(Nach einer Idee von Susanne Beck)
Langweilig war es nie. Es hieß doch, man sollte das zum Beruf machen, das man mit Spaß machte. Für Felix war es die Erfüllung eines lang gehegten Traumes. Wie jeden Morgen konnte er es kaum erwarten, in der winzigen Küche seines Imbissstandes zu verschwinden und zu schnippeln, was das Zeug hielt. Täglich, außer am Sonntag, kochte er an seinem Stand Suppen aus frischen Zutaten, Nudelgerichte und hin und wieder machte er sogar Gebäck. Das »Wait-a-while« war mittlerweile so bekannt, dass die Leute zeitweise Schlange standen, um eine der köstlichen Mahlzeiten zu ergattern.
Der Stand war klein. Der in vielen schweißtreibenden Arbeitsstunden liebevoll umgebaute alte Bully bot kaum für ihn allein genug Platz, um sich vollständig zu entfalten. Dennoch wollte er nicht expandieren. Ihm gefiel es. Er genoss den förmlich direkten Kontakt mit seinen Kunden und fand trotz Stress stets ein paar Minuten Zeit, um mit dem einen oder anderen zu plaudern. Vor allem Stammkunden wie Frau Müller, die sich um heimatlose Katzen kümmerte, sie fütterte und dadurch nicht mehr viel von ihrer Rente übrig hatte, waren eine Bereicherung für seinen Tag. Die nette alte Dame kam alle drei Tage vorbei, erzählte ihm von ihrem ereignisreichen Leben und half ihm hin und wieder beim Abräumen der Standtische. Da er von ihrer Not wusste, gab Felix stets noch eine Kelle mehr in ihre Schale oder warf noch ein paar Gemüsestücke oder Nudeln zusätzlich hinein, worauf er von ihr stets ein dankbares Lächeln erhielt.
Genau dieses glückliche Gesicht war der Lohn für seine Arbeit – neben dem Lebensunterhalt natürlich, den er mit seinem Stand verdiente. Aus dem Lächeln und den satten und zufriedenen Mienen der Kunden schöpfte er seine Kraft und die Energie, um jeden Tag früh aufzustehen und mit Freuden Gemüse zu schnippeln.
Er wischte sich über die Augen und schniefte. Es war jedoch vergebliche Liebesmüh, denn die Augen füllten sich sogleich wieder mit Tränen. Er blinzelte, versuchte das Brennen in seinen Augen zu ignorieren, wusste aber, dass er nicht die geringste Chance hatte.
Auf seiner Schulter gab Murphy ein leises, besorgtes Trillern von sich.
»Alles gut, Kleiner«, beruhigte Felix ihn. »Sind nur die Zwiebeln.« Er widerstand der Versuchung, sich erneut über die Augen zu wischen. Mit jedem Wischen wurde es schlimmer.
Murphy trillerte noch einmal leise und schmiegte sich dann tröstend an seinen Hals. Zum Glück konnten wenigstens ihm die beißenden Dämpfe der Zwiebel nichts anhaben.
Das kleine Wesen war seit seiner Kindheit sein ständiger Begleiter und kein normaler imaginärer Freund, wie fast jedes Kind irgendwann einmal einen hatte. Er hatte ihm durch die schwierige Zeit der Pubertät geholfen und stand ihm bei, als sich seine Eltern trennten. Auch jetzt, wo er längst erwachsen war und sein Leben gut im Griff hatte, war Murphy bei ihm. Manche konnten den kleinen Kerl sehen, andere nicht, was schon zu sehr skurrilen Begebenheiten geführt hatte und auch ein Grund dafür war, warum Felix keine neue Beziehung mehr wagte. Viele hielten ihn für verrückt oder mieden ihn, sobald er ihnen von Murphy erzählte. Seine eigene Mutter wollte ihn deswegen sogar in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen. Allerdings war Felix der Überzeugung, dass sie es nicht wegen seines kleinen Freundes, sondern wegen der Homosexualität ihres Sohnes tun wollte. Tatsächlich zweifelte auch Felix eine Zeit lang an seinem Verstand, weswegen er einen Seelenklempner aufgesucht hatte. Doch der verstand es auch nicht wirklich und wollte ihn nur mit Psychopharmaka vollpumpen.
Felix ertappte sich, wie er sich ein weiteres Mal über seine brennenden Augen wischte, und zischte schmerzerfüllt auf. Murphy gurrte besorgt, reckte seinen Hals und blickte ihn mit großen, hellblau glitzernden Augen aufmerksam an. Nur kurz legte Felix das Messer aus der Hand und kraulte ihn hinter den langen Ohren. Murphy war im Grunde mit nichts zu vergleichen. Er war kein Tier, das irgendeiner Gattung zuzuschreiben war. Felix konnte auch nicht sagen, woher er kam oder ob es noch mehr von seiner Sorte gab. Bislang hatte er jedenfalls noch keinen Menschen mit einem ähnlichen Fantasiewesen getroffen. Murphys Körperbau war eigenartig und nicht ganz proportional, er schien aber damit sehr gut zurechtzukommen. Der Kopf erschien viel zu groß für den schmächtigen Körper. Die großen, nahezu überdimensionierten Augen nahmen fast das ganze Gesicht ein und dominierten es, sodass die kleine Schnauze förmlich unterging. Aber gerade mit dieser kleinen Schnute verstand es Murphy hervorragend, ihn am Hals zu kitzeln und ihn wieder aufzumuntern. Felix musste kichern, als der Kleine zielsicher die empfindliche Stelle unter dem Ohr erwischte und ihn ein wohliger Schauer durchfuhr. Obwohl jetzt eigentlich keine Zeit dafür war, streichelte Felix ihm sanft über das hellblaue Fell und kraulte ihn erneut liebevoll hinter den langen Ohren, mit denen der putzige Kerl wie Dumbo zu fliegen vermochte. Besonders niedlich fand Felix den kleinen, schwarzen Fellstreifen am Kopf, der an einen Irokesen-Schnitt erinnerte und manchmal am Morgen genauso verstrubbelt und zerzaust in alle Richtungen abstand wie Felix’ Haarschopf.
Obwohl Murphy schon etwas seltsam aussah, liebte er ihn abgöttisch. Er war der beste Freund und Begleiter, den er sich nur wünschen konnte. Schade nur, dass es kaum einen Menschen gab, der dies verstand.
Sich zur Arbeit zurückrufend, nahm Felix das Messer wieder in die Hand und schnippelte die Zwiebeln fertig. Danach kamen die Pilze dran und der Brokkoli. Leider hatte er am Morgen, als er in der Markthalle nach frischen Zutaten gesucht hatte, keine brauchbaren Bohnen gefunden, sodass er den Herbsteintopf, den er sich für heute vorgestellt hatte, nun ohne anbieten musste. Aber er war ja erfinderisch. Seine Rezepte gab es nirgendwo zu kaufen. Sie entstanden aus Lust und Laune und dem Gutdünken seines Gaumens wie auch dem Zutun seines ganz besonderen Freundes.
Felix warf die klein geschnittenen Pilze in den Topf und rührte bedächtig um. Dann grinste er spitzbübisch und zwinkerte dem hellblauen Wesen zu. »Gib dem Zauber Zucker!«, forderte er sanftmütig. Murphy fiepste freudig auf, entfaltete seine Ohren und umflatterte den großen Kochtopf, aus dem verheißungsvolle Gerüche aufstiegen.
Während Murphy fiepsend um den Topf flatterte, warf Felix einen Blick nach draußen. Der Herbst war nun endgültig über das Land hereingezogen. Bisher hatten sie einen recht warmen, sonnigen und goldenen Oktober genießen können, aber heute früh wollte sich der Nebel einfach nicht lichten. Da kam der Herbsteintopf mit dem Namen »Zuhause« gerade richtig. Die Kunden würden es lieben.
Als es sich Murphy zufrieden trällernd wieder auf seinem gewohnten Platz auf der Schulter bequem gemacht hatte, stellte Felix den Topf auf die Wärmeplatte. Ein gehaltvoller und würziger Duft waberte durch die enge Küche. Es war ihm wieder einmal gelungen, ein Meisterwerk zu vollbringen. Es war ihnen gelungen, korrigierte sich Felix schmunzelnd. Ohne Murphy wäre kein Gericht das, wofür es die Leute liebten, und ohne ihn wäre er sicher nicht so erfolgreich. Gut, seine Preise waren höher als die der angrenzenden Bäckerei. Aber an Qualität konnten ihm die aufgebackenen Tiefkühlrohlinge und all das andere Fertigfutter nicht das Wasser reichen. Dafür war er bekannt. Dafür standen die Kunden schon eine halbe Stunde und mehr an.
Leise vor sich hin summend füllte Felix die alten Einmachgläser mit selbst gemachten Grissini und eine blassblaue Vase, die er vor einiger Zeit auf einem Flohmarkt erstanden hatte, mit Zimtstangen. Die Farbe der Vase erinnerte ihn an Murphys Fell. Dieser hatte auch entzückt gezwitschert, als Felix sie dem Händler abkaufte und nach Hause trug. Zimtduft mischte sich mit dem würzigen des Eintopfes. Felix schloss kurz die Augen, nahm die Eindrücke auf und spürte Zufriedenheit. Ja, das war sein Leben, und er liebte es.
Als jemand an die Scheibe klopfte, wurde er jäh in die Wirklichkeit zurückbefördert. Die ersten Kunden drängten sich schon vor dem Bully, schienen zu spüren, dass es hier etwas Gutes gab. Felix öffnete die Scheibe und begrüßte die hungrigen Gäste mit einem fröhlichen Lächeln.
Nach etwa drei Stunden stapelten sich die leeren Schalen, das Besteck und die leeren Töpfe überall, wo Platz zum Abstellen war. Heute war wieder ein extrem guter Tag gewesen. Zufrieden mit sich, der Ausbeute und dem üppigen Lob der Kunden wollte er schon seinen Stand dichtmachen, als plötzlich jemand um die Ecke herangeeilt kam und sich keuchend am Tresen festhalten musste.
»Gott sei Dank«, kam es unter lautem Schnaufen. Der Mann, Mitte, Ende dreißig, in einem eleganten, knielangen, dunklen Lodenmantel, mit dunkelrotem Schal und einem hinreißenden Lächeln, richtete sich schwer atmend auf und suchte Felix’ Blick. »Ich hatte schon befürchtet, Sie haben schon geschlossen. Ich brauche ganz schnell was zum Mittag.«
»Ganz schnell ist hier nicht«, gab Felix leicht pikiert zurück und deutete demonstrativ auf das Namensschild seines Standes. »Nichts auf der Welt kann so wichtig sein, dass man nicht die Zeit hat, in Ruhe etwas zu essen.«
»Tut mir leid. Ich wurde aufgehalten. Jetzt ist die Zeit etwas knapp. Ich muss in einer halben Stunde wieder im Büro sein. Sie wurden mir wärmstens empfohlen.«
»Das freut mich.« Felix blickte sich um. Viel hatte er nicht mehr anzubieten. »Es ist noch etwas vom Pilztopf da, allerdings keine ganze Portion mehr. Oder sie versuchen den Rote-Beete-Eintopf, von dem ist noch mehr da. Oder wie wäre es mit frisch gebackenen Muffins?« Felix fischte mit der Gebäckzange einen der Muffins aus der Auslage, drapierte ihn auf einen Teller und bot ihn dem Kunden an.
Unschlüssig, was er davon halten sollte, starrte der Kunde Felix an. Sein Blick wechselte vom Muffin zum Besitzer des Imbissstandes, musterte ihn kurz und atmete dabei tief durch.
»Gut«, sagte er schließlich. »Dann bin ich mal mutig und nehme den Rote-Beete-Eintopf. So was hab ich noch nie gegessen.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine Windböe wehte ihm eine Strähne des Haares auf die Stirn, die er einzufangen und zurückzustreichen versuchte. »Und zum Nachtisch diesen köstlichen Muffin«, fuhr er fort. »Der sieht echt gut aus … Oh, wer ist das denn?« Sein Blick glitt an Felix vorbei, direkt auf seine Schulter, wo der kleine hellblaue Kerl neugierig seinen Kopf anhob.
»Oh … ich … äh …« Felix war im ersten Moment so überrumpelt, dass er nicht imstande war, in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. Erst als Murphy leise fauchte, gelang es ihm, sich zusammenzureißen. »Das ist …« Er brach ab, als sich in der Manteltasche des Kunden etwas bewegte und ein kleiner graugrüner Drachenkopf zum Vorschein kam, der das Fauchen erwiderte. »Die Frage gebe ich zurück«, entkam es Felix angenehm überrascht.
»Das ist Luise«, stellte der Kunde den Minidrachen vor, holte ihn vorsichtig aus der Manteltasche und hob ihn auf seine Handfläche gebettet leicht an. »Sie ist nicht immer einfach. Aber ich möchte sie auch nie mehr missen.«
Schier grenzenlose Erleichterung durchflutete Felix. »Geht mir genauso. Murphy ist einzigartig.« Der kleine blaue Kerl stieß sich von der Schulter ab, flatterte aus dem Fenster hinaus und setzte sich auf den Tresen, um den Neuankömmling genauer zu begutachten. Der Drache hüpfte von der Handfläche herunter zu Murphy. Die beiden näherten sich langsam an, beschnüffelten sich vorsichtig und schienen sich dann mit lustigen Zwitscher- und Trillerlauten zu unterhalten.
Die beiden Männer sahen sich verwundert an. So etwas schien keinem von beiden je passiert zu sein. Felix überspielte seine Verlegenheit und das Zittern seiner Hände, indem er nach dem Schöpflöffel griff und etwas von dem roten Eintopf in eine Schale füllte, um sie dem Fremden hinzustellen.
»Ich bin Felix«, stellte er sich vor und reichte dem Mann noch ein übrig gebliebenes Kräuterbaguette, das dieser mit einem Nicken annahm.
»Jonathan«, kam es lächelnd zurück. Entschlossen tauchte dieser den Löffel in die Suppe und probierte mit gespitzten Lippen von dem dampfenden Gericht. »Hmm …. himmlisch«, brachte er begeistert hervor. »Das ist wirklich gut.«
Luise schien ebenfalls der Hunger zu packen. Sie rückte an die Schüssel heran, tauchte ihre Pfote hinein und schleckte sie dann genüsslich ab. Überzeugt und zufrieden grummelnd schlang sie prompt ihren Drachenschwanz um die Schale und zog diese näher an sich heran. Jonathans halbherzigen Protest überging sie einfach.
»Warte! Ich hole dir deine eigene Portion«, sagte Felix zu dem kleinen Drachen. »Murphy? Hilfst du mir?« Er schöpfte etwas von dem Rote-Beete-Eintopf in eine kleine Schale und stellte sie auf den Tresen. Der blaue Begleiter flatterte los und umkreiste trillernd die Schüssel.
Glücklich lächelnd sah Felix ihm zu. »Ja, gib dem Zauber Zucker.«
Jonathan kicherte leise. »Hast du für mich auch noch etwas Zauber und Zucker?«, wollte er wissen.
»Kommt drauf an. Für was?« Felix schob seine Hände in die Hosentaschen. Auf einmal wusste er nichts mehr damit anzufangen. Zudem begann etwas in seiner Bauchgegend aufgeregt zu flattern und sein Herz wummerte plötzlich stärker. Ihm wurde heiß und kalt, was er auf den kalten Wind, der durch das geöffnete Fenster hereinkam, und die dampfenden Gerichte, die noch auf dem Herd standen, schob.
»Weißt du, dass du der erste Mensch bist, der mich für Luise nicht in die Zwangsjacke stecken will?« Jonathans Gesichtsausdruck wurde für einen Moment ernst. Als sich der kleine Drachenbegleiter jedoch laut schlürfend über die Suppe hermachte, kehrte das glückliche Lächeln zurück. »Du hast einen ganz besonderen Zauber«, fuhr er fort, ließ den Löffel neben die Schale sinken und berührte mit einem Finger der anderen Hand ganz vorsichtig Murphy, um ihm zärtlich über den kleinen, schwarzen Irokesen-Schopf zu streicheln. Schließlich sah er hoch und suchte Felix’ Blick. »Ich hätte gern mehr von deinem Zucker … später … wenn du Zeit hast … und Lust … und wenn du …«
»Gern«, antwortete Felix und beendete damit Jonathans unbeholfenen Versuch, ihn zu einem Date zu überreden. »Nichts lieber als das.«
Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: M.C. Coverdesign
Cover: M.C. Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich hoffe, die Geschichte hat euch gefallen. Für die Idee zu dieser Story ein ganz großes Dankeschön an meine liebe beta Susanne Beck, der bereits einige Figuren aus anderen Geschichten ihr Dasein zu verdanken haben. Die Plothäschen verlaufen sich in letzter Zeit stets zu ihr. Ich hoffe, sie ärgern dich nicht zu sehr.
Das Cover zu diesem Büchlein "Warteschlangenkurzweiler" wurde von M.C. Coverdesign zur Verfügung gestellt. Vielen herzlichen Dank Minelle für das wundervolle Bild.