Das Eis war sein Element. An keinem Ort der Welt fühlte er sich so wohl, wie auf einer Eisfläche. Vermutlich war er in einem früheren Leben einmal ein Eisbär oder ein Pinguin gewesen.
Als Lennart seine Schlittschuhe anzog und auf die von zahlreichen Kufen zerfurchte Eisfläche trat, klopfte sein Herz heftig. Seit seiner frühesten Kindheit bewegte er sich schon sicherer auf dem gefrorenen Boden als außerhalb davon. Seiner Familie wäre es lieber, wenn er sich für Fußball oder Eishockey entschieden hätte, Sportarten, die sie für einen Mann angemessener hielten. Lennart waren die Sitten jedoch zu rau und er für ruppigen Kontaktsport viel zu schmächtig gebaut.
Seine Erfüllung fand er im Eiskunstlauf, weil es ihm gefiel, nicht nur, um Medaillen und Trophäen einzuheimsen. Alles Glück der Erde lag für ihn auf der Eisfläche. Dank Tanz- und Ballettunterricht war er einer der Besten, für Olympia reichte es allerdings bei Weitem nicht. Obwohl er seit frühester Jugend hart für seine Karriere arbeitete, schaffte er es bisher gerade mal auf einen dritten Platz bei einer regionalen Meisterschaft. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, um sich den Traum einer Goldmedaille zu erfüllen. Er war 22. Inzwischen liefen ihm 16-jährige Konkurrenten den Rang ab. Doch dieses Jahr wollte es Lennart wissen. Er trainierte so verbissen wie noch nie, stand fast jeden Tag auf dem Eis, um seine Kür einzustudieren. Aber wie oft er die Sprünge und Drehungen auch übte, irgendwas war immer falsch.
Sein Trainer Juri verzweifelte regelmäßig an ihm.
»Lennart!«, hörte er die Stimme Juris zum wiederholten Male von der Bande her. »Mehr Eleganz!«
Lennart knurrte in sich hinein. Bis vor einigen Wochen war es kein Problem gewesen, das Training ungezwungen zu absolvieren, und sich auf die Anweisungen des Coachs zu konzentrieren. Zu Beginn der Saison war aber eine Hobby-Eishockeymannschaft dazugekommen. Zudem war der Amateurmannschaft der Sprung in die Liga gelungen, worauf sie weitere Trainingseinheiten erhielten und die Belegungspläne geändert wurden. Die Zeiten waren nun enger gesetzt oder gar doppelt belegt, sodass es zu manchen Stunden nicht mehr möglich war, sich aus dem Weg zu gehen. Zwischen den rüden Hockeyspielern und den eher grazilen Eiskunstläufern gab es seit jeher Spannungen. Die Neandertaler, wie Lennart sie am liebsten nannte, hielten alle männlichen Eistänzer für schwul, überschütteten sie daher mit Hohn und Spott und nicht selten auch mit groben Gemeinheiten. Für Lennart besaßen sie nicht einmal so viel Intelligenz wie ein Meter Feldweg. Solange zwischen ihren Trainingseinheiten genug Zeit lag, um die Halle rechtzeitig zu verlassen, konnten Zwischenfälle vermieden werden. Doch nun mussten sie sich die Eisfläche mit dem Wolfspack teilen.
»Nimm den Stock aus dem Arsch, Lennart!«, brüllte Juri vom Rand her.
Mit einem Knurren versuchte Lennart, den Lärm auszublenden, der von der anderen Hälfte des Eises zu ihm herüberdrang. Bei jedem Trainingsschuss auf das Tor grölten die Hockeyspieler in bester Stammtischmanier. Vor allem, wenn der Torwart versagte und einen Puck in seinem Netzkäfig kassierte. Dann schwoll das Brüllen so unangenehm an, dass einem die Ohren dröhnten und man sich kaum auf die eigenen Schritte und Übungen konzentrieren konnte. Tatsächlich verlor Lennart bei der Biellmann-Pirouette die Balance und musste abbrechen, noch ehe er für die Drehungen richtig Schwung holen konnte.
»Was ist mit dir los, Lennart?«, wollte Juri wissen, stieß sich von der metallenen Umrandung der Eisfläche ab, an der er sich angelehnt hatte, um Lennart zu beobachten, und glitt zu seinem Schützling. »Wo ist dein Kopf heute?«
»Nicht da, wo er sein sollte«, gab Lennart mürrisch und atemlos von sich und warf einen missmutigen Blick in die Richtung der Spieler. »Müssen die ausgerechnet dann ihr Machogehabe zur Schau stellen, wenn wir trainieren? Außerdem kann ich für die Sprünge kaum genug Fahrt aufnehmen.« Sich die Eisfläche mit den anderen Kunstläufern teilen zu müssen, stellte für Lennart nie ein Problem dar. Sie nahmen aufeinander Rücksicht und vollführten ihre raumgreifenden Sprünge und Übungen nacheinander, sodass sie sich kaum in die Quere kamen. Wenn ihnen allerdings nur noch die Hälfte der Fläche zur Verfügung stand, war es schwer, nicht zu kollidieren. Lennart hatte heute bei seiner Kür bereits mehrmals abbremsen oder ausweichen müssen. Mit ihm trainierten auch einige jüngere Eistänzer und Eistänzerinnen für die Juniorenmeisterschaft. Die Situation war seiner Meinung nach unzumutbar. Die deutsche Meisterschaft im Eiskunstlauf rückte unaufhaltsam näher. Lennart bezweifelte, dass er sich unter diesen Voraussetzungen überhaupt einen Platz auf dem Treppchen ergattern konnte.
Entschlossen, sich nicht von den Primaten auf der anderen Hälfte der Eisfläche beeindrucken zu lassen, nahm er Anlauf. Der Doppelaxel war einer seiner leichtesten Übungen. Ihn beherrschte er bereits als Elfjähriger einwandfrei, obwohl er als der Schwierigste galt. Da er für die Vorbereitung rückwärts glitt, erhaschte er erst im letzten Moment Personen, die rasch auf ihn zukamen. Drei Spieler preschten einem Puck hinterher und würden zweifelsohne mit ihm zusammenstoßen, denn ihre Wege führten geradewegs aufeinander zu. Dass sich die Eishockeyspieler damit auf die Fläche der Eiskunstläufer begaben, die deutlich durch die Mittellinie gekennzeichnet war, schien sie nicht im Geringsten zu interessieren. Lennart geriet durch das Auftauchen der Männer in Ungleichgewicht, da er instinktiv eine Vollbremsung vollführte. Dabei knickte ihm der Fuß weg und er landete wenig elegant auf dem Hosenboden. Der Schwung reichte noch aus, ihn umkippen zu lassen, sodass er halb seitlich weiter schlitterte und unsanft gegen die Umrandung prallte.
Gelächter wurde laut. Die drei Hockeyspieler vergaßen den davonflitzenden Puck und umringten den auf dem Boden liegenden Lennart, um ihn mit höhnischen Sprüchen zu überschütten.
Ächzend rappelte sich Lennart auf die Beine. Es war nicht sein erster Sturz und würde auch nicht sein letzter sein. Er hatte sich sogar schon mehrmals etwas gebrochen. Aus Zucker war er wahrlich nicht. Er konnte einiges aushalten. Blaue Flecken und Muskelkater gehörten zum alltäglichen Training dazu. Aber Hohn und Spott konnte er gar nicht haben. Erst recht nicht vom Wolfspack.
»Fickt euch, ihr Arschlöcher!«, spie er ihnen verächtlich entgegen. Lennarts derbe Antwort entlockte den Männern, die nur dank ihrer Schutzausrüstung größer und beeindruckender aussahen, weiteres Gelächter.
»He, du Tanzmaus!«, flötete einer von ihnen und wackelte auffällig mit der Hüfte, als er etwas näher heranglitt. »Hast du nicht genug schwule Schwänze, um dich abzureagieren?«, ätzte er weiter.
»Ihr unterentwickelten Schwachmaten könnt doch einen Schwanz nicht von einem Essiggürkchen unterscheiden«, hielt Lennart dagegen, reckte seine Brust und baute sich provozierend vor dem Spieler auf. »Hast du denn schon Erfahrungen mit Cornichons?«
Erwartungsgemäß glotzte ihn der Spieler an, als hätte ihm sein Gegenüber eben eine Quantenphysikaufgabe gestellt. Um seine Unsicherheit zu überspielen fing er zu lachen an, stieß seine Mitspieler an und animierte sie dazu, in sein höhnisches Gelächter einzufallen. Die beiden, die mit ihm dem Puck hinterher gehetzt waren, fielen mit ein. Ein Vierter, der sich erst später zu ihnen gesellt hatte, blieb teilnahmslos.
Lennarts Herz schlug augenblicklich schneller. Ihm wurde heiß. Seine Beine zitterten urplötzlich. Für einen Moment musste er tatsächlich ums Gleichgewicht kämpfen. Rasch hatte er sich wieder unter Kontrolle, straffte sich und wollte schon eine weitere Beleidigung loswerden, als ihn ein schriller Pfiff davon abhielt.
Juri war bei ihnen, schob sich zwischen Lennart und die rüden Kerle und fauchte die mit Plastikmuskeln bepackten Männer an. »Zurück in eure Körbchen!«, blaffte er, deutete mit dem Zeigefinger zur anderen Hälfte der Eisfläche. »Wagt es nicht noch einmal, rüberzukommen. Sonst nehme ich euch euer Bällchen weg.«
»Der Oberhomo hat uns nichts zu sagen!«, kam es prompt. Der angemotzte Spieler schien nur auf diese Gelegenheit gewartet zu haben, glitt etwas näher heran und baute sich in seiner vollen Größe vor Juri auf. In seiner Eishockeyausrüstung wirkte er wahrlich unbesiegbar und einschüchternd. Der Coach ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken. Als der Spieler unvermittelt vorwärts zuckte, wahrscheinlich nur, um den wesentlich älteren einzuschüchtern, kickte Juri ihm mit einem ebenso flinken Tritt das Standbein weg, sodass dieser auf die Eisfläche fiel.
Sofort waren die anderen Hockeyspieler bei ihnen, machten sich für eine handfeste Auseinandersetzung bereit.
»Auseinander!«, brüllte Thomas, der Eishockeycoach, schob sich in die Mitte des Pulks und schubste seine Spieler von Juri weg. »Wenn ihr euch wie Idioten benehmt, werdet ihr auch nicht anders behandelt!«, pfiff er sie an. »Zurück auf eure Plätze oder ihr dreht bis zum nächsten Spiel Strafrunden.« Seine Stimme donnerte laut und eindringlich durch die Eishalle. Die sonst so rüden und unerschrockenen Hockeyspieler trollten sich auf ihre Hälfte des Eises und widmeten sich wieder ihren Trainingsübungen, wenn auch murrend und maulend.
Thomas wandte sich an Juri und Lennart. »Alles in Ordnung?«
Juri nickte, atmete tief ein. Ihre Blicke hielten für einen Moment aneinander fest, sodass Lennart sich nicht sicher war, ob sie ein stummes Duell miteinander ausfochten oder gerade im Begriff waren, sich ineinander zu verlieben. Tatsächlich wusste er, dass Juri auf derselben Uferseite fischte wie Lennart, der schon als Jugendlicher lieber knackigen Männerhintern hinterhergesehen hatte als leicht bekleideten Mädchen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sich Lennart sicher gewesen, dass die Freundschaft zwischen den beiden Coaches rein ihrer gemeinsamen Liebe zum Eissport und der Loyalität zum Verein galt. Dieser intensive Blick verunsicherte ihn, sodass er nicht mehr sagen konnte, wie er das Verhältnis der zwei deuten sollte.
Mit einem Seufzen wandte sich Juri um und schob Lennart vor sich her. »Wir sind noch nicht fertig«, grummelte er. »Alles noch mal von vorn.«
Nach wie vor aufgewühlt von der Auseinandersetzung, nahm Lennart erneut für einen Doppelaxel Anlauf, schaffte es diesmal mühelos, worauf er gleich den Dreifachen hinterher schob. Er hielt ihn, kam ohne zu Wackeln auf und vollführte auch den Rest seiner Kür fehlerlos. Zwar musste er die Wege kürzen, da ihm nicht die ganze Eisfläche zur Verfügung stand und ihn hin und wieder andere Eiskunstläufer kreuzten. Er war jedoch erfahren genug, um zu improvisieren. Es ging in dieser Trainingseinheit auch darum, die Sprünge und Pirouetten stärker zu verinnerlichen.
In diesem Jahr wollte er unbedingt eine Medaille.
»Lass dich von den Idioten nicht verunsichern«, riet ihm Juri, als Lennart schwer atmend zu ihm glitt und die Wasserflasche annahm, die ihm dieser entgegenhielt. »Du musst dich fokussieren, nur an die nächsten Schritte denken.«
»Das ist etwas schwer, wenn die Brüllaffen einen solchen Krach machen.« Er setzte die Flasche an und trank durstig.
Ein Schmunzeln huschte um Juris Lippen. »Diese Brüllaffen sind dabei, sich den Meistertitel zu holen.«
»Genauso wie ich die Goldmedaille«, gab Lennart zynisch von sich und nahm noch einen Schluck, ehe er an Juri zurückgab. »Beim Toeloop bleibe ich immer mit der Zacke hängen. Das hält mich zu sehr auf, worauf der Dreier nur mit Mühe gelingt. Das Eis ist zu zerfurcht.«
»Da müssen wir durch.« Juri deutete auf die Eisfläche. »Dann versuche es ohne anzutippen.«
Lennart schüttelte den Kopf. Die Abläufe waren schon so integriert, dass er sie ungern änderte. »Ich brauche nur mal wieder ein sauberes Eis. Der Belegungsplan ist so eng gesteckt, dass Sameh kaum Zeit hat, die Fläche zu reparieren.«
»Nach den ersten Spielen wird es besser«, versicherte ihm Juri und nickte Richtung Eis. »Noch mal und wenn es geht mit mehr Eleganz. Du bist viel zu steif in den Zwischensequenzen, als könntest du dich nicht mehr bewegen.«
»Ich kann mich bewegen«, murrte Lennart, stieß sich von der Bande ab und bog sich tief zu einer Perlenpirouette. Ballettunterricht und akrobatische Gymnastik seit seinem dritten Lebensjahr hatten seinen Körper geformt und ihn so elastisch gemacht, dass es ihm keine Probleme bereitete, welche Verrenkungen er auch immer absolvierte.
»Angeber!«, gab Juri lachend von sich, als Lennart leicht wankend, weil ihm etwas schwindelig geworden war, angehalten hatte. »Ich will deine Sprünge sehen.«
»Was jetzt?«, murrte Lennart, trotzdem mit einem Schmunzeln in der Stimme. »Ich dachte, du möchtest mehr Eleganz?«
»Ja, das auch.« Juri wedelte mit der rechten Hand, als wollte er Lennart fortscheuchen. »Einmal Rittberger, einmal Toeloop im Wechsel, bis es mit dem Antippen klappt.«
»Sklaventreiber!« Lennart stieß sich ab, umrundete die Hälfte der Eisfläche im schnellen Schritt und setzte dann zum ersten Sprung an, als er genug Fahrt drauf hatte. Der vierfache Rittberger klappte mühelos. Beim Toeloop blieb er an einer Furche im Eis hängen, stolperte über die eigenen Kufen und landete unsanft an der Bande. Sofort sprang er wieder auf und versuchte es ein weiteres Mal. Dass bereits unzählige Sprünge und Manöver von ihm und den anderen Eiskunstläufern das Eis zu einer Kraterlandschaft verarbeitet hatten, war nicht gerade hilfreich für ihn. Doch da musste er durch. Er probierte es so oft, bis ihm der erste dreifache Toeloop, danach der vierfache gelang. Hocherfreut stieß er ein Jauchzen aus. Mit einem Blick zu Juri starb es dahingegen sofort wieder, da er ihm mit einer fast schon gelangweilten Handbewegung zu verstehen gab, es gleich noch einmal zu versuchen.
Lennart nahm Anlauf, musste dabei einem Mädchen ausweichen, das einen Spreizsprung machte und ihn nur knapp verfehlte. Es trug einen lilafarbenen Tüllrock wie eine Primaballerina. Sofort erinnerte sich Lennart an etwas aus seiner Vergangenheit und er musste spontan lachen. Der Toeloop ging natürlich daneben. Kichernd hockte er schließlich auf dem Eis und rappelte sich langsam auf.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Juri, der sofort herangekommen war und ihm aufhalf.
»Ja, alles bestens.« Sein Blick folgte der höchstens zehn Jahre alten Läuferin. Noch immer hatte er das Bild vor Augen. Juri sah ihr ebenfalls hinterher, vermochte dennoch nicht zu sehen, was es in Lennart ausgelöst hatte.
»Was ist mit ihr?«
»Der Rock«, erklärte Lennart. »So einen habe ich auch, von meiner ersten Ballettmatinee ...« Dass er das Tüllröckchen aufgehoben und wie einen Schatz gehütet hatte, war ihm in den vergangenen Jahren immer wieder sinnlos erschienen. Dennoch konnte er sich nicht dazu durchringen, das Überbleibsel aus seiner Kindheit zu entsorgen. Zu sehr hatte er dafür gekämpft, sodass es ihm wie eine wertvolle Trophäe vorkam.
»Du kannst es ja zum nächsten Training anziehen. Damit hätte dann das Wolfspack einen wirklichen Grund zum Lästern. Konzentriere dich, Lennart!« Juris Stimme war scharf geworden. »Der Toeloop klappt noch nicht.«
»Ich weiß.« Lennart wandte sich ab und nahm erneut Anlauf, um den Sprung so lange zu üben, bis er ihn drei Mal hintereinander fehlerfrei hinbekam. Zu einem vierten Mal ließ er sich jedoch nicht überreden, da ihm inzwischen die Beine schmerzten und er müde geworden war. Ihre zugewiesene Zeit war ohnehin vorbei. Ein Großteil der anderen Eiskunstläufer hatte die Eisfläche bereits verlassen. Das Mädchen mit dem lila Tüllrock drehte noch immer ihre Runden. Lennart beobachtete sie fasziniert, während er zum Ausgang glitt.
In seinen Gedanken war er wieder bei den Vorbereitungen zur Matinee und sah sich erneut beim Streitgespräch mit der Ballettlehrerin, die darauf beharrte, dass er als einziger Junge in der Gruppe kein Röckchen anziehen durfte. Klein Lennart verstand es trotz allem Zureden nicht und erkämpfte sich schreiend und mit den Füßen aufstampfend den Tüllrock. Die schmunzelnden und belustigten Blicke der Zuschauer bemerkte er nicht, da er so stolz auf den Rock war und sich ganz und gar darauf konzentrierte, alles richtig zu machen.
Etwas prallte hart auf ihn. Erschrocken wandte er sich um und erschrak, als er direkt in Viktors Gesicht starrte. Das Wolfspack musste sich im selben Augenblick auf den Weg zum Ausgang gemacht haben wie Lennart. Unweigerlich trafen sie am Zugang zu den Umkleiden aufeinander.
Abermals schlug Lennarts Herz sofort wie wild in der Brust, schien ausbrechen und davonlaufen zu wollen. In seiner Kehle bildete sich ein dicker Staubklumpen, der ihn daran hinderte, etwas zu sagen, geschweige denn Luft zu holen. Sein ganzer Körper war auf einmal so steif, wie zu Stein geworden. Es gelang ihm nicht, ein wenig mehr Abstand zwischen sie zu bringen. Zudem hatte Viktor die Hände ausgestreckt und an Lennarts Schultern gelegt, um die Kollision abzumildern. Als wäre es nicht genug an Blamage, sah er sich nun vom höhnisch grölenden Wolfspack umringt. Jemand schubste ihn höchst unsanft, direkt auf Viktor zu, dessen Griff an den Schultern fester wurde, um Lennart von sich abzuhalten. Dennoch prallten ihre Köpfe aneinander. Ein Zusammenstoß, der nur für Lennart äußerst schmerzhaft ausfiel, da Viktor noch seinen Helm trug.
»Alles gut?«, erkundigte sich Viktor augenblicklich. Seine sonst so tiefe und sonore Stimme war auf einmal ganz sanft und klang besorgt. Er flüsterte nahezu, war in dem Lärm, den seine Kameraden machten, kaum zu verstehen.
Lennart nickte, riss sich hektisch aus dem Griff heraus und stieß sogar zwei Männer von sich, die sich in obszöner Absicht an ihm reiben wollten. »Was für Flachwichser ihr doch seid«, keifte Lennart über die Schulter hinweg und stapfte in Richtung Umkleide. Für die Kufenschoner blieb keine Zeit. Hierfür hätte er zurückgehen und sich an ihnen vorbeischieben müssen. Die Kanten seiner Schlittschuhe würden es ihm absolut nicht danken. Lennart marschierte dennoch weiter und atmete erst durch, als er sich in der Umkleide auf die Bank niedersinken ließ. »Was für Arschlöcher!«, grummelte er verärgert. Er spürte noch immer die harte Kunststoffpanzerung an seiner Hüfte. Zu seiner Erleichterung nutzten die Hockeyspieler einen der anderen Räume, sodass ihm eine weitere Zusammenkunft mit ihnen erspart blieb. Statt ihrer tauchte Thomas auf und bedachte ihn mit einem entschuldigenden Blick.
»Vor einem wichtigen Spiel sind sie immer wie Kinder«, erklärte er. »Das wird nicht wieder vorkommen. Versprochen.«
»Schon gut.« Lennart konnte sich gerade noch davon abhalten, eine abwinkende Geste zu machen. Dass der Coach seine Schützlinge nicht wirklich im Griff hatte, kreidete er ihm übel an.
Ehe er zu einer weiteren Bemerkung ansetzen konnte, traf Juri ein. Abermals tauschten sie Blicke aus, die Lennart etwas verwirrt von einem zum anderen schauen ließ. Thomas wandte sich ab und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Lennart beugte sich zu Juri rüber, als dieser sich zu ihm setzte und ihm die Kufenschoner hinhielt. »Läuft da was zwischen euch?«
»Nein«, antwortete Juri viel zu hastig. »Lass dich von denen nicht so provozieren.«
»Tu ich auch nicht.« Lennart fauchte säuerlich. »Was ist da nun zwischen Thomas und dir?«
»Darüber solltest du dir nicht den Kopf zerbrechen.«
»Tu ich aber.« Lennart stülpte die Schoner über die Kufen, ließ seinen Trainer dabei keine Sekunde aus den Augen. »Du machst gemeinsame Sache mit dem Feind.«
»Ganz gewiss nicht.« Juri lehnte sich zurück. Sein Blick glitt zur Tür, wo vor wenigen Augenblicken noch Thomas gestanden hatte. »Er ist hetero. Das geht selten gut.«
»Dann schau ihn nicht so an«, riet Lennart. »Das bricht dir nur das Herz.«
Zwischen ihnen beiden herrschte auch wegen ihrer Homosexualität eine enge Bindung. Nicht, dass Lennart je mit dem mehr als doppelt so alten Juri ins Bett gehen würde. Aber sie schwebten dadurch auf einer Wellenlänge und verstanden sich daher so hervorragend wie kein anderes Trainer-Eiskunstläufer-Gespann.
Wenn es nur so einfach wäre.
Sein eigenes Herz sehnte sich nach einer ganz bestimmten Person. Er träumte von ihm, stellte sich vor, in seinen Armen zu liegen und gemeinsam mit ihm über das Eis zu gleiten. Aber leider stand er vor demselben Problem wie Juri.
Mit einem Seufzen lehnte sich Lennart an die Wand in seinem Rücken, schloss für einen Moment die Augen und gönnte sich den Luxus sehnsüchtiger Gedanken, die ihn Hand in Hand mit seinem Schwarm zeigten. Ein Lächeln musste über seine Lippen geglitten sein, denn Juri stieß ihn sanft an.
»Sieht aus, als hättest du dich auch verliebt.«
Mit einem Ruck trennte sich Lennart von seinen Tagträumen. »Dafür habe ich keine Zeit.« Er beugte sich vor, um die Schlittschuhe zu öffnen. »Ich will dieses Jahr eine Medaille. Am besten in Gold«, fügte er rasch an. »Dafür muss ich noch sehr viel tun.«
»Du musst noch lernen, dich besser zu konzentrieren. Jedes Mal wenn das Wolfspack mit uns trainiert, stehst du irgendwie neben dir. Dann scheint dein Kopf auf der anderen Hälfte der Eisfläche zu sein.« Mit einem Augenzwinkern hoffte er offenbar, die Aussage abzumildern. »Ist das Ziel deiner Träume etwa einer der Wölfe?«
»Vergiss es«, knurrte Lennart, zog sich den Schlittschuh von den Füßen und musste dabei ein Schaudern unterdrücken. »Mit dem Feind macht man keine gemeinsame Sache«, schob er mürrisch hinterher.
»Wir sind alle Mitglieder desselben Vereins«, erinnerte ihn Juri scharf. »Wir haben dasselbe Ziel.«
»Mag sein«, pflichtete ihm Lennart wenig überzeugt bei. »Aber wir haben unterschiedliche Wege und Methoden.« Er widmete sich dem anderen Schlittschuh. »Das solltest du auch tun. Es ist nicht gut, sich mit Heteros einzulassen. Ich denke, du hast genug Erfahrungen damit gesammelt, oder?«
Juri nickte lahm, kniff die Lippen zusammen und starrte für einen Moment vor sich ins Leere. Lennart kannte dessen Geschichte. Als er selbst an sich zweifelte und am liebsten alles hingeworfen hätte, war es Juri gewesen, der ihn mit seinen eigenen Erlebnissen Mut gegeben hatte. Juri war ein ehemaliger Eiskunstläufer, der mehr als einmal bei Olympiaden Gold geholt hatte, bis er von einem Konkurrenten zwangsläufig geoutet wurde. Die Karriere des Weißrussen war damit schlagartig beendet.
»Es gibt bestimmt noch andere Haie im großen Ozean der sexy Männer«, gab Lennart großspurig von sich, obwohl er selbst nicht daran glauben konnte. Seit langer Zeit existierte nur ein einziger Fisch für ihn.
»Konzentrieren wir uns einfach auf die deutsche Meisterschaft«, bemerkte Juri mit einem seltsamen Unterton. Es schien ihm genauso unangenehm zu sein, darüber zu reden. »Wir sollten noch ein paar schwierigere Figuren in die Kür einbauen. Ich befürchte, die Choreografie wird bei der Jury als zu leicht bewertet.«
Lennart richtete sich erschrocken auf. »Noch schwierigere? Meinst du etwa Fünffache?« Seine Stimme wurde vor Entsetzen schrill.
Hektisch schüttelte Juri den Kopf. Fünffache hatte noch kein einziger Eiskunstläufer bei einer Kür gezeigt. Dazu müsste er seine Rotationstechnik gewaltig ändern und sich zudem so dünn wie ein Bleistift machen. Lennart war alles andere als fähig, der Erste hierfür zu sein. Das wussten beide. »Ich lasse mir was einfallen«, gab der Trainer abwinkend von sich und stellte sich auf die Beine. »Ab in die Dusche. Wir sehen uns morgen.«
»Morgen?« Lennart überflog im Geiste seinen Trainingsplan. »Hast du nicht gesagt, wir sollen uns den Freitag freihalten?«
»Ja, weil da der Gesamtvorstand eine außerordentliche Versammlung einberufen hat. Ich denke, es geht um die Hundertfünfzigjahr-Feier.«
Das hatte Lennart glatt vergessen. Insgeheim war der freie Freitag bereits mit eigenen Aktivitäten wie Dehnungsübungen und Balancetraining bei sich zu Hause ausgebucht. »Ach ja, richtig«, gab er enttäuscht und fast schon mechanisch von sich. »Wann soll die Versammlung denn beginnen?«
»Um sechs. Sei pünktlich.«
»Da muss ich früher Feierabend machen.« Das gefiel weder seinem Chef noch ihm selbst. »Okay«, erwiderte er trotzdem. Musste er eben seine Überstunden einer langweiligen Zusammenkunft von Vereinsgenossen opfern.
»Bis morgen.« Juri klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und ließ ihn allein. Lennart sah ihm noch kurz hinterher, ehe er selbst aufstand, seine Duschsachen aus der Tasche kramte und zu den Nasszellen schlenderte. Dass die Stimmen des Wolfspacks mit jedem Schritt lauter wurden, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er überlegte sogar, wieder kehrtzumachen und zu Hause zu duschen. Er war total verschwitzt und hasste es, in den klebrigen Sachen länger als nötig zu sein. Daher suchte er sich eine Duschzelle aus, die weit von den anderen entfernt lag. Da jedoch die Mannschaft weitgehend komplett in die Duschen strömte, war er bald abermals von ihnen umringt.
Ausgerechnet Viktor stellte sich unter die Brause neben ihm. Lennart wandte ihm den Rücken zu und kämpfte darum, sein wild pochendes Herz niederzuringen. Wenn der Typ nicht so verboten heiß aussehen würde ...
Dieser durchtrainierte, muskulöse Körper machte ihn wahnsinnig. In der Eishockeymontur sah er schon zum Anbeißen aus. Ihn nackt zu wissen, zum Greifen nah, drohte Lennarts Synapsen zu überladen. Ihm wurde zunächst so heiß, dass er das Wasser voll auf kalt drehte, fing aber bald zu schlottern an, da sein Kreislauf am Durchdrehen war.
»Gehts dir gut?«, erkundigte sich Viktors sanfte, tiefe Stimme. Der Hauch eines slawischen Akzents schwebte mit jeder Silbe mit und machte Lennart erst recht wuschig.
Verdammt! Wenn er auch noch einen Ständer bekam, wäre die Kacke am Dampfen.
»Alles gut«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Nur keinen Ständer kriegen. Keinen Ständer kriegen. Niemals nicht. Bitte.
Dass die Dusche voller grölender Männer war, die sich mit derben Sprüchen über sexy Mädchen und die Art und Weise, wie sie sie flach zu legen gedachten, gefüllt war, erleichterte es Lennart, das Pochen in seinem Schritt einzudämmen. Vielleicht hätte er doch in seinen verschwitzten Klamotten nach Hause fahren und sich dort duschen sollen. Wäre besser gewesen für sein Herz.
»Du erfrierst noch.« Eine Hand griff an ihm vorbei und drehte das Wasser wärmer. »Du bist schon ganz blau.«
Am liebsten hätte Lennart die Hand weggeschlagen. Er konnte sich gerade noch davon abhalten und ließ es geschehen. Wohltuende warme Flüssigkeit rann über ihn und dämmte das Schlottern seiner Glieder allmählich ein.
Die kurze Unterhaltung lenkte die Aufmerksamkeit der anderen auf sie beide.
»Da ist ja die Tanzmaus«, rief prompt einer. Lachen wurde laut. Erwartungsgemäß klatschte ein Handtuch auf seinen Hintern. Lennart hätte eine Wette darauf abschließen können. Wie erwachsen konnten Eishockeyspieler eigentlich werden? Blieben sie auf der Entwicklungsstufe eines Vierjährigen stehen?
Der Schlag war nicht fest gewesen, brannte jedoch noch eine Weile nach. Lennart verbiss sich einen Schmerzenslaut. »Jetzt bist du wohl der Held was?«, fauchte er, ohne sich nach dem Täter umzudrehen. »Kleine, dürre Tanzmäuse zu schlagen, steht bestimmt ganz oben auf deiner Rangliste.«
»Du bist ein jämmerliches Klappergestell«, maulte der Spieler. Lennart erinnerte sich sogar an den Namen, ehe Viktor ihn nannte.
»Lass ihn, Oliver!« Dass er ihn nicht mit dem Spitznamen ansprach, ließ darauf schließen, dass es ihm ernst war. »Wir kriegen noch Ärger, wenn du nicht augenblicklich damit aufhörst. Das ist kindisch.«
»Ach was, von einem Handtuchklatscher ist noch keiner gestorben.« Oliver lachte laut und schien erneut ausholen und Lennart damit schlagen zu wollen. Viktor stellte sich zwischen sie. Er war nackt wie alle im Raum. Dieser Umstand wurde schnell befremdlich. Oliver zog sich zurück. »Spielverderber«, maulte er beleidigt, verließ aber die Dusche, gefolgt von weiteren seiner Kameraden.
»Danke«, gab Lennart so leise von sich, dass er selbst es kaum verstehen konnte.
»Keine Ursache«, gab Viktor zurück. »Darf ich mir dein Duschshampoo ausleihen? Ich habe meins in der Tasche vergessen und nicht die geringste Lust, jetzt in die Umkleide zu gehen und es zu holen.«
Mit einem Nicken reichte es Lennart ihm. Ihre Finger berührten sich für einen Moment hauchzart. Sie hielten beide inne. Ihre Blicke trafen sich.
Verflixt noch mal. Nass sah er tausendmal besser aus. Die stahlblauen Augen betrachteten ihn so sanft wie Sterne. Die Lippen hatten sich leicht geöffnet. Lennart vernahm trotz des Wasserrauschens den Atemzug, den Viktor langsam ausströmen ließ. Der Bartschatten wirkte durch die Nässe deutlicher, ein Umstand, der Lennart direkt in die Eingeweide traf und im Unterleib für Aufruhr sorgte.
Nein, kein Ständer. Nicht jetzt.
Lennart ließ die Shampooflasche los und wandte sich erneut um. Viktor schien sie ebenfalls nicht festgehalten zu haben, worauf sie mit einem dumpfen Poltern zu Boden fiel. Der Laut ließ Lennart zusammenzucken. Um ein Haar hätte er sich sogar danach gebückt. Viktor war schneller, angelte sich die Flasche rasch von den nassen Fliesen und drückte sich eine gehörige Portion auf die Handfläche.
»Danke, Mann!«, kam es, als er sie zurückgab.
Lennarts Hände zitterten. Das Shampoo rutschte ihm beinahe aus den Fingern. Hastig seifte er sich ebenfalls ein, beeilte sich, fertig zu werden, ehe Viktor es sein konnte, wickelte sich das Handtuch um die Hüften und floh regelrecht aus der Dusche. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, dass er seine Klamotten auf dem Regal neben dem Eingang platziert hatte und riss sie an sich. Mit nackten, nassen Füßen eilte er über den eiskalten Flur zu seiner Umkleide und ließ sich mit heftig pochendem Herzen und schmerzendem Schwanz auf der Bank niedersinken.
Verflucht! Er war nahe dran, gegen seinen eigenen Grundsatz zu verstoßen. Verknall dich niemals, unter keinen Umständen in einen Hetero.
Aber um ehrlich zu sein, war es hierfür längst zu spät.
Ihm war eiskalt. Normalerweise zog er sich in den Duschen um, weil die Flure nicht beheizt waren. Normalerweise nervten ihn auch nicht ein Dutzend Schwachmaten, die dachten, sich mit ihm einen Spaß erlauben zu können.
Die Umkleide war nicht mehr leer. Die jüngeren Eiskunstläufer hatten sich auf den anderen Plätzen ausgebreitet. Rasch schlüpfte er in seine Anziehsachen und schalt sich, es überhaupt so weit kommen lassen zu haben. Sein Unterleib pochte noch immer fordernd. Es hatte ihn einige Mühe gekostet, die dicke Beule vor den Jüngeren zu verbergen. Da sie aber weitgehend mit sich selbst beschäftigt waren, gelang es ihm, sich vollständig anzukleiden und zu verschwinden, ohne wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses rausgeschmissen zu werden.
Zuhause angekommen warf er erst mal Jacke und Schuhe von sich und ließ sich erschöpft und erleichtert auf sein Sofa fallen. Sein Herz pochte nach wie vor wild, als stünde Viktor noch immer direkt neben ihm – nackt und absolut sexy.
Oh Mann! Lennarts Kopf sank auf die Lehne. Er starrte an die Decke, ohne sie wirklich zu sehen. In seinem Schoß begann es erneut auffordernd zu pochen und zu ziehen. Es war in der Tat nicht einfach, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen. Gelegentlich geriet er ein wenig in Vergessenheit, wenn er beim Training oder in der Arbeit zu viel Stress hatte und sein Hirn daher mit anderen Dingen beschäftigt war. Es genügte nur der Klang seines Namens, die Stimme, oder auch nur, ihn flüchtig zu sehen, um die Gefühle stärker denn je aufwallen zu lassen. Er war sich selbst bewusst, dass diese Liebe nicht erwidert wurde und seine Empfindungen, Träume und Spinnereien vergebliche Liebesmüh waren. So wie er früher die Mitglieder von Boygroups oder smarte Schauspieler angehimmelt hatte, so sollte auch dies irgendwann im Sand verlaufen. Leider schien es diesmal schwieriger zu sein, denn Viktor war real und ihm viel näher als all die anderen Stars aus Film und Fernsehen.
Er musste sich ablenken. Es half meist, wenn er sich im Training vollständig verausgabte, sodass er so müde war, dass er ins Bett fiel und einschlief, bevor er die Decke über die Schultern ziehen konnte. Daher sprang er wieder auf die Beine, zog sich ein altes T-Shirt und eine Jogging-Hose an und betrat den für ihn wichtigsten Teil seiner Wohnung.
Sein ganz persönliches Fitnessstudio mit Laufband, Spiegelwand, gefedertem Sportboden, einer Polestange und sogar einer knapp sechs Quadratmeter großen künstlichen Eisfläche aus speziellen Kunststoff-Elementen. Es hatte ihn viel Geld und Mühen gekostet. Er war für vollkommen verrückt erklärt worden. Lennart war vor allem auf die Kunststoffeisfläche stolz, auf der er hauptsächlich Pirouetten übte. Zu mehr war kein Platz. Es genügte ihm dennoch. Für diesen Bereich hatte er den Großteil seines Wohnzimmers geopfert. Es war nur noch ein kleiner Teil übrig geblieben, in welchem er ein schmales Sofa, einen Fernseher und eine Stereoanlage untergebracht hat. Es hatte auch lange gedauert, bis er eine geeignete Wohnung für seine Pläne gefunden hatte. Nach dem Training in der Eishalle machte er nicht selten in seiner Bude weiter, hauptsächlich Stretching und Balanceübungen, da ihm so manches Mal bei Drehungen schwindelig wurde.
Lennart stellte sich vor die Spiegelwand, legte die Hände auf die Haltestange und begab sich in die erste Position, streckte sich und sank langsam in die Knie. Dabei beobachtete er sich selbst im Spiegel, überwachte die Bewegungen, korrigierte sie, wenn er der Meinung war, auch nur einen Deut abzuweichen. Die Übungen absolvierte er fast jeden Tag, beinahe immer der gleiche Ablauf, um seine Bänder elastisch zu halten und die Muskeln zu stählen.
Jämmerliches Klappergestell, fiel ihm auf einmal ein. Worte, die ihm das Wolfspack in der Dusche an den Kopf geworfen hatte. Wie alle Eiskunstläufer hatte auch Lennart auf seine Figur zu achten. Mit einer Körpergröße von 1,72 Meter wog er gerade mal 50 Kilo. Er hielt dies für angemessen, zumal jedes Kilo mehr erst mal kontrolliert und gestemmt werden mussten. Er aß eigentlich gern, gönnte sich auch hin und wieder mal eine süße Sünde, jedoch stets in Maßen. Allerdings zählte er keine Kalorien wie viele seiner Mitstreiter, sondern arbeitete überflüssige Pfunde im harten Training ganz automatisch ab.
Mit prüfendem Blick musterte Lennart seinen Körper, während er weiterhin seine Ballett-Übungen absolvierte. Die Muskeln an den Oberschenkeln waren dank des Eislauftrainings ausgeprägt und unter der Jogging-Hose deutlich sichtbar. Er brauchte auch viel Kraft in den Beinen, um Sprünge zu stehen und sich bei Pirouetten im Gleichgewicht zu halten. Dass sich vor allem bei den Schultern die Gelenke und beim Oberkörper die Rippen abzeichneten, war aufgrund des strengen Trainingsalltags normal, fand er. Rettungsringe um Bauch und Beinen waren für ihn noch nie ein Thema gewesen. Seit frühester Kindheit war Lennart körperlich so aktiv, dass nicht einmal die größte Kaloriensünde Gelegenheit bekam, sich irgendwo anzusetzen.
Sein Blick fiel auf sein eigenes Gesicht, während er ein weiteres Mal tief in die Knie ging und sich ganz langsam wieder aufrichtete. Die Anstrengung zauberte ihm eine leichte Röte auf die Wangen. Er hatte diese Übung schon so oft absolviert, dass es ihm nicht einmal Schweißperlen abverlangte. Er fand sich selbst hübsch, mit einem schmalen Kinn, vollen Lippen und einer geraden Nase. Da im Eiskunstlauf gutes Aussehen ein wichtiges Thema war, ging er regelmäßig zum Friseur und zur Maniküre, ließ sich die Augenbrauen zupfen und gönnte sich gelegentlich sogar eine Gesichtsmaske. Wenn kein Wettkampf bevorstand, durfte sein Bart schon mal ein klein wenig wachsen. Der Bartschatten machte sein ansonsten helles Gesicht etwas dunkler und männlicher. Das dünne Fell schützte ihn zudem vor der Kälte in der Eishalle. Die meiste Zeit des Jahres rasierte er sich jedoch gründlich, da es ihm unangenehm war, vor den Kunden verlottert zu wirken. Sich seine karamellbraunen Haare zu färben, war ihm noch nie eingefallen. Er gefiel sich so. Im Sommer wurden sie heller, sodass sie sogar golden aussahen.
Lennart machte einen Schritt zurück und hob das rechte Bein an, bis er fast im Spagat dastand. Sehnen an seinem Hals traten dabei etwas mehr hervor. Er entspannte sich, lächelte sich selbst zu und nahm sein Bein wieder herunter, um dieselbe Übung mit dem linken auszuführen. Seine Bänder waren so elastisch, dass es ihm keinerlei Probleme bereitete. Fast schon mechanisch wechselte er immer wieder das Standbein, bis er allmählich doch ins Schwitzen kam. Einem inneren Impuls folgend, trennte er sich von der Ballett-Stange und begab sich zur Kunsteisfläche. Die Schlittschuhe standen stets parat. Rasch schlüpfte er hinein, schnürte sie fest zu und trat auf die Kunstfläche.
Pirouetten zu drehen, gefiel ihm beinahe so gut wie im schnellen Tempo über das Eis zu rasen. Eine weitere Stunde lange probierte er alle möglichen Varianten aus, bis er atemlos anhielt und sein Blick direkt auf sein Spiegelbild fiel.
Eitelkeit zählte eigentlich nicht zu seinen Merkmalen. Dennoch fand er sich sehr ansehnlich. Vor allem, wenn er sich beim Training verausgabt hatte und seine Wangen glühten, die dunklen Augen leuchteten und alles in ihm pulsierte und wummerte. Da gefiel er sich selbst so gut, dass ihm die Mühen und Strapazen nur noch halb so schlimm vorkamen.
Ob Viktor genauso Gefallen daran fand?
Lennart knurrte wütend. Verdammt! Warum musste er ausgerechnet jetzt wieder an ihn denken? Wo er ihn doch erfolgreich aus seinem Kopf verdrängt hatte. Es war wie ein Fluch. Wie ein Bumerang, der stets zum Ursprung zurückkehrte. Der Gedanke an den Eishockeyspieler wollte sich partout nicht für immer von ihm lösen. Missmutig schüttelte Lennart den Kopf, verließ die Kunsteisfläche und entledigte sich der Schlittschuhe, um unter die Dusche zu verschwinden. Er wollte den Gedankenblitz loswerden, nie wieder an ihn denken, ihn für alle Zeiten aus seinem Gedächtnis verbannen. Eiskaltes Wasser half nicht, wusste er, da er dies schon so oft erfolglos getan hatte. Sich auf einen anderen Mann einzulassen, schaffte auch keine Abhilfe auf Dauer. Lennart hatte dies nur ein einziges Mal versucht und war so gehörig auf die Nase gefallen, dass sein Herz heute noch schmerzte. Der Typ war unbestritten nett und aufmerksam gewesen, allerdings nur so lange, bis Lennart begriffen hatte, dass er ihn finanziell ausnutzte, wie auch vom Ansehen und der Berühmtheit des Eiskunstlaufstars mit zu profitieren versuchte. Lennart lebte seiner Sportlerkarriere wegen nicht offen schwul. Außer Juri wusste niemand im Verein um seine sexuelle Gesinnung. Selbst wenn das Wolfspack ihn und alle übrigen männlichen Eiskunstläufer als vom anderen Ufer bezeichneten, gab er es nicht offen zu.
Bei der Arbeit war dies jedoch kein Problem. Lennart arbeitete als Sportfachverkäufer in einem großen Sportgeschäft in der fünfzig Kilometer entfernten Großstadt. Er hatte sich bewusst eine Arbeitsstelle etwas weiter weg von seiner Heimatstadt gesucht, um sich wenigstens dort ungezwungen verhalten zu können. Seine Kollegen hatten ihn vorbehaltlos akzeptiert. Die Arbeitszeit war in gewissem Maße entspannend und regenerierend zugleich. Andererseits belastete es ihn schwer, dass er sozusagen zwei Leben leben musste.
Wenn Viktor doch nur ein Arbeitskollege wäre, dann wären seine Sehnsüchte längst beantwortet worden.
Wütend hieb Lennart gegen die Fliesenwand der Dusche. Er musste ihn endlich aus seinem Kopf verbannen. Es war eine Qual. Sein Herz verzehrte sich nach ihm. Seine Lippen verlangten eine Berührung. Seine Hände wollten ihn betasten und erforschen. Doch nichts von dem war möglich. Vielleicht sollte er in der Großstadt auf Fang gehen, sich dort ein Hotelzimmer mieten und sich ordentlich durchficken lassen. Dass auch dies nicht wirklich funktionierte, konnte er ebenso aus Erfahrung sagen. Sobald er die Eishalle betrat, mit dem Wissen, dass vorher und auch nachher das Wolfspack trainierte, mit ihnen Viktor, ließ alle Bemühungen, die Gefühle totzuschlagen, wieder aufleben. Es war sinnlos. Aber irgendeinen Weg musste es geben.
Lennart stellte das Wasser ab, trocknete sich ab und verließ das Badezimmer. Seine Gliedmaßen waren so müde, dass er sich mühevoll ins Schlafzimmer schleppte. Was würde er drum geben, die Laken seines Bettes mit Viktor zu zerwühlen, sich von ihm verwöhnen und vernaschen zu lassen ...
Nur kurz blieb Lennart an der Tür stehen. Sein Blick schweifte durch den Raum, verharrte für einen Moment am breiten Boxspringbett, ehe er den Kopf schüttelte und sich endgültig ins Bett fallen ließ. Schlag dir das endlich aus dem Kopf! Es kann keinen Viktor für dich geben!
Ob Juri mit Thomas mehr Glück beschert war?
Dass er früher Feierabend machen musste, gefiel seinem Chef natürlich nicht. Aber da Lennart aufgrund seiner sportlichen Erfolge ohnehin einen Sonderstatus innehatte, gewährte er ihm die Bitte. Viel lieber hätte Lennart auf die Versammlung verzichtet.
150 Jahre gab es den Verein nun schon. Bereits im Frühjahr war das Thema aufgekommen. Allerdings hatte Lennart dies verdrängt, da es ihn nicht sonderlich interessierte, wie sie das Jubiläum zu feiern gedachten. Die Enttäuschung, bei der letztjährigen deutschen Meisterschaft trotz aller Vorbereitung lediglich den fünften Platz erreicht zu haben, saß noch tief in den Gliedern. An diesem Tag hatte er erhofft, endlich die ersehnte Medaille zu holen. Anfangs lief beim Kurzprogramm alles gut. Die ersten Sprünge gelangen ihm mühelos. Doch dann stolperte er zweimal, einmal stürzte er sogar und verlor damit wertvolle Punkte. Auch bei der Kür versemmelte er einen Sprung gehörig. Der fünfte Platz war dem Umstand zu verdanken, dass sich lediglich sieben Teilnehmer angemeldet hatten, er nicht einer der Schlechtesten war und sich sozusagen unteres Mittelfeld ergattern konnte.
Für dieses Jahr hatte er sich viel vorgenommen, trainierte härter und verbissener denn je. So hatte er die E-Mails des Vereins gar nicht mehr geöffnet, sondern ungelesen in den virtuellen Papierkorb geschoben. Er wollte sich nicht ablenken lassen und sich nur auf die nächste deutsche Meisterschaft konzentrieren. Drei Monate blieben ihm noch, und es gab viel zu tun.
Die Vereinsfeier kam ihm absolut ungelegen. Er hoffte, dass sie die Feierlichkeiten auf weit nach dem Wettbewerb legten. Da der Verein an einem eisigen Dezembertag gegründet wurde, befürchtete Lennart jedoch, dass es noch in diesem Jahr und zeitgleich zum für ihn ultrawichtigen Event stattfand.
Die Gaststätte der Eishalle, in der auch sämtliche Veranstaltungen und Versammlungen abgehalten wurden, war bereits gut gefüllt, als Lennart ankam. Der Eissportverein beinhaltete Sportarten wie Curling, Schnelllauf, Eishockey und Eiskunstlauf. An der Verteilung der Gäste auf die Plätze des Speisesaals erkannte man deutlich die übliche Trennung der einzelnen Abteilungen. Die Curlingleute saßen wie immer direkt vorne links am Eingang. Die Eisschnellläufer hatten sich zu einer kleinen Gruppe rechts vom Zugang, entlang der Fensterreihe versammelt. Die Eishockeyspieler bildeten das größte Rudel, das sich von der Kaffeetheke bis hin zur Ausgangstür ausbreitete, ganz egal ob Männer- oder Frauenmannschaft. Da hielten sie fest zusammen. Für die Eiskunstläufer blieben die Tischgruppen vor den Toiletten, wo Lennart auch bereits Juri vorfand. Bei ihm am Tisch saßen noch ein paar Mädchen mit ihren Eltern, die nicht so wirklich wussten, was sie hier sollten.
Lennart nahm sich einen freien Stuhl und gesellte sich zu Juri, der sofort etwas beiseite rückte, um ihm Platz zu machen. Es war heiß im Raum, obwohl die Fenster weit geöffnet waren. Der Oktober schien noch einmal alle Wärme über das Land schicken zu wollen, damit die Menschen genug Behaglichkeit für den kalten Winter sammeln konnten.
»Schön, dass du da bist«, begrüßte ihn Juri und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern. »Es hat noch nicht angefangen.«
Mit einem Nicken sah sich Lennart um. Gebrummel und Geraune erfüllte den Raum, das hauptsächlich von den Hockeyspielern kam, die lautstark miteinander lachten und diskutierten. Natürlich entdeckte er sofort Viktor. Rasch nahm Lennart den Blick von ihm und starrte auf eine Falte in der Tischdecke, bis sich sein schlagartig aufgewühlter Körper wieder beruhigt hatte.
»Die Bewerbung für die Meisterschaft ist bereits durch«, informierte ihn Juri und winkte der Bedienung, damit sein Schützling die Getränkebestellung aufgeben konnte. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«
»Das gab es schon vorher nicht«, brummelte Lennart zur Antwort. Er war fest entschlossen, daran teilzunehmen und sich die ersehnte Auszeichnung zu holen. »Ich hab noch mal darüber nachgedacht«, fuhr er fort. »Wegen der Kür. Ein paar schwierigere Elemente könnte man wirklich noch einbauen. Wir sollten auch mehr Quads versuchen.« Sein Ehrgeiz hatte ihn in diesem Moment so hart im Nacken gepackt, dass er alles versprochen hätte.
»Immer langsam«, besänftigte ihn Juri. »Wir haben noch drei Monate. Da wird uns schon was einfallen.«
Die Abfolge der Kür stand eigentlich seit mindestens einem Jahr fest, selbst wenn Juri hin und wieder etwas daran änderte. Lennart konnte die einzelnen Übungen im Schlaf aufsagen.
Zeitgleich mit dem bestellten Glas Leitungswasser, das die Bedienung mit einem unwirschen Gesichtsausdruck auf den Tisch stellte, erhob sich der erste Vorsitzende Lothar von seinem Stuhl. In seinen Händen hielt er ein paar Bögen dicht beschriebenes Papier, schien die ersten Zeilen noch einmal zu überfliegen, während er sich zum Rednerpult begab. Der Mann war über 70, mischte aber nach wie vor bei der Altherrenmannschaft der Hobbyeishockeyspieler mit.
»Was zu Essen?«, fragte die Bedienung leicht ungehalten. Sie kannte ihn bereits und hätte sicher Wetten darauf abgeschlossen, dass er nichts bestellte.
»Nein, danke, Isolde«, lehnte er ab.
»Auch keinen Salat?«
»Auch nicht. Danke.« Lennart schenkte ihr ein schiefes Lächeln. Abgesehen davon, dass die Salate dieser Gaststätte mit fetter Joghurtsoße angemacht waren, bestand ein Großteil der Zutaten aus der Dose, wie die gekochten Karotten oder die rote Beete, die er ohnehin nicht ausstehen konnte. Zudem gaben sie stets einen Schlag Kartoffelsalat dazu, den Lennart ebenso nicht mochte.
»Hast du heute überhaupt schon was gegessen?«, erkundigte sich Juri, musterte seinen Schützling besorgt.
»Ja, heute Mittag.« Er hatte zwar die Hälfte des Gemüseeintopfs stehen lassen, weil ihm das Herausfischen der schleimigen Speckwürfel zu mühsam geworden war. Dennoch fühlte er sich nach wie vor gesättigt.
»Die machen hier einen guten Schweinebraten«, schlug Juri vor, zwinkerte ihm auffordernd zu und schien schon die Bedienung zurückwinken zu wollen.
Lennart zog den Arm seines Trainers herunter. »Verschone mich damit«, gab er knurrend von sich. »Mir ist noch vom letzten Mal schlecht.« Das letzte Mal lag zwar schon zwei Jahre zurück, er konnte sich aber immer noch sehr gut an die fettig würzige Speise erinnern. Mit einem Schaudern nahm er einen Schluck aus dem Wasserglas. Sein Blick schweifte durch den Raum hinweg zum Rednerpult und streifte dabei über die ausgelassene Horde der Hockeyspieler. Natürlich blieb er an Viktor ein klein wenig länger hängen. Als ob sein Blick eine Berührung gewesen wäre, wandte dieser den Kopf und traf direkt den von Lennart. Aus einem undefinierbaren Grund überkam ihn Scham. Seine Wangen füllten sich mit heißem Blut und sein Herz schlug schneller. Fast schon atemlos riss er sich von Viktor los und konzentrierte sich auf Lothar, der umständlich die Papiere neu sortiert hatte und endlich mit seiner Rede loszulegen schien.
»Vereinsgenossen und Genossinnen«, begann er. »Ein herzliches Willkommen zur heutigen außerordentlichen Mitgliederversammlung. Ich freue mich, euch hier so zahlreich begrüßen zu dürfen ...«
Lennarts Aufmerksamkeit war beim besten Willen nicht auf das Rednerpult zu bannen. Seine Gedanken entwickelten ein Eigenleben. Von der Kür zur Meisterschaft wanderten sie rasch zu einer ganz bestimmten Person ab. Er sah sich schon mit ihr gemeinsam über das Eis gleiten, vereint zu einem vollkommenen Paarlauf, gekrönt von tosendem Beifall. Erst als Juri ihn etwas unsanft an den Arm stieß, kehrte er widerwillig in die Wirklichkeit zurück.
Der Trainer beugte sich dicht an Lennarts Ohr heran und dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern. »Es sind mal wieder die Eishockeyspieler in der Nähe«, gab er seufzend von sich. »Ich sollte dir Scheuklappen aufsetzen. Sonst wird das nichts mit der Meisterschaft.« Sein Blick glitt flüchtig zu den Männern. »Welcher von ihnen ist es denn?«
»Hör auf damit«, raunte Lennart missmutig zurück. Panik machte sich reflexartig in ihm breit. Er brachte sich dicht an Juris Ohr. »Kein weiteres Wort mehr, oder ich baggere Thomas an.« Die Drohung wirkte, denn Juri fuhr erschrocken zusammen, hatte sich aber rasch von dem Schock erholt.
»Ist doch viel zu alt für dich.« Sein leises Lachen lenkte die Aufmerksamkeit der Tischnachbarn auf ihn. Mit einem besänftigenden Blick entschuldigte er sich für die Störung und blickte angestrengt zu Lothar, der eben die Geschichte der Gründung erzählte.
»Es war ein saukalter Dezembertag, als sich fünf Männer auf dem zugefrorenen Fechenbachsee trafen und beschlossen, einen Verein zu gründen. Seitdem ist viel Wasser den Fechenbach hinuntergeflossen. Es gab goldene aber auch sehr dürftige Jahre. Aus den fünf Männern sind inzwischen mehr als 1500 Mitglieder geworden, die selbst aus dem hundert Kilometer entfernten Großfechenbach kommen, um in unserer Eishalle zu trainieren. Wir können zu Recht stolz auf das sein, was wir erreicht haben. Dieser Gründungstag jährt sich nun zum einhundertfünfzigsten Male. Das muss gefeiert werden.« Lothar schob die Papiere zusammen und überflog mit einem zufriedenen Blick die Zuschauermenge. »Die Vorstandschaft hat beschlossen, dieses 150-Jahr-Jubiläum mit einer Aufführung zu feiern. Wir veranstalten eine große Show, ähnlich wie Holiday on Ice. Wir haben sehr viele hervorragende Eisläufer. Ich denke, mit unseren Talenten lässt sich eine wirklich tolle Show auf die Beine stellen.« Sein Blick glitt zu Juri. Mit einem Nicken schien er sich Bestätigung zu holen. »Juri Tarassow, der Trainer unseres größten Eiskunstlauftalents Lennart Schmitz hat sich bereit erklärt, die Choreografie auszuarbeiten. Es werden dabei alle Abteilungen integriert. Jeder wird eine Rolle bekommen, die jüngsten ebenso wie die Ältesten.« In Lothars Stimme schwang fast mit jeder Silbe mehr Begeisterung mit. Am Ende hob er die Hände und schien sogar predigen zu wollen. Lennart hatte den Kopf zu seinem Trainer gedreht und sah ihn strafend und fassungslos an.
»Warum sagst du mir nichts davon?«, fragte er ihn fast schon bissig. »Du hast mich hoffentlich nicht auch mit eingeplant.«
Juri grinste breit, antwortete jedoch nicht, sondern erhob sich und schlenderte gemächlich zum Rednerpult.
»Verräter«, zischte Lennart verärgert und von Panik ergriffen zugleich. Juri hatte sicher die Hauptrolle für ihn ausgedacht und das so kurz vor der deutschen Meisterschaft. So etwas konnte er ganz und gar nicht brauchen.
Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: Umschlagmotiv: © shutterstock 1685711665 / 1484424830 Kapitelbild: © shutterstock 1548253652
Cover: Umschlaggestaltung: © Marta Jakubowska, MAIN Verlag
Korrektorat: Ingrid Kunantz, Annett Heidecke
Satz: Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2021
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