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überarbeitungswürdig




die Stimme des alten Mannes

 

 

 

 

Er fand die Couch ganz bepuem, aber eigentlich gefiel er sich vor allem in der Rolle des stillen Beobachters, dieses jungen merkwürdigen Mannes. Dieser fiel ihm vor zwei Tagen auf, als er durch die Nachbarwohnungen seines als letztes, bewohnten Mietshauses streifte. Vor etwas mehr als zwei Wochen war er dort in seiner kleinen zwei Zimmer Wohnung gestorben. Nach einem ersten kurzen Schock, fühlte er sich frei und es machte ihn regelrecht glücklich, weil es ihn in diesem Moment von jeglichem Leid, ob nun körperlich oder seelisch, befreit hat. Nach dem Genuß, alte und vertraute Plätze aufzusuchen, beschloss er seine Liebsten und die wenigen noch lebenen Freunde aufzusuchen. Es schmerzte ihn, denn er kannte diesen Verlust nur zu gut. Es strengte ihn sehr an, wie die eigenen Kinder über sein Verschwinden weinten. Als seine Frau starb, konnte er Trost spenden, wie schon viele Male zuvor. Bei jedem Tod war er ein Teil der Lebenen, aber jetzt erfuhr er die andere Seite und doch auch noch die ihm Vertraute. Seine Kinder waren ihm immer sehr nah, denn er hat immer ein gutes Händchen in der Erziehung bewiesen, auch wenn die Beziehung zu seiner Frau ein einziges auf und ab war. Sie bekam schon kurz nach der ersten Geburt schwere Depresssionen und mit so einer großen Schwäche kam er einfach nie wirklich klar. Es war ein Kampf, den er nur im Inneren führte und der über den Tod anzuhalten schien. Jetzt kämpfte er mit einer eigenen Schwäche, wie er fand, er wollte nicht ihr Leid und ihre Trauer, um ihn, mit ihnen teilen. Flucht war ein Gedanke, der immer stärker zu werden schien und sie, die Flucht, war schon so weit voran geschritten, das er sich pausenlos von allen Vertrauten abwendete, sobald ihr Blick in seine Richtung ging. Er spürte Angst aus der Gewissheit, sie alle für immer verloren zu haben und noch heftiger, sein Leben irgendwann gänzlich ausgelöscht zu wissen. Ein unvermeidlicher Prozess, aber warum passierte alles so schnell, als würde alles gleichzeitig aufeinander einstürzen. Es wurde einfach zu viel und er beschloss sofort zu gehen, ohne Wiederkehr.

Nach ein paar Stunden und vielen Kilometern zwischen ihm und seinem früheren Leben kam er wieder zu sich und war wesentlich erleichtert. Er dachte nach und sah dabei in den offenen Sternenhimmel und dabei bemerkte er, das ihn sein zuletzt vertrautes Umfeld fehlte und dies war die kleine Wohnung, in die er nach dem Tod seiner Frau gezogen war. Dort fand er zu einer inneren Ruhe und friedlicher Gelassenheit, die er so an sich selbst noch nie gekannt hatte. Es waren seine vier heiligen Wände, wie er immer sagte, wenn er darüber sprach. Dort war nur er, der ihn was anging und nur er, dem er was schuldig blieb und dabei lebte er noch einmal richtg auf. Er hörte z.B. stundenlang seine Musik, saß in seinem Sessel und träumte vor sich hin. Er laß stundenlang Zeitung oder auch alle möglichen Magazine, die ihm früher gar nicht bewußt waren, denn er hatte nur selten für etwas Zeit. Immer nahm ihn irgend jemand in Beschlag und er machte es auch gern. Aber nach den ersten drei Wochen in Abgeschiedenheit seiner kleinen Wohnung, wo noch kaum einer davon wußte, gab ihm dieses völlig gegesätzliche Leben soviel zurück, das er auf keinen Fall in sein altes Leben zurückkehren wollte.

Als er jedoch hoffungsvoll über die Feuerleiter durch sein Wohnungsfenster schaute, war alles Vertraute verschwunden, seine heiligen vier Wände wurden gerade renoviert.

Das machte ihn ziemlich wütend und es kamen ihm einige heftige Schimpfwörter in den Sinn, die dann auch aus ihm heraus brachen. Dann hörte er auf einmal die viel zu laute Musik, die schon die ganze Zeit unüberhörbar war, der reinste Krach, wie er fand und er erinnerte sich, das das schon so war, als er vor ein paar Jahren einzog. Da war aber nichts zu machen, weil sich der junge Kerl immer an die Ruhezeiten hielt und weil das Haus so viele Mietparteien hat, wußte er nie so genau, wer der Übeltäter war. Es kamen mehrere in Frage, aber heute wollte er es wissen, also hörte er an jedem Fenster in jedem Stockwerk. Ganz oben angekommen, sah er ihn, wie der Irre gerade an seinem Bier nuckelte und es war gerade früher Nachmittag. Das dieser faule Sack nicht arbeiten geht, war ihm schon früher klar gewesen, denn dafür hatte der gar nicht die Zeit, bei einem so regelmäßigen Zeitvertreib, alle anderen Mieter bis in den frühen Abend mit seinem Musikgeschmack zu maltretieren.

Eigentlich wollte er gleich wieder kehrt machen und sich an einem ruhigen Fleckchen wieder abreagieren, aber etwas hielt ihn fest. Die eine Frage, die ihn ständig bedrängte. Warum macht der das fast jeden Tag? Aber letztlich war sein Alltag in den letzten Jahren auch nicht viel anders, und das hat er ja auch voll ausgekostet. Auf einmal fing der Typ auch noch wie wild zu tanzen an, so wie sie das heute eben tun und auch seine Kinder, es schon vor dreißig Jahren, zu ihrer Zeit taten. Das machte ihn stutzig, denn der Typ muss ungefähr so viel in seiner Wohnung verbringen, wie er es tat, erinnert hat er ihn, im Wesentlichen, aber mehr an seine Kinder und derer Kinder.

Trotzdem spürte er Nähe und Neugier und beschloss noch zu warten, um zu sehen, was er macht, wenn normalerweise die Musik aufhört, die durch jede Wohnung zu strömen vermag, und alle, wie auch er früher, so in einen entspannten Abend fanden. Er machte sich diese laute Musik seines Nachbarn oft auch zum Vorteil, da es ein Vorwand war das Telefon überhört zu haben, weil nur Kopfhörer auf den Ohren, diesen Frevel etwas entgegen zu setzen hatten, wie er immer argumentierte. Er behauptete auch sehr häufig, er hätte einen Spaziergang gemacht und dabei ein Handy mitzunehmen, würde den Sinn des Spazieren gehens völlig unterwandern. Aber eigentlich vermied er es vor die Tür zu gehen, denn er hatte weder Lust noch Kraft dazu. Er ging nur zweimal die Woche das Nötigste im Supermarkt einkaufen und legte eine Sammlung klassischer Musik per Katalog an. Es war die eine große Entdeckung in seinen letzten Lebensjahren und die große Veränderung hin zur völligen Einsamkeit. Es war fast so, als hätte Brahms ihm gesagt, er soll sein Leben komplett anders leben, in dem Moment als er Feuer fing in einem inneren Sturm, der alles vergilbte und vertraute hinweg zu fegen schien. Bis dahin mochte er vieles nicht, vor allem die technische Entwicklung und die dazu gehörigen jungen Generationen, die sich für nichts anderes mehr zu interessieren schienen. Er hielt lange Monologe oder diskutierte mit jedem der sich dazu einfand, oft stundenlang bis spät in die Nacht. Als er aber mit wachsener Begeisterung Klassik hörte und ihn diese immer mehr von seinem Alltäglichen hinweg träumen ließ, erkannte er, das er auch kein richtiges Leben mehr hatte und nur engstürnig an dem Verbliebenen festzuhalten schien. Er erkannte das er alt war und fühlte tief innen drin, das er sein Leben bereits gelebt hatte und auch gar nicht mehr wollte, als zu ruhen und zu träumen.

Zunächst träumte er sich nur in die Vergangenheit, zu seinen Kindern und seiner Frau, aber immer öfter schweiften seine Gedanken ab und er stellte sich ein alternatives Leben vor, meistens nahm es den Anfang in seiner Jugend, Jahre bevor er seine Frau kennen lernte. Dabei wanderte er aus, mal nach Amerika oder Afrika. Es wurde mit der Zeit immer ausgefallener und komplexer, das er sich z.B. vorstellte die Zeichen der Zeit richtig erkannt zu haben und auf eigene Faust aus Amerika zurück gekehrt, Hitler zu töten und so auch noch zum großen Volkshelden zu werden. Darüber verlor er manchmal für Tage den Sinn für die Realität und er liebte es, wenn er bemerkte das er für Tage ein Anderer war und ganz woanders, in einer anderen Zeit. Seine klassische Musik war sein Sprungbrett und hielt ihn auch dort, denn für ihn war sie zeitlos und ganz sicher nicht erst in den letzten Jahrhunderten enstanden. Die Lust daran entwickelte sich auch, denn irgendwann war nicht mehr er die Person, um die es ging, sondern die unterschiedlichsten Charaktere, oft miteinander völlig verwoben.

Es bildteten sich Konstrukte, die er über Wochen weiterspinnte und ihm niemals ein Detail verloren zu gehen schien. Bald meinte er, sie besser aufschreiben zu müssen, aber es gelang ihm kein einziges mal, denn die Geschichten gleichzeitig zu fühlen und in so langsamer Art, sie dann festhalten zu wollen, blieb ihm versagt. Er versuchte es immer wieder und wurde darüber immer trauriger, diese Geschichten, in für ihn wundervoller Pracht vor seinem geistigen Auge ablaufen zu sehen, ohne sich anstrengen zu müssen und gleichzeitig keine Methode funktionierte, sie einzufangen.

Er musste dabei nicht die Augen schließen, er konnte sich dabei auch was zu Essen machen oder auch ein wenig in seiner Wohnung putzen und für Ordnung sorgen und manchmal suchte er auch bewußt eine Pause, indem er Zeitung las oder in einem Buch. Doch seine Musik lief ununterbrochen, er schaffte sich sogar einen Discman an, damit ihn die Leute beim Einkaufen nicht so unangenehm störten. Von seiner Familie bekam er kaum noch was mit. Er hatte mit seinen Kindern vereinbart, sich einmal pro Woche zu melden, dann würden sie ihn weitgehend in Ruhe lassen. Sie liebten ihn und vertrauten ihm auch genauso, und ihr Respekt ihm gegenüber ließ sie erst gar nicht groß fragen, da er sie auch schon immer zu manipulieren verstand.

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.01.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Sehr verwoben mit meinem eigenem Leben, deshalb bedeutet Sie mir auch etwas.

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