Cover

1.


»Hast du Mathe?«
Lorenz wirbelte herum und sah seinen Kumpel Ben mit dem Fahrrad heranbrausen. Er musste stärker bremsen als vorgesehen, da ihm Ben direkt in die Spur fuhr und anhielt. Mit einem Seufzen stieg er von seinem eigenen Rad ab und stellte es in den Fahrradständer.
»Warum sollte ich es nicht haben?«, gab er höhnisch zurück. »Weil ich neben der wilden Party gestern Abend, bei der ich reihenweise von Mädels flachgelegt wurde, keine Zeit hatte, sie zu machen?« Er lachte kurz auf, schwang seine schwere Schultasche vom Gepäckträger und ließ sie auf den Boden plumpsen.
Ben hielt in seiner Bewegung inne und starrte Lorenz fassungslos an. »Welche Party?« Dessen rötliche Locken waren wie jeden Morgen sorgsam mit reichlich Gel zu einer Art Irokesenfrisur hochgeklebt. Doch aufgrund des Fahrtwindes hatten sich seine Haare wieder etwas gelockert, sodass es eher nach einem laschen Hahnenkamm aussah. Es sah heute irgendwie anders als sonst aus, aber Lorenz konnte nicht sagen, was und warum er auf diese Idee kam.
Lorenz schnaufte. »Mann, Ben. Auf welche Party soll ich schon gehen?«
»Party?« Die Stimme gehörte Sigrid, die sich aus einem Pulk von Schülern löste, der eben aus dem Bus gestiegen war. Sie hatte prompt kehrtgemacht, als sie ihre beiden Freunde entdeckte und kam zu ihnen. »Müsste ich doch wissen. Ich darf auf keiner Party fehlen.« Sie zwinkerte Lorenz schelmisch zu, sodass er begriff, dass sie den beißenden Sarkasmus in seiner Antwort erkannt hatte und darauf einzugehen wusste. Doch rasch lenkte sie um, wischte ihre lilafarbenen Ponyfransen aus der Stirn und verzog das Gesicht. »Wer soll uns schon einladen? Die Party müssten wir schon selbst ausrichten. Nur dann käme keiner außer uns.« Sie lachte, ließ ihren Rucksack neben den von Lorenz fallen und beugte sich vor, um den beiden Jungs ein Begrüßungsküsschen auf die Wange zu hauchen. »Hast du Mathe?«, erkundigte sich nun auch sie bei Lorenz.
»Mann, Leute!«, rief dieser genervt. Er strich seine eigenen Haarfransen aus der Stirn, steckte einige Strähnen der auch für seinen Geschmack zu langen Mähne hinter ein Ohr und verzog das Gesicht zu einer Fratze. Er müsste mal wieder zum Friseur. Aber das war derzeit nicht drin, weil er auf etwas Größeres sparte. »Bin ich euer Mathe-vergessen-Notdienst?«
»War ja nur ’ne Frage«, maulte Sigrid sichtlich beleidigt und zog kurz einen Schmollmund. »Die war diesmal aber auch besonders knifflig. Die Nummer vier konnte ich schlichtweg nicht lösen.«
»War doch ganz einfach«, antwortete Lorenz locker, beinahe zeitgleich wie Ben mit einem verzweifelten Seufzer sagte: »Und ich die sieben.«
»Vielleicht solltet ihr einfach keinen Leistungskurs belegen«, gab Lorenz ein klein wenig schadenfroh von sich. Die zwei hatten den Kurs nur belegt, weil nichts anderes mehr frei war und ihnen noch ein paar Pflichtstunden gefehlt hatten. Für die beiden verfügbaren Fächer: plastisches Gestalten und bildende Künste waren sie gänzlich ungeeignet. Sigrid wäre am liebsten in Spanisch untergekommen, doch die Kurse waren mit zweihundert Teilnehmern bereits überbelegt und durch ihre leicht unterdurchschnittlichen Zensuren in den anderen Fächern, fiel sie aus der engeren Auswahl raus. Ben hätte jeden Kurs genommen, auch Hauswirtschaft – wenn es dieses Fach im Q12 auf dem Gymnasium Sankt Korbinian geben würde – sofern Sigrid es ebenfalls auswählte. Er himmelte sie seit der sechsten Klasse an, brachte es bislang jedoch nicht fertig, es ihr zu sagen.
Der Vierte des Kleeblattes fehlte noch: Justus, er kam meist zu spät und schien auch an diesem warmen Spätsommertag, zwei Wochen nach Beginn des neuen Schuljahres, verschlafen zu haben.
Bis Ende des letzten Jahres hatte noch Beate zu ihnen gezählt, Sigrids beste Freundin. Sie war jedoch in den Sommerferien mit ihren Eltern umgezogen und ging nun in ein anderes Gymnasium, um dort ihren Abschluss zu machen.
Sigrid knuffte Lorenz hart in die Seite und funkelte ihn wütend an. »Wenn du das noch einmal sagst, dann stopfe ich dir deine Matheformeln in den Allerwertesten«, drohte sie und hieb ihn ein weiteres Mal. »Wegen dieses blöden Faches versemmle ich wahrscheinlich den Abschluss. Mir raucht der Kopf von diesen ganzen Formeln. Ich habe heute Nacht schon davon geträumt, von lauter Zahlen entführt worden zu sein. Sie folterten mich mit Winkelmessern, Quadratwurzeln und Logarithmen.« Dabei fuchtelte sie mit ihren Händen über ihrem Kopf herum, so, als wolle sie ihre schwarz-lila-gefärbte Frisur glattreiben.
Lorenz musste lachen. Mathematik hatte ihm noch nie Albträume beschert. Ganz im Gegenteil. Er konnte sich beim Lösen von komplexen Aufgabensträngen so richtig entspannen. Viel schlimmer war Deutsch mit dem Aufsätze schreiben und Analysieren von literarischen Themen. Er hasste das und brachte kaum die erforderliche Anzahl an Wörtern zustande.
»Warum hast du mich nicht angerufen, Sigrid?«, fragte er amüsiert. »Ich hätte es dir noch mal erklären können.«
Sie verdrehte die Augen. »Und mich ein weiteres Mal der Blamage aussetzen, dass dieses ganze Zeug nicht in meinen Kopf will …?«
»Ich habe dir schon öfter eine Lerngruppe angeboten«, erinnerte Lorenz sie und sah dabei auch Ben an, der dieselben Probleme besaß. Sie unterstützten sich gegenseitig, denn sie waren Freunde. Justus und Lorenz kannten sich seit dem Kindergarten. Ben kam in der Grundschule dazu und Sigrid in der sechsten Klasse Gym.
»Immer noch besser, als heute mit Lücken in der Hausarbeit aufzutauchen«, fügte Lorenz an. Sein Blick schweifte für einen Moment von seinen Freunden weg über den Vorplatz der Schule, der von Schülern, die aus allen Richtungen herangeströmt kamen, nur so wimmelte. Sein Augenmerk war auf eine bestimmte Gruppe von Schülern gerichtet, die in die entgegengesetzte Richtung gingen. Lachend und feixend boxten sie sich gegenseitig an die Schultern oder schubsten einander, als hätten sie eben etwas ausgefressen und freuten sich nun darüber.
»Justus hat wohl wieder verschlafen«, erinnerte sich Sigrid an den fehlenden Teil ihres Kleeblattes und holte ihr Handy aus der Tasche. »Der Unterricht beginnt gleich. Ich ruf ihn mal an.« Sie tippte bereits seine Nummer in das Display, als die Gruppe feixender Jugendlicher näher kam, direkt auf sie zu.
»Arschlochalarm«, raunte Lorenz warnend. Sigrid und Ben drehten sich sofort um, kehrten der Gruppe junger Männer den Rücken und taten so, als hätten sie sie nicht bemerkt. Doch die fünf schienen sich zielstrebig das Grüppchen an den Fahrradständern als ihre Opfer ausgesucht zu haben. Schnell waren sie herangekommen, schubsten Ben so, dass er auf Lorenz taumelte, worauf dieser gegen die abgestellten Räder stieß und mitsamt ihnen umfiel. Sigrid blieb auch nicht verschont. Sie wurde ebenfalls geschubst, ihr fiel das Telefon aus der Hand, konnte sich aber noch fangen. Sie gab einen protestierenden Laut von sich und schickte ihnen eine gemurmelte Beleidigung hinterher, als die Fünf lachend weiterzogen.
»Mann, sehr erwachsen!«, schimpfte sie etwas lauter, als sie außer Hörweite waren. »Ich frage mich echt, wie die es bei ihren unterentwickelten Spatzenhirnen in die Oberstufe geschafft haben.«
»Die Prinzen eben«, murmelte Ben und schickte ihnen einen tödlichen Blick hinterher.
Lorenz rappelte sich auf die Beine und half Ben aufzustehen. Gemeinsam stellten sie ihre Räder wieder auf und schlossen sie ab. Da sie zeitgleich Schulschluss hatten, band Lorenz die beiden Fahrräder mit seinem Kettenschloss an den Pfosten.
»Ich weiß nicht, wie es euch geht«, begann Lorenz und rieb sich die Stelle, an der er vorhin unsanft aufgekommen war. »Aber irgendwie ist mir, als würde ich in einer billigen US-Teeny-Serie festhängen. Kein Klischee wird ausgelassen, von den oberarschigen Obermachos, bis hin zu den absoluten Losern. Fehlt nur noch, dass die Prinzen die Stars einer schuleigenen Football-Mannschaft sind, die von sexy kurzberockten Cheerleadern angehimmelt werden.«
»Die Prinzen benehmen sich wenig prinzenhaft«, bemerkte Sigrid, wischte über das Display ihres Telefons, nachdem sie es aus dem Staub aufgehoben hatte, und hauchte darauf, um die letzten Reste wegzupolieren. Bei den Prinzen handelte es sich um jene fünf jungen Männer, die allesamt aus der gehobeneren Gesellschaftsschicht stammten und schon seit der fünften Klasse ihr Unwesen trieben. Ihren erhabenen Titel gaben sie sich aufgrund des blauen Blutes eines von ihnen.
»Denen müsste mal jemand ins Hirn scheißen«, gab Ben trocken von sich, schulterte seinen Rucksack und deutete mit dem Kinn auf die jungen Männer, die nun am anderen Ende des Schulhofes Fünftklässler schikanierten.
»Du meinst wohl, denen hat jemand ins Hirn geschissen«, korrigierte Sigrid altklug.
»Wie auch immer«, sagte Ben achselzuckend, strich sich die Seiten seiner verklebten Irokesenfrisur nach oben und marschierte los. »Ich kann sie nicht ausstehen«, schickte er noch über seine Schulter. »Hast du Justus erreicht?«
Sigrid schüttelte ihren violettfarbenen Haarschopf und versuchte es ein weiteres Mal. »Jetzt ist selbst Justus überfällig«, sagte sie besorgt, als der Anruf abermals durchklingelte, und warf der Uhr über dem Eingang der Schule einen beinahe verzweifelten Blick zu. »War gestern wirklich keine Party?«
»Er ist nicht der Partytyp«, erwiderte Lorenz wissend, schulterte seine Tasche und trottete hinter Ben her. Sigrid schloss sich ihm an und probierte es ein drittes Mal. »Ich denke, er wird schon irgendwo drinnen auf uns warten.«
»Du hast wahrscheinlich recht. Manchmal überrascht er uns ja auch.« Sie setzte ein gestelztes Lächeln auf, schob ihr Telefon in die vordere Tasche ihrer Jeans, rückte den Gurt ihres Rucksacks zurecht und hängte ihren Arm bei Lorenz ein, um an seiner Seite durch den Eingang das Gymnasium zu betreten.
Lorenz hatte dies nicht umsonst gesagt, denn ihm war eine Idee gekommen. Als er im zweiten Stock auf dem Weg zu seinem Klassenzimmer ein paar Jungs aus der Toilette kommen sah, die amüsiert miteinander tuschelten und kicherten, wusste er seine Vermutung bestätigt.
Kurzerhand drückte er Ben seine Tasche in die Hand. »Nimmst du das mal mit? Ich muss noch schnell wohin. Ich beeile mich«, schob er rasch hinterher, als ihm Ben mit einem beinahe panischen Blick antwortete.
Wie erwartet, fand er Justus auf der Jungentoilette. Doch zu seinem Entsetzen hockte der auf dem nassen Fußboden. Um ihn herum lagen seine Schulsachen verstreut, Bücher, Hefte, sein Mäppchen, ausgeleert, Stifte und Füller waren in alle Richtungen davon gekullert.
Als Justus bemerkte, dass er nicht mehr allein war, senkte er seinen Kopf und fluchte leise.
»Ich hab gesagt, haut ab, ihr Arschlöcher!«, rief er wütend. Seine Stimme zitterte jedoch. Er war den Tränen nahe.
»Oh Mann, Justus.« Durch Lorenz war ein schmerzvoller Stich gegangen, als er seinen besten Freund so sah, kam sofort heran und half ihm, die Schulsachen zusammenzuraffen. Die Bücher waren nass, als wären sie in Wasser getaucht worden. Tatsächlich führte eine Spur aus kleinen und größeren Pfützen von einer der Toiletten in den Vorraum. »Sie gehen eindeutig zu weit«, schimpfte er, schüttelte das Wasser von einem der Bücher, wischte den Rest mit der flachen Hand weg und klappte es zu. »Du musst es endlich dem Direx melden. Das ist Mobbing. Hochgradig.«
»Damit ich für den Rest des Schuljahres als Opfer Numero Uno gelte …? Niemals.« Er sah hoch und suchte Lorenz’ Blick. Dieser erschrak noch mehr, als er das Gesicht sah.
»Scheiße, Justus. Deine Lippe blutet. Haben sie dich etwa auch geschlagen?«
Doch der aufgelöste Junge schüttelte hektisch den Kopf. »Bin ausgerutscht und gegen ein Waschbecken geknallt.«
Lorenz stöhnte fassungslos. »So kann es nicht weitergehen.« Er sammelte hastig das Schulzeug zusammen, warf die Stifte, die in seiner Reichweite waren, einfach in den Rucksack und angelte nach den feucht gewordenen Heften. »Du musst das unbedingt dem Direx melden. Die machen dich fertig.«
»Ich kann nicht.«
»Ich stehe dir bei. Ich bin bei dir. Sie werden dir nichts mehr tun.«
Justus verzog schmerzvoll sein Gesicht. Erste Tränen rannen ihm über die Wangen. »Du kannst nichts gegen sie ausrichten. Das sind die Prinzen. Auch wenn wir das melden, es wird nichts ändern. Gegen die kommt niemand an.«
»Aber so kann es nicht weitergehen.« Lorenz schob den Rucksack beiseite und zog seinen Kumpel an sich. »Justus …« Er sah sich dem Geschehen hilflos gegenüber, denn sein Freund hatte recht. Gegen die Prinzen, Söhne aus gutem und reichem Hause, deren Familien seit Generationen im Elternbeirat vertreten waren und förmlich das Gymnasium finanzierten, kam niemand an. Sie würden nicht einmal eine Verwarnung erhalten.
»Dein Ratschlag, ganz früh zu kommen und sich bis Unterrichtsbeginn im Klo zu verstecken, nützt wohl nichts mehr«, schniefte Justus und lehnte seinen Kopf an die Schulter seines Freundes. »Meine Eltern bringen mich um«, jammerte er gleich darauf. »Meine ganzen Bücher sind schon wieder nass. Sie haben gesagt, wenn sie die noch mal bezahlen müssen, krieg ich für den Rest des Schuljahres Hausarrest.«
Lorenz seufzte resigniert. »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich hole dich jeden Morgen ab und gehe mit dir gemeinsam zur Schule.«
Justus sah hoch. »Aber das ist ein Riesenumweg für dich.«
»Du bist mein bester Freund. Dann steh ich eben etwas früher auf.« Er versuchte sich in einem Lächeln, um seinen Kumpel zu trösten. Justus hatte es besonders schwer. Nicht nur, dass er ein paar Kilos zu viel auf den Rippen hatte, er war auch noch mit einer Gaumenspalte geboren worden, die man ihm trotz kosmetischer Operation gut ansehen konnte. Seine Nase war ungewöhnlich platt, ähnlich einem Profiboxer. Zudem lispelte er hörbar und manchmal, wenn er aufgeregt war und heftig atmete, gab er komische, schnarchende Geräusche von sich. Ein Grund für einige, ihn deswegen zu hänseln – allen voran die Prinzen. Lorenz hatte sich noch nie daran gestört, ganz im Gegenteil. Er war stolz auf seinen außergewöhnlichen Freund, der ihm beinahe näher stand, als seine eigene Familie.
»Komm schon. Der Unterricht fängt in einer Minute an«, rief Lorenz zur Eile und zog seinen Freund vom Boden hoch. Justus selbst war auch ganz nass. Sein Shirt klebte ihm feucht am Leib, das Haar tropfte. Hastig wischte Lorenz mit ein paar Papierhandtüchern das Gesicht trocken und das Blut vom Kinn, stopfte die Habseligkeiten in den Rucksack und zog Justus mit sich. »Wegen der nassen Bücher lass ich mir noch was einfallen.«
Justus lächelte dankbar, wischte sich die Nachzüglertränen fort und folgte Lorenz.

* * *

In der kleinen Pause, zwischen der zweiten und der dritten Schulstunde, sprach Lorenz eine Mitschülerin an und zog sie beiseite. »Kann ich dich mal kurz sprechen, Nadine?«
Nadine sah ihn überrascht an. Für gewöhnlich wechselten sie beide kaum ein Wort miteinander, geschweige denn bemerkten sich überhaupt. Nadine war in der Elften, hatte aber einen für Lorenz derzeit sehr wichtigen Dienst an der Schule – die Bücherausgabe.
»Mir ist ein Missgeschick passiert. Mein Rucksack ist ins Wasser gefallen und all meine Bücher sind jetzt ruiniert.«
Sie verzog ihr Gesicht. »Du weißt, dass das Schuleigentum ist?« Das Gymnasium gab die meisten Lehrbücher als Leihgabe an die Schüler aus, mit der Auflage, diese pfleglich zu behandeln. Beschädigte oder zerstörte man ein Buch, musste man den Schaden bezahlen.
»Ich weiß«, nickte Lorenz rasch und blickte sich um, ehe ihn seine Freunde ausfindig machen konnten. In seinen Händen hielt er nicht seinen eigenen Schulrucksack, sondern den von Justus. »Tut mir auch leid. War ein dummes Missgeschick. Ich bezahle auch alles.«
Damit hatte er Nadine besänftigt. »Na gut, kommt mit.« Sie winkte ihn mit sich und gemeinsam gingen sie in den Keller, wo sich das Archiv befand.
Lorenz legte die feucht gewordenen Bücher auf den Tisch.
»Große Güte!«, rief Nadine entsetzt und nahm eines der Werke in die Hand, die aufgrund der Feuchtigkeit, die sich selbst in die Bindung gesogen hatte, bereits halb auseinanderfielen. »Bist du damit Baden gegangen?«
»So in etwa«, antwortete er knapp. »Was bin ich schuldig?«
Nadine überflog die Bücher, fünf Stück an der Zahl. »Das sind zum Teil nagelneue Bücher. Da muss ich dir bestimmt zwanzig Euro pro Buch abknöpfen.«
»Kann ich wohl nicht ändern.« Lorenz verzog sein Gesicht. »Ich will zuhause keinen Ärger, nur weil ich so tollpatschig gewesen bin und …« Er verstummte, weil ihm keine plausible Begründung einfiel, wie er die Bücher hätte erklärbar baden schicken können.
Nadine winkte hastig ab, wollte die peinliche Geschichte anscheinend gar nicht hören. »Das sind hundert Euro. Kannst du dir das leisten?« Sie schlug das Buch auf, das sie als erstes in die Hand genommen hatte und las den Aufdruck auf der Buchdeckelinnenseite. Mit einem erschrockenen Laut kam ihr Kopf hoch und sah Lorenz an. »Das sind gar nicht deine Bücher. Die gehören …«
»Ich weiß«, fuhr ihr Lorenz ins Wort. »Hundert Euro?« Er hatte bereits seinen Geldbeutel hervorgeholt und zählte die Banknoten ab. Das war sein sauer Verdientes vom letzten Monat. Das wollte er eigentlich zu den anderen Scheinen in seinem Zimmer legen, um sich endlich ein neues Mobiltelefon kaufen zu können. Mit Wehmut und zitternden Fingern legte er das Geld auf den Tisch zu den ruinierten Schulbüchern. »Bitte!«, flehte er noch. »Kein Wort zu irgendjemandem.«
Nadine seufzte laut, nickte schließlich und warf die unbrauchbaren Bücher in eine hellgraue Plastikwanne, auf der mit Edding »Entsorgen« geschrieben stand. Wenig später kam sie mit einem ganzen Schwung neuer zurück. Einzeln legte sie diese auf den Tisch, schrieb in jedes den Namen des Nutzers – Justus – und seufzte abermals, als sie den kleinen Stapel über den Tisch schob.
»Weißt du, dass er in den zwei Wochen, in denen das Schuljahr schon andauert, nun zum zweiten Mal neue Bücher braucht? Und letztes Jahr waren es vier Mal? Was macht er mit den Dingern? Nimmt er sie mit in die Badewanne?«
»Wahrscheinlich«, gab Lorenz knapp von sich, stopfte die Bücher in den Rucksack und warf ihn sich auf den Rücken. »Danke dir.«
»Keine Ursache«, antwortete Nadine. »Tu mir einen Gefallen«, schob sie hinterher. »Sorg bitte dafür, dass er sie besser behandelt, sonst muss ich das dem Direktorat melden.«
»Okay«, nickte Lorenz, winkte ihr hastig zu und eilte zurück zum Pausenhof, wo ihn seine Freunde bereits mit fragendem Blick erwarteten.
Justus machte große Augen, als er seinen Schulrucksack über Lorenz’ Schultern sah. Dieser drückte ihn mit einem Zwinkern in die Hand.
»Den hast du im Chemieraum vergessen«, erklärte er schnell, setzte sich neben Ben und sah sich um.
»Danke«, gab Justus leise zurück und wischte sich verstohlen eine Träne von der Wange, ehe sie jemand bemerken konnte. Die Tasche ließ er zwischen seine Beine gleiten und klemmte sie mit den Knöcheln fest, als befürchtete er, dass sie ihm jemand wegnehmen könnte.
»Nachher Mathe-Leistungskurs«, gab Sigrid von sich und stöhnte laut. »Mir graut es davor.«
»Wir setzen uns einfach heute Nachmittag zusammen und gehen den Stoff noch einmal durch«, bot Lorenz an. »Dafür kannst du mir erklären, wie ich diese doofe journalistische Abhandlung machen soll.«
Justus stieß ihn an. »Wollten das nicht wir zusammen machen?«
»Dann machen wir es eben zu dritt.« Lorenz schenkte ihm einen besänftigenden Blick.
»Zu viert«, meldete sich Ben energisch zu Wort. »Siggi wollte es mit mir machen.« Er schob sein Kinn vor und fixierte Lorenz, als sei er ein Nebenbuhler in der Gunst des einzigen weiblichen Wesens in der Gruppe. Dabei hatte dieser absolut kein Interesse an ihr.
In der Tat machte sich Lorenz bereits Sorgen, weil ihm kein einziges Mädchen gefiel. Seine Ansprüche waren offenbar so hoch, dass ihm keines genügte. Abgesehen davon, fiel er selbst aus dem Raster der Anforderungen, die seine Mitschülerinnen stellten. Er war in den Sommerferien achtzehn geworden, noch absolute Jungfrau, was körperliche Erfahrung mit Mädchen anbelangte und konnte nicht einmal ein Date nachweisen. Auch wenn er sich in den letzten Jahren zu seinem Vorteil verändert hatte und Sigrid ihm schon ein paar Mal anerkennend gesagt hatte, dass er toll aussehe, schien er nicht das zu sein, was sich Mädchen in seinem Alter als Partner wünschten. Zudem gehörte er einer Gruppe von Schülern an, die einige abfällig als Streber oder Assis bezeichneten, andere schlichtweg Loser. Lorenz lebte bei seiner alleinerziehenden Mutter. Sein Vater hatte die werdende Familie noch vor der Geburt verlassen. Die Alimentenzahlungen kamen nicht immer regelmäßig, sodass es hin und wieder große Durststrecken zu überwinden gab. Seine Mutter konnte wegen einer Lungenkrankheit auch nicht Vollzeit arbeiten. Geldsorgen gab es schon immer bei ihnen. Deswegen hatte Lorenz bereits früh angefangen, sich sein Geld selbst zu verdienen. Bei Sigrid, Justus und Ben sah es nicht anders aus. Ben lebte bei seinen Großeltern, nachdem sich sein Vater nach dem Unfalltod seiner Frau nicht mehr um den Jungen kümmern konnte. Sigrids Eltern hatten eine gutgehende Gärtnerei, bis der Vater krank wurde und alles den Bach runterging. Justus’ Eltern waren geschieden. Ein paar Jahre danach heiratete seine Mutter wieder, einen netten Mann, der bei einem namhaften Weltkonzern arbeitete. Sie kauften sich ein großes Haus am Stadtrand. Doch als der Konzern unerwartet Insolvenz anmeldete, stand Justus’ Familie vor einem finanziellen Fiasko, aus welchem sie sich nur langsam emporkämpfen konnten. Justus gab sich manches Mal selbst die Schuld daran, sich und seinem deformierten Aussehen. Lorenz musste ihn oft trösten und wieder aufbauen.
»Dann zu viert«, lachte Lorenz. »Wie immer. Treffen wir uns um vier bei mir.« Er knuffte Ben leicht in die Seite und schob seine Hände in die Vorderseiten seiner alten, ausgewaschenen Jeans, während er sich abermals auf dem Pausenhof umsah. Die Gruppe unterschied sich sowohl optisch, als auch in ihrer Art, sich zu geben, von den anderen. Das Sankt Korbinian Gymnasium war eine etwas exklusivere Einrichtung. Aus dieser Schule kamen nicht selten Persönlichkeiten, die im späteren Leben von sich Reden machten – wie es auch in der Schulbroschüre hieß. Dass sich hier ein hoher Prozentanteil an Schülern aus der oberen Schicht befand, war nicht zuletzt dem Direktorat zu verdanken, welches dafür sorgte, dass die betuchten Familien im Elternbeirat vertreten waren und sich mit deren Namen schmückte. Nicht selten ließ sich die Schulverwaltung von engagierten Eltern sponsern.
Die Schulglocke ertönte. Die vier erhoben sich und trotteten zum Klassenzimmer, wo sie sich gleich komplizierte Mathematik einverleiben würden.

2.


Der Leistungskurs in Mathematik war Lorenz’ Lieblingsfach. Er freute sich jeden Tag drauf. Abgesehen davon, dass er sich gut mit dem Lehrer Herr Brandner verstand, tat er sich leicht, den Erklärungen zu folgen und die kniffligen Vorgänge nachzuvollziehen. Für ihn waren sie nicht kompliziert, sondern absolut logisch. Es gab wenig, was er nicht begriff und wo er nachfragen musste. Außerdem war Mathe eine der wenigen Schulstunden, in denen es entspannt und jenseits jeglicher Probleme zuging. Daher ließ er sich mit einem Lächeln auf seinen Platz sinken und breitete seine Bücher und Hefte aus.
Zehn Minuten nachdem der Unterricht begonnen hatte, ging die Tür auf und ein weiterer Schüler trat ein. Sämtliche Augen flogen ihm zu, worauf er mit einem überheblichen Grinsen das Kinn leicht anhob, die Aufmerksamkeit in vollen Zügen genießend. Lorenz stöhnte innerlich auf. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Sein Leistungskurs war versaut. Auf einen solchen Mitschüler konnte er getrost verzichten, denn der neue Schüler, war kein geringerer als der Anführer der Prinzen, Dannik von Gutenbach. Was zur Hölle machte er hier?
Ungefragt und ohne auch nur einen der Anwesenden zu begrüßen, stellte er sich provokativ neben dem der Tür nächst stehenden Sitzplatz, woraufhin das Mädchen, das sich dort häuslich niedergelassen hatte, stumm ihre Sachen zusammenpackte und einen Platz weiter hinten im Raum bezog.
Sämtliche anderen Schüler schienen dasselbe zu denken, denn als Lorenz sich umsah, konnte er viele entdecken, die ihre Augen verdrehten, leise stöhnten oder vor Entsetzen den Mund aufsperrten. Dabei war es weniger die provozierende Aufmachung des Schülers, der seit ein paar Wochen mit einem blondierten Haarschopf herumlief und meist ein schwarzes T-Shirt mit Totenköpfen oder blutigen Grimassen trug.
»Es freut mich, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren, Herr von Gutenbach«, brach der Lehrer das Schweigen, das sich im Klassenzimmer breitgemacht hatte, nachdem die Tür einfach so aufgerissen worden war. »Ich wäre jedoch äußerst davon angetan, wenn Sie die Unterrichtszeiten berücksichtigen würden. Die Stunde beginnt um Punkt elf Uhr fünfzig. Es stört den Unterricht, wenn Sie zu spät kommen. Ich bitte Sie, sich daran zu halten.«
»Ja, schon gut«, maulte der Prinz, fläzte sich gelangweilt auf seinen Stuhl und schob seine langen Beine, die in dunkelgrauen Jeans steckten, auf die er groteske Fratzen gekritzelt hatte, unter den Tisch.
»Es freut mich, dass Sie sich nun doch entschlossen haben, den Leistungskurs für Mathematik zu besuchen«, sagte Herr Brandner, die unhöfliche Antwort des jungen Mannes übergehend.
»Blieb mir ja keine andere Wahl mehr, nach Ihrem Anruf am Freitag bei meinem Vater«, murrte der Jüngere und verschränkte die Arme vor seiner Brust, als sei dieses Thema für ihn erledigt.
»Sie vergeuden Ihre Fähigkeiten, Herr von Gutenbach«, überging der Lehrer die eindeutigen Signale. »Und wenn Sie wirklich beabsichtigen, sich in …«
»Ansichtssache«, knurrte der Prinz mehr als ungehalten. Dies schien auch für den enthusiastischen, von seinem neuen Schüler begeisterten Lehrer endlich deutlich genug gewesen zu sein. Er seufzte leise, wandte sich langsam zur Tafel um und begann erneut mit seinen Erläuterungen.
Lorenz war der Spaß und das Interesse an Mathe vergangen. Er drehte sich auf seinem Platz um. Hinter ihm saß Justus, der fast gänzlich auf die Tischplatte gesunken war und sich hinter dem Rücken seines Freundes förmlich zu verstecken schien. Sigrid hob ihren Mittelfinger in die Richtung des Neuen, aber so, dass es weder der Schüler, dem es galt, noch der Lehrer erkennen konnten, und verzog ihr Gesicht zu einer hässlichen Fratze. Ben schüttelte nur ungläubig den Kopf. Aber nicht alle waren missgestimmt über den Neuen. Lorenz konnte auch begeisterte Gesichter entdecken. Einige Mädels lächelten verklärt, ein paar Jungs fühlten sich anscheinend in der Nähe eines Prinzen wie die Könige selbst und blickten mit stolzgeschwellter Brust in dessen Richtung.
Justus tat ihm leid.
Lorenz drehte sich wieder um und überlegte, wie er seinem besten Freund helfen konnte. Bis zur Oberstufe waren sie weitgehend von der Anwesenheit Dannik von Gutenbachs verschont geblieben, da er stets die Parallelklasse besucht hatte – außer den Zwischenfällen während der Pausen und vor und nach dem Unterrichtsbeginn. Ab der Q11 waren die Abiturienten aller Klassen zusammengelegt worden, sodass es hin und wieder vorkam, dass sie sich in einem der Kurse begegneten. Dass jemand wie Dannik den Leistungskurs besuchte, überraschte Lorenz, da er den adligen Rüpel nicht für so intelligent hielt, Mathe in höchster Perfektion kapieren zu können, geschweige denn simple Rechenaufgaben. Wahrscheinlich würde er sich hier bald eine Blamage einhandeln, schließlich waren die Anforderungen hoch, dachte Lorenz schadenfroh und sah plötzlich zuversichtlicher in die nächsten Mathe-Stunden.
Doch sein Enthusiasmus wurde recht schnell gebremst, denn der junge Herr von Gutenbach stellte sich gar nicht so dumm an – sofern er überhaupt dazu zu bewegen war, sich am Unterricht zu beteiligen. Meist hielt er sich recht wortkarg und antwortete nur, wenn er vom Lehrer direkt angesprochen und zu einer Antwort aufgefordert wurde.
Trotz allem gefiel es Lorenz gar nicht, dass einer der Prinzen seinen Lieblingskurs besuchte. Am Nachmittag, als sie sich alle vier in seinem Zimmer zum Lernen trafen, kam die Sprache sofort wieder auf dieses Ereignis.
»Ich hätte niemals gedacht, dass jemand wie er einen solchen Kurs belegen könnte«, begann Sigrid, schlug ihr Mathebuch auf und seufzte leise. »Wie ich das verstanden habe, hat Herr Brandner ihn sogar dazu aufgefordert.« Sie sah auf und suchte Lorenz’ Blick. »Ist er so gut?«
Lorenz zog die Schultern hoch. »Woher soll ich das wissen?« Er klickte einige Male unsicher mit seinem Kugelschreiber. »Na ja, irgendwie müssen sie es ja in die Q12 geschafft haben. Mit Beziehungen und Kohle allein wird das nicht möglich sein.«
Sigrid sah ihn argwöhnisch an, so, als hätte er gerade etwas unglaublich Blödes von sich gegeben. Lorenz senkte den Kopf und vertiefte sich in seine Matheaufgaben. Er wusste selbst nicht, warum er das gesagt und damit die unreifsten Schüler des Gymnasiums in Schutz genommen hatte. Obwohl er nun mit Grauen an den Leistungskurs dachte, ging ihm das Bild von Dannik von Gutenbach nicht mehr aus dem Kopf, wie dieser widerwillig und nur so von Unlust strotzend auf seinem Platz saß und sich nur mit Nachdruck des Lehrers dazu animieren ließ, sich am Unterricht zu beteiligen. Es erweckte stark den Eindruck, dass Dannik dies nicht aus freien Stücken tat, vielmehr keine andere Wahl gehabt hatte. Neugier war in Lorenz aufgekommen. Die Prinzen taten immer, wozu sie Lust hatten. Warum ließ sich Dannik nun dazu zwingen, einen Kurs zu besuchen, den er nicht wollte? Für wie gut musste Herr Brandner ihn halten, wenn er dessen Vater bequatschte, seinen Sohn dazu zu überreden, den Kurs zu belegen?
Noch bevor seine Gedanken tiefer gehen konnten, riss ihn Sigrid wieder mit einer Frage bezüglich einer Rechenaufgabe heraus. Rasch war Lorenz voll in seinem Element und erklärte ihr ausführlich und nachvollziehbar den Lösungsweg.
Gegen sechs Uhr packte Sigrid ihre Sachen zusammen, da sie nach Hause musste.
»Noch frohes Lernen, Jungs«, sagte sie fröhlich, hauchte jedem ein Küsschen auf die Wange und war wenig später draußen. Als Justus nach ihr das Zimmer verließ, um auf die Toilette zu gehen, stieß ihn Ben an.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass Sigrid übers Wochenende ihre Haare violett gefärbt hat?«, knurrte er erbost.
Lorenz zuckte irritiert mit den Schultern. »Woher sollte ich das wissen?«
»Ihr wohnt ja beinahe zusammen.«
»Wir wohnen im selben Häuserblock, aber nicht in derselben Wohnung«, erinnerte ihn Lorenz. »Mann, Ben«, rief er genervt und schob seine Hausaufgaben etwas von sich. »Es ist doch egal, welche Haarfarbe sie hat.« Tatsächlich wechselte Sigrid die Farbe ihrer Haare beinahe wöchentlich. Letzte Woche war es tiefschwarz mit roten Strähnen, davor Blau, und davor Grün. Erst in diesem Moment erkannte Lorenz, was ihm heute an Ben so komisch vorgekommen war: die feuerroten Haare. Am Morgen hatte er gedacht, dass das Licht der Morgensonne seine an sich schon rötlichen Haare noch roter erscheinen ließ. Dass er sich plötzlich Sigrids Färbe-Launen anpasste, überraschte Lorenz, machte ihm aber auch deutlich, dass Ben am Verzweifeln war. »Wie lange soll das eigentlich noch weitergehen?«, fragte er daher. »Warum sagst du ihr nicht endlich, dass du in sie verknallt bist? Wenn sie dich ablehnt, weißt du, was Sache ist und musst dich nicht mehr quälen.«
Ben verzog sein Gesicht. »Ist nicht so einfach.«
»Ist ganz einfach: Sigrid, ich stehe unheimlich auf dich. Willst du mit mir gehen? Siehst du?« Er warf seinem Freund einen herausfordernden Blick zu, den dieser mit einem derben Schlag gegen den Oberarm kommentierte.
»Blödmann«, maulte Ben und zog eine beleidigte Schnute. »Das ist gar nicht einfach. Ich habe mir das schon so oft vorgenommen, aber jedes Mal geht mir sowas von die Muffe. Ich kann es nicht.«
»Soll ich es für dich machen?«, bot sich Lorenz sofort an.
Durch Ben ging ein sichtlicher Ruck. Erschrocken sah er hoch. »Bloß nicht. Spinnst du? Da bin ich bei ihr doch total unten durch. Wie sieht das aus?«
»Jedenfalls besser, als wenn du ihre Haar-Färbe-Launen mitmachst. Stell dir vor, nächste Woche kommt sie in barbierosa.« Lorenz verzog angewidert das Gesicht und lachte schließlich, als Ben eine absolut klägliche Miene zog.
»Was soll ich tun?«, jammerte er und ließ wieder den Kopf hängen. »Ich mag sie total.« Er seufzte laut. Seine Finger schienen nichts mit sich anzufangen zu wissen und rangen verzweifelt miteinander.
»Lad sie doch mal ins Kino ein«, schlug Lorenz vor. »Da ist es dunkel und niemand sieht deine rote Rübe, wenn du es ihr gestehst.«
»Spinner!« Ben seufzte abermals laut. »Ich mag es, wie sie lächelt«, gestand er zögernd. »Und wie sie ihre Haare aus dem Gesicht streicht … und wie ihre dunklen Augen strahlen, wenn sie davon erzählt, dass sie später Journalistin werden will …«
»Sag das nicht mir, sondern Sigrid.« Lorenz klappte sein Matheheft zu und rückte näher an Ben heran. »Bevor du vor Kummer Magengeschwüre oder eine Herzgefäßerkrankung bekommst, solltest du deinen Mumm zusammennehmen und es ihr sagen. Wenn du willst, bin ich dabei … oder zumindest in der Nähe. Aber du solltest es ihr bald sagen, bevor das Jahr zu Ende ist und sich eure Wege trennen.«
Ben sah ihn ungläubig an. »Herzgefäßwas …?«
Lorenz kicherte amüsiert und legte seinem Freund aufmunternd die Hand auf die Schulter. »Wenn es was hilft, denke an das barbierosa.«
»Was für ein Rosa?« Justus war eben ins Zimmer zurückgekommen und hatte nur das letzte Wort der Unterhaltung mitbekommen.
»Wir diskutieren gerade, mit welcher Farbe Sigrid in der nächsten Woche ankommt«, gab Lorenz ausweichend von sich und zwinkerte Ben zu. »Ich sage barbierosa. Was meinst du?«
Justus zuckte nur mit den Schultern. »Ist doch egal. Wenn es ihr gefällt …« Er zog sich seine Hefte heran und machte sich wieder über seine Aufgaben her.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Ben besorgt. »Du bist in letzter Zeit so merkwürdig.«
»Das letzte Schuljahr«, murmelte Justus und senkte seinen Kopf noch tiefer. »Ich gerate langsam in Panik … glaube ich.«
»Das wird für uns alle hart«, bemerkte Lorenz, rückte von Ben weg und räusperte sich leise. »Aber wenn wir zusammenhalten, können wir es schaffen.«
Justus sah hoch und suchte Lorenz’ Blick. In seinen Augen glitzerte es. Sein Mund öffnete sich leicht, doch kein Laut kam über seine Lippen. Lorenz wusste trotzdem, was dieser sagen wollte und nickte ihm zuversichtlich zu.
»Was haltet ihr von regelmäßigen Lernstunden, ein oder zweimal die Woche«, schlug Lorenz vor. »Sofern es unsere anderweitigen Verpflichtungen erlauben. Ich könnte Nachhilfe in Deutsch gebrauchen und ihr in Mathe.« Er lachte kurz, war sich jedoch dem Ernst der Lage gewiss und beruhigte sich rasch wieder. »Wir schaffen das schon. Wir sind ein Team.«
»Team von Losern«, kommentierte Justus trocken.
»Immer noch besser als von blaublütigen Arschlöchern«, hielt Lorenz dagegen. »Die haben in ihrer Hose keinen Schwanz, sondern einen Geldsack. Damit können sie vielleicht Mädels und die Lehrer beeindrucken, aber nicht uns oder ihre künftigen Chefs.«
»Was macht dieser Gutenbach eigentlich in unserem Kurs?«, meckerte Ben. »Der ist da vollkommen fehl am Platz.«
»Du kannst aber nicht behaupten, dass er nichts drauf hat«, erwiderte Lorenz. »Wie er das dreidimensionale, kartesische Koordinatensystem erklärt hat, das war …«
»Dir gefällt es wohl auch noch, dass dieser Arsch im Kurs ist«, fiel ihm Ben schroff ins Wort. »Was ist, wenn er dir den Rang abläuft, so wie es die Typen in allen Sachen machen. Dabei stellen die nicht unbedingt ihren Intellekt unter Beweis, eher ihre Überheblichkeit. Im Sport sind sie die absoluten Spitzenfavoriten, was viel über ihre geistige Entwicklung aussagt. Für Sport braucht man nicht viel. Muckis anstatt Hirn. Ich sage, es ist ein Fehler. Die Moral des Kurses geht den Bach runter, wenn er länger dort bleibt. Wir sollten was dagegen unternehmen.«
»Und was?«, wollte Lorenz wissen. »Der Brandner scheint ihn direkt eingeladen zu haben. Was willst du dagegen unternehmen?«
Ben seufzte tief. »Am besten ignorieren«, schnaufte er schließlich. »Und zusehen, dass wir dieses Jahr irgendwie glimpflich rumkriegen.«
Justus fiel das Buch aus der Hand, worauf die Aufmerksamkeit der beiden anderen auf ihn gelenkt wurde. Er senkte seinen Kopf noch tiefer, hob es rasch auf und verstaute es hastig in seinem Rucksack.
»Ich muss los«, rief Ben plötzlich und sprang auf die Beine. »In zehn Minuten fängt mein Dienst im Burger-Shop an.« Hastig raffte er seine Schulsachen zusammen. »Wir sehen uns morgen.« Keine Minute später war er auch schon draußen.
Justus und Lorenz blieben zurück und schwiegen sich erst einmal an. Bis Lorenz das bleierne Schweigen brach.
»Geht es dir gut?«, erkundigte er sich bei seinem besten Freund. Von dem Zwischenfall am Morgen war kaum noch was in dessen Gesicht zu sehen.
Justus nickte langsam. »Danke, dass du mir aus der Patsche geholfen hast«, sagte er mit zitternder Stimme.
»Keine Ursache«, gab Lorenz zurück.
»Beim letzten Mal musste ich fast hundertfünfzig Euro bezahlen für die Bücher. Sie waren alle nagelneu gewesen, bevor …« Seine Stimme geriet ins Stocken. »Konntest du dir das wirklich leisten? Du sparst doch auf ein Handy.«
»Weißt du …?«, begann Lorenz und rückte sich näher an Justus. »Sowas macht man unter besten Freunden. Ich konnte dich nicht hängen lassen. Ich spare schon so lange, was machen da ein paar Wochen mehr aus …« Er schluckte trocken, kämpfte den Kloß hinunter, der sich in seiner Kehle ausgebreitet hatte, und nahm einen tiefen Atemzug. »Es wäre besser, wenn du das dem Rektor erzählst. Wenn du nichts unternimmst, dann werden sie bis zum Schuljahresende damit weitermachen.«
»Ich war letztes Jahr schon beim Direx«, gestand Justus. »Mit dem Ergebnis, dass sie mich zwei Monate lang, jeden Tag nach der Arbeit im Burger-Shop abgepasst und in die Müllcontainer geworfen haben.«
»Scheiße«, gab Lorenz erschrocken von sich. »Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte …«
»Was?«, unterbrach ihn Justus beinahe böse. »Mir geholfen? Sodass sie dich auch fertigmachen? Ihnen die Leviten gelesen und ihnen gesagt, dass sie aufhören sollen, mich zu schikanieren?«
»Justus! Was die mit dir machen, ist hochgradiges Mobbing. Das ist Psychoterror. Geh zur Polizei!«
Justus verzog sein Gesicht. »Weißt du, dass einer der Prinzen der Sohn vom ersten Polizeihauptkommissar ist?« Seine Schultern sackten ab. Er schien förmlich zusammenzubrechen. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Am liebsten wäre mir, wir würden wegziehen oder ich …« Er stockte und sah hoch. In seinen Augen standen Tränen. »Lorenz, was soll ich tun? Ich kann nicht mehr.«
»Oh, verflucht!« Lorenz zog seinen Freund an sich und drückte ihn an seine Brust. »Du wirst keinen Schritt mehr ohne mich gehen, hast du verstanden? Ich bin ständig bei dir. Sie werden nicht mehr an dich rankommen.«
»Du kannst sie auch nicht davon abhalten, mir was anzutun«, schluchzte Justus und vergrub sein Gesicht an der Schulter seines Freundes. »Sie werden dann auch auf dich losgehen.«
»Ich kann es nicht zulassen, dass sie dich fertigmachen.«
»Du hast doch selbst genug zu tun. Schule, Arbeit. Du kannst nicht ständig bei mir sein.«
»Dann müssen auch die anderen beiden helfen. Ben und Sigrid …«
»Nein«, rief Justus beinahe panisch und machte sich frei. »Sie sollen es nicht wissen.«
»Es sind genauso deine Freunde wie ich.«
»Ich will auch nicht, dass du dich einmischst. Aber ich weiß nicht mehr weiter.« Hektisch wischte Justus seine Tränen mit dem Handballen von der Wange und blickte Lorenz fast schon wieder trotzig an. Immer wenn er aufgeregt war oder emotional ziemlich angespannt, färbte sich sein Gesicht rötlich, sodass die Narbe unter seiner Nase deutlicher hervortrat. Als er einen tiefen Atemzug nahm, gab er einen leisen Schnarchlaut von sich. Dieses Geräusch entstand durch die Narbe in seinem Rachen, an der die Luft eng entlang strömte, wenn er angespannt war.
»Was ist mit deinen Eltern? Vielleicht kannst du sie dazu überreden, die Schule zu wechseln.«
»Ich will die Schule nicht wechseln. Ich will bei dir, Ben und Sigrid bleiben. Ihr seid meine einzigen Freunde.«
»Das bleiben wir, auch wenn du auf eine andere Schule gehst«, versicherte ihm Lorenz. »Also wissen es deine Eltern nicht.«
Justus schüttelte traurig den Kopf. »Meine Mutter ahnt glaube ich etwas, aber ich erfinde immer wieder Ausreden.« Er sah hoch. »Es ist doch nur noch ein Jahr.«
»Wenn das so weitergeht, bist du am Ende ein seelisches Wrack, wenn du dich nicht vorher schon von einer Brücke gestürzt hast. Mensch, Justus. Deine Eltern müssen Bescheid wissen. Sag es ihnen. Wechsel die Schule. Du brauchst einen guten Abschluss, das ist wichtiger.«
»Das Sankt Korbinian ist das Beste.«
Lorenz schnaufte verzweifelt. »Was ist besser, ein miserabler Abschluss mit dem Stempel von Sankt Korbinian, oder ein guter mit dem von irgendeiner anderen Schule? Justus, wenn du willst, bin ich dabei, wenn du es deinen Eltern sagen willst. Wenn du willst, gleich heute Abend. Je früher, desto besser. Mit dem Mobbing muss Schluss sein.«
Justus schüttelte den Kopf. »Ich …«, begann er zögerlich. »Sie sind heute beide weg und kommen erst gegen zehn wieder.«
»Ich begleite dich auf jeden Fall nach Hause«, entschied Lorenz, raffte seine Schulsachen zusammen und half auch Justus dabei, dessen Utensilien im Rucksack zu verstauen.
Als er Justus wohlbehalten abgeliefert hatte, schlenderte er gemächlich zur Bushaltestelle zurück. Justus wohnte am anderen Ende der Stadt, in einem Neubaugebiet mit zahlreichen großen Anwesen. Wenn man die finanziellen Verhältnisse der Familie betrachtete, so passte sie eigentlich nicht in dieses Neureichengebiet, denn seit der Insolvenz des Arbeitgebers von Justus’ Stiefvater kämpften sie arg um ihre Existenz. So ein großes Haus war teuer, doch es war ihr Lebenstraum und sie waren nicht gewillt, ihn aufzugeben.
Mit einem Seufzen ließ sich Lorenz auf der verbeulten Sitzbank im Bushäuschen niedersinken und dachte über Justus nach und wie er ihm helfen konnte. Dessen Situation machte ihm große Sorgen. Es konnte nicht mehr so weitergehen. Irgendwann trieben sie den Jungen noch in den Selbstmord. Das musste er verhindern.
Das aufheulende Gebrüll eines Motors riss ihn aus seinen Gedanken. Ein aufgemotzter BMW raste auf der Straße heran, bremste kreischend an der Kreuzung, die sich knapp hundert Meter vor dem Bushäuschen befand, und vollführte dort eine 360-Grad-Drift-Kurve. Die durchdrehenden Reifen quietschten laut auf dem Asphalt. Dicker, schwarzer Qualm stieg aus den Radkästen hervor. Der weithin sichtbare, neongrün lackierte Wagen, der aus einer Folge von 2 Fast 2 Furios hätte entnommen sein können, drehte eine weitere Drift-Kurve, ehe er mit laut kreischenden Reifen wieder davonbrauste und auf der Kreuzung mehrere Kreise schwarzen Gummis hinterließ. Lorenz wusste genau, wem dieser Protzwagen gehörte: Dannik von Gutenbach.
Ein weiteres Mal – wie in seinem Leben bereits so viele Male – fragte er sich, ob er nicht doch ein Statist in einem dieser hirnrissigen Teeny-Serien war, in der arrogante, superreiche Schnöslinge das Leben der armen Guten schwer machten. Er zwickte sich in den Arm, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sein bisheriges Dasein angehäuft mit Klischees und Ungerechtigkeiten war, und zuckte vor Schmerz zusammen, als er erkennen musste, dass es real ist. Es konnte einfach nicht sein. Sie befanden sich im guten alten Deutschland, in dem das Schulministerium die Hand über sämtliche Schüler besaß, in dem selbst minderbemittelte wie er, Justus, Sigrid und Ben eine reelle Chance bekamen, was aus sich zu machen. Doch solche Typen wie die Prinzen, machten es einem schwer, an das Gute in all der Bürokratie Deutschlands zu glauben. Irgendwas musste doch möglich sein, um Justus zu helfen und den Rüpeln Einhalt zu gebieten.
Als der jaulende Motor des BMWs hinter mehreren Straßenbiegungen und Häuserblocks verstummt war, kam endlich der Bus heran und Lorenz stieg ein.
Plötzlich musste er daran denken, dass er trotz Vorbehalte überrascht gewesen war, dass Dannik von Gutenbach die an ihn gestellte Aufgabe im Matheunterricht souverän hatte lösen können. Eine derartige Intelligenz hatte er ihm nicht zugetraut. Auch wenn er sich gegen dieses Gefühl wehrte, so musste er sich eingestehen, dass er Bewunderung für Dannik aufbrachte.
Lorenz schüttelte den Kopf und sah sich in der schmutzigen Scheibe des Busses an. Wie konnte er nur für jemanden wie Dannik Anerkennung aufbringen? Nur weil dieser ein paar Matheaufgaben gelöst hatte? Vermutlich hatte ihm Herr Brandner vorher die Lösung gegeben, damit der dann im Unterricht glänzen konnte. So musste es sein. Anders konnte er es sich nicht erklären. Das passte einfach nicht zu dem Klischee einer hirnlosen Sportskanone, komplizierte Aufgaben zu lösen. Es war sicherlich schon ein Wunder, dass er sich die Lösung so lang hatte merken können.
Lachend wandte sich Lorenz von seinem Spiegelbild ab. Es war bereits dunkel geworden. Von der Welt draußen bekam er nicht viel mit, denn die Beleuchtung im Bus sperrte die Finsternis aus. Auf dem Weg von der Bushaltestelle bis zu dem Wohnblock, in welchem er wohnte, dachte er über alles nach: über Ben und Sigrid, Justus, den Matheleistungskurs und Dannik. Bei letzterem blieben seine Gedanken länger hängen. Das Bild, wie sich Dannik lustlos ins Klassenzimmer gesetzt hatte, seine Beine unter dem Tisch ausstreckte, die Hände in die Jackentasche steckte und den Kopf auf die Brust sinken ließ, so, als wollte er den Unterricht schlafend verbringen. Lorenz’ inneres Augenmerk wanderte zu dem Bild der Beine ab, die in engen, ausgewaschenen, mit Edding-Kunstwerken verzierten Jeans und weißen Nikes steckten. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und wackelte gelegentlich desinteressiert mit den Füßen hin und her, sodass die Sohle des Schuhs, auf den er sich stützte, leise über den Boden quietschte. Ein Geräusch, das den Unterricht empfindlich gestört hatte, doch keiner der Anwesenden traute sich, etwas dagegen zu sagen. In seiner ganzen Art benahm sich Dannik trotz seiner neunzehn Jahre wie ein in der frühen Pubertät stehen gebliebener Rotzlöffel, der glaubte, sich alles erlauben zu können. Tatsächlich kam er auch mit allem durch. Seiner Familie gehörte die große Möbelfabrik am Stadtrand, die Verkaufsfilialen in ganz Deutschland besaß und deren Name selbst auf der anderen Seite des Globus bekannt war. Sie war auch einer der Hauptsponsoren des Gymnasiums und wurde in jedem Jahresalmanach an erster Stelle genannt. Zudem saß sein Vater im Stadtrat und hatte daher ein gewichtiges Wort in der Stadtpolitik mitzureden.
Gegen die von Gutenbachs anzugehen, hieß, sich gegen das Regime des Gymnasiums zu wenden, womit man sogleich auch den Elternbeirat gegen sich aufbrachte.
Als Lorenz in die Wohnung zurückkehrte, die er mit seiner Mutter bewohnte, machte er sich gleich daran, das Frühstücksgeschirr abzuwaschen und Abendessen vorzubereiten. Seine Mutter arbeitete bis acht an der Kasse eines Supermarktes. Wenn sie nach Hause kam, war sie meist müde und gestresst und hatte keine rechte Lust mehr, ihnen beiden noch ein Abendessen auf den Tisch zu stellen. So hatte es sich Lorenz schon ziemlich früh angewöhnt, ihr diese Arbeit abzunehmen. Er konnte gut kochen, jedenfalls schmeckte es ihnen beiden.
Just im selben Moment, als er den Tisch deckte, kam seine Mutter nach Hause. Gemeinsam aßen sie zu Abend und erzählten sich kurz, was den Tag über angefallen war – Lorenz berichtete natürlich nur in einer stark zensierten Version von seinem Schulalltag. Während sich seine Mutter vor den Fernseher setzte, um noch den Schluss ihrer geliebten Fernsehserie zu sehen, zog sich Lorenz in sein Zimmer zurück. Er musste noch eine Abhandlung über einen Schriftsteller machen. Doch alles was ihm durch den Kopf sausen wollte, war Dannik, wie er auf dem Stuhl saß, sich tierisch langweilte, hin und wieder mit den Händen durch seine kurzen, blondierten Haare fuhr und versuchte, die Stunde irgendwie rumzubekommen. Warum jemand wie Dannik seine Haare färbte, erschloss sich Lorenz nicht. Er fand, dass die hellbraune Naturfarbe hervorragend zu ihm passte und die bernsteinfarbenen Augen zum Leuchten brachte. Das krasse Blond ließ ihn ein wenig blass wirken, sodass ihm selbst der 3-Tage-Bart, den er stolz zur Schau trug, kein männlicheres Bild verschaffen konnte. Durch den Sport war Dannik durchtrainiert und hatte Muskeln, die sich sehen lassen konnten. Jedenfalls hatte Lorenz schon einige Male neidisch auf dessen Körper geschielt und sich gewünscht, dass er beim Joggen mehr Puste hätte. Dannik war sich seiner gut aussehenden Statur wohl bewusst, weswegen er weniger sportliche gerne verhöhnte.
Irgendwann schlief er ein und träumte davon, wie er und Dannik komplizierte Rechenaufgaben lösten, die ganze Tafel mit Zahlen und Formeln vollkritzelten und anschließend mit seinem grellgrünen Flitzer durch die Stadt düsten. Er sah sich selbst auf dem Beifahrersitz hocken, lachte unbekümmert und freute sich darüber, dass er an der Seite dieses Kerls sitzen durfte. Er sah sich selbst, wie er den jungen Adligen anhimmelte, so wie Ben Sigrid anschmachtete und wachte schließlich ruckartig auf.
Neben ihm plärrte sein Radiowecker. Passenderweise hatte der DJ Hells Bells von AC/DC aufgelegt. Höllenglocken würden läuten, wenn sein Traum jemals Wahrheit werden würde.

 

 

 

3.


Lorenz stand jeden Morgen eine Stunde früher auf, um Justus abzuholen und gemeinsam mit ihm zur Schule zu fahren. Er ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Selbst aufs Klo begleitete er ihn. Ob es daran lag, dass Justus nun einen Bodyguard besaß, oder schlichtweg die Eishockey-Saison begonnen hatte, konnten sie nicht sagen. Die Prinzen ließen ihn in Ruhe. Das Quintett spielte beim hiesigen Eishockey-Verein, den Icecubes. Mit dem Herannahen des Herbstes und der Wintersaison schienen die Schulrüpel ausreichend anderweitig beschäftigt zu sein. Es kam kaum noch zu Zwischenfällen mit ihnen. Justus blühte auf. Seine Noten wurden besser, nicht zuletzt, dank der vielen Lernstunden, die er mit Lorenz verbrachte. Weihnachten stand vor der Tür. Nur noch zwei Wochen Schule, dann durften die Schüler in ihre verdienten Weihnachtsferien.
Lorenz zog den Kragen seiner dicken Daunenjacke höher, als er aus dem Bus ausstieg und stehen blieb, um auf Justus zu warten. Der Bus spuckte mit seinem besten Freund noch zahlreiche andere Schüler aus, die ähnlich wie Lorenz, ihre Kragen hochzogen, die Handschuhe überstreiften, oder ihre Schals richteten, bevor sie die paar Meter über den Schulhof gehen und ins beheizte Schulgebäude flüchten konnten. Der Bus fuhr an ihnen vorbei. Justus kämpfte noch mit dem Reißverschluss seiner Jacke, als sich Lorenz umsah und auf der gegenüberliegenden Seite den Schülerparkplatz überflog. Die erste Reihe, direkt an der Straße gehörte natürlich den Prinzen. Das grellgrüne Monstrum fiel ihm sofort ins Auge.
Auf der anderen Straßenseite hatte eben der Bus angehalten, der aus der entgegengesetzten Richtung kam, um weitere Schüler zu entlassen. Vor dem Bus schlenderte gemächlich Dannik von Gutenbach auf die Straße, weswegen der Bus härter bremsen musste, um ihn nicht zu überfahren. Doch diesen schien das nicht einmal zu interessieren. Sein Blick war auf sein Mobiltelefon gerichtet, in das er eben eine Nachricht tippte, oder irgendwas programmierte. In seinen Ohren steckten Kopfhörerstöpsel und sein Kopf wippte leicht im Takt der Musik mit. Gänzlich in seinem Tun versunken, bekam er offenbar nicht mit, dass der Busfahrer über ihn schimpfte. Ebenso entging ihm die Tatsache, dass ein Wagen den stehenden Bus überholte und an ihm vorbeizueilen gedachte.
Nur noch wenige Sekunden, dachte Lorenz erschrocken, dann würde es eine Katastrophe geben.
Er ließ seine Tasche fallen und sprintete los. Noch im Laufen rief er Dannik etwas zu, doch der hörte ihn nicht – wahrscheinlich war der Ton auf seinen Kopfhörern so laut aufgedreht, dass er gar nichts mitbekam, weder Lorenz’ Ruf, noch das Dröhnen des Motors, dessen Fahrer Gas gab, um so rasch wie möglich den Bus zu überholen. Lorenz beschleunigte seinen Schritt und kam knapp vor dem Auto bei Dannik an, riss ihn im vollen Lauf einfach mit sich.
Bremsen quietschten.
Lorenz wurde von dem Wagen noch an den Beinen erfasst. Doch da er im letzten Moment hochgesprungen war, um Dannik umzuwerfen, riss es ihn lediglich zur Seite, womit er sich mit Dannik zusammen drehte und sie hart und wenig ästhetisch auf dem Boden aufkamen. Der junge Gutenbach landete halb auf ihm. Ein Ellbogen bohrte sich in Lorenz’ Brustkorb, ein Knie traf ihn zwischen den Beinen. In einem wild durcheinandergewirbelten Knäuel prallten sie auf dem Boden auf, schlitterten einen knappen Meter über die vereiste Straße und kamen am Randstein zum Halten .
Lorenz stöhnte. Dannik hatte kurz aufgeschrien, fluchte jedoch sogleich, nachdem ihr Sturz vom Bordstein gestoppt worden war, und richtete sich bereits wieder auf. Sofort waren einige Leute da, die sich um die Gestürzten kümmerten. Lorenz wurde vom Boden hochgezerrt und von Dannik getrennt. Er hörte ihn fluchen und schimpfen, keifte irgendwas von seinem Handy, das bei dieser Aktion zu Bruch gegangen war und schrie sämtliche Nebenstehenden wütend an. Stöhnend klopfte Lorenz den feuchten Straßendreck von seiner Jacke und versuchte, den pulsierenden Schmerz in seinem Schritt und im Brustkorb wegzuatmen.
Ben und Justus waren auf einmal bei ihm, redeten besorgt auf ihn ein und zerrten ihn immer weiter von dem Pulk weg, der sich dicht um Dannik gebildet hatte. Sigrid stand ebenfalls unvermittelt neben ihm, wischte noch etwas Schneereste aus seinem Gesicht und beäugte ihn musternd.
»Mann, was für ein Arschloch«, schimpfte sie. »Du hast ihm eben das Leben gerettet und alles, an was er denkt, ist sein scheiß iPhone.« Sie schüttelte ihren mit rosafarbenen Strähnen übersäten Kopf und hielt ihm seine Schultasche hin. »Hättest du ihn doch bloß ins Auto laufen lassen. Dann hätten wir ein Übel weniger gehabt.« Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.
»Bei dir alles in Ordnung?«, erkundigte sich Justus besorgt.
Lorenz keuchte. »Geht schon. Er ist nur auf mich gefallen. Da blieb mir kurz die Luft weg.«
»Wie kannst du nur dein Leben für so einen undankbaren Deppen riskieren«, schimpfte Sigrid weiter.
»Sollen wir dich ins Sekretariat bringen, damit sie einen Notarzt rufen?«, wollte Ben wissen.
Lorenz schüttelte den Kopf. Der Schmerz in seiner Brust ließ bereits langsam nach. Mehr Sorgen machte ihm der in seinem Schritt.
Dannik schimpfte noch immer. Offenbar war das teure Telefon gänzlich hinüber.
»Komm, lass uns hier verschwinden«, schlug Ben vor, stemmte seine Schulter unter die Achsel seines Kumpels und zog ihn mit sich.
Lorenz’ Beine zitterten und fühlten sich so weich wie warmer Gummi an. In seinen Adern pulsierte pures Adrenalin. Ihm war vor Aufregung leicht schwindelig. Er nickte und ließ sich von seinen Freunden ins Schulhaus bringen. Die Schmerzen in seiner Brust waren nach einer Stunde beinahe vollständig verschwunden. Nur hin und wieder, wenn er eine dumme Bewegung machte, meldeten sie sich pochend zu Wort. Der Schmerz in seinen Hoden ließ jedoch nicht nach. Immer wieder verzog er das Gesicht beim Laufen und wenn er sich auf den harten Stuhl setzen musste, glaubte er es bald nicht mehr auszuhalten. Doch er ließ sich nichts anmerken. Tapfer kämpfte er sich durch den Schultag, auch durch den Bericht, den er nach Schulschluss dem Direktor abliefern musste. Als er schließlich Zuhause in seinem Bett lag, erlaubte er sich endlich, laut vor Qual zu stöhnen. Zwischen seinen Beinen lag ein Eisbeutel, doch die Schmerzen ließen sich dadurch nicht beruhigen. Bald wusste er nicht mehr, wie er sich lagern oder was er tun sollte. In seiner Not rief er den derzeitigen Freund seiner Mutter an.
Die beiden waren seit einem halben Jahr ein Paar. Lorenz fand, dass sie gut zusammenpassten, und freute sich für seine Mutter, die endlich wieder rosige Wangen bekam, wenn ihr Gesprächsthema auf Freundschaft, Liebe und Sex abwanderte. Lorenz verstand sich recht gut mit Bernd. Er mochte den Humor des Mannes und dessen gelassene und unverkrampfte Art. Bernd war wirklich cool, sodass er nichts dagegen hätte, wenn aus den beiden etwas Ernstes werden würde.
Er machte sich auf zu der Tierklinik, in der Bernd als Pfleger arbeitete. Dieser blickte ihn höchst besorgt an, als er den Sohn seiner Freundin erkannte. Die Lachfältchen des Vierzigjährigen vertieften sich, als er die Augenbrauen zusammenzog. Rasch wischte er sich die Hände an einem Handtuch ab, ehe er näher kam. »Was ist denn los? Ist irgendwas mit deiner Mutter passiert?«
Lorenz schüttelte den Kopf. »Nein. Ich brauche deine Hilfe. Können wir eben mal irgendwo ungestört reden?«
Bernd hob besorgt und misstrauisch eine Augenbraue, geleitete ihn dennoch in eines der Behandlungszimmer. »Wie gut, dass gerade wenig los ist.«
Als Lorenz in das Zimmer voranging, konnte er seine seltsame Gehweise nicht verbergen.
»Was ist denn mit dir geschehen?«, erkundigte sich Bernd erschrocken.
»Was Blödes«, wich Lorenz aus und setzte sich vorsichtig auf einen der Stühle, die für die Besitzer der Tiere bereitstanden. »Ich hab was zwischen die Beine bekommen und es tut höllisch weh. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.« Dabei verzog er schmerzhaft seine Miene.
Ein belustigtes Schmunzeln huschte über Bernds Gesicht, das jedoch sofort wieder verschwand und einem mitfühlendem Schauder Platz machte. »Oh weh! Aber da bin ich die falsche Adresse. Ich bin nur Tierpfleger. Du solltest zu einem richtigen Arzt.«
Heftig schüttelte Lorenz den Kopf. »Nein, kein Arzt.« Er hätte ja selbst zu ihrem Hausarzt gehen können, aber allein daran zu denken, wie der alte Doktor Braun seine Finger an Lorenz’ Hoden legte, um sie zu untersuchen, ließ das kalte Grauen in ihm aufkommen.
»Ich darf dich auch nicht behandeln«, erinnerte er ihn. »Ich fahre dich zum Arzt. Keine Widerrede.«
»Nein«, protestierte Lorenz und ließ sich nur äußerst widerwillig wieder vom Stuhl hochziehen.
»Wir gehen zu einem Freund. Der ist verschwiegen. Aber ich darf nichts machen. Wenn das was Ernsteres ist, dann krieg ich nicht nur Ärger mit deiner Mutter. Also komm schon.« Bernd war kräftig genug, auch starke Hunde zu bändigen. Mit dem leicht widerspenstigen jungen Mann hatte er keinerlei Probleme. Er schleppte ihn mehr aus der Klinik heraus, als dass Lorenz selbst ging. Ihm graute davor, vor einem Wildfremden die Hosen herunterlassen zu müssen. Es war ihm unendlich peinlich. Dennoch sah er ein, dass er einen Fachmann draufsehen lassen musste. Also ließ er sich in Bernds Wagen setzen und hoffte, dass der erwähnte Freund ihm helfen konnte. Zwanzig Minuten später saßen sie im Behandlungszimmer eines Arztes und warteten auf den Mediziner.
»Erzählst du mir, wie es passiert ist?«, wollte Bernd wissen und brach damit das Schweigen, das sich zwischen ihnen beiden ausgebreitet hatte.
Auch wenn Lorenz den Vierzigjährigen gut leiden konnte, so war er für ihn doch noch immer ein Fremder, dem sich anzuvertrauen, nicht so einfach war.
»Ich möchte nicht unbedingt«, gab Lorenz ausweichend von sich und fixierte ein Plakat an einer der Wände, das das Innere des menschlichen Verdauungstraktes in anschaulichen bunten Bildern zeigte.
»Was soll ich deiner Mutter erzählen?«
»Nichts«, antwortete Lorenz. »Sie muss es nicht erfahren.«
»Ich denke schon, dass sie es wissen möchte, wenn jemand ihrem Sohn in die Eier getreten hat.«
»Es hat mir niemand …«, setzte Lorenz protestierend an, nahm sich jedoch sogleich wieder zurück. »Es hat mir niemand in die Eier getreten«, wiederholte er wesentlich gefasster. »Es war ein Unfall. Ich bin auf einer Eisplatte ausgerutscht und hab jemanden mitgerissen und der ist …« Er räusperte sich verlegen. »Dumm gelaufen«, fügte er etwas kleinlaut hinterher.
»Dummheiten gemacht und den Kürzeren gezogen«, schlussfolgerte Bernd mit einem Anflug von schadenfrohem Grinsen.
Lorenz stöhnte leise und versuchte den Schmerz in seinem Schritt durch Verlagerung seiner Beine zu verringern. Es war ohnehin schon beschämend genug. Mittlerweile ärgerte er sich maßlos darüber, dass er so selbstlos sein Leben riskiert und Dannik gerettet hatte. Nur eine Sekunde später und er wäre selbst vor dem Auto gelandet.
Die Tür ging auf und ein Mann in einem weißen Arztkittel trat herein. Ein freudiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er Bernd sah. Sofort hielt er ihm begrüßend die Hand hin.
»Hallo Bernd«, rief er erfreut. »Bin überrascht, dich in meiner Praxis zu sehen. Was kann ich für dich tun? Ich hörte, es sei ein Notfall.«
Bernd nahm die Hand bereitwillig an, drückte sie kurz und deutete dann auf den Jüngeren. »Nicht ich, sondern Annas Sohn, Lorenz. Er ist in Nöten und ich hatte gehofft, dass du das diskret lösen könntest.«
Der Arzt blickte ihn kritisch an. »Diskret?« Dabei wanderte sein Blick zu dessen Begleiter und musterte ihn vorab fachmännisch.
»Was kann ich für Sie tun, junger Mann?« Der Arzt kam näher, rollte sich einen Hocker heran und ließ sich vor Lorenz nieder, um mit ihm auf gleicher Höhe zu sein.
Als Lorenz nicht sofort antwortete, sprang Bernd ein. »Es ist heute etwas passiert, was an seiner Mannesehre gekratzt hat und das bereitet ihm ein paar Probleme«, gab dieser umständlich formuliert von sich.
Der Arzt zog einen Mundwinkel hoch, während seine Augen zielstrebig zu Lorenz’ schmerzendem Schritt wanderten.
»Oha«, machte er wissend und erhob sich wieder. »Na, dann darf ich den jungen Mann doch auf die Liege bitten. Ich muss mir das ansehen, ganz diskret natürlich.« Er warf Bernd ein Augenzwinkern zu, worauf sich dieser erhob und zur Tür ging.
»Ich warte draußen. Wenn du Hilfe brauchst, einfach rufen.«
Lorenz nickte dankbar. Sich vor dem Freund seiner Mutter zu entblößen, hatte ihm beinahe noch mehr Probleme bereitet, als zuzugeben, dass seine Hoden höllisch schmerzten.
Nun war er allein mit dem fremden Arzt, von dem er nicht einmal den Namen wusste. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, auf das Namensschild an der Tür zu sehen. Als sie eingetroffen waren, hatte sie eine Sprechstundenhilfe auch sogleich in eines der Behandlungszimmer gewunken. Während er seine Hose öffnete und sie samt Unterhose über die Hüften strich, streifte sein Blick wie beiläufig über die weißbekittelte Brust des Arztes und blieb an einem Anstecker hängen. Siedendheißes Blut schoss unvermittelt durch seine Adern, als er den Namen auf dem kleinen Schild las: Dr. med. M. v. Gutenbach.
Beinahe hätte er die Hose wieder hochgezogen und wäre aus dem Behandlungszimmer geflüchtet. Doch da der Arzt bereits den Hocker an die Liege gezogen hatte und sich anschickte, sich über ihn zu beugen, um den Schaden zu begutachten, hätte er den Mann erst zurückstoßen müssen, um zu entkommen.
War das Danniks Vater?
Das konnte nicht sein. Der war doch Firmenchef.
Ein naher Verwandter? Bruder? Onkel?
Der Arzt war bestimmt Mitte dreißig, wenn nicht gar Ende dreißig. Ein paar graue Haarsträhnen hatten sich bereits in dessen dunklem Haar breitgemacht. Auch zierten einige Lachfalten die Augenwinkel und den Mund. Zudem konnte er – nun da er ein Verwandtschaftsverhältnis zu Dannik erkannte – auch eine gewisse Ähnlichkeit erkennen.
Bei dem Arzt konnte es sich nur um den Onkel handeln, sagte sich Lorenz und verfluchte sich, dass er auf Bernds Vorschlag eingegangen war. Gleichzeitig wusste er aber auch, dass ihm keine andere Wahl geblieben war. Seine schmerzenden Hoden mussten behandelt werden. So biss er sich auf die Unterlippe und hoffte, dass er die Praxis so bald wie möglich wieder verlassen konnte.
»Hodenquetschung«, war die Diagnose des Arztes nach der Untersuchung, bei der die dünnen, warmen Finger des Mannes an den edelsten Teilen herumgetastet hatten. »Muss ein tüchtiger Schlag gewesen sein. Eine Prügelei?«
Lorenz schüttelte den Kopf und ließ sich zu keiner weiteren Äußerung verleiten.
Als er weiterhin schwieg, seufzte der Arzt. »Ich muss ja nicht alles wissen«, gab er resigniert von sich und erhob sich. »Ich kann dir ein schmerzlinderndes Mittel geben, wie auch etwas zum Abschwellen. Aber ein paar Tage wird das schon noch wehtun. Du solltest es kühlen und in den nächsten Tagen vielleicht auf heftigen Sex verzichten.« Dabei zwinkerte er ihm schelmisch zu.
Als Lorenz seine Hose rasch wieder nach oben zog und das Hemd hineinstopfte, hatte er seinen Brustkorb ungünstig verdreht und ein leiser Schmerzlaut entkam ihm. Der Arzt bemerkte dies sofort und blickte ihn fragend an.
»Kann ich dir sonst noch helfen?«
Lorenz zögerte kurz, zog dann das Hemd wieder heraus und präsentierte den großen, blauen Fleck auf seinem Brustkorb.
»Doch eine Prügelei, oder?«, fragte der Arzt und kam zurück. Die dünnen, warmen Finger legten sich abermals auf ihn und betasteten die in Mitleidenschaft gezogene Stelle vorsichtig. Vermutlich hatte ihn Danniks Ellbogen beim Aufprall auf dem Boden geradewegs dort getroffen.
»Nein«, antwortete Lorenz kleinlaut. »Ich bin auf der vereisten Straße ausgerutscht.«
»So, so«, machte der Arzt wenig überzeugt, nickte schließlich und schob den Hocker, auf den er sich wieder niedergelassen hatte, um Lorenz’ Brustkorb zu untersuchen, etwas zurück, um den jungen Mann anzusehen. »Kann es sein, dass dieses Ereignis, das zu Ihren Verletzungen führte, irgendetwas mit einem Vorfall vor dem Gymnasium Sankt Korbinian heute Morgen zu tun hat?«
Durch Lorenz ging ein Ruck. Auf einmal wurde es ihm eiskalt.
Diese heftige Reaktion entging dem Arzt nicht.
»Ach, Sie sind der junge Mann, dem mein Neffe das zerbrochene Mobiltelefon zu verdanken hat«, sagte er unbekümmert und lachte leise.
»Was sorgt er sich um sein sch...« Lorenz konnte sich gerade noch zurückhalten, unflätige Worte in der Anwesenheit von Danniks Onkel auszustoßen. Er biss sich auf die Zunge, um die Bemerkung zu unterbinden. »Da wäre noch viel mehr zerbrochen, wenn ich nicht gewesen wäre«, entgegnete er nicht ohne gewisse Härte in der Stimme. Der arrogante Dannik schien gar nicht mitbekommen zu haben, dass er nur knapp einem Unfall entkommen war.
Der Arzt nickte wissend. »Ja, das habe ich auch versucht, ihm klarzumachen. Doch in dieser Beziehung ist mein Neffe leider etwas eigen.« Er lachte abermals, erhob sich und begab sich zu dem Schubladenschrank, auf welchem Verbände und Spritzen zur Benutzung bereitstanden. Er lehnte sich jedoch dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie können sich wieder ankleiden. Rippen sind keine gebrochen und was die Quetschung ihrer Hoden betrifft, wenn es in drei Tagen nicht deutlich besser wird, wäre es besser, Sie gehen zu Ihrem Hausarzt oder kommen in meine Praxis, wenn Sie es möchten.«
Lorenz nickte und kleidete sich wieder an.
»Sie haben meinem Neffen das Leben gerettet, so wie ich das mitbekommen habe«, sagte er bedeutungsvoller, beinahe dankbar. »Was Sie getan haben, war sehr mutig.«
»Ich bin mir dessen nicht mehr so sicher«, bemerkte Lorenz, während er das Hemd umständlich in die Hose stopfte. »Ihm wäre es bestimmt lieber gewesen, wenn ich es nicht getan hätte.«
»Da gebe ich Ihnen recht«, seufzte der Arzt. »Als Dannik hier war, jammerte er überwiegend wegen seines neuen iPhones. Dabei hat er jetzt ganz andere Probleme.«
Lorenz horchte auf. Dannik musste zu einem Arzt? Hatte er sich bei dem Sturz etwa auch verletzt? Diese Erkenntnis versetzte ihm einen Stich und ließ die Besorgnis in ihm hochkochen.
War er schwer verletzt?
Würde er es überleben?
Rasch wischte er diese abstrusen Gedanken weg und konzentrierte sich wieder auf sich. Was sorgte er sich um diesen Kerl, dem alles egal war, außer sich selbst und seinem beschissenen Mobiltelefon.
»Welche Probleme?«, hakte Lorenz trotz allem nach.
Der Arzt seufzte jedoch, stieß sich von der Kommode ab und begab sich zur Tür.
»Nichts, was nicht zu beheben wäre. Am Empfang erhalten Sie ein Rezept für das Schmerzmittel und das abschwellende Medikament. Ich denke, in ein oder zwei Tagen wird sich Besserung einstellen.« Er hielt Lorenz die Hand zum Abschied hin. »Melden Sie sich wieder, wenn dem nicht so sein sollte.«
Lorenz nickte nur, nahm zögerlich die Hand und ließ sich hinauskomplimentieren. Draußen vor der Praxis kam ihm sogleich Bernd entgegen. Er warf eine halb gerauchte Zigarette in den Rinnstein und steckte sein Telefon in die Jackentasche zurück.
»Deine Mutter hat eben angerufen. Sie wurde von der Schule informiert.« Er nahm Lorenz unter den Arm und geleitete ihn zum Wagen zurück. »Sie brauchen einen Bericht über den Vorfall, da er auf dem Schulweg passiert ist. Also, junger Mann, diese Sache ist nicht mehr zu verbergen. Deine Mutter verlangt Rede und Antwort, wenn sie nach Hause kommt. Sie hat alle möglichen Leute angerufen, auf der Suche nach dir und ist schließlich bei mir gelandet. Sie war froh, dass ich mich deiner annahm.«
»Mist«, fluchte Lorenz, während er neben Bernd hertrottete. »Das ist diese ganze Aufregung gar nicht wert. Es ist doch nichts passiert.«
»Wenn du einen Arzt brauchst, ist was passiert«, gab Bernd zu bedenken.
»Es ist auch gar nicht schlimm. Nur ’ne Prellung.«
»Eine Hodenquetschung ist nicht schlimm?« Bernd blickte ihn streng an.
Lorenz starrte ihn fassungslos an. »Woher weißt du …?«
»Hör mal, ich bin auch ein Kerl und ich habe auch schon mal was zwischen die Beine bekommen. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Das sah ich deinem Gesicht an.« Er drückte den Jungen fester an sich. »Aber keine Angst. Das bleibt unter uns Männern. Deine Mutter muss nicht jedes Detail wissen. Jetzt gehen wir beide auf einen Kaffee und du erzählst mir, was passiert ist.«
»Musst du nicht in die Tierklinik zurück?«
»Ich hab schon Bescheid gesagt, dass es einen familiären Notfall gibt und ich heute nicht wieder komme.«
»Woher kennst du Doktor von Gutenbach?«, wollte Lorenz wissen. Diese Frage brannte ihm schon, seit er das Schild gelesen hatte, auf der Zunge.
»Wir sind zusammen auf die Schule gegangen«, berichtete Bernd. »Max ist in Ordnung, was man von seinem Bruder allerdings nicht behaupten kann. Der war schon immer abgehoben, führte sich ständig wie der Kronprinz persönlich auf, genauso wie sein missratener Sohn. Ich habe gehört, der macht ständig Ärger auf dem Gymnasium, auf das er geht.«
Lorenz nickte nur.
»Ich hoffe, Max war diskret genug«, erkundigte sich Bernd besorgt.
Abermals nickte Lorenz. »Das wird aber nichts nützen«, gab er zerknirscht von sich.
»Warum?« Bernd sah ihn fragend an.
»Der Kerl, dem ich heute das Leben gerettet und die Hodenquetschung zu verdanken habe, war Dannik von Gutenbach.«
Bernd blieb der Mund offen stehen.

 

 

 

4.

 

Am nächsten Morgen wollte Lorenz gar nicht in die Schule gehen. Abgesehen davon, dass er müde war, weil er bis spät in die Nacht mit seiner Mutter geredet hatte, konnte er sich wahrlich vorstellen, dass in der Schule die Hölle los sein würde.
Wie immer war er erst in die eine Richtung der Stadt gefahren, um Justus abzuholen, und fuhr nun gemeinsam mit ihm zur Schule. Bereits im Bus, als er den ersten Mitschülern begegnete, erkannte er, dass sich das Lager in zwei Spalten trennte. Die einen gratulierten ihm, schüttelten seine Hände und bewunderten ihn für seinen Mut. Die anderen beschimpften ihn und wollten wissen, warum er das getan hatte, und meinten, es wäre nicht schade um jemanden wie den überheblichen Herrn von Gutenbach gewesen.
Auf dem Schulgelände angekommen, ging es weiter. Ständig wurde er auf den gestrigen Vorfall angesprochen. Lorenz fühlte sich merkwürdig. Zum einen war ihm diese plötzliche Aufmerksamkeit unangenehm. Er war es nicht gewohnt, im Rampenlicht zu stehen. Für gewöhnlich registrierte ihn kaum jemand, außer seinen Freunden. Zum anderen wünschte er sich, genau wegen dieser ungewollten Beachtung, dass er seine spontane Tat ungeschehen machen könnte.
Besonders Justus war seit dem gestrigen Tag auffallend wortkarg, bleich und wich Lorenz’ Versuchen zu einer Konversation ständig aus.
Lorenz konnte es verstehen. Hatte er doch jenem Menschen Schlimmeres erspart, der ihm das Leben zur Hölle machte, auch wenn sich die Prinzen, seit sich Lorenz als Begleitschutz betätigte, zurückgehalten hatten. Dennoch … Lorenz musste sich auch vor Augen halten, dass es ein Menschenleben war, das er gerettet hatte. Wessen auch immer, er hätte es sich nicht verziehen, wenn er es nicht wenigstens versucht hätte.
In der ersten Pause entkam Lorenz der Aufmerksamkeit der Lehrer und Mitschüler für ein paar Minuten, indem er sich aufs Klo verdrückte. Seit dem gestrigen Tag war ihm das Wasserlassen unangenehm, auch wenn die Harnröhre gar nicht betroffen war. Doch die ganze Region an seinem Unterleib schien sich in Sympathie für die gequetschten Hoden empfindlich anfühlen zu wollen. Er wartete mit seinem Toilettenbesuch bis kurz vor Unterrichtsbeginn, als sämtliche Schüler zurück in ihre Klassenzimmer drängten, und genoss diese wenigen Minuten der Ruhe.
Doch plötzlich wurde die Tür heftig aufgestoßen. Herein stampfte kein geringerer als ein wütender Dannik von Gutenbach, die linke Hand in einem blauen Gipsverband. Von den anderen Prinzen keine Spur. Er war allein gekommen.
Lorenz fluchte leise und wünschte sich, er könnte sich auf der Stelle unsichtbar machen.
Zielstrebig marschierte Dannik auf ihn zu. Seine Augen fixierten ihn wutentbrannt, sein Gesicht grimmig verzogen. Mit wenigen, lang ausholenden Schritten hatte er den Raum durchquert und kam zu Lorenz, um ihn an der Schulter zu packen, herumzuwirbeln und gegen die Wand zu schubsen.
Lorenz protestierte laut und zog rasch den Reißverschluss seiner Hose hoch. Doch Dannik interessierte sich nicht für diesen peinlichen Sachverhalt.
»Du Blödmann«, fuhr er ihn an und stieß ihn hart gegen die Brust, sodass Lorenz wieder an die Wand zurücktaumelte. »Was sollte das? Kannst du deine Drecksfinger nicht von mir lassen? Was fällt dir eigentlich ein?«
Trotz allem, trotz Danniks nicht gerade liebenswürdigen Rufes hatte Lorenz keine Angst vor ihm, so unflätig und böse er sich auch benahm. Er hatte ihm bisher lediglich leidgetan. Daher begegnete er ihm ebenso wütend. Der Schlag auf die Brust hatte zielstrebig die bereits schmerzende Stelle getroffen. Lorenz stieß ein Keuchen aus und versuchte, das aufflammende Pochen zu ignorieren.
»Was hast du denn für ein Problem?«, gab Lorenz patzig zurück. »Wie kann man wegen eines blöden Telefons so in Aufregung geraten? Papi kauft dir bestimmt ein neues.«
»Du mit deinem Spatzenhirn kapierst gar nichts«, zischte Dannik wütend und stieß ihn abermals gegen die Wand. »Du Loser kommst doch kaum aus deinem Loch raus.«
»Komm du erst mal von deinem hohen Ross runter, du Aufschneider.« Lorenz ließ sich nicht beeindrucken. Dannik war ein paar Zentimeter größer und plusterte sich wie ein aufgescheuchter Truthahn auf. Seine Augen funkelten vor Zorn. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten. Sein Kinn bebte, wenn er gerade nicht sprach. Dannik war ihm an Gewicht und sicherlich auch an Muskelkraft überlegen. Dennoch ließ sich Lorenz nicht einschüchtern.
»Wage es nicht, in dem Ton mit mir zu reden, du Fatzke. Du hast mir alles versaut. Alles, was ich mir aufgebaut habe, hast du kaputtgemacht.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst. Wäre es dir lieber gewesen, wenn du ins Auto gelaufen wärst?« Lorenz konnte die Aufregung des jungen von Gutenbachs nicht nachvollziehen. Eigentlich sollte er ihm doch dankbar sein. Stattdessen machte er seinen Lebensretter nieder.
»Immer noch besser als das hier«, keifte Dannik außer sich und hob seinen blauen Gipsverband in die Höhe. »Wegen dir Arsch bin ich für die aktuelle Saison außer Gefecht gesetzt.«
»Das wärst du auch, wenn du auf der Intensivstation liegen würdest, oder?« Lorenz wich der Hand aus, die ihn ein weiteres Mal gegen die Wand werfen wollte, und schubste stattdessen Dannik von sich. Er brauchte etwas Abstand. Der Kerl rückte ihm eindeutig zu sehr auf die Pelle.
»Du hast ja keine Ahnung, Mann. Die Saison ist für mich gelaufen. Sie hat gerade erst angefangen. Ich war einer der Besten und nun das.«
»Wenn dich das Auto voll erwischt hätte, hättest du gar keine Saison mehr gehabt«, erinnerte ihn Lorenz scharf. Der Lautstärkepegel war stetig gestiegen. Dannik wollte sich gar nicht beruhigen lassen. Er war kurz davor, handgreiflich zu werden. In der Tat ballte er bereits die rechte Hand zu einer Faust und presste sie gegen seinen Schenkel, um nicht vorschnell zuzuschlagen.
»Sei froh, dass ich dich auf die Straße geworfen habe, sonst wärst du jetzt eine Kühlergrillfigur und nicht einmal eine hübsche. Was soll diese Aufregung?«, schrie Lorenz. Er war nicht gewillt, sich von Dannik niederbrüllen zu lassen.
»Ich habe nicht erwartet, dass so ein Loser wie du das verstehen könnte«, zischte Dannik, wischte Lorenz’ Hand weg, die ihn wegzudrücken versuchte, als er sich dem anderen nähern wollte, und stieß ihn hart an der Brust gegen die Wand.
Lorenz’ Kopf landete höchst unsanft an den Fliesen. Er stöhnte kurz auf, fasste sich jedoch rasch wieder und konterte selbst mit einem Schupser. Er wusste, er durfte sich von Dannik nicht unterbuttern lassen. Er musste ihm Paroli bieten, auch wenn er rein körperlich nicht die geringste Chance gegen den Sportler hatte.
»Du hast recht, ich verstehe es nicht. Aber solche Hohlbirnen wie du kapieren auch nicht, dass man ihnen das Leben gerettet hat. Ein Danke wäre durchaus angebracht.«
»Danke?« Dannik schien seinen Ohren nicht zu trauen. Seine Stimme war schrill geworden, als er dieses Wort ausstieß. »Du hast mein Leben zerstört! Wegen dir verliere ich die Chance auf ein Sportstipendium. Jetzt ist alles aus. Und das nur wegen dir, du Flachwichser.«
»Sportstipendium?« Lorenz äffte das Wort verächtlich nach. »Seit wann braucht so ein verwöhnter Bubi wie du ein Sportstipendium? Frag doch einfach deinen Papi, der wird dir …«
Weiter kam er nicht, denn Dannik schubste ihn so hart gegen die Wand, dass er auf dem glatten Fliesenboden ausrutschte und auf dem Boden landete. Dabei schlug er sich abermals den Kopf an. Doch das Adrenalin hatte die Vorherrschaft übernommen und ließ ihn handeln, noch ehe sein Verstand die Genehmigung dazu erteilen konnte. Er schnellte hoch, sprang mit der Wucht des Sprunges gegen Dannik und rammte ihm die Schulter in den Magen.
Dannik gab einen kläglichen Laut von sich, als sie zusammen rückwärts taumelten und in eine der Toilettenkabinen plumpsten. Es gab einen donnernden Knall, als die Tür aufschlug und gegen die Holzwand krachte. Dannik landete ziemlich unsanft neben der Kloschüssel auf dem Boden. Lorenz suchte Halt, um nicht auf Dannik zu fallen, rutschte am Türstock ab und rempelte sich ein drittes Mal den Kopf an, diesmal an der Toilettenschüssel, ehe er zwischen Danniks Beine fiel.
Schnell rappelte er sich wieder auf, um ein weiteres Mal auf seinen Mitschüler loszugehen. Er war schon so weit gegangen, dass es kein Zurück mehr gab. Lorenz wollte ihn dafür bezahlen lassen, was er Justus und all den Kindern angetan hatte, die von ihm gequält worden waren. In erster Linie wegen Justus. In blinder Wut warf er sich auf Dannik, der Mühe hatte, sich aus seinem ungemütlichen Gefängnis herauszuarbeiten. Doch da waren sie nicht mehr allein. Ihre lautstarke Unterhaltung war nicht unbemerkt geblieben. Mit ein paar neugierigen Schülern kamen auch einige Lehrer hinzu, die die beiden Streithähne auseinanderzerrten und ins Direktorat beorderten. Lorenz behielt ein paar Beulen zurück, die von der Schulschwester mit Eisbeuteln behandelt wurden. Danniks frischer Gipsverband war gebrochen und wurde von Schülersanitätern notdürftig mit Bandagen fixiert, ehe er erneuert werden konnte.
Schließlich mussten sie vor dem Rektor Rede und Antwort stehen. Sie bekamen beide Nachsitzen aufgebrummt und einen Verweis für die Beschädigung schulischen Eigentums. Lorenz war sich jedoch sicher, dass sein Vermerk in der Schulakte bestehen blieb, während der von Dannik von seinem Vater mit einer großzügigen Spende an die Schule rasch ausradiert werden konnte.

Am Nachmittag saßen Justus und Lorenz wieder beim Lernen. Sie hatten seit Schulschluss, eigentlich seit dem Vorfall in der Jungentoilette, oder besser gesagt seit Lorenz Dannik gerettet hatte kein Wort miteinander geredet. Ihm war auch nicht nach Reden zumute und er steckte seine Nase tief in eines der Bücher. Die Standpauke des Schulleiters klang ihm immer noch in den Ohren. Die seiner Mutter würde heute Abend prompt folgen.
»Hast du dich wegen mir mit Dannik angelegt?«, brach Justus irgendwann das Schweigen.
Lorenz schüttelte nur den Kopf.
»Du bist ganz schön mutig.«
Er sah hoch und betrachtete seinen Freund gedankenverloren. »Das hatte nichts mit Mut zu tun. Dannik ist ein Feigling. Ich weiß nicht, was er für ein Problem hat, aber er gibt nun mir die Schuld dafür. Ich sehe nicht ein, mich von ihm als Sündenbock benutzen zu lassen. Und das solltest du auch nicht.«
»Du hast dich mit ihm geprügelt. Das würde ich mich niemals trauen.«
»Wenn er nicht allein gewesen wäre, hätte sich das Ganze anders abgespielt.«
Justus ließ den Kopf hängen. »Ich habe dich dafür gehasst, dass du Dannik das Leben gerettet hast«, gestand er kleinlaut. »Aber du hast nur getan, was du tun musstest. Manchmal wünschte ich, ich wäre so mutig wie du.«
»Ich weiß, dass du mich dafür hasst«, erwiderte Lorenz verständnisvoll. »Ich kann es dir nicht mal verübeln. Ich wünschte manchmal, ich hätte ihn vor den Wagen laufen lassen. Dann wäre zumindest dir geholfen, wobei ich finde, dass das vielleicht gar nichts brächte. Danniks gibt es viele. Die Prinzen bestehen ja nicht nur aus ihm. Wenn Dannik dir nicht mehr die Hölle heiß machen kann, dann die anderen.«
Justus seufzte. »Dass du mich jeden Tag begleitest, bedeutet mir viel.«
»Ich weiß.« Lorenz begegnete dem Blick seines besten Freundes, als dieser wieder hochsah. »Das werde ich auch bis zum Ende des Schuljahres tun, sofern ich es überstehe. Denn ich denke, ich stehe nun ebenfalls auf der Abschussliste der Prinzen.«
Justus verzog sein Gesicht zu einem Schmunzeln. »Vielleicht sollten wir Karateunterricht nehmen«, schlug er vor.
»Ich und Karate?« Lorenz lachte. »Du meine Güte, die armen Senseis. Ich verteidige mich lieber mit Formeln.«
»Das wird dir aber nichts nützen, wenn dir die Prinzen auflauern.«
»Für dich wäre es sehr gut«, versicherte ihm Lorenz aufrichtig. »Mach du es. Dann heuer ich dich als Bodyguard an. Aber für mich ist das nichts. Wir hatten mal in der Grundschule Selbstverteidigung. Weißt du noch? Ich glaube, ich habe dem armen Mann die Nase gebrochen. Er hat nichts gesagt, aber seine Nase ist wie eine Knolle angeschwollen.«
Justus brauchte einen Moment, ehe er die Erinnerung aus seinem Gedächtnis herauskramen konnte und schließlich loslachte. Doch rasch beruhigte er sich wieder.
»Tut mir leid, dass ich dir das übel genommen habe.«
Lorenz streckte seinem Freund die Hand hin. Als dieser einschlug, zog er ihn an sich und drückte ihn an seine Brust.
»Wir sind Freunde, vergiss das nie«, sagte Lorenz ergriffen. »Freunde können sich auch mal was übel nehmen, aber dann auch wieder vertragen.« Er spürte, wie ein Beben durch Justus ging, und presste ihn noch fester an sich. »Ich kann dich so gut verstehen, und ich wünschte, es wäre anders gelaufen. Ich wünschte, ich könnte dir anders helfen, diese Angst von dir nehmen und dir wieder ein freieres Leben ermöglichen, aber ich kann es nicht.«
»Du hast schon mehr getan, als ein Freund tun kann«, schniefte Justus, machte sich von Lorenz frei und wischte sich über die Wange. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mich schon längst vor den Zug geworfen.«
Lorenz erschrak. Er hatte es ja bereits mehrmals vermutet, jedoch nie wirklich wahrhaben wollen, wie sehr Justus litt. »Scheiße, Justus. Sag sowas nie wieder. Wenn du Probleme hast, dann komm zu mir. Wir können das lösen.«
Abermals wischte Justus mit dem Handballen die Tränen von seiner Wange. »Danke«, antwortete er mit belegter Stimme.
Lorenz lächelte nur und wünschte sich, dass er endlich aus dieser verflixten Teeny-Soap ausbrechen konnte.

 

 

5.

 
Weitere Tage vergingen. Die Aufregung wegen der heldenhaften Rettung legte sich allmählich, auch seine Schmerzen zwischen den Beinen. Seine Mutter war alles andere als begeistert, dass sich ihr Sohn mit einem Mitschüler geprügelt hatte. In einem langen Gespräch hatte er versucht, ihr seine Beweggründe zu erläutern. Sie verstand ihn sogar und beglückwünschte ihn zu seinem Mut, nahm ihm jedoch das Versprechen ab, es nicht wieder zu tun. Den Verweisvermerk in seinem Schulzeugnis empfand seine Mutter zu seiner Erleichterung als ausreichend und verzichtete auf eine weitere Bestrafung.
Lorenz saß brav seine Nachsitztermine ab. Von Dannik allerdings keine Spur. Daher sah er seine Vermutung als bestätigt, dass Papa von Gutenbach seinen Sohn freigekauft hatte. Ungerechtigkeiten gab es in jeder Teeny-Soap, davon lebte sie.
Ein paar Tage vor Weihnachten saß Lorenz in seinem Zimmer, während sich seine Mutter müde von der Arbeit vor dem Fernseher ihre Lieblingsserie reinzog. Hin und wieder hörte er sie kichern und musste jedes Mal schmunzeln. Er liebte seine Mutter. Wenn sie nicht gerade mit Bernd herumturtelte und mit einem hochroten Kopf zurückkam, waren diese Serien ihr liebstes. Er gönnte ihr das Glück, das sie bei beiden Angelegenheiten erhielt. Sie hatte es in ihrem Leben nicht einfach gehabt. Vom Kindsvater sitzen gelassen, hatte sie sich auf die Erziehung ihres Kindes konzentriert und sich nur wenig selbst gegönnt. Jetzt war Lorenz groß und nicht mehr auf seine Mutter angewiesen. Bald würde er sogar ausziehen, auf eine Universität weit weg gehen und sie nicht länger bei How I met your mother oder Two and a half man kichern hören.
Er vertiefte sich wieder in die Ideensammlung für ein Referat, als sein Handy klingelte.
So spät riefen für gewöhnlich nur Sigrid, Ben oder Justus an. Wahrscheinlich hingen sie über einer kniffligen Aufgabe, die sie nicht lösen konnten. Doch als er einen Blick auf das Display warf und ihm die angerufene Nummer gänzlich unbekannt vorkam, stutzte er kurz.
Außer seinen Freunden, seiner Mutter und Bernd kannte niemand sonst die Nummer.
Hatte sich jemand verwählt?
Er ging ran.
»Hallo?«
»Berent?«, hallte ihm entgegen.
Dannik! Die Stimme erkannte er sofort.
»Woher hast du die Nummer?«, fragte er daher sogleich. Lorenz bezweifelte, dass einer seiner Freunde die Handynummer hergegeben hatte, ohne von den Prinzen gefoltert worden zu sein. Was unwillkürlich die nächste Überlegung aufkommen ließ: Was hatten sie seinen Freunden angetan? Justus? Ungebändigter Zorn keimt in ihm auf. Wenn sie ihm etwas zuleide getan hatten, wäre er imstande einen weiteren Verweis zu kassieren.
»Hab meine Beziehungen«, gab er knapp von sich. »Kannst du mal kurz runterkommen?« Seine Stimme klang merkwürdigerweise sogar mal liebenswürdig.
»Ich … äh … Wieso?«
»Wir haben was zu bereden.«
»Wenn es wegen des Zwischenfalls auf der Jungstoilette oder dem auf der Straße ist, vergiss es einfach.« Er verspürte nicht die geringste Lust, sich erneut mit ihm mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Andererseits musste er herausfinden, woher Dannik die Handynummer hatte.
»Komm endlich runter!«, gab er barsch von sich.
»Warum kommst du nicht rauf?«
»Weil du bestimmt nicht die ganze Bande in deinem Zimmer haben willst.«
»Ganze Bande …?« Lorenz stockte der Atem. Die Prinzen. Da hatte Dannik recht. Die wollte er wirklich nicht in seiner Bude haben. Aber was wollten sie von ihm? Ihm wurde kalt. »Was habt ihr vor?«
»Das würden wir dir gerne persönlich und nicht am Telefon unterbreiten.«
»Persönlich? Du meinst eher, ihr wollt mich alle fünf verdreschen. Denkst du wirklich, ich bin so blöd?«
Lorenz hörte ein Schnaufen. »Wir tun dir nichts, Ehrenwort. Komm bitte runter.«
Dass er Bitte gesagt hatte, überraschte Lorenz mehr, als das Flehen in Danniks Stimme. Es musste ihm wirklich wichtig sein.
Er zögerte dennoch. In seinem Kopf begann eine Alarmsirene laut zu schrillen. Dannik zu trauen war keine gute Idee.
»Bitte«, schob der adlige junge Mann eindringlicher hinterher.
In Lorenz arbeitete es heftig. Vermutlich würde es der Fehler seines Lebens sein, wenn er der Bitte entsprach und das Haus verließ. Wahrscheinlich wachte er irgendwann im Krankenhaus wieder auf – womöglich vielleicht gar nicht mehr. Er konnte aber auch einen langen Zwist beilegen und damit zeitgleich Justus helfen.
»Okay«, gab er schließlich nach. »Bin gleich unten.«
Er klickte das Gespräch weg, warf das Handy auf sein Bett und sprang auf die Füße.
»Mama, ich geh noch mal kurz raus«, rief er seiner Mutter zu.
»So spät noch? Morgen ist wieder Schule.«
»Ich weiß, ein Kumpel braucht ein wenig Unterstützung mit seinen Hausaufgaben. Bin gleich wieder da.«
»Pass auf dich auf, Schatz«, kam es aus dem Wohnzimmer, während Lorenz in Jacke und Stiefel schlüpfte. Wenig später rannte er die Treppen nach unten.
Vor der Haustür stand Dannik entgegen seiner Aussage allein. Lorenz blickte sich flüchtig um, konnte jedoch den Rest der Clique nicht entdecken. Als er zur Begrüßung nur ein Nicken andeutete und sich dann einfach umdrehte und davon marschierte, war sich Lorenz sicher, dass dieser ihn nun in sein Verderben führte.
Er blieb stehen. »Was willst du von mir?«, wollte er mit scharfem Tonfall wissen. »Ich hab noch zu tun, also sag, was du mir sagen willst.« Dass Dannik allein gekommen war, erleichterte ihm die Sache. Er verspürte keinerlei Lust darauf, sich auch noch mit dem Rest des Rudels anzulegen.
Dannik blieb stehen, stopfte seine Hände tief in die Jackentasche, wobei die eingegipste Hand kaum Platz in der engen Tasche fand. Er zog die Schultern hoch und schob damit den dicken Strickschal höher in sein Gesicht. Er trug keine Mütze, womöglich, um die teure blondierte Frisur nicht zu beschädigen. Der Wind pfiff eisig um sie herum und Danniks Ohren sahen gerötet genug aus, um zu erkennen, dass ihm empfindlich kalt war. »Ich …«, begann er, sichtlich widerspenstig. »Ich möchte mich für das, was ich in der Schultoilette getan habe, aufrichtig entschuldigen«, gab er schließlich mit rauer Stimme von sich. Es klang, als hätte er es mühselig einstudiert. Dabei senkte er das Kinn auf die Brust herab, als könne er seinem Gegenüber nicht in die Augen sehen.
Etwas verunsichert wartete Lorenz ab, nahm einen tiefen Atemzug und kämpfte darum, irgendetwas zu erwidern. Am liebsten hätte er dem Kerl seine wenig überzeugenden Worte zurückgeschmettert. Er wollte von ihm nichts haben. Am allerwenigsten eine Entschuldigung, die nicht ernst gemeint war. »Sei mir nicht böse«, begann er, biss sich kurz auf die Zunge, um die Schärfe aus der Stimme zu nehmen. »Aber ich nehme dir das nicht ab. Was auch immer du vorhast, du kannst es dir sparen. Wir sind fertig miteinander.« Er wollte sich schon umdrehen und zurück ins Haus gehen, als Dannik ein Geräusch von sich gab. Es hörte sich wie ein Räuspern an, hätte aber auch ein Ruf sein können, Lorenz zurückzuhalten.
»Ich meine es wirklich ernst«, versicherte er ihm schließlich. »Ich bin ausgerastet und habe ein Ventil gebraucht.«
»Freut mich, dass ich der Auserwählte sein durfte«, entgegnete Lorenz bissig. Aber lieber er als Justus, fügte er im Stillen hinzu. »Und danke für den Verweis, den ich deinetwegen kassiert habe. Es war übrigens sehr lustig beim Nachsitzen. Du hast einiges verpasst.«
Dannik kniff kurz die Lippen zusammen, schien ihn fast schon flehend anzusehen. Dieser Ausdruck verschwand rasch und machte der gewohnten arroganten Miene Platz. »Es ist auch für mich nicht leicht«, gab er schroff zurück, schien sich jedoch wieder zurückzunehmen. »Das Sportstipendium kann ich nun knicken. So viele Jahre habe ich darauf hingearbeitet. Alles für die Katz.«
»Ich denke, dass dein Vater da sicher was drehen kann. Immerhin hat er es geschafft, dich vom Nachsitzen zu befreien. Ein paar Worte an den richtigen Stellen und sämtliche Unis der Welt betteln darum, dass du bei ihnen anfängst.« Lorenz nahm ihm die Betroffenheit nicht ab. »Und wenn du mich nun entschuldigst, ich muss noch Hausaufgaben machen.« Ein weiteres Mal schickte er sich an, sich umzudrehen, verharrte jedoch, als Dannik abermals ein merkwürdiges Geräusch von sich gab.
»Warte! Wir haben was vor. Komm einfach mit.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil es uns wirklich ernst ist.«
»Ich kenne euch. Von den Prinzen kommt selten was Gutes. Woher hast du meine Handynummer? Wen hast du dafür foltern müssen? Justus?«
Dannik schüttelte nur langsam den Kopf. »Beate«, gestand er. »Sie hat mal zu euch gehört. Ihr Bruder Micha ist seit Kurzem bei den Icecubes.« Er räusperte sich verlegen. »Komm einfach mit«, wiederholte er eindringlicher. »Es ist arschkalt und das, was wir mit dir zu besprechen haben, geht besser, wenn man sich dabei nicht die Eier abfriert.«
Lorenz rang mit sich. Das Gefühl überkam ihn, dass Dannik und die Prinzen nicht beabsichtigten, ihn für die Unannehmlichkeiten büßen zu lassen. »Also gut«, gab er nach, musste jedoch die schrillenden Alarmsirenen in seinem Inneren niederwürgen. Vermutlich rann er direkt in sein Verderben. Aber wenn er nicht mitging, würde er es niemals erfahren.
Mit einem Nicken wandte sich Dannik um und marschierte einfach voraus.
Eine Weile trotteten sie schweigend durch die nächtlichen Straßen, Dannik voran, Lorenz hintendrein wie ein Lakai. Es war nach zehn Uhr. Ihnen begegneten nur wenige Passanten, die sich auf dem Weg nach Hause in ihre Schals oder Mantelkrägen verkrochen hatten. Die Straßen leuchteten hell von den zahlreichen Weihnachtsbeleuchtungen. Überall konnte man das Weihnachtsflair knistern hören.
Es war Lorenz nicht ganz wohl dabei, Dannik durch die Nacht zu folgen. Dass er so ehrlich gewesen war, zu erwähnen, dass sie auf seine Freunde treffen würden, erfüllte ihn nicht gerade mit Erleichterung.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte Lorenz daher, als sie zum dritten Mal um eine Biegung gingen und Dannik keine Anstalten machte, irgendwo anzuhalten.
»He!«, rief er schließlich, als Dannik nicht antwortete. »Es macht eigentlich keinen großen Spaß, bei dieser Arschkälte und um diese Zeit noch länger hinter dir herzulaufen.«
Dannik blieb kurz stehen, drehte sich langsam um und bedachte ihn mit einem ausdruckslosen Blick. »Wir sind gleich da. Hab auch keine Lust, mir den Arsch länger als nötig abzufrieren.«
»Was machen wir dann hier?«
»Wart es ab.«
»In Anbetracht dessen, dass ich noch mein Referat für morgen fertig machen muss, kann ich wirklich wenig Geduld aufbringen.«
»Du jammerst wie ein Waschweib«, maulte Dannik. »Benehmen sich alle Loser so zickig?«
»Wenn du mich noch einmal Loser nennst, dann kannst du das Ganze vergessen.« Lorenz ballte die Hand zur Faust und hätte sie ihm ins Gesicht gedonnert, wenn Dannik auch nur ein weiteres Wort von sich gegeben hätte.
Dieser blieb stehen, drehte Lorenz sein Gesicht zu, das fast von einem dicken Schal verschluckt wurde, und zog die Schultern hoch, worauf sich der Schal noch mehr von dem Gesicht einverleibte. Er reichte ihm fast bis zur Nase, die im Licht einiger Lichterketten, die in der Nähe um einen Pfosten gewickelt waren, leicht rötlich glänzte. Er musste schon lange draußen in der Kälte gestanden haben, wodurch Lorenz schloss, dass sie vermutlich noch eine Weile durch die Nacht spazieren mussten.
»Okay«, gab Dannik schließlich zu Lorenz’ Verblüffung von sich, drehte sich wieder um und marschierte weiter. »Es ist nicht mehr weit. Die Billard-Kneipe am Ende der Straße«, erklärte er kurz angebunden.
Lorenz nickte. Er kannte die Kneipe. Ein einziges Mal war er mit Bernd dort gewesen. Ihnen hatte es jedoch nicht gefallen. Die Musik war zu laut, sodass man sich kaum unterhalten, geschweige denn konzentriert Billard spielen konnte.
Während er weiter hinter Dannik hertrottete, bemerkte er auf einmal, dass er dem jungen Adligen auf den Arsch starrte und fasziniert beobachtet hatte, wie dieser bei jedem Schritt sinnlich hin und her wackelte. Heißes Blut schoss ihm auf einmal ins Gesicht, als er sich dessen bewusst wurde. Er räusperte sich leise und täuschte dann ein Husten vor.
Dannik marschierte ungerührt weiter, bis sie die Billard-Kneipe erreicht hatten. Vermutlich hätte Lorenz hinter ihm an einem Hustenanfall krepieren können. Dannik hatte nicht einmal einen Blick über die Schulter geworfen. Dies ärgerte Lorenz, obwohl er eigentlich kein anderes Verhalten erwartet hatte.
Ihm graute vor dem Treffen mit den anderen Mitgliedern der Prinzen, nicht nur wegen der tinitusfördernden Lautstärke in dem Lokal. Vermutlich würden ihm danach wieder stundenlang die Ohren schellen. Schon bei geschlossener Tür konnte man den Musikgeschmack der Inhaber erkennen. Mit dem Öffnen schallte sie einem so laut entgegen, dass man fast wieder rausgeblasen wurde. Er widerstand jedoch der Versuchung, sich die Ohren zuzuhalten, als sie die Kneipe betraten. Dannik hielt ihn ohnehin bereits für einen Waschlappen, da brauchte er ihm den Beweis nicht auch noch kostenlos dazu zu liefern.
Trotz Wochentag war die Billard-Kneipe rappelvoll. Sämtliche Tische waren belegt. Dannik schlängelte sich durch die Spieltische und steuerte zielstrebig den letzten ganz hinten an, der sich in einem abgetrennten Bereich befand. Dort warteten auch bereits die anderen Mitglieder der Prinzen.
In dem Separee dröhnte die Musik nicht ganz so laut, da die Wände, die den Tisch umgaben, einen Großteil des Schalles abhielten. Hinter den Wänden konnte man sich unterhalten, ohne sich anschreien zu müssen.
Nervös folgte Lorenz Dannik in das Nebenabteil. Die übrigen Prinzen unterbrachen ihr Spiel, als Dannik mit Lorenz im Schlepptau ankam. Zwei von ihnen zeigten ein gefälliges Grinsen, die anderen beiden verzogen angewidert das Gesicht. Unsicher blieb Lorenz stehen und blickte sich um.
»Also, was ist los?«, kam er gleich zur Sache.
Dannik schob einen der Stühle, die für die Spieler bereit standen, die gerade nicht spielen mussten, zu einer Gruppe von Stühlen, setzte sich und wickelte sich umständlich den Schal vom Hals. Mit einem angedeuteten Nicken deutete er auf den Stuhl neben sich. Lorenz ließ sich zögerlich darauf niedersinken.
»Jetzt raus mit der Sprache.« Es klang ungeduldig, er wollte aber bald wieder zurück, da er am nächsten Tag früh aufstehen musste.
»Wegen neulich«, begann Dannik schließlich, hob seinen Gipsarm hoch, um zu verdeutlichen, was genau er meinte, und holte sich mit einem Blick die Bestätigung bei seinen Freunden. Diese nickten ihm zu, sobald er ihren Blick eingefangen hatte. »Mein Vater möchte eine Ehrung für dich. Er hielt es für heldenhaft, was du getan hast und will daher, dass du dafür eine Auszeichnung für besondere Verdienste erhältst.«
»Wie bitte?« Lorenz wäre beinahe von seinem Stuhl gesprungen. In ihm sprudelten zweierlei Gefühle hoch. Zum einen fühlte er sich absolut geehrt, zum anderen war ihm das so peinlich, dass er am liebsten versucht hätte, Herrn von Gutenbach den Unsinn mit der Ehrung auszureden. »Ist das dein Ernst?«
»Deswegen sitzen wir hier«, gab Dannik mit einem Nicken von sich.
Dessen finsterer Gesichtsausdruck machte Lorenz stutzig. Anscheinend freute der sich absolut nicht darüber, dass sein Lebensretter geehrt werden sollte. Wahrscheinlich, weil er dabei nicht im Rampenlicht stehen würde.
»Und wo liegt das Problem?«, wollte Lorenz irritiert wissen.
»Du«, antwortete einer der anderen Prinzen. Lorenz überlegte einen Moment, ehe ihm dessen Name einfiel – Richard. »Sowas wie dich kann man in der Presse nicht neben Dannik stellen.«
Lorenz glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Er sah sich um, weil er dachte, die laute Musik hätte seine Wahrnehmung getäuscht.
»Habe ich das eben richtig mitbekommen? Ihr wollt, dass ich diese Auszeichnung ablehne, weil ich einen Schatten auf Danniks Schönheit werfen könnte?« Er erhob sich. »Wisst ihr eigentlich, was für Arschlöcher ihr seid?« Damit war das Gespräch für ihn beendet. Abgesehen davon, dass er die Ehre ohnehin abgelehnt hätte, dass die Prinzen ihn geschlossen dazu aufforderten, war der Gipfel der Frechheit.
»Warte! Setz dich!«, fordert Dannik ihn barsch auf.
»Du kannst mich mal«, zischte ihm Lorenz über die Schulter entgegen. Er war schon halb an der Runde vorbei, als einer der Prinzen, Mark – wie ihm augenblicklich wieder ins Gedächtnis zurückkehrte – von seinem Stuhl aufsprang und sich ihm in den Weg stellte. Mit einem verächtlichen Laut drehte sich Lorenz um und funkelte Dannik wütend an. »Du wirst es nicht glauben, aber ich werde dir diesen Gefallen tun. Dein Vater kann sich seine bescheuerte Auszeichnung sonst wo hinstecken.«
»Setz dich wieder hin«, bellte der junge von Gutenbach fast schon herrisch.
Doch mit dem Tonfall schürte er Lorenz’ Widerspenstigkeit noch mehr. Trotzig schob er das Kinn vor. »Ich lass mich von dir nicht verarschen. Ich geh jetzt.« Er wandte sich um und prallte beinahe wieder auf Mark. »Sag deinem Gorilla, er soll mich gehen lassen.«
»Mark!«, rief Dannik entnervt. Dieser trat jedoch nicht zur Seite, sondern legte einen Zeigefinger auf Lorenz’ Brust, als habe er Angst, sich mehr als nötig an ihm zu beschmutzen und drückte ihn sanft aber bestimmt zurück.
Wütend fuhr Lorenz wieder herum und funkelte Dannik zornig an. »Du hältst dich wohl für den Größten, was? Ich will nicht geehrt werden. Ich will nicht neben dir in der Presse sein. Ich will überhaupt nichts mehr mit dir zu tun haben. Also lass mich jetzt gehen, oder ich überlege mir, dich beim nächsten Mal wirklich vors Auto laufen zu lassen.«
»Bitte setz dich wieder hin«, bat Dannik eindringlich, fast schon flehend und begegnete dem Blick von Lorenz mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht.
Demonstrativ blieb Lorenz stehen. Trotzig schob er sein Kinn vor und hielt dem Blick des jungen von Gutenbachs stand. Er war nicht gewillt, sich von diesen Kerlen unterkriegen zu lassen. Vollkommen gleichgültig, was Dannik von ihm wollte, er würde es ablehnen. Von ihm explizit zu verlangen, dass er die Auszeichnung ablehnte, war schon unverschämt. Aber dies aus dem Aspekt heraus, dass jemand wie Lorenz eine Schande für Dannik wäre, übertraf dies noch bei weitem.
»Setz dich!«, forderte Dannik ihn zum wiederholten Male auf. Seine Stimme klang sanft, beinahe flehend. »Ich bin noch nicht fertig.«
»Ich wüsste nicht, was es da noch draufzusetzen gäbe«, gab Lorenz schnippisch von sich. »Du bist ein Arsch und es ist unter meiner Würde, mich neben dir auszeichnen zu lassen. Dein Papi kann sich mit dem Ding sein vergoldetes Klo dekorieren, ich will es nicht. Ich wünschte sogar, ich wäre nicht so blöd gewesen, dich vor einem verhängnisvollen Fehler gerettet zu haben.«
»Bist du jetzt fertig?«, fragte Dannik leicht entnervt, als Lorenz Luft holen musste. »Dann pflanz deinen Hintern endlich auf den Stuhl und sperr die Lauscher auf.« Ihm schien die Geduld auszugehen, denn sein Ton war schärfer geworden. »Setz dich!«, fuhr er Lorenz schließlich an, als dieser nicht reagieren wollte.
Einer der Prinzen packte ihn an der Schulter und drückte ihn Richtung Stuhl.
Lorenz schlug die Hand weg und zischte den Kerl wütend an. »Fass mich noch mal an und …«
»Halts Maul, Berent und setz dich endlich!«, rief Dannik, erhob sich von seinem Stuhl und legte eine Hand an Lorenz’ Oberarm. Dieser fuhr herum, schlug die Hand weg und funkelte Dannik böse an.
»Bitte!«, gab er abermals flehend von sich, wie vorhin am Telefon.
Lorenz stieß die ungenutzte Luft aus, die er eingesogen hatte, als ihn Dannik am Arm berührt hatte und versuchte, wieder runterzukommen. Schließlich nickte er trotzig und setzte sich tatsächlich. Doch er saß wie auf Kohlen. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, hier zwischen den Prinzen zu sitzen und sich anhören zu müssen, wie sie weitere Unverschämtheiten und abfällige Bemerkungen über ihn ausschütteten.
»Was du getan hast …«, begann Dannik, schnaufte tief durch und schien sich erst einmal dazu durchringen zu müssen, seinen Satz zu beenden, »war heldenhaft. Du hast mir womöglich das Leben gerettet. Daher dachten wir …« Er geriet ins Stocken und holte sich bei seinen Kumpanen visuelle Unterstützung, indem er jeden einzelnen ansah. »… dass wir dich als Dank bei uns aufnehmen, sozusagen als Ehrenprinz.«
Lorenz sprang abermals von seinem Stuhl und wich ein paar Schritte zurück. Damit brachte er sich jedoch in die Nähe eines der Prinzen, der ihn aufhielt und zurückdrängte.
»Niemals«, keuchte Lorenz entsetzt. »Was auch immer in euren kranken Hirnen vor sich geht, ich lass mich nicht von euch verarschen. Erzählt dieses Märchen jemand anderem.« Er stapfte an Dannik vorbei zum Ausgang des Separees, doch der junge von Gutenbach sprang ebenfalls von seinem Stuhl und hielt ihn auf.
»Es ist unser Ernst.« Sein Gesicht war absolut ernst, wenn nicht gar versteinert. Es schien ihm wirklich todernst zu sein. »Es ist kein Scherz. Wir haben abgestimmt und du bist einstimmig aufgenommen … wenn du willst«, setzte er sanfter hinzu.
Lorenz schüttelte den Kopf. »Ihr spinnt doch alle.« Er wich vor Dannik zurück. »Ihr meint doch alle, ich bin ein Loser … Du hast das vorhin selbst zu mir gesagt. Der hier …« er zeigte auf Richard, »ist der Meinung, ich verschandle deine Erscheinung. Also was soll diese Scheiße?«
»Es ist keine Scheiße, glaub mir. Es ist unser voller Ernst. Du hast mir das Leben gerettet. Wir wollen dich in unserer Gruppe haben.«
»Das kannst du sowas von knicken.« Lorenz schüttelte abermals den Kopf. »Niemals im Leben werde ich mich mit solchen Schwachmaten wie euch abgeben.«
»Das tust du doch gerade«, meldete sich einer der anderen Prinzen zu Wort und grinste breit.
»Halt die Klappe, Steffen«, zischte Dannik und näherte sich Lorenz zögerlich. »Das ist unsere Art der Ehrung.«
»Ehrung …? Ganz sicherlich nicht.« Doch dann atmete Lorenz tief ein und entließ die Luft, während er weiterredete. »Danke für die Ehre, aber ich verzichte. Wenn ich noch länger mit euch zusammen bin, könnte mein Loser-Image darunter Schaden erleiden.«
»Überlege es dir. Es kann für dich nur von Vorteil sein. Wir haben viele Privilegien, von denen du ebenfalls profitieren würdest …«
Lorenz gab einen verächtlichen Laut von sich. »Nein, danke. Darauf kann ich verzichten. Ich verdiene mir meine guten Noten auf ehrliche Weise.« Er schüttelte erneut den Kopf und wich zurück, als sich Dannik ihm näherte. »Ich habe wirklich kein Interesse daran.«
Dannik schnaufte entnervt und ließ für einen Moment den Kopf hängen. Dann reckte er seine Brust und wandte sich an seine Kumpane.
»Verzieht euch«, befahl er seinen Freunden, worauf diese zuerst murrten und dann unter dem strengen Blick ihres Anführers schließlich doch das Lokal verließen.
Lorenz blickte ihnen mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Verwirrung hinterher. Was zur Hölle war in Dannik von Gutenbach gefahren?
»Lorenz«, sagte Dannik, als sie allein in der Nische waren, und fixierte den anderen mit einem für ihn ganz untypischen sanften Blick. Doch plötzlich riss er sich von Lorenz los und schien sich eher für den Billard-Tisch zu interessieren. »Lust auf ein Spiel?«
Lorenz blieb vor Verwirrung der Mund offen stehen. Alles hatte er erwartet: eine Standpauke, üble Beschimpfungen, Erniedrigungen, abfällige Bemerkungen, doch nicht, dass er ihn ganz belanglos zu einem Spiel aufforderte. Was auch immer Danniks Beweggründe gewesen waren, sie schienen nicht mehr von Bestand zu sein.
»Lieber nicht, ich muss noch mein Referat fertigmachen«, gab Lorenz kopfschüttelnd von sich.
»Nur ein Spiel«, bat Dannik und drückte ihm einfach einen Queue in die Hand.
Trotz innerem Widerstand nahm Lorenz den Billardstock entgegen, eigentlich eher um sich drauf abzustützen, da er nicht wusste, wohin mit seinen Händen. Danniks plötzliche Sanftheit verwirrte ihn. So kannte er ihn ganz und gar nicht. Dieser Wandel machte ihm sogar ein wenig Angst. Die Prinzen waren für ihre Verschlagenheit bekannt. Daher fragte er sich ernsthaft, was das alles nun sollte. Er war aber auch nicht dazu bereit, sich davon verunsichern zu lassen und entschloss sich, auf Angriff zu gehen. »Ich weiß ja nicht, wie du dein Abi bestehen willst«, begann er. »Aber ich muss was dafür tun, um eine gute Note zu bekommen.«
»Nur ein Spiel«, wiederholte Dannik eindringlicher. »Dabei lässt es sich besser reden.« Er ordnete bereits die Kugeln in der Mitte mittels des Dreiecks an und steckte anschließend das hölzerne Hilfsdreieck unter den Tisch in die entsprechende Aussparung.
»Ich wüsste nicht, über was wir noch reden sollten. Meine Antwort kennst du bereits.«
»Die kann sich auch ändern.« Unbeirrt setzte er zum ersten Schuss an und versetzte die Kugeln mit einem kräftigen Stoß in helle Aufregung, sodass sie in alle Richtungen davonstoben. Seine Gipshand benutzte er dabei einfach als Ablage des Queues. Da keine einzige Kugel ins Loch rollte, gehörte der nächste Stoß dem Gegner.
Lorenz zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Es war schon eine Kunst, beim ersten Stoß, bei welchem noch alle Kugeln im Spiel waren, keine davon zu versenken.
Hatte er das absichtlich gemacht, um das Gespräch in die Länge zu ziehen?
»Beim besten Willen nicht«, entgegnete Lorenz, als er glaubte, die Hintergründe durchschaut zu haben, besah sich die auf dem grünen Filz verstreut herumliegenden Kugeln und suchte sich die richtige Position, um einen Treffer landen zu können. Er war nicht oft Billardspielen gewesen, höchstens fünf Mal in seinem ganzen Leben, das letzte Mal mit Bernd lag schon viele Monate zurück. Das war ganz am Anfang der Beziehung seiner Mutter zu ihm, als sie der Meinung war, ihr Sohn müsse ihren neuen Freund unbedingt näher kennenlernen.
»Ich habe nicht das geringste Interesse daran, bei eurem bescheuerten Prinzenverein mitzumachen. Ihr seid der Schrecken der Schule. Hast du wirklich geglaubt, dass ich mich mit euch Schwachmaten abgeben würde?« Er lachte kurz auf, ehe er seinen Stoß ausführte und zwei volle Kugeln in eine Ecke schickte. Absoluter Glückstreffer, lobte er sich selbst und suchte sich seine nächsten Opfer.
»Könnten wir mit den gegenseitigen Beleidigungen aufhören?«, bat Dannik. »Das macht sich schlecht bei einem Bewerbungsgespräch.«
Lorenz sah hoch und musterte Dannik mit einem seltsamen, verwirrten Ausdruck. Schließlich keimte Wut in ihm auf. »Bewerbungsgespräch?« Er schnaufte tief durch. »Anscheinend ist es noch nicht angekommen. Ich habe nicht die Absicht, mich bei den Prinzen zu bewerben. Ihr seid mir schlichtweg zu bescheuert. Ihr benehmt euch wie pubertäre Rotzlöffel, die glauben, die Welt gehöre ihnen. Wie kommst du da auf die Idee, ich würde mich auch noch bei euch bewerben wollen?«
»Aber wir uns vielleicht bei dir«, gab Dannik trocken von sich und drehte seinen Queue verlegen in der Hand. »Irgendwie müssen wir ja deiner würdig werden.«
Lorenz blieb der Mund offen stehen. Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Erst jetzt erkannte er, wie wichtig es Dannik war. Ein fassungsloses Keuchen entkam ihm. Er räusperte sich verlegen, als er dies bemerkte und versuchte, sich wieder auf das Spiel zu konzentrieren. Mit zitternden Händen legte er seine Hand auf den Filz und setzte zu einem weiteren Stoß an.
»Willst du was trinken?«, erkundigte sich Dannik. »Ein Bier. Cola oder Wasser.«
Lorenz schüttelte den Kopf. Er wollte das Spiel so schnell wie möglich beenden und dann nach Hause zurückkehren. Ihm kam das Ganze nicht mehr geheuer vor.
Warum waren die Prinzen auf einmal so nett zu ihm? Wegen seiner waghalsigen Rettungsaktion allein konnte das doch nicht sein.
Da hätte auch ein Danke oder auch noch ein Händeschütteln gereicht. Aber dass sie ihn zu den Prinzen einluden, machte ihn mehr als stutzig. Wenn er die Vorstellung allein schon für abwegig gehalten hätte, hätte er spätestens jetzt hellhörig werden müssen. Da stimmte etwas nicht. Ein Dannik von Gutenbach änderte sich nicht quasi von einem Tag zum anderen um 180 Grad.
Abgesehen davon, schmeichelte es ihm, dass der größte Rüpel der Schule plötzlich nett zu ihm war und ihn sogar zu einem Drink einlud. Ungeachtet der Antwort, die Lorenz von sich gegeben hatte, war Dannik zur Bar gegangen und hatte für sie beide etwas geholt, während Lorenz noch mit seinem Stoß beschäftigt war. Als er zurückkehrte, stellte er ein Glas Cola auf einen kleinen Tisch in einer Ecke und deutete mit einem Blick an, dass es für Lorenz war.
Der nächste Stoß ging daneben, sodass nun Dannik an der Reihe war. Dieser nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und umrundete anschließend den Tisch einmal, um sich die beste Position zu suchen. Dann legte er den Queue an und versetzte der weißen Kugel einen Stoß, worauf diese eine Halbe direkt in einem Eckloch versenkte.
Eine Weile spielten sie schweigend, während die Musik durch die Öffnung ins Separee dröhnte. Er beobachtete Dannik, wie dieser konzentriert seine Züge vollführte und sich hin und wieder gedankenverloren mit den gespreizten Fingern durch die fast weißen Haare fuhr. Dabei musste er den Billard-Stock umständlich in die eingegipste Hand nehmen. Dieser Anblick versetzte Lorenz einen Stich in die Brust. Er biss sich auf die Unterlippe, als es in seinem Leib zu rumoren begann. Doch nicht Hunger wütete in seinem Inneren. Es war etwas anderes, etwas, was er nicht zu definieren wusste. Ihm wurde heiß und kalt zugleich, als sich ihre Blicke zufällig begegneten und sich Danniks Mundwinkel ein klein wenig hoben.
»Geht das mit deiner Hand?«, erkundigte sich Lorenz, nachdem Dannik einen Stoß ausführte, indem er den Queue ein weiteres Mal auf den blauen Gipsverband zwischen Daumen und Zeigefinger legte, da er seine Hand nicht drehen konnte, um die Stange festzuhalten.
Dannik nickte stumm, ging zu seinem Bier und nahm einen weiteren Schluck. Der letzte Stoß hatte keine Kugel versenkt. Lorenz war nun an der Reihe.
»Mein Onkel erzählte mir«, ergriff Dannik das Wort, als Lorenz begann, sich eine geeignete Position zu suchen, »dass ich dich ernsthaft verletzt habe, als wir zusammen auf den Boden gefallen waren.« Er verzog mitfühlend das Gesicht.
Lorenz lachte kurz und höhnisch auf. »So schlimm war es nicht. Ich bin hart im Nehmen.« Als ob sich ein von Gutenbach um die Nöte eines anderen kümmern würde …
»Wieder alles in Ordnung …?«, wollte er wissen und deutete mit dem Kinn auf Lorenz. Ehrliche Besorgnis stand in dessen Gesicht.
Lorenz nickte unsicher lächelnd und lehnte sich auf den Tisch. Dass sich jemand wie Dannik überhaupt danach erkundigte, wunderte ihn ziemlich. Das war so gar nicht dessen Art. Fürwahr benahm sich der aristokratische Rüpel höchst eigenartig. So sanft und einfühlsam, so nett und zurückhaltend hatte er ihn noch nie gesehen. Lag es daran, dass es ihm endlich einleuchtete, dass er ohne Lorenz’ beherzte Tat womöglich nicht mehr am Leben wäre?
Mir soll es recht sein, dachte Lorenz amüsiert. Wenn er sich nun endlich benahm und die Schüler, vor allem Justus, in Ruhe ließ.
Sie spielten die Partie meist schweigend fertig, anschließend noch eine, weil Dannik auf eine Revanche bestand. Dabei unterhielten sie sich lediglich kurz angebunden, wenn einer von ihnen einen genialen Treffer gelandet hatte. Irgendwie wollte kein Gesprächsthema mehr zwischen ihnen aufkommen. Dannik kaute sichtlich nervös und unsicher auf der Unterlippe herum, oder drehte den Queue in seinen Händen, wenn er gerade nicht am Zug war. Lorenz drängte ihm kein Gespräch auf. Er wusste ohnehin nicht, was er mit einem von Gutenbach reden sollte. Es war alles zwischen ihnen geklärt, seine Antwort war eindeutig gewesen. Dennoch überkam ihn mehr und mehr das Gefühl, dass da noch mehr war, dass Dannik noch etwas auf dem Herzen hatte, das er nicht so recht ans Tageslicht befördern konnte.
Trotz allem drängte ihn Lorenz nicht. Er wollte eigentlich keine Gespräche mit Dannik. Er und seine Prinzen hatten Justus sehr weh getan, sogar finanziell geschädigt. Aber dies war ein Thema, das er derzeit nicht anbringen konnte. Vielleicht irgendwann später, wenn sie sich noch näher angefreundet hatten.
Durch Lorenz ging ein Ruck, als ihm diese Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Mit Dannik näher angefreundet …? Niemals, wiegelte er sogleich ab. Mit so einem arroganten Vollpfosten wollte er nichts zu tun haben, wobei an diesem Abend wenig davon an Dannik zu erkennen war.
Dieser andere Dannik gefiel ihm auf eine merkwürdige Weise. Er könnte glatt einer seiner Freunde sein, mit dem er sich hin und wieder treffen und Billard spielen könnte. Mit ihm überkam ihn das Gefühl, auf gleicher Wellenlänge zu sein. Warum dies so war, konnte er nicht erklären. Noch nie hatte er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, mehr als die üblichen schroffen Wörter mit Dannik von Gutenbach zu wechseln. Doch an diesem Abend war irgendetwas anders.
Er spürte die Blicke des Neunzehnjährigen auf sich. Dannik beobachtete ihn.
Lorenz wurde so manches Mal heiß. Seine dicke Daunenjacke hatte er schon vor einiger Zeit ausgezogen, dennoch schwitzte er stark. Es war ziemlich warm in der Billard-Kneipe, nicht zuletzt wegen der vielen Leute, die sich darin aufhielten und die Räumlichkeiten allein mit ihrer Körperwärme zusätzlich aufheizten. Es schien ihm, als hätte der Besitzer die Heizung in dem Separee absichtlich noch ein paar Grad höher gestellt.
Schweißperlen rannen von seinem Nacken den Rücken herunter und sammelten sich in der Spalte zwischen seinen Pobacken. Es war unangenehm. Hin und wieder rückte Lorenz seine Kleidung zurecht. In Wirklichkeit versuchte er, die trocknenden Schweißperlen, die dabei ein merkwürdiges Kribbeln verursachten, loszuwerden oder zu verstreichen.
Wenn sich ihre Blicke trafen, wurde es Lorenz noch heißer. Seine Wangen füllten sich dabei mit Blut und glühten sicherlich schon. Immer wieder musste er sich den Schweiß von der Stirn wischen, strich auch über seine heißen Wangen und versuchte, sein Gesicht vor Dannik zu verbergen.
Warum war es ihm auf einmal peinlich, wenn Dannik ihn ansah oder sich ihre Finger berührten, wenn er ihm den Kreidestein über den Tisch reichte? Warum war es ihm plötzlich wichtig geworden, sich von seiner besten Seite zu zeigen? Es hatte ihn doch noch nie interessiert, was Typen wie Dannik von ihm hielten. Es hatte ihn nie wirklich gestört, ein Außenseiter zu sein, nicht zu denen zu gehören, die mit kuriosen Dingen für Furore sorgten. Auf einmal drängte in ihm der Wunsch hoch, einen guten Eindruck zu machen. Aber warum?
Er wollte sich nicht für die Prinzen bewerben – ganz im Gegenteil.
Dannik bewarb sich bei ihm. Ein Bewerbungsgespräch, wie er vorhin erwähnte, war ihre recht wortkarge Unterhaltung wirklich nicht zu nennen. Aber vielleicht bewarb er sich auch mit der anderen – neuen – Seite von ihm, bei der es nicht viel Worte benötigte.
Nachdem Lorenz auch das zweite Match gewann, war er sich sicher, dass Dannik ein Spiel spielte, bei dem es darum ging ihn einzuwickeln. Lorenz glaubte nicht, dass ein Spieler, der offenbar öfter in diese Billard-Kneipe kam und sich genauestens auskannte, nicht auch hervorragend spielen konnte. Dass Dannik beide Spiele absichtlich verlor, daran zweifelte Lorenz nicht. Er gönnte ihm jedoch den Triumph. Einmal auf der Siegerseite zu stehen, gefiel auch Lorenz ganz gut.
Aber zu einem dritten Spiel ließ er sich nicht mehr überreden. Es war bereits Mitternacht und er erinnerte sich rechtzeitig daran, dass er noch sein Referat fertigmachen musste. Als er endlich ins Bett fiel, war es weit nach zwei Uhr. Er wusste, noch bevor er die Augen schloss, dass der nächste Morgen ein Fiasko werden würde.

 

Impressum

Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: Umschlagmotiv: © shutterstock 1565579017 / 317580941 / 1231607785 Kapitelbild: © shutterstock_1086142283
Cover: Umschlaggestaltung: © Marta Jakubowska, MAIN Verlag
Korrektorat: Ingrid Kunantz, Laura Bulls vom Garbach
Satz: Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2021

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /