„Vor niemandem läuft man schneller davon, als vor sich selbst“
Die ersten Sonnenstrahlen waren noch nicht über den Bergkamm gebrochen und die Natur war noch tief und fest in ihren spätwinterlichen Schlaf vertieft. Die Landschaft war über Nacht in ein Kleid aus Schnee gedeckt worden, das sich mittlerweile in der Feuchtigkeit der letzten Tage zu einer undefinierbaren Grauen Masse entwickelt hatte, die nicht mehr viel mit den sonst so prächtigen Schneekristallen der Region zu tun hatte. Ohne den kalten Wind, der leise durch den dichten Wald pfiff, wäre vermutlich auch der letzte klägliche Überrest dahingeschmolzen, doch so krallte sich der schmutzige Bodensatz frostig fest und weigerte sich zu verschwinden.
Die trostlose Stille wurde jäh unterbrochen, als eine dunkle Gestalt durch das Unterholz gebrochen kam. Tief atmend und hastigen Schrittes bahnte sie sich ihren Weg durch eine Mischung aus Gestrüpp und matschigem Schneegestöber und achtete dabei nicht weiter auf vorüber zischende Äste, die brennende Kratzer im Gesicht hinterließen. Immer wieder blieb die Gestalt kurz stehen, hielt den Atem an und blickte konzentriert in die Richtung aus der sie gekommen war. Als sie sich wieder in Bewegung setzte strich eine Windböe die schmutzige Kapuze vom Gesicht und entblößte das Gesicht einer jungen dunkelhaarigen Frau, das Gesicht zerfurcht von feinen Kratzern und einigen tieferen Verletzungen, die sie sich vermutlich im Wald zugezogen hatte. Ihr Kopf war umrahmt von zerzausten Haaren, die nass an ihren Wangen hafteten und in ihren Augen funkelte Entschlossenheit – aber auch ein Anflug von Furcht. Sie fluchte kurz, zog sich die Kapuze mit der Hoffnung auf ein wenig Schutz vor der Natur wieder tief über die Stirn und setzte ihren Weg fort. Im Dunklen und abseits der Pfade waren tief hängende Äste und Dornengestrüpp keine Freunde von Wanderlustigen – besonders dann nicht, wenn sich diese offensichtlich auf der Flucht vor etwas befanden. Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald ein wenig und sie konnte ihre Schritte beschleunigen. Sie atmete dabei gleichmäßig und achtete auf einen guten Laufrhythmus, um nicht zu schnell den Atem zu verlieren. Kurze Atempausen in denen sie langsamer ging nutzte sie dazu um sich weiter umzuhören und den Weg den sie bereits zurückgelegt hatte mit den Augen abzusuchen. Gerade als sie einmal wieder nach vorne blickte und losstapfen wollte hörte sie ein entferntes Rascheln. Wie festgefroren hielt sie inne und lauschte bewegungslos in die Finsternis. Nach wenigen Atemzügen hörte sie das Geräusch erneut. Jemand näherte sich auf dem gleichen Weg, den sie zurückgelegt hatte. Ihre Augen weiteten sich und sie stürmte vorwärts, dieses Mal jedoch schneller und panischer als zuvor. Mit schwerem Atem sprang sie über morsches Baumwerk und versuchte nicht auf den glitschigen Wurzeln auszurutschen, die unter einer Mischung aus Schnee und Moos versteckt lagen. Die Abstände zwischen den Bäumen wurden zwar immer größer, doch gab es immer noch keinen sicheren Weg und sie musste fürchten auszurutschen oder sich den Knöchel an einer unebenen Stelle zu verletzen. Von einem Pfad oder einer Straße war weit und breit nichts zu erkennen. Mittlerweile hatte sich ihr Atem in ein tiefes Schnaufen verwandelt. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch das Dach des Waldes und blendeten sie bei dem Versuch vorwärts zu kommen. Die Geräusche hinter ihr wurden dabei stetig lauter und bedrohlicher. Sie sprintete an einigen enger beieinander stehenden Bäumen vorbei, duckte sich unter einem umgestürzten Baum hindurch und rannte geradewegs gegen einen hervorstehenden Ast, der sie von den Beinen riss und auf den kalten Waldboden schleuderte. Mit einem spitzen Aufschrei griff sie sich an die Schulter, in der sich ein pochender Schmerz ausbreitete. Stöhnend und mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie sich auf die Beine und stolperte weiter, ohne sich die Mühe zu machen hängen gebliebene Äste oder Dreck abzuschütteln. Ihr Umhang und das unterliegende Hemd waren zerfetzt und die Schulter, eben noch warm eingepackt, lag nun frei. Feine Linien aus Blut schlichen sich über ihre warme Haut, die in der kalten Morgenluft einen sanften Dunst verursachte, der zusammen mit den Atemwölkchen die sich vor ihrem nach Luft schnappenden Mund ausbreiteten vom Wind sanft hinter sie getragen wurde.
Das Gelände lichtete sich weiter und es ging nun bergab. Ihre Beine, die ihr Gewicht nur noch wiederwillig trugen stolperten weiter vorwärts. Wenn sie nicht erneut fallen wollte musste sie nun langsamer gehen und sich am Hang abwärts vortasten. Mit einer Hand auf die Schulter gepresst setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen und versuchte dabei ein leidendes Wimmern zu unterdrücken. Ihre Stiefel traten immer wieder auf Steine und loses Geröll, das unter der Schneedecke anfing zu rutschen. Schon nach wenigen Metern fand ihr Fuß keinen Widerstand mehr, sie verlor den Halt und schlitterte zwischen einigen Bäumen, die sich verzweifelt am Hang festgewurzelt hatten, vorbei. Schnell zog sie einen Dolch aus ihrem Gürtel, drehte sich bäuchlings und schlug die Klinge in den Boden. Mit zusammengebissenen Zähnen blickte sie den Hang hinauf und überdachte die Situation. Sie war verletzt und verlor Blut. Sie befand sich an einer unwegsamen Stelle an der sie kaum vorwärts kam. Ihre Muskeln verkrampften bereits unter der Anstrengung und der nass-kalte Schneematsch kroch in jede Lücke ihrer Kleidung. Zu allem Überfluss erblickte sie eben in diesem Moment ihre Verfolger oben am Hang. Drei vermummte Gestalten liefen über die Kuppe, erblickten sie und machten sich langsam an den Abstieg, indem sie sich von Baum zu Baum langsam und zielsicher vorwärts bewegten. Sie Zog sich an ihrem Dolch hoch, stützte sich mit ihrem Bein an einer Wurzel ab und setzte sich auf. Panik nütze nun auch niemandem mehr. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, während sie auf das unabwendbare wartete. Der Wald erwachte langsam, die ersten Vögel sangen ihre Lieder in den rötlichen Sonnenstrahlen, die den Wald in ein schauriges Licht tauchten. Die Luft war kalt und roch nach Rauch. An ihrer Schulter bildete sich langsam ein… Rauch? Sie riss die Augen auf, zog sich an der Wurzel ein Stück hoch und blickte den Hang hinunter. Wenige hundert Schritte entfernt erblickte sie eine kleine Reiterkolonne, die hintereinander einen Pfad entlang trabten, mehrere Hunde hechelten dabei um sie herum. Einige Reiter trugen Fackeln. Der letzte Reiter der Gruppe trug das königliche Banner, das in den sanften Windböen mühselig umher flatterte. Sie lachte laut auf. So viel Glück war fast schon unverschämt. Auch ihre Verfolger hatten die Jagdgesellschaft bemerkt und hielten inne. Triumphierend stand die Frau auf, strich ihre Kapuze zurück und wendete sich zu ihren Verfolgern um. Mit ihren Händen griff sie an die zerfetzte Stelle ihres Umhangs, riss sie mit einem Ruck noch ein weiteres Stück auf und entblösste damit ihre linke Brust. Trotz des vielen Blutes das sie verloren hatte und das breit auf Schulter und Kleidung verschmiert war erkannte man zwischen Schlüsselbein und Brust eine feines Walnussgroßes Tattoo. Sie griff den Dolch vom Boden, zog mit einer Hand die Haut unter dem Tattoo nach vorne und stieß schnell und ohne zu zögern zu. Dabei stöhnte sie erst schmerzerfüllt auf und schrie anschließend so laut und schrill wie sie es vermochte – einerseits um den Schmerz ertragbarer zu machen, doch vor allem um die Aufmerksamkeit des königlichen Trupps auf sich zu lenken. Das abgetrennte Stück Haut ließ sie kraftlos auf den blutgetränkten Boden fallen. Ihr war schwindelig. Einige der Reiter hatten ihre Tiere gestoppt und blickten neugierig den Hang hinauf. Es wurde eng für die Verfolger. Einer von ihnen fluchte wütend und wollte gerade weiter auf sie zugehen, als er von seinem Begleiter am Arm gepackt wurde. „Wir kriegen sie nicht.“, murmelte dieser und blickte nachdenklich in ihre Richtung. Gerade als sie erleichtert ihre Schultern senkte zog er wie aus dem Nichts mit einer ruckartigen Bewegung eine kleine Handarmbrust hervor und sendete das Geschoss mit einem klacken auf seine Reise.
Der Schlag gegen ihre Brust traf sie hart und unvorbereitet und schleuderte sie unkontrolliert hangabwärts – geradewegs in die Bewusstlosigkeit.
„Komm jetzt endlich rein Junge!“ Warum herein? Draußen war es doch viel schöner. Er breitete seine Arme in der Sonne aus und kuschelte sich noch ein wenig fester in die Wiese. Der Vormittag war zwar schon angebrochen, doch der Rasen war immer noch leicht feucht vom morgendlichen Tau. Trotzdem war er überraschend warm und schmiegte sich angenehm an seinen Rücken. Er schloss die Augen und genoss die Wärme, die ihn einerseits vom Sonnenlicht – aber auch von innen heraus erwärmte. Der Sommer ließ schon viel zu lange auf sich warten. Über seinen nackten Unterarm krabbelte ein kleines Insekt und verursachte ein unangenehmes Kribbeln. Er widerstand dem Drang sich zu kratzen und damit seine innere Ruhe zu unterbrechen. Zum ersten Mal seit Monaten war der Himmel unbewölkt und strahlte in tiefem Blau, das nur von der Sonne unterbrochen wurde, die nach ihrer langen Abwesenheit offensichtlich zu alter Kraft zurückgefunden hatte. „Dein Vater will, dass du ihn gleich auf den Markt begleitest. Beweg endlich deinen Hintern.“ Er öffnete die Augen und blickte in die Richtung aus der die Stimme kam. Im Tor zum Garten stand eine kleine stämmige Frau. Ihr Gesicht sah aus als hätte es schon viel erlebt. Die Nase hatte eine kleine Macke, als wäre sie mal gebrochen gewesen und ihre Wangen waren übersät von feinen Narben. Ihr Alter war schwer zu erraten. War sie 30 Jahre Alt? Ihre Haare waren jedenfalls pechschwarz und zeigten keine Spur Grau, wie es bei den meisten anderen älteren Dienerinnen der Fall war. Sie stand leicht vornübergebeugt und hielt eine Schale mit Wasser in der Hand. Über ihrem Arm hingen mehrere saubere Tücher. „Glotz mich nicht an sondern beweg dich!“, murrte sie mit einer erhobenen Augenbraue und streckte fordernd die Wasserschale vor sich aus. Mürrisch erhob er sich von der Wiese und stöhnte dabei leicht vor Anstrengung. „Der arme kleine Lord hat es schwer?“, feixte die Frau und stellte die Schale grinsend auf den kleinen Tisch der neben der Tür stand. „Wenn Vater hören würde wie du mit mir sprichst würde er dich vermutlich auspeitschen lassen“, antwortete er scherzhaft und warf mit einem Brocken Erde nach der Tür, der sie jedoch knapp verfehlte. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Dann werde ich wohl darauf hoffen müssen, dass er niemals davon erfährt.“, entgegnete sie und warf ihm mit einer flinken Bewegung die Tücher zu. Er war noch hektisch mit dem Auffangen beschäftigt als sie bereits wieder im inneren des Schlosses verschwunden war. Jetzt musste auch er grinsen und fing an seine Hände in das kalte Wasser zu tauchen.
Während er sich wusch musste er über die kommenden Tage nachdenken. Bald wurde er 17 Jahre alt und damit ein vollwertiges und mündiges Mitglied der Gesellschaft. Ob sein Vater ihn deshalb sehen wollte? Und was er wohl auf dem Markt vorhatte? Besonders Erwachsen fühlte er sich nicht, obwohl es bald soweit war. Er war zwar nicht der kleinste und auch nicht der schwächste unter seinen Freunden, doch an seinen Vater oder dessen Königs-Garde reichte er noch lange nicht heran. Und einen Bart wie der von seinem Onkel konnte er sich auch noch nicht stehen lassen. Genervt blickte er auf die Wasseroberfläche, die sich langsam beruhigte, bis er darin sein Spiegelbild erkennen konnte. Sein Gesicht war immer noch das eines Jungen, die Ansätze eines Bartes hatte er sich gründlich rasieren lassen. Die hellbraunen Augen suchten aufmerksam sein Kinn und seine Oberlippe ab um zu sehen ob der Barbier auch gute Arbeit geleistet hatte. Er konnte keinen Makel feststellen, strich seine mittellangen Haare zurück, anschließend mit einem Seufzer durch die Schale und machte sich auf den Weg in seine Gemächer um sich für dein Ausflug mit seinem Vater angemessen anzukleiden, auch wenn er solche Anlässe nicht besonders mochte. Warum sollte er sich in der Öffentlichkeit gestelzt aufführen, wenn er noch überhaupt nicht König war? Außerdem war sein Vater im Gegensatz zu den Monarchen benachbarter Ländereien noch jung, geradezu in der Blüte seines Lebens – und da er laut Gesetz den Thron erst nach dem Tod seines Vaters übernehmen konnte hatte er wohl noch genug Zeit um sein Leben zu genießen. In Gedanken vertieft schlurfte er die Flure des Schlosses entlang und summte dabei die Hymne seines Landes. Bald war er 17 Jahre alt. Vielleicht würde sich dann einiges ändern und sein Vater würde in seiner Strenge ihm gegenüber etwas nachlassen. In seinen Räumlichkeiten angekommen musste er sich gar nicht die Mühe machen, passende Kleidung herauszusuchen. Seine Dienerin hatte das anscheinend schon erledigt. Mit einer angesäuerten Miene nahm er die Gewänder vom Bett und zog sich an. Als er mit der langwierigen Prozedur fertig war schlurfte er wieder aus seinem Zimmer. Seine beine steckten in Strumpfhosen, über denen sich an den Oberschenkeln Seide aufplusterte und Teile seines Hemdes wehten verspielt hinter ihm her. Vor der Tür wartete seine Dienerin und schaute ihn mit ihren aufmerksamen Augen verschmitzt an. „Hübsch siehst du aus“, kicherte sie und wies ihm mit der Hand an voran zu gehen. „Wir sind spät dran. Ich hoffe deine Vögelstelzen tragen dich? Oder soll ich nachhelfen?“, fragte sie und bot ihm den anderen Arm als Stütze an. Verärgert und belustigt zugleich fiel ihm keine schlagfertige Entgegnung ein und er stapfte mit einem grunzen an ihr vorbei. „Ich weiss nicht was ich ohne dich machen würde Gerda. Wenigstens ein Mensch der normal mit mir umgeht. Ohne dich würde ich vermutlich vor Langeweile sterben“.
Bildmaterialien: Josef Hirsch
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet Katharina und Stefan, die mich zum schreiben inspiriert und motiviert haben.