dagegen an. Als ich jedoch endlich erkenne, wohin mein Lehrer mich verfrachtet hat, spüre ich ein Stechen in meiner Brust. Trockene Tränen in meinem Hals.

Am Horizont der Autobahn streckt sich der Hamburger Hafen empor, die Kräne der Containerschiffe sind meilenweit zu sehen. Die Sonnenstrahlen verwandeln das Wasser der Elbe in flüssiges Gold, sodass es scheint, als würden wir direkt in einen Glitzerregen hineinfahren. Für den ersten Moment bin ich sprachlos, doch meine grenzenlose Freude platzt förmlich aus mir heraus, sodass sie schnell in ein schrilles Quieken übergeht. Ich bin zu Hause. Er hat mich tatsächlich nach Hause gebracht. Ich fasse es nicht.

»Oh mein Gott, ich ... du hast ... Ich meine ..., danke«, brabbele ich aufgeregt vor mich hin, nicht wissend, was ich tun oder sagen soll. Alex Griff um meine Hand verfestigt sich, bevor seine Augen auf die meinen treffen. Dann lässt er mich jedoch los, nur um mir mit dem Daumen eine Träne aus dem Gesicht zu wischen. Ich kann sie nicht mehr aufhalten, der Damm ist gebrochen.

»Schon gut, Darling.«

Seine Stimme ist so voller Herzlichkeit, dass ich mittlerweile vollkommen überfordert bin mit diesem geballten Haufen an neuen, ungewohnten Glücksgefühlen. Ich habe nie gewusst, wie es ist, einfach nur glücklich zu sein. Bis jetzt. Alexander hat mich um diese Erfahrung bereichert. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich mich jemals bei ihm revanchieren soll.

»Du bist verrückt«, spreche ich meinen Gedanken aus Versehen laut aus, woraufhin er zu Lachen beginnt und ich mir in die Innenseiten meiner Wangen beiße. Es schmerzt, was bedeutet, dass ich diesmal nicht träume.

»Ella, du hast gesagt, dass du Freiheit brauchst. Bitte, hier hast du sie. Für eine Nacht können wir tun und lassen, was wir wollen. In einer Stadt, in der uns niemand kennt. Naja, zumindest mich nicht.«

Das Lächeln, das er mir daraufhin schenkt, ist schief, jungenhaft und so unendlich süß, dass ich mich prompt über die Mittelkonsole lehne, um ihm einen intensiven Kuss aufzudrücken. Dass er nebenbei das Auto lenken und auf den Verkehr achten muss, ist nicht die ideale Voraussetzung, um meine Begierde zu stillen, aber besser als nichts. Schon jetzt weiß ich ganz genau, was ich mit ihm in dieser Nacht tun möchte. An »lassen« denke ich erst gar nicht.

»Danke. Ich ...ich weiß nicht, was ich sagen soll. Du bist unglaublich«, versuche ich es schließlich erneut und bin fast etwas stolz auf mich, dass ich einen kompletten Satz zu Stande gebracht habe. Alex lacht erneut auf, wobei seine weißen Zähne im Sonnenlicht strahlen.

»Was denn jetzt? Bin ich nun verrückt oder unglaublich

»Unglaublich verrückt, schätze ich.«

Und dann sausen wir schweigend meiner Heimat entgegen.

Als wir uns schließlich in den Verkehr Richtung Altstadt einfädeln, werde ich augenblicklich von einem Brocken aus Erinnerungen überrollt. Schon wieder blitzt eine Träne in meinem Augenwinkel auf, doch diesmal ist es ein Zeichen der Freude. Inzwischen ist der Fahrtwind nicht mehr ganz so stark, weshalb Alex das Fenster runterkurbelt, um eine Zigarette zu rauchen. Ich tue es ihm gleich, jedoch bin ich vielmehr an der salzigen Hafenluft interessiert, als an dem miefenden Qualm, der neben mir fabriziert wird. Das Geschrei der Möwen dringt an mein Ohr und sofort drehe ich die Musik leiser, um es vollkommen in mich aufnehmen zu können. Mir wird erst jetzt so richtig bewusst, wie sehr ich dieses Geräusch vermisse, wie sehr ich die gesamte Stadt mit all ihren Eigenarten vermisse. Es war ein Fehler, mich hierher zu bringen - ich will nie wieder zurück.

Wie für Hamburg üblich, boxt auf den Straßen mal wieder der Papst höchstpersönlich. Wir kommen nur sehr stockend voran, was ich allerdings in Anbetracht der Tatsache, dass ich mit Alexander zusammen bin, gar nicht so schlimm finde. Die nächste rote Ampel gibt einen traumhaften Ausblick auf die Elbe frei, was wiederum erneut meine Tränen zum Vorschein bringt. Früher bin ich stundenlang mit Dad am Hafen entlangspaziert, während wir über Gott und die Welt sprachen und die Sonne am Horizont auf- oder unterging. Mit ihm habe ich wohl den Rekord an Schiffsrundfahrten aufgestellt, aber es war jedes Mal aufs Neue ein Genuss.

»Lass uns morgen früh auf den Fischmarkt gehen«, schlage ich vor, denn auch das habe ich mit Dad häufig getan. Wenn er mich denn überhaupt mal dazu gebracht hat, an einem Wochenende früh aufzustehen.

»Alles was du möchtest, Darling. Ich habe nur zwei Programmpunkte für heute Abend und morgen Mittag geplant. Ansonsten kannst du frei entscheiden, was wir machen.«

»Ist dir eigentlich klar, dass ich mich niemals angemessen bei dir bedanken kann?« Ich starre ihn an, er mich, plötzlich ganz ernst. Ist es nicht wirklich übertrieben, dass er all das für mich tut? Habe ich das überhaupt verdient? Ich habe ihn ins Krankenhaus geschubst und als Dank fährt er mit mir an den schönsten Ort, den ich mir im Moment vorstellen kann. Spontan schwöre ich mir, in Zukunft mehr auf die mündliche Beteiligung in seinem Unterricht zu achten. Das wäre zumindest ein Anfang.

»Ich bin mir sicher, dass dir etwas einfallen wird, um dich erkenntlich zu zeigen«, erwidert er, und die Zweideutigkeit in seiner Bemerkung entgeht selbst mir nicht. Unter anderen Umständen würde mich ein derartiger Kommentar vermutlich ankotzen, aber wenn es aus seinem Mund kommt, macht es mich irgendwie an.

»Naja, du machst es mir auf jeden Fall nicht einfach.«

Und als plötzlich »Heroes« im Radio ertönt, eines meiner absoluten Lieblingslieder, ist der Moment schlicht und einfach perfekt. Mit Alexander, meiner Heimat und David Bowie, der davon singt, dass wir für einen Tag Helden sein können, könnte es nicht perfekter sein.

 

****

 

Ich muss nicht in einem Touristenführer nachlesen, um zu wissen, vor welchem Gebäude Alexander auf einmal stehenbleibt. Eine weiße, edel verzierte Wand mit unzähligen Fenstern streckt sich vor mir empor, hinter uns der Jungfernstieg. »Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten« wird in goldenen, leuchtenden Lettern in der Mitter der Fassade angezeigt, das wohl schnöseligste Hotel der ganzen Stadt. Und ein absoluter Blickfang im Herzen Hamburgs. »Nicht dein Ernst?«, presse ich fassungslos hervor, während ich mit aufgerissenen Augen dem teuren Luxusschuppen entgegenblicke. Vielleicht will er auch einfach an der Rezeption nach dem Weg zu unserer richtigen Unterbringung fragen, oder so.

»Hast du nicht gesagt, dass du nicht reich bist?«

Alex zieht mit einem Ruck den Tragegriff aus seinem kleinen Trolley und visiert daraufhin den pompösen Eingang des Hotels an. Mein Blick schnell zu dem adrett gekleideten Portier, der wie auf ein Zeichen auf uns zu hechtet.

»Bin ich auch nicht. Ich habe lediglich ein wenig gespart. Für heute kann dir das auch vollkommen egal sein, Darling.« Wie ich es liebe, wenn er mich bei diesem Namen nennt. Mehr als »geile Sau« oder »Hey Süße« habe ich vom männlichen Geschlecht noch nicht zu hören bekommen.

Nach einem kurzen Austausch von freundlichem Geplänkel, nimmt der etwa fünfzigjährige Mann in der schwarzen Uniform unser Gepäck an sich, welches meinerseits nur aus einem kleinen Rucksack besteht. Himmel sei Dank bin ich so vorausschauend gewesen, um eine Zahnbürste und Schlafkleidung einzupacken. Dann nimmt Alex meine Hand und zieht mich hinter dem Portier her, der sich schon längst auf dem Weg in die Lobby befindet.

Als auch wir schließlich die Eingangshalle betreten, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich kenne das Fairmont, ich bin schon oft daran vorbeispaziert, jedoch habe ich es noch nie von innen gesehen. Sofort fühle ich mich wie in einem anderen Jahrhundert und komme mir mit den löchrigen Jeans und dem ausgeleierten Shirt mehr als underdressed vor. Ein imposanter Kronenleuchter hängt von der Decke, bestehend aus tausenden, kleinen Edelsteinen, die den gesamten Raum in ein Meer aus Funken verwandeln. Sowohl die Wände, als auch der Fußboden sind in einem prachtvollen, antiken Muster verziert, an manchen Stellen erkenne ich eine Fleur de lis. Alles um mich herum schreit nach Geld und Luxus, ich bin hier eindeutig fehl am Platz. Einzig zu den kunstvollen Gemälden über der Rezeption fühle ich mich hingezogen, doch Alex lässt mir keine Zeit, sie genauer zu betrachten. Während ich noch immer von dieser geballten Schönheit überwältigt bin, hat sich mein Begleiter längst um den Zimmerschlüssel gekümmert und schiebt mich plötzlich Richtung Aufzug.

»Wo sind unsere Sachen?«, will ich wissen, als wir nach wenigen Augenblicken den Fahrstuhl ohne Portier betreten. Ich bin so aufgeregt, dass nicht mal meine Höhenangst die unbändige Vorfreude in mir brechen kann.

»Die werden auf unser Zimmer gebracht. Die Angestellten des Hotels haben einen separaten Aufzug.« Meine Antwort besteht nur aus einem Nicken und einem »Ah«, da ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Es wäre auch kein Problem gewesen, mein Gepäck selbst zu tragen, aber das hätte den freundlichen, alten Mann wahrscheinlich beleidigt.

Schon nach kurzer Zeit ertönt eine elektronische Frauenstimme, die uns darauf hinweist, dass wir im zweiten Stock angekommen sind. Dann gleiten die Fahrstuhltüren in einer fließenden Bewegung zur Seite, und ein ebenfalls luxuriös eingerichteter Flur kommt zum Vorschein. Auch hier reihen sich dutzende Bilder an den Wänden aneinander, die meisten davon zeigen Landschaften oder Gestecke aus Blumen. Alex bietet mir den Vortritt an, weshalb ich lächelnd an ihm vorbeischreite und schon von Weitem den Portier erkenne, der vor einer Tür am Ende des Ganges auf uns wartet. In der einen Hand hält er den kleinen Trolley, in der anderen meinen Rucksack.

»Danke«, sagt Alex trocken und drückt ihm einen Zwanzigeuroschein in die Hand, als wir schließlich bei ihm ankommen. Der bereits ergraute Mann in Uniform nickt und wünscht uns einen angenehmen Aufenthalt, ehe er sich diskret von dannen macht. Die Augen meines Lehrers sind nun wieder ganz auf mich gerichtet.

»Bereit?«

Oh ja. Und wie ich bereit bin.

25| Das Ir(r)land der Erkenntnisse

 

25.

Die Stadt ist voller Leben. Und ich liebe es. Ganz anders als in dem Kaff, welches sich von nun an mein Zuhause schimpfen darf. Dort herrscht bestimmt schon gähnende Leere, wohingegen sich die Straßen hier mit immer mehr Menschen füllen, je später der Abend wird. Es ist ein wundervolles Gefühl, so unbeschwert mit Alex an den unzähligen Geschäften und Kneipen vorbeizuschlendern. Einfach seine Hand nehmen zu können, ohne Angst haben zu müssen, von einem bekannten Gesicht erwischt zu werden. Ich habe es sogar geschafft, meinen Kopf insoweit auszuschalten, als dass darin nur noch Platz für ihn allein ist. Und für diesen wunderschönen Tag, der hoffentlich nie zu Ende geht.

Inzwischen sind wir auf dem Weg zur Reeperbahn, nachdem ich meinen Begleiter zu einem Schaufensterbummel überreden konnte, und wir danach bei meinem Lieblingsitaliener an der Ecke eine Pizza verdrückt haben. Wie sehr ich die Nummer 47 doch vermisst habe - mit Tomaten, Mozzarella und reichlich Rucola.

Eduardo, der Inhaber und Chefkoch des Ladens, ist mir zur Begrüßung um den Hals gefallen und hat mein ganzes Gesicht mit Küssen übersäht. An seiner scherzhaften Bemerkung, dass seit meiner Abwesenheit die Einnahmen im Keller seien, ist vermutlich mehr Wahrheit dran, als er je zugeben würde. Ich gehörte sozusagen zum Inventar, mein Umzug müsste theoretisch einen immensen Verlust für ihn darstellen. Aber es ist schön zu sehen, dass er sich noch immer über Wasser halten kann.

Je näher wir der berühmten Rotlichtmeile kommen, desto mehr feierwütige Schnapsleichen torkeln uns entgegen. Dabei ist es erst halb neun. Es dauert nicht lange, bis wir von einer riesigen Menschenmenge aus betrunkenen Touristen und freizügigen Prostituierten umzingelt sind. Nach und nach wird die angenehme Abendluft immer hitziger, der Gestank nach Alkohol, Schweiß und billigen Parfüm beißt in meiner Nase. Überall, egal wo ich hinschaue, werde ich von blinkenden Werbetafeln geblendet, die versuchen, sich gegenseitig mit noch billigeren Angeboten zu übertrumpfen. Ich weiß nicht, in wie vielen verschiedenen Variationen ich das Wort »Sexy« erspähen kann.

Als ich irgendwann von einem besoffenen Idioten angerempelt werde, nimmt Alexander schließlich meine Hand und zieht mich weiter durchs Gedränge hinter sich her. Anscheinend weiß er ganz genau, wo er hinwill, denn sein Blick stiert zielstrebig geradeaus, während auch seine Schritte sehr sicher wirken.

»Wohin gehen wir?«, rufe ich ihm über das Getümmel hinweg zu, doch seine Antwort besteht lediglich aus einem frechen Grinsen. Ich hoffe, dass dieser Gesichtsausdruck nicht genau das zu bedeuten hat, wonach er aussieht. Ich meine, wenn ich mir die zahlreichen Striplokale so ansehe, die sich zu unseren beiden Seiten aneinanderreihen, bin ich mir plötzlich ziemlich unsicher, was Alex eigentlich mit mir vorhat.

Ich atme jedoch erleichtert auf, als wir die bunten Leuchtreklamen hinter uns lassen und in eine Straße einbiegen, in der man vorwiegend auf Kneipen trifft. Schließlich kommen wir vor einem Lokal zum Stehen, welches mir einst so vertraut wie meine eigene Hosentasche gewesen ist. »Good old Ferris« wird aus roten Neonröhren über der zerschlissenen Eingangstür angezeigt, eine Art Irish Pub, in dem ich schon viele schöne Stunden verbracht habe. An die meisten kann ich mich nur leider nicht mehr erinnern.

Entgeistert schaue ich zu Alexander hoch, der seinen Blick ebenfalls auf mich heftet und schon wieder dieses schelmische Grinsen aufgesetzt hat. Seine perfekten Wangenknochen stechen im dumpfen Licht der Neonröhre besonders hervor.

»Es ist kein Zufall, dass wir hier sind, oder?«

Daraufhin beugt er sich zu mir hinunter, bis sein heißer Atem mein Ohr kaum merklich streift. Mit vorsichtigen Handgriffen bündelt er mein offenes Haar und schiebt es etwas beiseite, sodass sich nun mein nackter Hals vor seinen Lippen erstreckt.

»Es gibt keine Zufälle, Darling«, haucht er gefährlich nah an meiner Haut, wodurch sich meine Nackenhärchen augenblicklich aufstellen. »Und jetzt komm.« Nach einem zarten Kuss auf mein Ohrläppchen, was schon völlig ausreicht, um das begierige Feuer in mir zu entfachen, entfernt er sich einen Schritt von mir und nimmt mich wieder an die Hand.

Schon sobald Alex die Tür zum Ferris aufschwingt, peitscht mir ein Schwall stickige Luft entgegen, ein Gemisch aus Zigarettenrauch, Whiskey und altem Holz. Obwohl es kein Geruch ist, den ich als angenehm bezeichnen würde, inhaliere ich einen tiefen Zug davon. Einfach, weil er so viele Erinnerungen in mir weckt. Es wundert mich nicht, dass der Laden gerammelt voll ist, denn schon früher mussten meine Freunde und ich zeitig da sein, um noch einen Tisch zu erhalten. Bevor ich allerdings gänzlich eintrete, bleibe ich stattdessen kurz stehen und lasse meinen Blick durch die urige Kneipe wandern, was mein Herz bis zum Anschlag wummern lässt. Es hat sich nichts verändert. Fast muss ich schon wieder heulen.

Genau genommen besteht das Ferris aus einem kleinen Raum, in dem sich lediglich ein paar Tische, Stühle und eine Bar befinden. Immerhin verfügt es über eine schmale Bühne, auf der gelegentlich Livemusik gespielt wird. Sowohl das Mobiliar, als auch die Theke und der Fußboden sind mit dunklem Holz verkleidet, was eine unheimlich gemütliche Atmosphäre erzeugt. Die Wände sind übersäht mit Ramsch aller Art, ein wahrer Traum für jeden Flohmarktliebhaber. Von einer Fischstatue aus Blech, bis hin zu den unterschiedlichsten Schifffahrtsutensilien ist alles dabei. Der Großteil davon besteht jedoch aus uralten, gerahmten Fotos, auf denen zum Teil der Eigentümer Ferris Walsh zu sehen ist.

Die längliche Kreidetafel über der Bar zeigt neben sämtlichen Getränkeangeboten an, dass heute ein Karaoke-Abend stattfindet. Mit gerunzelter Stirn schaue ich zu Alexander hoch, der noch immer neben mir im Eingangsbereich verweilt und sich ebenfalls in der Kneipe umsieht. Sein strenger Adlerblick erweckt den Anschein, als würde er nach jemandem Ausschau halten.

»Karaoke? Ernsthaft?«, bringe ich hervor und schürze die Lippen, doch Alex ist nach wie vor in die Menschenmenge vor uns vertieft. Mit einem Mal scheint er völlig abwesend zu sein, zumindest gedanklich. Überraschenderweise geht er trotzdem auf meine Bemerkung ein. »Ja, wieso nicht?«

Ich zucke mit den Achseln und folge seinen Augen, kann aber nichts Aufsehenerregendes erkennen. »Naja, ich hätte nicht gedacht, dass du dir ausgerechnet eine Veranstaltung aussuchst, auf der betrunkene Leute zu schrecklicher Musik ins Mikro grölen.«

»Darling, es gibt viele Dinge, die du nicht über mich denken würdest«, entgegnet er dann und schiebt mich schließlich zur Theke, ohne seine Worte genauer auszuführen. Was auch immer diese Dinge sein sollten, ich werde ihn bei passender Gelegenheit nochmal darauf ansprechen. Die geheimnisvolle Aura, die ihn plötzlich umgibt, macht mir irgendwie Angst.

Nachdem wir uns durch eine Runde aus dicken, bärtigen Männern gedrängelt haben, die mit ihrer präsenten Erscheinung den halben Barbereich versperren, lasse ich mich auf einem der abgenutzten Hocker nieder. Es ist der einzige freie Platz, den ich auf Anhieb ausmachen kann, weshalb sich Alexander gegen den rotlackierten Thekentisch lehnt. Mit einer Handbewegung ruft er die Wirtin heran, die sich gerade mit einer anderen Frau unterhält und nebenbei Biergläser poliert. Zwischen ihren blassen Lippen hängt eine selbstgedrehte Fluppe, was mich bei den starken Nichtrauchergesetzen schon etwas wundert.

»N'abend Hübscher«, ruft sie Alex zu und beugt sich ihm entgegen, für meinen Geschmack einen Hauch zu lasziv. »Was darf's denn sein?«

Anstatt unsere Bestellung durchzugeben - wobei er mich nicht mal gefragt hat, was ich trinken möchte -, lehnt er sich so weit nach vorn, dass er der Wirtin etwas ins Ohr flüstern kann. Bis auf ihr aufgesetztes Kichern, verstehe ich jedoch kein Wort von dem, was die beiden miteinander austauschen. Als Alex schließlich wieder von ihr ablässt, nimmt er abermals meine Hand und bedeutet mit mir einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Erneut müssen wir uns den Weg durch die Masse an Gästen erkämpfen, doch bereits nach kürzester Zeit erreichen wir einen freien Tisch mit vier Stühlen, auf dem ein Schild mit der Aufschrift »Reserviert« platziert wurde.

»Ist der etwa für uns?«, frage ich sichtlich überrascht, obwohl es eigentlich offensichtlich ist. Alexander nickt und macht eine einladende Geste, damit ich mich setze. Dann nimmt er neben mir Platz.

»Du siehst misstrauisch aus.« Es ist eine Feststellung, keine Frage.

Nervös streife ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ehe ich antworte. »Das bin ich ehrlich gesagt auch. Ich meine, erst entführst du mich in meine Heimatstadt, wofür ich dir übrigens mehr als dankbar bin, und dann suchst du dir ausgerechnet das Ferris aus. Der Laden, in dem ich meine halbe Jugend verbracht habe. Das ist schon irgendwie ... gruselig.«

»Freust du dich etwa nicht?«, hakt er wie aus der Pistole geschossen nach, wobei seine Miene leichte Züge von Enttäuschung aufweist. Um ihn zu beschwichtigen, greife ich blitzschnell seine Hand und ziehe sie in meinen Schoß.

»Alex, natürlich freue ich mich. Das hier ist so ziemlich das Aufmerksamste, das irgendwer jemals für mich getan hat. Wie gesagt, ich weiß nicht, wie ich das alles wieder gut machen kann. Ich-«

»Du hast rein gar nichts wieder gut zu machen, Ella«, unterbricht er mich plötzlich. »Glaub' mir, ich mache nichts, was ich nicht auch machen möchte. Und jetzt warte einen Moment, ich hole uns was zu trinken.« Und schon ist er aufgesprungen und hinter einem Pulk aus jungen Frauen und Männern verschwunden.

Seufzend lasse ich meinen Kopf in die abgestützten Arme fallen und denke unweigerlich über den wundervollen Tag nach, den wir bisher verbracht haben. Bis jetzt ist die Zeit mit Alexander ein einziger Traum gewesen, viel zu schön, um wahr zu sein. Und noch immer fühlt es sich merkwürdig an, als würde ich mich selbst im Fernseher betrachten, anstatt es live mitzuerleben. Doch es ist real, das weiß ich. Das kribbelnde Ziehen in meiner Magengegend und mein rasender Herzschlag können keinesfall nur ein Traum sein.

Urplötzlich werden meine vor Harmonie triefenden Gedanken von zwei Händen unterbrochen, die sich wie aus dem Nichts von hinten auf meine Augen legen. Der Schreck sitzt so tief, dass ich sogar leise aufschreien muss. Wie ich es doch hasse.

»Alex, jetzt lass den Scheiß«, lache ich gespielt, doch als ich die Finger in meinem Gesicht genauer abtaste, wird mir bewusst, dass es nicht die meines Lehrers sind. Panisch entreiße ich mich der fremden Person und drehe mich blitzschnell in ihre Richtung um. Und dann bleibt mein Herz für einen Atemzug stehen.

Es ist mein bester Freund Valentin, der da plötzlich vor mir steht und mich breit anlächelt. Fassungslos starre ich in das vertraute Grün seiner Augen, unfähig, in irgendeiner Art und Weise auf seine Anwesenheit zu reagieren. Alexander taucht neben ihm auf, mit drei Bierflaschen in den Händen und einem ebenso breiten Lächeln.

»Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich noch jemanden eingeladen habe«, bemerkt er amüsiert und gleitet in einer eleganten Bewegung auf seinen Stuhl, ehe er die Getränke auf dem Tisch abstellt. Seine Worte lassen mich schlussendlich aus meiner Schockstarre erwachen, sodass ich wie von einer Tarantel gestochen aufspringe und Valentin um den Hals falle.

»Oh mein Gott, du bist wirklich hier!« Gänzlich überfordert mit der Situation, nuschele ich ihm undeutliche Phrasen ins Ohr, die mehr oder weniger ausdrücken sollen, wie sehr er mir gefehlt hat. Er tut es mir gleich, und mit jeder weiteren Sehnsuchtsbekundung steigen mir mehr Freudentränen in die Augen.

 

****

 

Nach einer vergangenen Stunde kann ich es noch immer nicht realisieren, dass ich mit meinem besten Freund und meinem Lehrer an einem Tisch sitze und gemütlich ein Guinness schlürfe, das wohl bekannteste Bier aus Irland. Ich habe zwar noch nicht rausgefunden, wie Alex es geschafft hat, Valentin Bescheid zu geben und hierher zu lotsen, aber für diese Aktion liebe ich ihn wirklich. Wie wir in Wahrheit zueinanderstehen, habe ich meinem besten Freund jedoch verschwiegen und Alexander stattdessen als den Schulkollegen vorgestellt, von dem ich ihm am Telefon erzählt habe. Bisher hat er auch keinerlei Verdacht geschöpft, die Stimmung ist ausgelassen und harmonisch.

Die Aufmerksamkeit der Unterhaltung lag definitiv bei Valentin und mir, indem wir ununterbrochen darüber getrascht haben, was in der letzten Zeit in unser beider Leben passiert ist. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich mich so gut wie nie bei ihm gemeldet habe, was mir augenblicklich ungeheuer leidtat. Im Gegensatz zu ihm, konnte ich leider nicht ganz so viel von meinem neuen Leben erzählen, da ich das Meiste davon für mich behalten muss. Also habe ich mich stattdessen auf den Besuch meiner Tante, Kat und die Prüfungen der Schule beschränkt.

Es ist so ein wunderbares Gefühl, endlich mal wieder mit meinem engsten Vertrauten zu quatschen und ein Bier zu trinken, wie wir es früher ständig getan haben. Nichts hat sich zwischen uns geändert, und ich bin mir sicher, dass es auch niemals dazu kommen wird.

Mittlerweile ist der Karaoke-Abend im vollen Gange. Doch bisher konnte mich eigentlich niemand mit seinem Gesangs- und Performancetalent überzeugen. Trotzdem macht es Spaß, die streckenweise stark alkoholisierten Menschen dabei zu beobachten, wie sie sich bis auf die Knochen blamieren. Zum Glück haben wir einen Tisch erhalten, von dem man die Bühne gut im Überblick hat. Und auch das inzwischen vierte Bier steigert meine gute Laune zusehends. Was mir allerdings am besten gefällt, ist Alexanders Hand, mit der er heimlich unterm Tisch mein Bein streichelt.

»Wie sieht's aus, Ella? Hast du auch Lust?«, will Valentin irgendwann wissen und deutet mit dem Daumen zur Bühne, auf der sich gerade zwei junge Frauen an einem Song von Tina Turner versuchen. Eigentlich sind die beiden gar nicht so schlecht. Ich schüttele jedoch vehement den Kopf und muss mir ein lautstarkes Auflachen verkneifen.

»Vergiss es. Keine zehn Pferde würden mich da hochbekommen.«

Die Gäste des Pubs würden wahrscheinlich schreiend davonlaufen, wenn ich auch nur einen Ton hervorbringe. An sich singe ich zwar gern zu meinen Lieblingsliedern mit, allerdings beschränke ich mein nicht vorhandenes Talent dann doch eher auf die Dusche oder Momente, in denen ich allein bin.

Der Auftritt der zwei Brünetten neigt sich dem Ende zu, woraufhin das Publikum johlend zu applaudieren beginnt. Auch ein paar Pfiffe und sexistische Zurufe sind zu hören. Dann betritt erneut der junge, recht attraktive Kellner die Bühne, dem die Aufgabe übertragen wurde, den Abend zu moderieren und die nächsten Laiensänger anzusagen.

»Na, das war doch mal simply the best. Einen Applaus für Melanie und Denise!«, grölt er ins Mikro und löst damit eine weitere Welle des Jubels aus. Bei diesem stumpfen Wortwitz verdrehe ich jedoch nur die Augen. »Und nun, meine lieben Hamburger und Hamburgerinnen, folgt ein Nachwuchsstar, der zum ersten Mal in unserem kleinen Wohnzimmer auftritt. Also seid bitte gnädig mit ihm und heißt ihn mit mir zusammen herzlich willkommen: Alexander!«

Ich kann meinen Augen einfach nicht trauen, als sich plötzlich mein Alexander erhebt und mir ein süffisantes Grinsen zuwirft, bevor er schnurstracks in der klatschenden Menschenmenge verschwindet. Moment mal, was passiert hier gerade? Verwirrt schaue ich zu Valentin, der meine gekrauste Stirn mit einem Achselzucken erwidert.

»Anscheinend ist dein Freund nicht so ein Angsthase wie du«, bemerkt er dann und erntet sich prompt einen Schlag auf den Oberarm.

Unvermittelt lasse ich meinen Blick wieder zur Bühne schnellen, auf der sich nun Alex befindet und sich vor dem Mikrofonständer positioniert. Der Applaus ebbt langsam ab und kurz darauf ertönen die Klänge eines Liedes, welches mir sofort bekannt ist. Es ist »Galway Girl« von Ed Sheeran, ein Song, den ich aus dem Radio kenne und eigentlich gar nicht leiden kann. Musik aus den Charts gehört selten zu meinen Vorlieben, doch sobald Alexanders Stimme an mein Ohr dringt, bin ich hin und weg.

Er singt wirklich hinreißend. Ich würde zwar nicht von einem Talent sprechen, aber er ist wesentlich besser, als ich es jemals erwartet habe. Wobei, was habe ich denn überhaupt erwartet? Das, was sich da gerade direkt vor meinen Augen abspielt auf jeden Fall nicht.

Seine angenehme, rauchige Stimme harmoniert perfekt zu dem Beat des Liedes, der ebenfalls nicht besser in diesen Laden passen könnte. Schließlich erinnern die heiteren Geigentöne an traditionelle, irische Volksmusik. Der Takt ist ziemlich schnell gehalten, weshalb sich die gesungenen Strophen vielmehr wie ein Rap anhören, doch Alex hat offenbar keinerlei Probleme, dem zügigen Tempo gerecht zu werden.

Ich kann meine Augen nicht mal für eine Sekunde von ihm lassen. Wie er dort vor mir steht, so lässig und gleichermaßen sexy, und sich im Einklang der Melodie bewegt. Mit einem Mal wird mir so richtig bewusst, wie unfassbar gut er eigentlich aussieht. Vor allem heute. Sein Oberkörper wird von einem schwarzen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln umschmeichelt, wohingegen seine langen Beine in einer enganliegenden Blue Jeans stecken. Die dunkelgrauen Hosenträger, die stramm über seine Schultern verlaufen, runden das Bild perfekt ab. Am liebsten würde ich mich mit ihm im Hotelzimmer verbarrikadieren und mich unendliche Male in ihm verlieren.

Ich spüre die heiße Röte auf meinen Wangen, als Alex mich plötzlich mit seinen Augen fixiert und zum Refrain übergeht. Und mit der nächsten Textzeile wird mein gesamter Körper von einem heftigen Schauer erobert.

»... but she fell in love with an English man ...«

Es ist viel zu offensichtlich, als dass ich den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstehen würde. Natürlich. Alexander ist zwar kein Engländer im staatlichen Sinn, aber immerhin mein Englischlehrer, also quasi auch ein English man. Mein Kopf ist plötzlich leergefegt. Er meint mich. Er singt dieses Lied für mich, während seine Blicke, die nichts anderes als Glück ausstrahlen, nur auf mir liegen. Selten war ich einem Herzinfarkt derart nahe.

Tatsächlich gelingt es ihm, den Schuppen nach und nach immer mehr aufzuheizen. Der Bereich unmittelbar vor der Bühne wurde inzwischen zu einer Tanzfläche umfunktioniert, auf der eine Hand voll Leute ihre Hüften schwingen lassen und Alexander pausenlos bejubeln. Insbesondere die drei Frauen der Runde überhäufen ihn mit anschmachtenden Blicken und werfen ihm immer wieder Handküsse zu. Angewidert beobachte ich das Szenario, merke dann jedoch, dass er ihnen überhaupt keine Beachtung schenkt. Nicht einen Moment seiner beeindruckenden Performance lässt er mich aus den Augen, bis ich irgendwann unbemerkt in eine Art Trance abdrifte.

Die feiernden Gäste verschwimmen, so wie auch alles andere um mich herum. Es ist, als wäre ich plötzlich ganz allein mit ihm, als wären wir die einzigen Menschen auf der gesamten Scheißwelt. Ich spüre die Wärme, die von meinem Herzen ausgeht und sich bis in meinen kleinen Zeh ausbreitet. Das Ziehen in meiner Bauchgegend, das mir das Gefühl gibt, mich gleich übergeben zu müssen. Der rasende Puls, der mich daran erinnert, dass ich noch am Leben bin. Das, was ich zuvor für Alexander empfunden habe, wird auf einmal verzehnfacht.

Und dann wird mir unweigerlich klar, dass ich mich ganz und gar, mit Leib und Seele in diesen Mann verliebt habe. I fell in love with an English man.

Fuck.

 

26| Alter Ego

 

26.

Bevor ich Ella kannte, war mir nicht bewusst, dass eine Frau sogar dann wunderschön sein kann, wenn sie einen Döner isst. Allein die Art und Weise, wie sie diese riesige, gefüllte Brottasche in ihren kleinen Händen hält, hat etwas unfassbar Reizendes an sich. Wie sie beherzt zubeißt, ohne jegliches Schamgefühl. Nicht, dass sie sich überhaupt für irgendetwas schämen müsste, aber die Frauen, die ich bisher gedatet habe, waren diesbezüglich anders. Wenn ich mit ihnen essen ging, hatte ich oft das Gefühl, dass sie sich selbst mit einem Salat und Wasser unwohl fühlten. Ich meine, was ist das für ein Schwachsinn? Als ob es mir nicht völlig klar ist, dass Frauen essen müssen und sich nicht nur von Grünzeug ernähren. Und sie kacken auch keine Rosenblätter. Ich habe noch nie verstanden, wie man sich über derart natürliche Vorgänge echauffieren kann. Immerhin kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als mit Ella an der Elbe zu sitzen und einen Döner zu vertilgen. Dass ihr dabei etwas von der Joghurtsoße am Kinn klebt, finde ich irgendwie süß.

Wir essen schweigend. Die Ruhe ist jedoch alles andere als unangenehm. Sie wird allein durch das schwarze Wasser unterbrochen, das in regelmäßigen Abständen gegen die Felsenwand peitscht. Obwohl nicht mal ein laues Lüftchen weht, ist der Wellengang recht unruhig. Ella und ich haben uns auf den Boden gesetzt, sodass wir unsere Beine am minimalen Abgrund des Hafens herunterbaumeln lassen können. Unter uns die reißende Elbe, der Ausblick könnte nicht atemberaubender sein. Die hell erleuchteten Gebäude auf der anderen Flussseite stechen förmlich in der Dunkelheit hervor, spiegeln sich im Wasser und werden dadurch merkwürdig verzerrt. Neben mir dieses wunderschöne Mädchen, in dessen eisblauen Augen das Mondlicht reflektiert wird. Ich weiß nicht, welcher Anblick mich mehr fesselt - ihr perfektes Antlitz oder der Hafen bei Nacht.

Eigentlich müsste ich vollkommen relaxed sein, doch trotzdem stört mich etwas an der jetzigen Situation. Mir ist schon an der Imbissbude aufgefallen, dass Ella irgendwie in sich gekehrt wirkt, seitdem wir den Pub verlassen haben. Sie redet kaum, reagiert wenn überhaupt nur auf meine Bemerkungen. Und auch die gehen mir langsam aus. Ich frage mich, ob es etwas mit meinem Auftritt im Ferris zu tun hat, ob er ihr womöglich genauso peinlich war wie mir. Gott, zum Glück kann ich das alles auf den Alkohol schieben. Wenn ich allerdings an das Lächeln denke, das sie während des gesamten Songs auf den Lippen hatte, dann war er es die Blamage wohl wert. Sie schien wenigstens etwas glücklich und genau das wollte ich erreichen. Immerhin habe ich einiges wieder gut zu machen.

»Was ist los mit dir? Du bist auf einmal so still«, platzt es irgendwann aus mir heraus, da mir Ellas Verhalten so oder so den letzten Nerv rauben würde. Gerade will sie von ihrem Falafel-Döner abbeißen, hält dann aber bei meiner Frage inne und schaut mich mit großen Kulleraugen an. Sie seufzt, bevor sie ihr Essen neben sich auf der weißen Plastiktüte ablegt.

»Sorry, es ist nur ...«, beginnt sie, stoppt jedoch mitten im Satz und macht kurz den Anschein, als müsse sie zuerst ihre Gedanken sortieren. »Ich ... ich habe gerade an Dad gedacht. Früher waren wir oft hier und haben der Sonne beim Auf-oder Untergehen zugesehen. Ich wünschte, ich könnte jetzt mit ihm hier sein. Er fehlt mir, weißt du.« Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüsterton, zudem voller Nostalgie und so voller Leid. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, sie überhaupt darauf angesprochen zu haben.

Mir ist von Anfang an klar gewesen, dass ein Besuch ihrer alten Heimat irgendwelche Gefühle in ihr auslösen wird. Dass sie vielleicht sogar weinen wird, und ich sie stundenlang trösten muss. Doch trotz aller mentalen Vorbereitungen, treffen mich ihre Worte wie ein Schlag in die Magengrube. Der Schmerz, der ihr so offensichtlich im Gesicht geschrieben steht, ist schlichtweg unerträglich, auch für mich. Er erinnert mich an meinen eigenen.

»Darling, es ... es tut mir so leid. Ich will nicht, dass du traurig bist. Nicht heute«, presse ich atemlos hervor, während ich darüber nachdenke, was ich sonst sagen soll. Plötzlich kommt mir meine Idee mit dem Ausflug mehr als idiotisch vor, wo ich Ella doch eigentlich ablenken und glücklich machen wollte. Und was habe ich damit erreicht? Das komplette Gegenteil. Vermutlich hätte ich wissen müssen, dass ihre Erinnerungen sie erschlagen werden. Ich hätte wissen müssen, dass sie auf emotionaler Ebene nicht stark genug ist. Noch nicht. Aber vor allem hätte ich wissen müssen, dass ich noch nicht bereit dafür bin, meinem Alter Ego gegenüberzutreten.

Als ich schließlich den Beweis meiner Theorie über ihre Wange kullern sehe, wickele ich den Rest meines Döners in die Alufolie und lege ihn beiseite. Dann rutsche ich etwas näher an Isabelle heran und lege vorsichtig meinen Arm um ihre Schulter, an die sie sich unmittelbar anlehnt.

»Vielleicht war es eine blöde Idee, mit dir nach Hamburg zu fahren. Es tut mir leid«, flüstere ich ganz nah an ihrem Ohr. Ruckartig entreißt sie sich meiner Umarmung und starrt mir mit gerunzelter Stirn direkt in die Augen, den Mund leicht geöffnet. Sie ist sichtlich angespannt, beinahe nervös, und trotzdem weist ihr Blick wehmütige Züge auf. Der ständige Wandel ihrer Mimik ist einfach faszinierend.

»Was? So war das gar nicht gemeint. Es war eine fantastische Idee und ich könnte mir keine bessere Begleitung vorstellen. Wirklich«, murmelt sie zaghaft, was sich in etwa so anhört, als hätte sie zu viel geraucht. Mein Herz zieht sich krampfartig zusammen, als sie daraufhin ihren Körper an meinen drückt und ihren Kopf auf meiner Schulter ablegt. Ihre eine Hand wandert an meiner Brust entlang, über meinen Bauch, bis sie auf meinem Oberschenkel liegenbleibt. Ihr Atem geht schwer und streift in unregelmäßigen Zügen meine erhitzte Wange. Ich spüre, dass ein heftiges Zittern von ihr ausgeht, weshalb ich mich so elegant wie möglich aus meinem Jackett schäle und es ihr um die nackten Arme lege. Ella wirkt überrascht, ehe sie zu mir hochschaut und im nächsten Moment ihre Lippen gegen meinen Bart presst.

»Außerdem habe ich dir schon mal gesagt, dass du aufhören sollst, dich andauernd zu entschuldigen. Dir muss nicht alles leidtun, nicht mal im Ansatz«, säuselt sie an meiner Haut und jagt damit einen Schauer über meinen ganzen Körper. Wir sind uns so nahe, dass ich mich hart zusammenreißen muss, um nicht in aller Öffentlichkeit über sie herzufallen. Wo die Stimmung eben noch von Trauer und Schmerz erfüllt wurde, hat sich nun wieder dieses aufregende Knistern gelegt. Schnell wende ich mich ein paar Zentimeter von ihr ab und fixiere stattdessen das Wasser, das sich vor uns in unendlichen Weiten erstreckt. Nur, um sicher zu gehen. Ein paar Möwen kreisen über unseren Köpfen und durchbrechen die Stille des Hafens mit ihrem ohrenbetäubenden Geschrei. Verfluchte Scheiße, sie lachen mich aus.

Eine ganze Weile beobachten wir die Wellen, die zu unseren Füßen gegen die Steine preschen, sagen dabei aber kein Wort. Derweil versuche ich mit aller Kraft, den bisherigen Abend zu rekonstruieren, um festzustellen, ab wann und warum die gute Stimmung so gekippt ist. Doch ich komme einfach nicht darauf. Mal wieder habe ich keine fucking Ahnung, was ich falsch gemacht habe. Ella hat die Kneipe mit einem Lächeln im Gesicht verlassen, aber je näher wir der Dönerbude kamen, desto weniger strahlend wurde es. Dazwischen ist nichts Erwähnenswertes passiert, also was ist ihr Problem? Klar, es liegt zum Teil an ihrem Vater, aber ich werde den Gedanken nicht los, dass noch etwas anderes dahintersteckt.

»Kann ich dich was fragen?«, höre ich sie plötzlich flüstern, was mich blitzartig zusammenzucken lässt. Augenblicklich beginnt mein Rumpf zu kribbeln, dann nicke ich.

»Natürlich. Alles.« Was für eine erbärmliche Lüge. Es gibt so viele Dinge, die sie mich lieber nicht fragen sollte. Zumindest dann nicht, wenn sie eine ehrliche Antwort von mir erwartet.

»Warum bist du damals nicht zum Unterricht gekommen?«

Treffer.

»Was meinst du?«, hake ich dennoch nach, obwohl ich ganz genau weiß, von welchem Tag sie spricht. Als könnte ich den Moment je vergessen, in dem sie mir von ihrem toten Vater erzählt hat. Den Moment, in dem ich realisiert habe, dass wir zusammengehören.

»An dem Tag, an dem mir das mit Dad rausgerutscht ist und wir uns das erste Mal im Baker's getroffen haben. Du bist nicht zum Unterricht erschienen, obwohl es dir morgens und abends gut ging. Wieso?«

Ich bin froh, dass ihr Kopf noch immer auf meiner Schulter ruht und ich sie nicht ansehen muss. Ich will sie nicht anlügen, ich hasse es. Wiederum kann ich auch nicht ehrlich sein, weil ich ihr dann von meinem Leben erzählen müsste. Und allein der Gedanke daran schnürt mir die Kehle zu.

Im Endeffekt entscheide ich mich dann doch für die Wahrheit. Naja, zumindest so halb.

»Das kann und will ich dir nicht sagen.«

Mit einem Mal ist Ellas Körper unter Strom gestellt. Ich spüre es durch unsere aneinandergepresste Kleidung hindurch. Kurz hebt sie den Kopf und beäugt mich misstrauisch, lässt ihn dann jedoch wieder auf meine Schulter sinken. Ein bestimmtes »Okay« ist alles, was ich zu hören bekomme. Keine Nachfragen, keine Überredungsversuche, keine Erpressungen. Im Gegenteil - sie respektiert meine Diskretion. Ich bin derart überrascht, dass ich mich ein weiteres Mal frage, wo diese Frau verdammt nochmal ihren Haken hat. Ob sie überhaupt einen hat. Aber einen Haken hat doch eigentlich jeder, oder?

Nach weiteren Minuten des gegenseitigen Anschweigens habe ich keine Lust mehr auf diese niedergeschlagene Stimmung. Der Tag hat zu wunderbar begonnen, um ihn nun so trostlos enden zu lassen. Wir sind schließlich nicht hier, um die ganze Nacht Trübsal zu blasen.

»Also, Darling. Was willst du als Nächstes unternehmen?«, frage ich deshalb, woraufhin sie wie auf Knopfdruck gähnt, was uns beide zum Lachen bringt. Gemächlich erhebt sie sich und streckt ihre Arme in die Luft, als wäre sie gerade erst aus dem Tiefschlaf erwacht. Hastig packe ich die Reste unserer Döner in die Plastiktüte, ehe ich ebenfalls aufstehe und Ella an ihrer Taille zu mir heranziehe. Dabei presst sie sich so eng an meine Brust, dass ich meine, ihren rasenden Herzschlag zu spüren. Mit aufgerissenen, funkelnden Augen blickt sie daraufhin zu mir hoch und macht mich damit vollkommen sprachlos. Wie sie mich ansieht, wie sie ihren Körper an den meinen schmiegt ... Alles fühlt sich so gut an.

Obwohl es recht dunkel ist und wir nur von dem schwachen Licht der flackernden Straßenlaterne beleuchtet werden, erkenne ich, dass ihre Augen plötzlich auf meine Lippen geheftet sind. Ihr gieriger Blick legt irgendeinen Schalter in meinem Gehirn um, weshalb ich mich automatisch zu ihr hinunter beuge und sie küsse. Wie ein Magnet, von dem ich unweigerlich angezogen werde.

Auch wenn es nicht das erste Mal ist, so ist es noch immer unglaublich aufregend. Ella schmeckt nach Bier, Koriander und sich selbst, eine komische Mischung, die mich allerdings nicht davon abhält, meine Zunge in ihren Mund gleiten zu lassen. Doch gerade als sie beginnt, mein Verlangen lustvoll zu erwidern, stemmt sie ihre Hände gegen meine Brust und schiebt mich einen Schritt von sich weg. Die aufflammende Enttäuschung meinerseits ist nur von kurzer Dauer, denn Ellas lüsternes Grinsen lässt mich sofort verstehen. 

»Lass uns ins Hotel zurück«, raunt sie schließlich, greift dann nach meiner Hand und zieht mich lachend hinter sich her.

Nichts lieber als das, Darling.

 

****

 

Schon im Fahrstuhl des Fairmont-Hotels können wir nicht die Finger voneinander lassen. Sobald sich die Türen schließen, umschlingt Alex meine Taille und drückt mich mit seinem gesamten Gewicht gegen die verspiegelte Wand. Seine rechte Hand wandert abwärts und bleibt auf meinem Po liegen, wohingegen die Linke nach oben fährt und sich in meinem Haar festkrallt. Ich kann mich kaum rühren, bin seinem starken Griff unterlegen. Seine Zunge dringt immer fordernder in meinen geöffneten Mund ein, umspielt die meine in einem verführerischen Rhythmus. Wir sind eine einzige Symbiose.

Als er sich mit gehauchten Küssen den Weg über mein Kinn bahnt und schließlich an meinem Hals ankommt, werfe ich stöhnend meinen Kopf in den Nacken. Wenn es eine Stelle an meinem Körper gibt, die mich bei Liebkosungen durchdrehen lässt , dann ist es mein Hals. Vorsichtig saugt Alex an meiner prickelnden Haut, nimmt sie zwischen die Zähne und zieht leicht daran. Ich hoffe für ihn, dass daraus keine Knutschflecken entstehen werden, aber selbst wenn: für den Moment ist es eigentlich scheißegal. Das Einzige, auf das ich mich hier und jetzt konzentrieren kann, ist das unbeschreibliche Gefühl, welches er mit seinem forschen Mund in mir auslöst. Wie er über meinen Körper gleitet, so sanft und gleichzeitig so leidenschaftlich. So perfekt.

Ich bin wie in einem Rausch, mir ist heiß und kalt. Bis auf das sehnsüchtige Kribbeln zwischen meinen Beinen, kann ich nichts anderes mehr wahrnehmen. Es ist wie ein Feuerwerk, das in meinem Unterleib entzündet wird. Wie ein gewaltiges Orchester, das mich mit der Melodie meines Herzens beflügelt und mich in andere, viel höhere Sphären katapultiert. Wie eine Sehnsucht, der ich mich fügen muss, um in dieser vor Hass und Angst triefenden Welt zu überleben. In diesem einzigartigen, flüchtigen Augenblick brauche ich ihn mehr als die Luft zum Atmen.

Plötzlich packt Alexander meine Oberschenkel und hebt mich ruckartig hoch, so wie er es bei unserem ersten Mal in seiner Wohnung getan hat. Allerdings nicht, ohne dabei an meiner geschwollenen Unterlippe zu knabbern. Durch seinen festen Griff wird meine Scham gegen seinen steifen Penis gedrückt, der sich deutlich durch den Jeansstoff seiner Hose abzeichnet, und um dieses erregende Gefühl zu intensivieren, schlinge ich meine Arme um seinen Nacken und meine Beine um seine Hüfte. Reibe mich an seiner Männlichkeit, als würde ich gleich hier im Aufzug mit ihm schlafen wollen. Doch dann setzt Alex sich wnkend in Bewegung, aus dem Fahrstuhl heraus und den Gang hinunter zu unserem Zimmer. In dem ganzen Liebestaumel habe gar nicht mitbekommen, dass wir überhaupt schon in unserem Stockwerk angekommen sind.

Nur ganz beiläufig registriere ich die anderen Hotelgäste, die uns im Flur entgegenkommen und uns erschrocken anstarren. Doch auch ihre tadelnden Blicke sind mir egal, denn schließlich werde ich diese Menschen nie wiedersehen. Alexander scheint diesbezüglich ähnlich zu denken, denn anstatt von mir abzulassen, werden seine Küsse nur noch lustvoller. Dabei spüre ich sein Lächeln an meinen Lippen, wodurch auch meine Mundwinkel in die Höhe gleiten. Ich liebe es, wenn er das tut, so nah an meiner Haut.

Vor der Tür unseres Zimmers stellt er mich schlussendlich wieder auf meine Füße und wühlt daraufhin in seiner Hosentasche nach der Schlüsselkarte. Im Gegensatz zu mir wirkt er vollkommen gelassen.

»Ich hoffe, dass die uns wenigstens erst morgen früh rausschmeißen«, bemerkt er amüsiert, bevor er ein silbernes, rechteckiges Stück Plastik hervorzaubert und es durch den Türschlitz zieht. Das rote Lämpchen wechselt auf grün, sodass wir ungedulgig eintreten können.

Mir bleibt keine Gelegenheit, auf Alexanders Kommentar einzugehen, denn als wenige Sekunden später die Tür hinter uns ins Schloss fällt, reißt er mir urplötzlich das Jackett von den Schultern. Völlig unvorbereitet wirbele herum, halte erschrocken den Atem an, während er sich wortlos vor mir aufbaut. 

Nein, er lauert. Wie ein wildes Tier auf seine Beute.

Seine begierig aufblitzenden Augen haben tatsächlich etwas Bedrohliches an sich, doch ich kann mich einfach nicht von ihnen losreißen. Sie ziehen mich voll und ganz in ihren Bann, auf eine magische Art und Weise, die ich nicht erklären kann.

Kaum merklich verringert Alex den Abstand zwischen uns, bis sich unsere Oberkörper ganz leicht berühren. Ich erwarte, dass er etwas sagt, doch seine Lippen sind lediglich zu einer schmalen Linie geformt. Schweigend hebt er die Arme und greift nach dem Saum meines Shirts, das er mir dann behutsam über den Kopf zieht. Und ich spüre förmlich, wie er daraufhin meine nackte Haut mit heißen Blicken bedeckt. Er scheint jeden Millimeter meines Körpers genaustens unter die Lupe zu nehmen, bleibt dann aber auf meinen Brüsten liegen, die nur noch von einem BH aus roter Spitze umhüllt werden.

Sein linker Mundwinkel zuckt unkontrolliert, was bedeutet, dass er es will. Dass er mich will. Es erfüllt mich mit Stolz, zu beobachten, wie er auf meinen Anblick reagiert. Seine Hose ist im Schritt nun weitaus ausgebeulter, seine Muskeln stehen sichtbar unter Spannung und sein Brustkorb hebt und senkt sich in einem viel zu hektischen Tempo. Es ist nichts mehr übrig von der vorherigen Gelassenheit, die er immer genau dann auszustrahlen scheint, wenn meine Nerven bis an den Rand des Wahnsinns reichen.

Ich möchte diesen Triumph weiterhin auskosten, möchte mich weiter in der Erkenntnis aalen, dass der Adonis wirklich auf mich steht. Nur für einen kurzen, kostbaren Moment. Also greife ich instinktiv nach meinem Hosenknopf und öffne ihn mit geschickten Griffen, sodass ich die Jeans von meinen Beinen abstreifen kann. Offenbar zeigt es die erwünschte Wirkung, denn Alex zieht hörbar die Luft ein und mustert mich mit geweiteten Pupillen, als ich schlussendlich in meiner knallroten Spitzenunterwäsche vor ihm stehe. Nervös beißt er sich auf die Unterlippe, was einfach unfassbar sexy aussieht.

Mit einem Mal fühle ich mich wie eine Göttin. Zu wissen, dass ich überhaupt irgendetwas in meinem Lehrer auslöse, ist die pure Macht. Somit ist auch das letzte Fünkchen Zweifel in mir zunichtegemacht worden. Im Schein meines neugewonnenen Selbstbewusstseins, mache ich mich dann an seinen Hemdknöpfen zu schaffen. Alex hält mich nicht davon ab, beobachtet stattdessen jede meiner Bewegungen. Quälend langsam öffne ich einen Knopf nach dem anderen, drücke zwischendurch immer wieder Küsse auf seine nackte Brust, die Stück für Stück freigelegt wird. Jede Faser seines angespannten Körpers bedeutet mir, dass ich mich beeilen soll, aber irgendwie macht es mir Spaß, ihn so zu triezen.

Als ich ihn letztendlich von dem Hemd befreie, bin ich auf einmal diejenige, die kurz innehalten muss, um ihn auffällig zu mustern. Wie kann ein Mensch nur so heiß aussehen? Alles an ihm erweckt den Anschein, als wäre es von Engeln angefertigt worden. Vermutlich von Gott höchstpersönlich. Ich kann nicht anders, als mit meinen Fingerspitzen über die leichten Konturen seiner Bauchmuskeln zu fahren. Sie fühlen sich hart an, aber dennoch so unglaublich weich.

Überall da, wo ich ihn berühre, hinterlasse ich eine Spur aus Gänsehaut. Meine Hand streichelt über die Stelle aus schwarzen Härchen, die beinahe senkrecht unter seinem Bauchnabel verläuft und in seinem Hosenbund endet. Kurz darauf bekomme ich das kühle Metall seiner Gürtelschnalle zu fassen, wodurch meine erhitzten Fingerkuppen zu kribbeln beginnen.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, ziehe ich den Lederriemen aus der Lasche durch die Metallfassung und schaffe es tatsächlich, den Gürtel auf Anhieb zu öffnen. Mit einem selbstsicheren Grinsen schaue ich zu Alex hoch, der seinen eindringlichen Blick noch immer nicht von mir abwenden kann. Sein süßer Mund wird ebenfalls von dem Ansatz eines Lächelns umspielt, während ich so lasziv wie möglich auf die Knie sinke. Schließlich öffne ich seine Jeans und ziehe sie samt Boxershorts bis zu seinen Knöcheln hinunter, wobei mir sein erregter Penis buchstäblich ins Gesicht springt.

Ich weiß nicht, woher dieses enorme Selbstvertrauen kommt, das mich dazu verleitet, ohne zu zögern seinen Schaft zu umfassen und meine Lippen auf seine Eichel zu drücken. Ich höre Alex' Stöhnen und spüre, dass er sich verkrampft. Meine Zunge blitzt hervor und leckt vorsichtig über seine weiche Haut, während meine Hand langsam auf- und abgleitet. Eigentlich habe ich keine Ahnung, was genau ich tun soll, da ich so etwas noch nie gemacht habe, doch mein Körper bewegt sich wie von allein. Es ist eine einzige Genugtuung, ihn derart in die Ekstase zu treiben.

Plötzlich legt Alex seine Hand auf meinen Hinterkopf und übt leichten Druck aus, wodurch sich mein Mund weiter öffnet und ich seinen Penis vollkommen in mich aufnehme. Sein kehliges Stöhnen ist wie eine Melodie in meinen Ohren, von der ich nicht genug bekomme. Ich beginne zu saugen und lasse gleichzeitig meine Zunge um seine Eichel kreisen. Seine Hände krallen sich derweil in meinen Haaren fest und ziehen unsanft daran, weshalb mein Kitzler von einem süßlichen Schmerz durchzuckt wird. Ich beschleunige das Tempo, nehme ihn immer tiefer in mich auf, sauge immer heftiger. Inzwischen ist sein gesamter Körper am Zittern. Was für ein göttlicher Anblick.

Doch nach zwei weiteren Stößen in meinen Mund entzieht er sich mir plötzlich, sodass ich perplex nach Luft schnappe. »Steh auf«, weist er mich mit einem dominanten Tonfall an, packt jedoch im nächsten Moment meine Oberarme und zieht mich schwungvoll auf die Füße. Zusammen taumeln wir ein paar Schritte nach hinten, bis ich mit meinen Kniekehlen an die Kante des Bettes stoße.

»Ich bin jetzt dran«, knurrt er.

27| Die Lust, das Spiel und der Tod

 

27.

Meine Unterwäsche landet tonlos auf dem Boden. Noch immer stehen wir uns gegenüber, schweigsam und nackt. Ich habe erwartet, dass es vielleicht unangenehm wird, mich ihm in meiner völligen Blöße zu präsentieren, doch so ist es nicht. Trotz seiner intensiven Blicke, die über jede Stelle meines Körpers wandern, fühle ich mich wohl. Mehr noch. Alex gibt mir das Gefühl von Sicherheit, von Geborgenheit. Auch, wenn ich in diesem Moment vollkommen schutzlos bin, so weiß ich, dass er mir niemals wehtun würde. Nicht mehr. Es ist schwer zu beschreiben, aber zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Bedürfnis, mich einem Menschen hundertprozentig zu öffnen, mich ihm hinzugeben. Nicht nur im körperlichen, sondern vor allem auch im gedanklichen Sinn. Es gibt nichts, das jetzt zwischen uns steht. Keine Geheimnisse, keine Zweifel, keine Hemmungen - keine Klamotten. Für diesen Augenblick sind es nur er, ich und die Liebe, die mich ganz und gar ausfüllt.

Schließlich macht Alexander einen winzigen Schritt auf mich zu, sodass meine Brüste leicht gegen seinen Oberkörper gedrückt werden. Unter der Wärme seiner weichen Haut richten sich meine Nippel unvermittelt auf. Daraufhin streift er mit dem Zeigefinger meinen Wangenknochen, bevor er an meinem Kiefer hinabgleitet und mit hauchzarten Berührungen über meinen Hals fährt. Ich schließe die Augen, um mich noch stärker auf das Gefühl seiner rauen Hände konzentrieren zu können. Mein Kopf legt sich dabei instinktiv in den Nacken, das Kribbeln in meinem Unterleib wird immer stärker, immer verlangender.

Doch plötzlich gibt Alex mir einen kleinen Schubser, wodurch ich nach Luft schnappend aufs Bett hinter mich falle. Der samtige Stoff des Lakens kitzelt meine erregte Haut, die nun von einem wohligen Schauer überzogen wird.

»Hast du eigentlich die leiseste Ahnung, wie schön du bist?«, raunt er, vielmehr zu sich selbst als zu mir. Und obwohl es eine rhetorische Frage ist, die keinerlei Antwort bedarf, schüttele ich zögerlich den Kopf. Seine Worte treiben mir in Sekundenschnelle eine Schamesröte in die Wangen, dazu dieser gottesgleiche Anblick, von dem ich niemals genug bekommen werde. Wie dieser nackte, unglaubliche heiße Mann vor mir steht und mit diesen eindrucksvollen Augen auf mich hinunter giert, lässt mein Gesicht förmlich aufglühen. Kurz darauf höre ich sein kratziges Lachen und spüre im nächsten Moment seine kräftigen Hände an meinen Hüften, die mich ein Stück nach oben zum Kopfende des Bettes schieben.

»Dann lass es mich dir zeigen, Darling.«

Wie auf Kommando macht Alex einen Schritt nach vorn und kniet sich in einer fließenden Bewegung zwischen meine Beine auf die Matratze. Ich kann gerade mal Luft holen, als er auch schon direkt über mir kauert. Er schafft es jedoch, mich dabei nicht zu berühren, indem er seine Arme neben meinem Kopf abstützt und seine Knie auf der Höhe meiner Taille platziert. Ihn so dicht bei mir zu haben und ihn trotzdem nicht fühlen zu können, bringt mich fast um den Verstand. Wahrscheinlich war auch genau das seine Absicht. Also drücke ich sehnsüchtig meinen Rücken durch, stemme ihm mein Becken entgegen, um mein tiefes Verlangen auf irgendeine Art und Weise zu stillen. Dabei bohrt sich sein harter Penis in meine  Oberschenkel, was Alex ein lustvolles Stöhnen entlockt.

Er vergräbt sein Gesicht an meinem Hals, während er beginnt, sich in einem gemächlichen Rhythmus an meinen Hüften zu reiben. Um nicht von der langsam anschleichenden Ohnmacht erschlagen zu werden, kralle ich mich an seinen breiten Schultern fest, was Alexander ein weiteres kehliges Stöhnen abringt. Jeder seiner Muskeln ist angespannt, wie elektrisiert, genau wie die meinen. Er glüht förmlich unter meinen ohnehin schon erhitzten Fingerkuppen, und ich weiß nicht, wie lange ich dieses reizvolle Spiel noch treiben kann, ohne vollends in Flammen aufzugehen.

Nach einem kurzen aber leidenschaftlichen Kuss auf meinen Mund, lässt Alex seine Lippen schließlich zu meinem Unterkiefer gleiten und folgt einem ähnlichen Muster wie zuvor mit seinem Finger. Es ist unglaublich, dass er mich fast in die Besinnungslosigkeit katapultieren kann, allein indem er mich anfasst. Das ist doch nicht normal, oder? Die einzigen Male, bei denen ich bisher mit einem Jungen intim gewesen bin, sind nicht mal ansatzweise vergleichbar mit dem, was dieser Mann mit meinem Körper in diesem Moment anstellt. Wenn die Welt am nächsten Morgen untergehen würde, könnte ich meine letzten Stunden nicht schöner verbringen.

In meinem Unterleib hat sich inzwischen ein gefährliches Gemisch aus Begierde und Hingabe zusammengebraut, weshalb ich das Gefühl habe, mit den nächsten Atemzügen explodieren zu müssen. Als Alex mit seiner heißen Zunge bei meinen Brüsten angekommen ist, ist das sehnsüchtige Pochen zwischen meinen Beinen kaum noch auszuhalten. Er umspielt sie mit einer leidenschaftlichen Geschicklichkeit, die meiner Kehle die sinnlichsten Töne entlockt. Meine Brustwarzen sind so hart, dass sie unter seinen Liebkosungen zu brennen beginnen. Saugend widmet er sich erst der einen, dann der anderen Brust, während er seine Hände grob über meinen Po und meine Hüften gleiten lässt.

»Du bist so perfekt, ich-«, flüstert er zwischen zwei Küssen auf meine Haut, doch seine letzten Worte werden von einem markerschütternden Keuchen erstickt. Ich weiß, dass ich natürlich nicht perfekt bin, allerdings schmeichelt es mir sehr, dass er offenbar so empfindet. Und dann ist es plötzlich wieder da, dieses unbesiegbare Gefühl der Macht. Ich kann nicht anders, als mich stöhnend unter Alexanders verschwitzten Körper zu winden, der sich noch immer so gnadenlos gegen den meinen presst, als würde sein Leben davon abhängen.

Irgendwann lässt er jedoch von meinen Brüsten ab und führt seinen Weg daraufhin über meinen Bauch fort. Dabei kratzen seine Bartstoppeln über meine Haut, was einen süßlich wohltuenden Schmerz erzeugt, der sich sofort zwischen meinen Beinen bemerkbar macht. Küssend und leckend arbeitet Alex sich immer weiter abwärts, bis er schließlich bei meinen Beckenknochen ankommt. Da mein Bauch stark eingezogen ist, stechen sie etwas hervor, wodurch er vorsichtig daran knabbern kann. Voller Hingabe saugt er die empfindliche Haut zwischen seinen Lippen ein, und instinktiv wird mein Gestöhne noch lauter. Ob mich die Hotelgäste in den Zimmern nebenan hören können, ist mir momentan circa so scheißegal wie die Tatsache, dass unser wildes Treiben ohnehin verboten ist.

Plötzlich spüre ich Alex' Lächeln an meiner Hüfte, was den kurzen gedanklichen Ausflug an mögliche Konsequenzen von jetzt auf gleich in Luft auflöst. Dass Alex nun am Ansatz meiner Scham angelangt ist, hilft dabei, meinen Kopf völlig leerzufegen.

»Ich will dich schmecken«, flüstert er verführerisch, ehe er meine Oberschenkel packt, um meine Beine behutsam auseinanderzuschieben. Ich kann noch nicht wirklich damit umgehen, dass er die Dinge so offensichtlich ausspricht, aber trotzdem hat es einen gewissen Reiz. Also strecke ich ihm vorfreudig mein Becken entgegen, obwohl ich mit einem Mal ziemlich nervös bin. Ich bin noch nie ... geleckt worden und habe keine Ahnung, was mich erwartet. Doch viel Zeit darüber nachzudenken bleibt mir sowieso nicht, da Alex sich ruckartig zwischen mir positioniert und seinen Kopf langsam herabsenkt.

Das Gefühl, wie seine Zunge blitzartig über meine Scham leckt, ist schlichtweg unbeschreiblich. Die Bedenken sind mit einen Mal wie weggeblasen. Es ist wie ein Gefühlsvulkan, der in diesem Moment tief in meinem Inneren ausbricht. Es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe - viel, viel besser.

Ich höre ein weinerliches Wimmern und bin überrascht, als ich merke, dass es meiner Kehle entsprungen ist. Normalerweise sollten mir die merkwürdigen Geräusche, die ich von mir gebe, abgrundtied peinlich sein, aber sie sind es nicht. Es ist mir egal, wie jämmerlich ich mich anhöre, solange Alex nicht damit aufhört, mich mit seinem Mund in den Wahnsinn zu treiben. Und als er sich schließlich meiner Klitoris widmet und sie mit der Zungenspitze penetriert, kann ich das unbändige Verlangen nicht mehr bei mir behalten.

»Bitte, Alex. Schlaf mit mir! Nimm mich, jetzt. Bitte!«, platzt es aus mir heraus, ohne vorher über meine genaue Wortwahl nachdenken zu können. Morgen werde ich mich vermutlich dafür schämen, ihn derart um Sex angebettelt zu haben, aber gerade will ich nichts anderes, als ihn in mir zu spüren. Ein dunkles Lachen dringt an mein Ohr, ehe er einen letzten Kuss auf meine Scham drückt und zu mir hochschaut. Seine Augen sind wild, voller Lust. Meine Nässe schimmert auf seinen geschwollenen Lippen.

»Liebend gern, Darling.«

Ich kann gerade mal Luft holen, als er auch schon aufgestanden ist, um in seinem Koffer neben dem Bett nach etwas zu wühlen. Alex wird recht schnell fündig und kehrt mit einem Kondom in der Hand zu mir zurück. Ehe er sich wieder auf mich legt, öffnet er die rote Folie mit den Zähnen und streift sich das Gummi mit flinken Fingern über seinen harten Penis. Meine Vorfreude steigt mit jedem Atemzug. Vorsichtig drückt er meine Oberschenkel mit seinen Knien noch weiter auseinander, als er eine angenehme Position gefunden zu haben scheint. Dann küsst er mich auf die Lippen, während er ganz, ganz langsam in mich eindringt.

 

****

 

Am nächsten Morgen werde ich von Alexanders Stimme geweckt, die in gedämpfter Form an mein Ohr dringt. Ich bin viel zu müde, als dass ich lange geschlafen haben könnte. Auf grelles Sonnenlicht eingestellt, öffne ich erst das eine und dann das andere Auge, werde jedoch im nächsten Moment positiv überrascht. Es ist noch recht dunkel, die Dämmerung hat gerade mal eingesetzt.

Nur sehr langsam kann ich mich aufrichten, ohne von einem Schwindelanfall überrollt zu werden. Mein Schädel dröhnt und vor lauter Müdigkeit fühle ich mich wie betrunken. Obwohl auch der Restalkohol von gestern Abend der Grund für meinen geräderten Zustand sein könnte. Oder aber die Nacht mit Alex. Die wahnsinnigen Orgasmen, die er mir beschert hat, bis wir vor purer Erschöpfung eingeschlafen sind. Ja, das wird es sein.

»Nein, sie soll auf gar keinen Fall davon wissen. Es wäre viel zu früh«, höre ich ihn plötzlich sagen und bin schlagartig hellwach. Erst jetzt realisiere ich, dass er sich im angrenzenden Badezimmer befindet und wahrscheinlich mit jemandem telefoniert. Aber mit wem? Und vor allem, wer ist sie?

Ich hoffe inständig, dass nicht ich damit gemeint bin, denn ansonsten würde ich schon gern wissen, was er offenbar vor mir verheimlicht. In meiner Magengegend breitet sich sofort das vertraute, nervöse Kribbeln aus, welches ich zuletzt empfunden habe, als Tante Ulla kurz davorstand, das mit Alex und mir herauszufinden. Am liebsten würde ich mich jetzt zur Tür schleichen, um ihn besser belauschen zu können, allerdings rühre ich mich nicht von der Stelle. Ich kann es ja selbst nicht ausstehen, wenn jemand in meinen Angelegenheiten rumwühlt, und vielleicht redet er auch gar nicht über mich. Aber eine ganz leise Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass er es doch tut.

Mit dem Beschluss, mir bloß kein vorschnelles Urteil zu bilden und meine Befürchtungen beiseite zu schieben, lasse ich mich wieder einigermaßen entspannt in die weichen Kissen aus Baumwolle sinken. Sie sind prall gefüllt und so groß, dass ich beinahe darin untergehe. Und so gemütlich. Gerade überlege ich, ob ich eines davon in Alex' Koffer stopfe, um es mit nach Hause zu schmuggeln, als dieser auf einmal neben dem Bett erscheint und mich anlächelt.

»Guten Morgen, Darling. Hast du gut geschlafen?«, schnurrt er, ehe er auf Knien über die Matratze krabbelt und mir einen liebevollen Kuss aufdrückt. Seine Lippen sind kalt, seine Zunge hingegen ganz warm. »Ich hoffe, ich habe dich nicht wach gemacht. Obwohl das Telefon sowieso jeden Moment klingeln müsste, habe uns 'nen Weckanruf bestellt.«

Dann kuschelt er sich neben mich und hebt seinen Arm an, woraufhin ich seiner stummen Aufforderung augenblicklich nachkomme. Mit einem zufriedenen Seufzer schmiege ich mich eng an seine nackte Brust. Er riecht so unfassbar gut - nach Sex, einer dezenten, süßlichen Schweißnote und sich selbst.

»Morgen«, murmele ich und hauche ein paar Küsse auf seinen Unterkiefer. »Ich habe ehrlich gesagt das Gefühl, gar nicht geschlafen zu haben. Apropos, wie spät ist es überhaupt?«

Schnaubend vergrabe ich mein Gesicht an seiner Schulter, da ich eigentlich gar nicht wissen will, wie früh es tatsächlich ist. Ich verstehe ohnehin nicht, warum er einen Weckanruf bestellt hat und wir nicht ausschlafen können. Alexanders Antwort besteht aus einem heiseren Lachen, das seinen gesamten Brustkorb zum Vibrieren bringt.

»Es ist kurz nach sieben.«

Was? Wieso? Als ich das letzte Mal an einem freien Tag so früh aufgestanden bin, war ich noch in der Grundschule. Wenn es so etwas wie Reinkarnation geben sollte, dann werde ich definitiv als ein Koala wiedergeboren. Immerhin sterben sie, wenn sie zu wenig Schlaf bekommen, was bei mir ganz bestimmt genauso ist.

»Wieso stehen wir so früh auf? Es ist doch Samstag!«, nörgele ich also.

»Du wolltest doch auf den Fischmarkt gehen, oder nicht? Und meines Wissens muss man immer früh da sein.«

Kurz bin ich etwas verwirrt, weshalb ich die Stirn runzele und zu ihm hoch schiele. Sein schiefes Lächeln raubt mir für den Bruchteil einer Sekunde den Atem und gibt dem Chamäleon in mir einen kleinen Kick. Aber ... Moment mal. Wann habe ich bitte erwähnt, dass ich auf den Markt gehen möchte? Ach, stimmt ja. Gestern, auf dem Hinweg.

»Das hast du dir gemerkt? Selbst ich habe das schon wieder vergessen. Vor allem nach dem ganzen Bier und der Karaoke gestern Abend.«

Alex zuckt mit den Schultern und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er mich noch enger an sich drückt. Ich spüre, dass er dabei lächelt. »Natürlich. Ich erinnere mich an alles, was du mir erzählst«, antwortet er gelassen, was ich lediglich mit einem keuschen Grinsen quittiere.

Meinen Kopf bette ich vorzugshalber auf seiner Brust, damit er meine glühenden Wangen nicht sehen kann. Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt, mit so viel Nettigkeiten überhäuft zu werden. Abgesehen von meiner Familie und Valentin, habe ich noch nie einen Menschen kennengelernt, der mir das Gefühl gibt, ein wertvolles Lebewesen zu sein. Dabei sind es die kleinen Dinge, die an Alexander so besonders sind. Er hört mich nicht nur an, er hört mir zu. Vielleicht ist es auch sein Beruf als Lehrer, der die Gabe des Zuhörens mit sich bringt, obwohl mir spontan so viele Gegenbeispiele einfallen würden. Es ist mehr. Es ist einfach Alex und die Art, wie er mit den simpelsten Dingen und Worten mein Leben bereichert. Und das ist er, eine Bereicherung.

»Danke. Für alles«, flüstere ich nach kurzem Zögern und lasse meine Finger zu seinen Bauchmuskeln wandern, die daraufhin in kreisenden Bewegungen über seine Gänsehaut streicheln. Schwer seufzend nimmt Alexander mein Kinn in seine freie Hand und dreht mein Gesicht so, dass ich ihn direkt ansehen muss. Ich hasse es, wenn er das tut. Und liebe es gleichermaßen.

»Darling. So, wie ich mich nicht andauernd entschuldigen soll, sollst du dich auch nicht ständig bedanken. Ich will, dass du glücklich bist. Und wenn es einen Markt voller Fischbuden braucht, damit es dir besser geht, dann nehme ich Schlafmangel und fiesen Gestank liebend gern in Kauf. Ich-«

»Warum?«, unterbreche ich ihn abrupt, woraufhin sein Lächeln erstirbt und seine Stirn stattdessen dezente Furchen bildet. »Warum willst du, dass ich glücklich bin? Wir kennen uns doch kaum, abgesehen davon, dass wir uns eigentlich gar nicht treffen dürfen.«

Ich habe mir diese Frage schon oft gestellt, hatte aber nie den Mut, sie auch laut auszusprechen. Bis jetzt. Im Endeffekt ist es auch nicht wichtig, warum er sich so viele Probleme aufbürgt, nur damit es mir besser geht. Wichtig für mich ist nur, dass er es tut. Und dennoch interessiert es mich brennend.

»Weil du mir so unfassbar wichtig bist, Ella. Ich sehe deine innere Traurigkeit und habe einfach das dringende Bedürfnis, sie von dir zu nehmen. Außerdem ... sieh dich doch an. Wie könnte ich dich nicht glücklich machen wollen?«

Ich sehe etwas in seinen Augen aufblitzen, sein Blick verschleiert sich. Da ich ihm inzwischen nicht mehr standhalten kann, versuche ich, mich von ihm abzuwenden, jedoch hält er mein Kinn fest zwischen seinen Fingern. Dann beugt er sich etwas nach vorn, bedeckt meine Unterlippe mit hauchzarten Küssen.

Doch plötzlich lässt er mein Gesicht wieder los und schiebt seine Hand stattdessen unter die Bettdecke, bis sie auf die meine trifft, mit der ich nach wie vor seinen Bauch kraule. Er umfasst sie und lässt meine Finger in seine Boxershorts wandern. Ich halte den Atem an, als ich im nächsten Moment seine Erektion spüre.

»Siehst du, was du mit mir anstellst?«, raunt er, sein Gesicht in mein Haar geschmiegt. Mit der Hand drückt er leicht zu, sodass ich seinen Penis automatisch umschließe. »Du musst mich nur berühren und schon ... Das habe ich noch nie erlebt.«

Und noch bevor er seine Zunge in meinen Mund schiebt und mich gierig an sich presst, habe ich schon wieder vergessen, warum wir genau das hier nicht tun sollten.

 

****

 

Nach heißem Sex, ein bisschen Gefummel unter der Dusche und einem ausgiebigen Frühstück, brechen wir schließlich zum Hafen auf. Obwohl es noch nicht mal neun Uhr ist, haben die heißen Sonnenstrahlen schon ziemlich viel Kraft, weshalb wir beschließen, zu Fuß zu gehen. Zum Glück habe ich das schwarze Leinenkleid mit den goldenen Pailletten eingepackt, denn eine lange Hose wäre wirklich zu viel Stoff gewesen.

Alexander hat sich hingegen für ein schlichtes, weißes T-Shirt und eine schwarze Jeans entschieden, die an den Knien abgeschnitten ist. Ich habe ihn zwar schon nackt gesehen, allerdings fällt mir erst jetzt zum ersten Mal das Tattoo an seiner linken Wade auf. Es ist recht dunkel gehalten und zeigt das Gesicht eines älteren Mannes mit Brille und Schnauzbart. Daneben erkenne ich das Wort »Hero«. Es ist jedoch kein Portrait, sondern ist vielmehr in einem Stil gehalten, der mich irgendwie an eine Comicfigur erinnert. Er kommt mir bekannt vor, doch ich wüsste spontan nicht, mit welchen Film ich ihn in Verbindung bringen würde. Bei passender Gelegenheit muss ich Alex unbedingt mal darauf ansprechen, aber jetzt möchte ich lieber den Charme meiner geliebten Heimat genießen und schweigen.

Auf dem Fischmarkt herrscht reger Betrieb. Normalerweise bin ich der absolute Morgenmuffel, den man mindestens drei Stunden nach dem Aufstehen erstmal nicht ansprechen sollte, aber heute fühle ich mich topfit und munter. Natürlich liegt es an meinem Lehrer und dem wundervollen Start in den Tag, allerdings tragen auch die salzige Hafenluft und die brüllenden Marktschreier ihren Teil dazu bei. Während wir gemütlich an den unzähligen Ständen und Buden vorbeischlendern, strahlt Alex' Miene jedoch immer mehr Unsicherheit und Unverständnis aus, weshalb ich ermutigend seine Hand nehme. Ich kann nachvollziehen, dass die vielen Menschen und die lauten Organe der Fischverkäufer befremdlich auf ihn wirken. Für mich ist es Zuhause.

Obwohl ich eigentlich kein Fleisch esse und die industrielle Massentierhaltung mit jeder Faser meines Körpers ablehne, setzen wir uns irgendwann mit zwei Fischbrötchen an die Elbe. Ich habe nicht mal ein schlechtes Gewissen, dass ich jeden Bissen davon genieße. Mit Alex ist einfach alles so leicht, so ganz anders als sonst. Ich habe Spaß, bin sorgenfrei und glücklich. Ich verschwende keinen einzigen Gedanken an die Verantwortung, mit der ich mich in ein paar Stunden wieder auseinandersetzen muss. Auch wenn ich weiß, dass ich nicht mehr lange davor weglaufen kann.

Während wir essen, unterhalten wir uns über so vieles. Über unsere Pläne und Wünsche für die Zukunft, über peinliche Geschichten aus Kinderzeiten, sogar über Politik und die verkorkste Kapitalismusgesellschaft. Ich frage ihn nach seinen Freunden und seiner Heimat, er fragt mich, welches Buch mich bisher am meisten berührt hat. Daraufhin erzähle ich, dass mein Leben auf den Kopf gestellt wurde, als Professor Severus Snape unter grausamen Umständen den Tod fand. Dass ich von der Liebe zu Harrys Mutter zu Tränen gerührt war. Dann erzählt er mir, dass er bei The Green Mile wie ein Baby geheult hat, und dass ihn dieses Buch auf komische Art und Weise geprägt hat. Wir reden ohne Punkt und Komma. Wir reden so viel, dass ich gar nicht bemerke, wie die Zeit im Flug vergeht.

»Komm, wir sollten langsam los. Wir haben schließlich noch was vor«, bemerkt Alexander nach einer Weile, woraufhin ich erschrocken auf das Display meines Handys spähe, um die Uhrzeit zu checken. Wie erwartet erklärt er sich nicht weiter dazu, sondern steht einfach auf und nimmt meine Hand. Aufgeregt folge ich ihm, bis ich jedoch auf halber Strecke bemerke, dass wir uns auf dem Weg zurück zum Hotel befinden.

»Ich dachte, wir wollten noch etwas unternehmen?« Mehr als verwirrt schaue ich zu ihm hoch, doch das Einzige, was ich als Antwort bekomme, ist ein charmantes Lächeln und ein »Abwarten, Darling«.

Am Ende unseres Spazierganges finde ich mich in Alexanders Auto wieder, welches er gestern zwei Seitenstraßen weiter geparkt hat. Wir schweigen weitestgehend, da ich einfach viel zu nervös bin, um ein lockeres Gespräch zu führen. Wohin fahren wir um Himmels Willen? Ihn direkt danach zu fragen wäre sinnlos, da er mir sowieso keine ernste Antwort geben würde. Also belasse ich es dabei, lehne mich in den gemütlichen Sitz zurück und lasse meine Heimat an mir vorbeizischen. Fahrten ins Nirgendwo bin ich ja bereits von ihm gewohnt.

Nachdem wir uns durch den Stadtverkehr gekämpft haben, lotst Alex uns durch eine eher ländliche Gegend in einem kleinen Vorort von Hamburg. Ich bin hier schon einmal gewesen, doch ich verbinde wirklich nichts Gutes mit dem Besuch. Alles nur ein Zufall, versuche ich mich zu beruhigen, doch mein Puls steigt trotzdem mit jeder Minute an. Und als Alex bei der nächsten Kreuzung rechts abbiegt und auf einen Waldweg fährt, der an einem Berg aus grünen Wiesen liegt, bleibt mein Herz plötzlich stehen.

Ich kenne diesen Wald.

Hier liegt mein Vater begraben.

28| Dad

 

28.

Es war ein eisiger Tag im Februar. Der Wind peitschte in mein Gesicht, während ich mit einem Dutzend anderer Leute den steilen Waldweg erklomm. Darunter Mom, Robin und ein paar Verwandte und Freunde meines Dads. Die Erde war gefroren, weshalb die Autos, mit denen wir herfuhren, auf halber Strecke kapitulierten. Wir mussten sie am Rand im Gras parken, um den Rest zu Fuß zurückzulegen. Der Boden glich einer einzigen Eisfläche, mit Schlittschuhen wären wir wohl wesentlich besser vorangekommen.

Meine Atmung ging flach, obwohl mein Puls dabei war, neue Rekorde zu brechen. Ich wusste, dass ich die folgenden Stunden nicht überleben würde, und trotzdem bewegten sich meine Beine wie von selbst. Tief in meinem Inneren wütete der Schmerz, der mich von Kopf bis Fuß betäubte. Ich spürte nichts. Die Kälte, die mich umgab, prallte förmlich an mir ab. Bis auf das Gefühl, welches mein Herz mit seinen Klauen umfasste und in Stücke zerfetzte, war ich leer. Ich wollte weinen, doch die Tränen waren in ihren Drüsen eingefroren. Ich wollte schreien, doch meine brennende Lunge hatte keine Kraft mehr. Ich wollte weglaufen, doch ich wusste, dass ich mich von meinem Vater verabschieden musste. Ich musste das Gefühl, bei lebendigen Leibe aufgefressen zu werden, zulassen. Auch wenn es das Schlimmste war, das ich in meinem ganzen Leben je ertragen habe.

An diesem Tag wollte ich lieber tot sein. Mit meinem Dad starb schließlich auch ein kleiner Teil von mir.

Die Fingernägel meiner Mom bohrten sich in meine Handfläche. Seitdem wir den Mercedes verlassen hatten, war sie mir nicht von der Seite gewichen. Wie eine Hilfesuchende hatte sie sich an mich geklammert, als wäre ich ihr Leuchtturm, der ihr den richtigen Weg wies. Dabei konnte ich mich nicht mal selbst über Wasser halten. Niemand von uns sagte auch nur ein Wort. Das leise Schluchzen von Mom war das einzige Geräusch, das ich wahrnahm. Und den Wind, der durch die Äste der kahlen Bäume fegte und sie zum Zittern brachte. Der Wald war von einer hauchdünnen Schneeschicht überzogen, was ihm irgendwie etwas Magisches verlieh. Wäre es nicht der schlimmste Tag meines Lebens gewesen, hätte ich mich hier vermutlich wohlgefühlt.

Eine Sache, die mich wenigstens etwas glücklich stimmte, war die Tatsache, dass die Beerdigung Dads Wünschen entsprach. Mom hatte oft mit ihm über seinen letzten Willen gesprochen, nicht wissend, dass sie sich früher als erwartet darum kümmern musste. Alle Trauergäste waren nicht wie üblich in schwarz gekleidet, sondern in den buntesten Farben. Mein Vater war immer der Meinung gewesen, dass man solch eine Veranstaltung nicht noch trauriger gestalten sollte. Die Idee war an sich vielleicht ganz nett, dennoch änderte mein geblümtes Sommerkleid nichts an meiner gedrückten Stimmung.

Außerdem hatte er sich gewünscht, seine letzte Ruhe im Grünen zu finden, weshalb wir uns gemeinsam für diesen Waldfriedhof entschieden hatten. Ich war mir sicher, dass es ihm gefallen hätte. Ganz bestimmt sogar. Jetzt sah es hier zwar sehr trostlos aus, allerdings würden die vielen Bäume im Frühling blühen und Dads neues Zuhause verschönern.

Nach einer Weile des stillen Marsches wurde der Wald um uns herum immer dichter, der Weg immer schmaler. Meinen Blick hielt ich pausenlos auf den Boden gerichtet, damit ich auf der Eisschicht nicht ins Schlittern geriet. Als Mom jedoch plötzlich aufheulte, hob ich meinen Kopf und erkannte zwei Männer, die auf einer Lichtung auf uns warteten. Der Förster und der Bestatter. Mit verschränkten Fingern verharrten sie reglos neben einem Schild aus Holz, welches den »Eingang« des Friedhofs darstellte.

Schon aus der Ferne konnte ich die Urnengräber erkennen, die zum Teil mit Blumen oder kleinen Figuren verziert wurden. Jeder nummerierte Baum stand für einen Menschen, der hier seinen Frieden fand. Mom hatte für Dad die Nummer 25183 ausgesucht - die Anfangsbuchstaben unserer Namen. Ich glaubte nicht an den Himmel oder an ein Leben nach dem Tod, allerdings war ich dennoch der festen Überzeugung, dass mein Vater mit einem Lächeln auf uns hinunterblickte und stolz auf uns war.

Während Mom ein paar Worte mit den zwei schwarz gekleideten Männern wechselte, ließ ich meinen Blick über meine Familie schweifen. Da war Robin, der sich bedeckt hielt und sich sichtlich zusammenriss, um nicht zu weinen. Tante Ulla mit ihrem Ehemann Nummer drei, die sich leise mit meinen Großeltern unterhielten und sogar kicherten. Matthias und Benno, die besten Freunde von Dad, standen eher abseits und schwiegen. Sie schämten sich nicht, ihrer Trauer freien Lauf zu lassen, denn beiden kullerten die Tränen übers Gesicht. Jeder hier hatte seine eigene Art und Weise, mit dieser furchtbaren Situation umzugehen. Und auch, wenn man es dem ein oder anderen nicht ansah, so wusste ich, dass tief in ihren Inneren ein blutendes Loch klaffte, das nicht mehr zu füllen war. Keine Ahnung, wie ich damit weiterleben sollte. Darüber würde ich mir Gedanken machen, sobald ich eine Nacht durchschlief und nicht schreiend aufwachte, weil mich angsteinflößende Albträume jagten. Bis dahin war es ein langer Weg.

»Kommt, Kinder«, forderte Mom uns nach gefühlt fünf Minuten auf und gemeinsam setzten wir uns in Bewegung. Die Gespräche waren verstummt und wichen dem Geräusch des gefrorenen Laubes, das beim Gehen unter unseren Schuhsohlen knirschte. Der Platz von Dad lag etwas abseits des Trampelpfades, weshalb wir uns querfeldein durch das Gestrüpp kämpfen mussten.

Ich vermied es größtenteils, einen Blick auf die anderen Gräber zu werfen, da ich nicht schon jetzt von einem Heulanfall übermannt werden wollte. Dennoch registrierte ich die vermoosten Engelsfiguren, die herzförmigen Anhänger aus Holz oder Metall, die zum Teil verwelkten Blumensträuße. Ich erkannte die kleinen Aluminiumschilder, die auf Augenhöhe an den Stämmen der Bäume angebracht waren und die Namen der Verstorbenen preisgaben. Nicht auf allen waren auch Geburts- und Todestag eingraviert. Und obwohl es ein Ort der Trauer war, hatten die unzähligen, liebevoll gestalteten Ruhestätten etwas Tröstliches an sich. Ich merkte, dass ich nicht allein mit meinem Schmerz war, obgleich ich mich so oft einsam fühlte.

Als Mom, die uns allen vorausgegangen war, mit einem Mal stehenblieb, war es schließlich soweit. Ich hob meinen Blick, woraufhin eine Welle der Kälte meinen Körper zum Bibbern brachte. Da war er, mein Vater. In Form eines Häufchens Asche, das in einem silbernen, runden Gefäß darauf wartete, unter die Erde zu kommen. Die Urne war neben einem Loch aufgestellt worden, dessen Tiefe ich von meiner Position nicht ausmachen konnte, und daneben war ein Kranz aus gelben Gerbera platziert worden. Es waren die Blumen, die Dad meiner Mom zu ihrer ersten Verabredung mitbrachte. Seit jeher bekam Betty an diesem Tag einen prachtvollen, gelben Strauß, weshalb mich der Anblick zu Tränen rührte. Besser hätte Mom das Grab nicht schmücken können.

Langsam versammelten sich alle Trauergäste in einem Kreis um die Urne herum, sodass jeder einen Platz in der ersten Reihe ergatterte. Nach wie vor waren unsere Münder verstummt, doch der Schock war jedem Einzelnen ins Gesicht geschrieben. Ich fühlte nichts, war wie in Trance. Wie in einem Traum, aus dem ich nicht mehr aufwachte. Ich konnte und wollte es nicht akzeptieren, dass Dads starke Existenz in ein winzig kleines Gefäß gequetscht wurde. Dass alles, was er jemals dachte, fühlte oder sagte, überhaupt in dieses Ding passte. Es war eine ernüchternde Erkenntnis. Man lebte so viele Jahre auf diesem Planeten, erlebte dabei so viele Wunder, doch am Ende war das alles bedeutungslos. All diese Hochgefühle und Niederschläge, nur, um in einer kleinen Kiste unter der Erde zu verrotten. In diesem Moment verstand ich, dass der Sinn des Lebens darin bestand, dass es keinen gab.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis der Freiredner des Bestattungsinstituts seine Rede beendete. Ein paar nette Worte über einen Mann, den er niemals gekannt hatte. Sinnlose Floskeln, mehr nicht. Es war ohnehin egal, was er sagte, denn nichts davon würde meinem Dad jemals gerecht werden. Ich hatte nicht zugehört, hatte stattdessen die Urne fixiert und leise geweint. Tante Ulla, Mom und Robin taten es mir gleich.

Nach wenigen Sekunden der neu eingesetzten Stille, wurde das erste von zwei Liedern angestimmt, die wir für die Zeremonie ausgesucht hatten. Es war »Der Weg« von Herbert Grönemeyer. Natürlich, ein Traurigeres hätte es auch nicht sein können. Aber Mom lag viel daran, weshalb ich es akzeptierte und beinahe zusammenbrach, während ich den wahren Worten Grönemeyers lauschte. Schon nach den ersten zwei Zeilen blieb kein Auge mehr trocken. Moms leises Schluchzen war in ein lautes Geheule übergegangen, und sogar Robin konnte seine Trauer nicht mehr zügeln. Frei von jeglicher Selbstkontrolle rollte ihm eine Träne nach der anderen über die Wange - dicke, echte Tropfen. Tante Ulla wimmerte und musste zeitgleich bei ihrem Ehemann Halt finden. Wie eine Ertrinkende hing sie in seinen Armen, obwohl er selbst mit der Fassung rang, die er nicht mehr lange aufrechterhalten konnte. Es war eine Farce.

Und mein Chamäleon verlor endgültig den Verstand, als wir uns plötzlich alle an den Händen hielten.

So musste sich der Tod anfühlen. In diesem Moment starb ich. Sämtliches Glück, jedes gute Gefühl, das ich jemals in mir trug, entwich meinem Körper mit nur einem Atemzug. Der Schmerz schlug mit solch einer heftigen Wucht zu, dass meine Beine nachgaben und ich schreiend zu Boden fiel. Die Tränen schossen in einer derartigen Geschwindigkeit aus ihren Drüsen, dass es brannte und sich anfühlte, als würden meine Augäpfel zerplatzen. Ich weinte. So hysterisch, dass ich mich beinahe übergab. Ich konnte es nicht ertragen, nichts hiervon. Ich weinte, bis ich völlig ausgetrocknet schien und lediglich einen kehligen, undefinierbaren Laut von mir gab. Ich schrie. Schrie nach meinem Vater. Schrie den geballten Schmerz hinaus, der in der Tiefe des Waldes widerhallte. Ich schlug um mich, in der Hoffnung, endlich aus diesem Albtraum aufwachen zu können. Ich schlug mich selbst, um mir zu beweisen, dass es gar kein Traum war. Ich zerbrach. Und würde den nervlichen Zusammenbruch im Nachhinein als den Moment beschreiben, in dem ich zu einem anderen Menschen wurde.

 

****

 

»Was machen wir hier?«, fahre ich Alexander patzig an, als wir schließlich auf dem Besucherparkplatz des Friedhofs zum Stehen kommen. »Und woher weißt du, dass er hier liegt?«

Ich kann es einfach nicht glauben, dass er mich tatsächlich hierher gebracht hat. Was fällt ihm ein? Sofort verspüre ich wieder das nervöse Kribbeln, so wie damals, als ich zum ersten und letzten Mal einen Fuß in diesen Wald gesetzt habe. Eine intensive Gänsehaut wandert über meinen Nacken und erstreckt sich über meine gesamte Kopfhaut, während es mir schwerfällt, meinen Blick nicht von Alex abzuwenden. Er starrt stattdessen auf seine Hände, die noch immer das Lenkrad umkrallen.

»Von Valentin. Und von ihm weiß ich auch, dass du deinen Vater noch nie besucht hast. Deswegen sind wir hier«, gibt er kleinlaut zu und ich kann beobachten, wie seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Empört schnappe ich nach Luft.

»Was fällt dir ein, mit meinem besten Freund  darüber zu reden? Du hättest mich fragen können.« Die Tonlage meiner Stimme ist viel lauter als beabsichtigt, zudem klinge ich verzweifelt und panisch. Aber das bin ich auch. Er hätte mich darauf vorbereiten sollen, dass ich heute meiner größten Angst gegenübertreten muss. Stattdessen hat er mich ins kalte Wasser geschubst, obwohl er mir versprochen hat, mir zu helfen, wenn ich wieder mal ertrinke.

»Ella«, säuselt er beschwichtigend, doch als er sich zu mir umdreht und nach meiner Hand greift, ziehe ich sie weg. »Ich habe ihn nicht explizit danach gefragt. Das Thema hat sich irgendwie automatisch im Gespräch ergeben. Er wollte wissen, wie es dir nach dem Umzug ergangen ist, und ich habe ihm erzählt, dass du deinen Dad sehr vermisst. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass du ihn besuchst.«

Ungläubig reiße ich meine Augen auf und muss mir ein boshaftes Lachen verkneifen. »Wer bist du, dass du behaupten kannst, was wichtig für mich ist? Mein Therapeut?«, keife ich zurück, doch die Schärfe meiner Worte hinterlässt auch bei mir einen bitteren Beigeschmack. Insgeheim weiß ich, dass er recht hat, aber ich kann es einfach nicht.

»Nein, ich bin nicht dein Therapeut. Aber ich kenne dich inzwischen gut genug, um zu verstehen, wie sehr du noch immer mit deinem Verlust zu kämpfen hast. Ich glaube einfach, dass es dir guttun wird. Auch wenn es ein Schlag in die Fresse ist.« Obwohl ich nervös in dem Polstersitz des Wagens hin-und herrutsche, strahlt Alex eine angenehme Ruhe aus. Er lässt sich nicht ansatzweise von meiner aufbrausenden Art aus dem Konzept bringen. Wahrscheinlich hat er sich bereits auf eine Auseinandersetzung eingestellt, so mitdenkend, wie er nun mal ist.

»Ich ... Ich kann das nicht«, stottere ich schließlich, wesentlich leiser als zuvor. In einer anderen Situation wäre mir die Hilflosigkeit in meiner Stimme vermutlich peinlich, aber nicht hier. Nicht jetzt.

Auch wenn ich mich längst von ihm abgewandt habe, spüre ich, dass Alex immer näher an mich heranrutscht. Dann legt er seine Hand auf die meine und verschränkt unsere Finger ineinander.

»Wieso nicht?«

»Weil ... keine Ahnung. Ich kann es einfach nicht. Ich will weg. Weg von hier.«

Eine heiße Träne ergießt sich stumm über meine Wange. Wie soll ich ihm das grausame Gefühl auch erklären, dass mich jedes Mal mit Haut und Haaren verschlingt, sobald ich an die Beerdigung denke? Wie soll er den stechenden Schmerz in meiner Brust jemals nachvollziehen können? Kurz lasse ich meinen Blick in seine Richtung schnellen und kann die Nässe in seinen Augen erkennen, das Leid in seinem Gesicht.

»Es tut mir leid, aber wir fahren hier nicht weg, ehe du deinen Vater besucht hast«, bringt er zerknirscht hervor, wobei ich ihm jedoch anmerke, dass es ihm schwerfällt, standhaft zu bleiben.

»Vergiss es. Du kannst mich nicht dazu zwingen. Ich schaffe es einfach nicht, okay? Ich bin nicht stark genug. Alex, ich ... Ich halte die Erinnerungen nicht aus.«

Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Menschen, der nicht zu meiner Familie gehört, so ehrlich über meine Gefühle spreche. Zu Hause wird das Thema Beerdigung größtenteils verschwiegen, zu sehr hat uns dieser Tag im Winter zerstört. Zu sehr hat er mich zerstört. Doch Alex ist der Erste, der versucht, die Teile meiner Seele wieder zusammenzusetzen.

»Darling«, flüstert er und kommt mir daraufhin mit dem Gesicht so nahe, dass seine Nasenspitze meine glühende Wange streift. »Für mich bist du so circa die stärkste Frau, die ich je kennengelernt habe. Ich weiß, wie du dich fühlst, also kann ich behaupten, dass du für jeden Tag, an dem du aufgestanden und in die Welt hinausgetreten bist, stolz auf dich sein kannst. So, wie ich es bin. Ich bin so unfassbar stolz.«

Alex drückt mir federleichte Küsse auf den Kieferknochen, ehe er behutsam eine Haarsträhne hinter mein Ohr schiebt, die sich aus meiner wilden Mähne gelöst hat. Seine Geste ist so liebevoll, dass ich leise aufschluchzen muss.

»Lass uns deine negativen Erinnerungen in neue, positivere Eindrücke verwandeln«, fügt er hinzu, während er langsam mit der Nase über meine Haut gleitet. Seine sanften Berührungen lassen mich erschaudern, woraufhin ich kurz die Augen schließe und tief durchatme. Ein. Aus. Ein. Aus.

»Ich habe Angst, Alex. Ich habe so verdammt Angst.«

»Aber wovor denn, Darling?« Sein minziger Atem streift bei seinen Worten über mein Ohrläppchen, wodurch sofort die nächste Gänsehaut über meinen gesamten Körper prescht. Doch da wir aber gerade ein ernstes Thema besprechen und ich benebelte Sinne nicht gebrauchen kann, schaffe ich schnell eine halbe Armlänge Abstand zwischen uns.

»Naja«, murmele ich und bohre meine Finger tiefer in seine Handfläche hinein. »Irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen, so lange nicht hier gewesen zu sein. Ich habe Angst, dass .... dass Dad vielleicht sauer auf mich sein könnte. Dass die schlechten Gefühle von damals die Oberhand gewinnen.«

Ich spüre Alex' Blicke auf mir, doch ich kann mich nicht überwinden, ihn anzusehen. Zu tief bin ich in der Spirale aus Scham und Panik gefangen, unfähig, mich allein zu befreien. Schon bei der Vorstellung, erneut an Dads Grab zu treten, dreht sich mir der Magen um. Ich werde es nicht schaffen, genau wie ich es damals nicht geschafft habe.

»Hey, sieh mich an«, höre ich Alexander nach einem flüchtigen Moment des Schweigens sagen, woraufhin ich zögerlich den Kopf hebe. Durch das flüssige Karamell, das in seinen Augen schimmert, verlangsamt sich mein rasender Puls automatisch. »Ich weiß, dass du stark genug bist. Du schaffst das, Ella. Außerdem bist du nicht allein, du hast mich. Ich werde immer an deiner Seite sein. Und ... du wirst dich nie wieder einsam fühlen.«

Während seiner verbalen Liebkosungen, legt er seine Hand auf meine Wange und umschließt mein Gesicht mit seinen langen, dünnen Fingern. Sie sind eiskalt, aber kühlen meine erhitzte Haut angenehm ab. Ich lehne mich leicht dagegen, was sich so vertraut anfühlt, dass ein paar meiner negativen Gedanken von mir abfallen.

»Okay«, willige ich schließlich ein, wodurch sein rechter Mundwinkel wie auf ein Zeichen nach oben zuckt. »Aber zuerst würde ich gern wissen, was du damit gemeint hast, dass du weißt, wie ich mich fühle.«

Und schon ist sein Lächeln wieder verschwunden. Ich habe seine Bemerkung von vorhin nicht vergessen, war jedoch in dem Moment zu aufgebracht, um genauer danach zu fragen. Ich bin mir sicher, dass er einen Scheiß davon weiß, wie es mir wirklich geht. Außer ...

Für den Bruchteil einer Sekunde scheint es, als würde Alexander in eine andere Welt abdriften. Sein Blick geht ins Leere, seine Augen sind klar und glasig. Doch dann holt er sich blitzschnell mit einem Kopfschütteln in die Realität zurück.

»Nichts. Ich habe das nur so gesagt. Ich meine, ich weiß es nicht, aber ... Ich kann es mir gut vorstellen. Wir sollten jetzt aber lieber los, sonst sind wir viel zu spät zu Hause«, winkt er daraufhin ab und unterstreicht seine Worte mit einer entsprechenden Handbewegung. Dann reißt er ohne zu zögern die Fahrertür auf und steigt schnaubend aus dem Auto. Ich folge ihm, nachdem mir nun ein für alle Mal klargeworden ist, dass er etwas vor mir verbirgt.

Bevor wir uns auf den Weg zu Dads Grab machen, fischt Alex einen Strauß weißer Rosen aus dem Kofferraum, den er mir kurz darauf mit einem schiefen Lächeln hinhält.

»Ich wusste nicht, welche ich nehmen sollte. Die hier haben mir am besten gefallen«, erklärt er und kratzt sich dabei theatralisch am Hinterkopf. Sein zuckersüßer Anblick ringt mir ein breites Grinsen ab.

»Sie sind perfekt.«

Dann nehme ich das Bündel Blumen entgegen und umfasse mit der freien Hand seine Finger, die nun wieder etwas aufgetaut sind. Mit wackeligen Knien und einem Magen, der vor Aufregung murrt, betreten wir letztendlich den schmalen Trampelpfad, der uns zu meinem Vater führt.

Wie erwartet ist es ein komisches Gefühl, wieder hier zu sein. Es sieht so völlig anders aus, und doch hat sich nichts verändert. Der Wald ist nun viel grüner und dichter bewachsen, was mitten im Frühling auch nicht verwunderlich ist. Trotzdem erkenne ich alles ganz genau wieder. Die Lichtung, an der wir uns mit dem Förster und dem Bestatter getroffen haben. Der plattgetretene Weg mitten im Laub, der durch die vielen Urnengräber führt. Und schließlich auch der Baum von Dad, den ich unter all den anderen sofort wiedererkennen würde. Als wir davor stehenbleiben, bleibt auch mein Herz einen Atemzug lang stehen.

Hier hat sich hingegen einiges verändert. Das Loch in der Erde ist nun geschlossen und mit Gras bewachsen. Es macht nicht mehr den Anschein, als würde jemand darunter begraben liegen. Ein kleines Segelschiff aus Holz vegetiert neben einem verrotteten Strauß Gerbera vor sich hin. Dad hat das Meer und den Hafen geliebt, weshalb ich beim Anblick der Dekoration instinktiv lächeln muss. Sicherlich hat Mom es dort aufgestellt. Und dann erkenne ich plötzlich das unscheinbare Schmuckstück, das am Mast des Bootes baumelt.

Fassungslos schlage ich meine Hand vor den Mund, um mir einen quietschenden Aufschrei zu verkneifen. Es ist das pink-grüne Perlenarmband, das ich ihm vor Jahren im Handwerksunterricht in der Grundschule gebastelt habe. Es war ein Geburtstagsgeschenk, und Dad hat sich so darüber gefreut, dass er es wirklich ab und an zur Arbeit getragen hat. Sofort füllen sich meine Augenlider mit Tränen, meine entkräfteten Beine geben nach. Vorsichtig lasse ich mich auf die Knie sinken, woraufhin auch Alexander in die Hocke geht und seinen Arm um meine Schultern legt.

»Hey, Dad«, flüstere ich und werde augenblicklich von einem Schwall aus dicken, heißen Tränen übermannt. Ich umfasse die Rosen in meiner Hand so fest, dass sich die Dornen schmerzhaft in mein Fleisch drücken. »E-Es tut mir so leid, dass ich dich jetzt erst besuchen komme. Aber ... ich hatte Angst.«

Durch mein hysterisches Schluchzen und das regelmäßige Nasehochziehen, bekomme ich keinen ordentlichen Satz zu Stande. Alex' Hand, die die ganze Zeit über meinen Rücken streicht, beruhigt mich immerhin etwas.

»Dad, ich ... Du fehlst mir einfach so sehr! Ich b-bin nicht damit klargekommen, dass du plötzlich nicht mehr bei mir warst. Ich habe dich doch gebraucht, ich ... Ich b-brauche dich immer noch!«

Bitterlich weinend lasse ich meinen Kopf auf die Schulter meines Lehrers sinken, ringe dabei um frische Luft. Es gibt so vieles, was ich meinem Vater sagen möchte, aber auf einmal sind meine zurechtgelegten Gedanken wie weggeblasen. Die Worte sprudeln stattdessen unkontrolliert aus meinem Mund, wie ein reißender Wasserfall.

»Ich hasse mein neues Zuhause, Dad. Ich hasse es, dass ich ohne dich dort sein muss. Dass ich nicht mehr zuhause bin. Ich hasse es, wie die Leute mich ansehen, wenn ich ihnen sage, dass du nicht mehr da bist. Dad, bitte ... Komm doch einfach zu mir zurück! Ich kann das alles nicht ohne dich!«

Mein Hals brennt, was meine Stimme inzwischen immer kratziger werden lässt. Doch ich kann nicht aufhören. Ich kann nicht aufhören meinem toten Vater zu sagen, was ich ihm sagen würde, wenn ich ihn noch ein einziges Mal sehen könnte. Denn so fühlt es sich an, wie ein endgültiger Abschied. Nur, dass er ein Jahr und vier Monate zu spät kommt.

»Ich liebe dich so sehr, Dad. Ich werde dich niemals vergessen, hörst du? Ich werde versuchen, all das zu tun, was du mir über das Leben beigebracht hast. Du ... Du warst mein Held, mein Vorbild. Das wirst du immer bleiben, ja? Dad, egal, wo du bist ... Ich hoffe einfach so sehr, dass du dort glücklich bist. Und bald werde ich endlich wieder bei dir sein, versprochen.«

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Tag der Veröffentlichung: 06.05.2018

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