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Legende aus dem Buch der Vampire



Zehn Engel, reinster männlicher Kraft.
Auserkoren, der Menschheit zum Schutz zu dienen.
Ein Krieger, der keiner ist,
als Einziger die Boten des Bösen zu beherrschen weiß.
Mit einem schwarzen Engel er sich verbündet,
um zu herrschen über die Mächte der Finsternis.

1

Die Wahrnehmung der Menschen war zu träge, um die sechs Gestalten zu erkennen, die wie ein Sturm an ihnen vorüberrasten. Sechs Männer, jeder einzelne eine geballte Ladung Muskelmasse und Gefahr, in dunkle Tarnkleidung gehüllt und bis an die Zähne bewaffnet, obwohl sie durchaus imstande waren, sich ohne jede Waffe zu verteidigen. Die Menschen, an denen sie vorbeieilten, zogen lediglich ihre Schultern höher, schlugen ihre Kragen auf und rafften ihre Jacken und Mäntel enger um sich. Der kalte Wind, der sie erfasst hatte, ließ sie frösteln und ihren Schritt beschleunigen.

Luthor Falcon und seine jüngeren Brüder eilten die Bayerstraße hinunter, schneller als ein Auto zu fahren vermochte – vor allem in dem relativ dichten Verkehr. Schneller als ein menschliches Auge blinzeln konnte. Ihre übernatürlichen Fähigkeiten verliehen ihnen Kräfte, die kein Mensch zu begreifen vermochte.

Mit einem einfachen Handzeichen gab er seinen Brüdern zu verstehen, dass sie sich am Ende der Straße zu verteilen hatten. Worte brauchten sie nicht. Sie waren ein eingespieltes Team. Ein Blick genügte, um den anderen zu signalisieren, wie sie sich zu verhalten hatten. In dieser Nacht streunte eine Gruppe von zehn Dämonen auf Nahrungssuche durch das nächtliche München. Als sie sich aufteilten, taten es ihnen die Vampire gleich.

Neben Luthor kam Damon, der drittälteste der Falcon-Jungs, zum Stehen. Sein Atem war kaum beschleunigt, obwohl sie eben mehrere Kilometer im Laufschritt absolviert hatten. Doch derjenige, den die beiden Männer zu verfolgen glaubten, war ihnen offenbar durch die Lappen gegangen oder ebenso wie seine Kumpane in einem unbedachten Moment durch einen Gully in die Kanalisation entwischt.

»Wo ist das Biest hin?« Sein Blick scannte die Umgebung akribisch. Er erfasste die Mäuse, die sich zweihundert Meter weiter unter der Buchsbaumbegrenzung eines Straßencafés um einen alten Hotdog stritten. Ihm entging nichts. Auch seinen Ohren nicht, die noch die beiden Marder vernahmen, die sich irgendwo im Grüngelände am Eck vor der Martin-Greif-Straße miteinander vergnügten – dasselbe, das er jetzt mit seiner Gefährtin Florence getan hätte. Mit einem Knurren riss er sich von der schlüpfrigen Szene los und rief sich in die Gegenwart.

»Hat sich wahrscheinlich in Luft aufgelöst«, seufzte Luthor und ließ damit vermutlich auch Damons Gedanken laut werden, da dieser zustimmend mitseufzte.

Dass diese Aussage mehr als ein schlechter Witz war, wussten beide Vampire. Eine der Eigenarten der Dämonen war, sich bei Gefahr in schwarzen Rauch zu formieren und durch winzige Löcher im Untergrund zu verschwinden. Dadurch konnten sie wie übersinnliche Erscheinungen überall auftauchen, aber auch genauso gut sprichwörtlich im Boden versinken. Wenn die Vampire nicht schnell genug waren, gingen ihre Messer, Dolche, Krallen und Zähne leer aus.

Damon hob die Nase in den kalten Herbstwind, der zu dieser Zeit durch München wehte, und nahm Witterung auf. Sein Geruchssinn schien jedoch zu versagen, denn er knurrte missmutig, weil er den ganz bestimmten Gestank nicht auszumachen vermochte. »Ich rieche nichts«, gab er mit einem Knurren von sich. »Wo ist der Bastard hin?« Er schnupperte noch einmal, doch von einem typischen Dämonenduft war nichts zu vernehmen. »Wenn die im Untergrund sind, kannst du selbst nachsehen. Ich steh nicht so auf Kloakenbäder und Florence übrigens auch nicht.«

Luthor verzog angewidert seine Mundwinkel, brachte sein Kommunikationsgerät aus der Hosentasche hervor, wählte eine Kurzwahlnummer und hielt es sich ans Ohr. »Hey!«, rief er verhalten ins Telefon, als die Gegenstelle abnahm. »Sagt mir, dass ihr eure am Schwanz habt.«

Aus dem kleinen Gerät drang ein leises Kichern. Barton und ihr Cousin Tomas kontrollierten einige Nebenstraßen der Bayerstraße. Die beiden waren seit mehr als einem Jahrzehnt ein unzertrennliches Paar bei Missionen. Eigentlich sollte Tomas, dessen Familie bei einem Dämonenangriff ums Leben gekommen und der daher von der Familie Falcon aufgenommen worden war, bei jedem der fünf Brüder abwechselnd in die Lehre gehen. Doch Tomas schloss sich am liebsten Barton an. Leider lernte der junge Vampir bei ihm nicht nur das Jagen von Dämonen, sondern auch dessen Unarten.

»Du glaubst es nicht«, kam es leise. Bartons Worte klangen gedämpft, als wolle er eine Theatervorstellung nicht stören. Er kicherte erneut. Tomas’ ebenso gemäßigte Stimme ertönte im Hintergrund. Sie amüsierten sich köstlich.

Luthor knurrte verärgert. »Jungs!« Er verdrehte seine Augen, als ihn Damon fragend ansah. »Was ist los bei euch? Ist er euch in die Fänge gelaufen?«

»Nicht ganz«, erwiderte Barton ausweichend. »Es ist nur noch einer übrig. Aber zum Laufen hat der Bastard gerade keine Zeit.«

»Wo seid ihr?«

»Gönn ihm das Vergnügen.«

»Sagt bloß, ihr seht ihm gerade beim Ficken zu.« Luthor schnaufte hörbar aus. »Das ist nicht jugendfrei. Schaff Tomas da weg!«

Ein Protest des Jüngsten wurde laut. Barton kicherte erneut unterdrückt. »Diese scheußlichen Fratzen sind manchmal schon zu bewundern«, entgegnete Barton im munteren Plauderton. »Wie sie es schaffen, trotz ihres Gruselaussehens Menschen zu finden, die sie an sich heranlassen. Das ist zwar nur eine Nutte, die der Dämon gerade in der Mangel hat, aber trotzdem. Ich möchte mit diesem Vieh nicht poppen und ihn dabei auch noch an meine Ader lassen. Sieht aber irgendwie rekordverdächtig aus. Ich möchte gerne wissen, wie die Frau den Riesenpimmel in sich reinkriegt.« Er brach in etwas lauteres Lachen aus, maßregelte sich jedoch sofort. »Man kann echt von Glück reden, dass nur ein ganz geringer Anteil der Menschenfrauen in der Lage ist, Nachkommen der Vampire und Dämonen zu zeugen. Man stelle sich vor, lauter kleine, blutrünstige Gruselgestalten …«

»Barton!«, ermahnte Luthor ihn streng. »Behalte ihn einfach im Auge. Wenn er anfängt, mehr als Blut und Möse der Frau zu nehmen, weißt du, was du zu tun hast.«

»Wir genießen die Peepshow in vollen Zügen.« Im Anschluss war Tomas’ Stimme im Hintergrund zu hören.

»Was meint er?«, fragte Luthor nach, der den jungen Vampir nicht verstanden hatte.

»Der Bastard fickt die Nutte gerade in den siebten Himmel«, gab Barton die Worte des jüngeren Cousins wieder. »Tomas ist etwas neidisch, weil seine Eroberungen nicht so beim Orgasmus jodeln.«

»Na, dann ist er bei dir ja in guten Händen. Du bringst es ihm schon bei.« Mit einem Grinsen beendete Luthor das Gespräch und schob das Gerät in die Hosentasche.

»Vielleicht sollten wir Barton und Tomas Gesellschaft leisten«, schlug Damon vor. »Ist jedenfalls besser, als hier dumm herumzustehen. Wer besorgt Popcorn?«

»Nix mit dumm herumstehen.« Luthor hieb seine Faust an den Oberarm seines Bruders. »Es waren zehn Dämonen, die heute Nacht aufgetaucht sind. Laufen immer noch vier unbeaufsichtigt herum. Streng dein Näschen an. Irgendwo müssen die Bastarde doch sein.«

Das Telefon in Luthors Hose klingelte. Er holte es mit einem Seufzen heraus. Nach einem Blick auf das Display begrüßte er einen der anderen Brüder. »Hey, Christof.«

»Ich verfolge zwei Dämonen Richtung Wittelsbacher Brücke. Bis jetzt nähren sie sich nur hin und wieder und benehmen sich anständig. Archer ist den anderen beiden Richtung Schwabing hinterher.«

»Unfair«, warf Damon beleidigt ein. »Ihr amüsiert euch und wir gucken in die Röhre.«

»Von amüsieren kann nicht die Rede sein«, maulte Christof. »Die beiden Biester verströmen einen Gestank, dass es mir kotzübel wird. Muss der Wind ausgerechnet in meine Richtung wehen? Es ist nicht zum Aushalten.«

»Besorg dir ’ne Wäscheklammer«, murrte Luthor.

»Ich vermisse die Zeiten, in denen wir Dämonen jagen und auch töten durften.«

»Die sind vorbei … vorerst«, fügte Luthor an und bedauerte es selbst. Ihm gefiel es nicht, dass sie nun zum Zuschauer degradiert waren. Es kribbelte ihn selbst in den Fingern, wenn er sah, wie Dämonen sich an Menschen heranpirschten. Seine Instinkte schlugen jedes Mal Alarm. Mit den Händen an den Waffen und juckendem Zahnfleisch war es so manches Mal eine wahre Herausforderung für seine Selbstbeherrschung. Aber er hatte eine explizite Order. Eine Anweisung, die von den Clanoberhäuptern kam und an die sich alle Vampire halten mussten. Die mahnenden Worte seines Vaters erklangen ihm erneut in den Ohren, als er an das Gespräch dachte, in welchem Herb Falcon seine Söhne über die Entscheidung unterrichtete. Dämonen besaßen ebenso eine Daseinsberechtigung wie jedes Lebewesen auf dieser Erde. Sie zu töten hieße, dass sich die Vampire über sie erhöben. Da derzeit eine Art Waffenstillstand herrschte, würden auch die Vampirclans die Finger ruhig halten und ihre Waffen und Krallen stecken lassen.

Luthor murrte leise. Die Situation war für ihn befremdlich. Aber er fügte sich. »Wenn sie über die Stränge schlagen, meld dich wieder.«

»Okay«, kam es zurück, ehe Luthor das Gespräch beendete und die nächste Kurzwahlnummer wählte. Doch da ging niemand ran. »Verdammt, Archer. Nimm ab!«

»Hat er sein Handy wieder zu Hause gelassen?«

»Nein«, entgegnete Luthor wissend und knurrte verstimmt. »Auf nach Schwabing. Ich glaube, ich muss unseren Kleinen mal wieder daran erinnern, dass er nicht auf Lonely-Ranger-Tour unterwegs ist.«

»Lonely Ranger?« Damon kicherte. »Wohl eher Vereinsamter Ritter

»Das ist nicht witzig«, wies ihn Luthor zurecht. »Zwei Geliebte innerhalb einer kurzen Zeit zu verlieren ist nicht leicht.«

»Unser Nesthäkchen ist trotz seiner barschen Art ein Sensibelchen.«

»Und du ein gefühlloser Holzklotz«, warf ihm Luthor an den Kopf. »Aber du hast Recht. Noch einmal hundert Jahre Trauerflor halte ich nicht aus.«

»Ja, mir war die pheromongeschwängerte Duftnote auch lieber.« Dabei fasste sich Damon in den Schritt und lachte leise. »Vielleicht sollten wir ihm zum Geburtstag einen Stricher spendieren.«

»Und uns ein paar Backpfeifen einfangen«, fügte Luthor wissend an. »Archers exklusiven Geschmack zu treffen wird nicht leicht sein.«

Damon erwiderte den ernsten Blick seines Bruders und nickte bestätigend, womit das Thema vom Tisch war. Niemand würde es wagen, ihrem jüngsten Bruder einen Ersatz für seinen vor achtzehn Jahren verstorbenen Geliebten Nikolas vor die Nase zu setzen. Dieser Coup würde tierisch nach hinten losgehen. Da verstand Archer keinen Spaß.

 

2

 Ein paar Kilometer weiter östlich hetzte Archer zwei Dämonen hinterher, zunächst kreuz und quer durch Schwabing. Dann machten sie einen Abstecher in den Englischen Garten, ehe sie nach Bogenhausen abbogen, um dort in den Wohngebieten nach Blutwirten zu suchen. Für gewöhnlich war eine Handvoll Dämonen keine Aufregung wert – seit die Vampire gemerkt hatten, dass die Kreaturen aus der Unterwelt offenbar lediglich zur Nahrungssuche nach oben kamen. Es gab kaum noch Gemetzel unter den Menschen, wie noch vor zwanzig oder mehr als hundert Jahren. Offenbar hatten sie gelobt, sich zu benehmen und labten sich nur noch ausschließlich am Blut der Menschen. Früher hatte das Auftauchen eines Dämons noch die gesamte Vampirgesellschaft in Alarm versetzt. Heute beobachteten die Vampire lediglich und griffen erst ein, wenn Not am Mann war, sprich, wenn die Dämonen Menschen töteten. Nach der Order der Clanoberhäupter war es ohnehin nicht mehr erlaubt, sich ein blutiges Gemetzel zu liefern.

Obwohl dieser Zustand weitaus unbefriedigender war, als hundert Jahre selten einem Dämon über den Weg zu laufen, zog Archer das Heute vor. Im Gegensatz zu früher, wo sie tage-, wochen- oder sogar monatelang keinen einzigen dieser Kreaturen zu Gesicht bekamen, erhielt er derzeit fast jede Nacht eine Gelegenheit. Es kribbelte ihn massiv in den Fingern, diesen stinkenden Bastarden den Garaus zu machen. Noch vor einem Jahrhundert hätte ihn niemand daran gehindert, diesen Fratzengesichtern die scheußliche Visage vom Hals zu trennen. Da hätte man ihm noch gratuliert. Doch heute hieß es: Halte dich zurück!

Im Grunde konnte es Archer nachvollziehen und gönnte ihnen das Vergnügen. Dämonen waren lebendige Wesen wie die Vampire und die Menschen. Sie mussten zwangsläufig ebenfalls von etwas leben, sich wenigstens hin und wieder einen Schluck Blut gönnen und sich mit Menschen paaren, um ihr eigenes Fortbestehen zu sichern. Wenn sie nur zur Nahrungsaufnahme an die Oberfläche kamen, hatten die Vampire sie nicht daran zu hindern. Sehr zum Leidwesen der vampirischen Krieger, die dies, entgegen ihrer sonstigen Tätigkeit und Bestimmung, nahezu untätig mit ansehen mussten.

Alles war anders geworden. Nicht nur das Verhalten der Dämonen.

Noch vor achtzehn Jahren hatte auch Archer ein gänzlich anderes Verhältnis zu ihnen. Seit er erfahren hatte, dass sein einstiger Geliebter, der im Jahr 1913 zu Tode kam, als Dämon wiedergeboren worden war. Es erfüllte ihn mit Trauer und Wut zugleich. Thoron van Bottgan war einen Handel mit dem Dämon Komunibaag eingegangen und dabei übers Ohr gehauen worden, weswegen er fortan unter all den finsteren Nachtkreaturen in der Unterwelt leben musste. Bis vor achtzehn Jahren hatte Archer nichts davon geahnt. Dann war Nikolas in sein Leben gekommen und die Ereignisse hatten sich überschlagen.

In seine Gedanken versunken entging Archer beinahe, dass die Dämonen ihre Suche im Münchner Stadtteil Bogenhausen aufgegeben hatten und weiter östlich zogen. Zu dieser Stunde waren weniger Leute auf der Straße. Weit nach Mitternacht hatten die Bewohner dieses Viertels Besseres zu tun, als sich außerhalb ihrer weichen Bettfedern aufzuhalten. Die beiden Kreaturen hasteten an der Autobahn entlang und legten dabei ein Tempo vor, das Archer wirklich verwunderte. Sie waren verdammt schnell, flüchteten regelrecht vor ihm, schlugen Haken und verbargen sich in den Schatten zwischen den Straßenlaternen. Dabei hatten sie noch mehr als fünf Stunden bis Sonnenaufgang Zeit. Wussten sie, dass ihnen ein Vampir an den Fersen hing? Die beiden machten nicht den Anschein, als fühlten sie sich verfolgt. Wenn dem so wäre, würden sie die Ohren spitzen, die Umgebung absuchen oder sich in schwarzen Rauch auflösen und sich so dem Zugriff des Vampirs entziehen. Doch die beiden hatten sichtlich Spaß an ihrer Jagd.

Sich zu trennen, um ihren Verfolger abzuschütteln, schien ihnen nicht einmal im Traum einzufallen. In letzter Zeit war vermehrt zu beobachten, dass sie sich nur in Kleingruppen an die Oberfläche trauten, um Nahrung aufzunehmen. Fast wie Mädchen, die nur in kleinen Rudeln aufs Klo gingen, dachte sich Archer zynisch. Selten war einer allein, meist traf man sie zu zweit an, oder zu zehnt wie die heutige Gruppe, die sich allerdings wiederum aufteilte und getrennt ihr nächtliches Glück versuchten. Schließlich schienen sie in der kleinen Ansiedlung Feldkirchen haltzumachen. Die beiden Dämonen wanderten durch die Straßen wie durch die Auslage eines Supermarktes, bis sie etwas Passendes gefunden hatten. Ein paar nächtliche Herumtreiber hätten lieber die Nähe ihrer Betten suchen sollen, als sich zu einem Umtrunk auf einer zugigen Bank zu treffen. Noch ehe sie sich’s versahen, hingen ihnen die Dämonen abwechselnd am Hals. Dabei gingen sie wie Bonny und Clyde vor. Während sich der eine einen Schluck aus der warmen Ader gönnte, stand der andere Schmiere.

Im Grunde ein schlaues Vorgehen. Auch die Vampire gingen nur paarweise auf Patrouille und unterstützten sich gegenseitig. Vermutlich hatten die Dämonen es von ihren Vettern abgeschaut und es als vorteilhaft für sich gesehen. Warum sie nicht, wie früher, in Scharen herauskamen und das Land überfluteten, wogegen die Vampire kaum etwas ausrichten konnten, war nicht klar. Aber die Dämonen hatten auch schon vor hundert Jahren ein merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt. Ein Rätsel, das sich erst mit dem Auftauchen von Nikolas aufgelöst hatte.

Archer verschanzte sich im Schatten von ein paar Bäumen, den Blick auf die beiden Dämonen geheftet, die an den Hälsen zweier junger, stark angetrunkener Partyheimkehrer hingen. Leichte Beute für die Viecher der Unterwelt. Der Vampir selbst verabscheute den Geschmack von mit Alkohol und Drogen versetztem Blut. Doch manchmal blieb auch ihm keine andere Wahl, als sich an Junkies oder Alkoholleichen zu nähren. Die Nahrungsaufnahme selbst war ihm seit gut achtzehn Jahren zur Qual geworden. Genauer gesagt, seit er Nikolas’ Blut gekostet hatte und sein Organismus beleidigt reagierte, wenn er ihm anderes aufzwang. Mittlerweile rebellierte sein Magen nicht mehr so oft dagegen, schien sich der Notwendigkeit zu beugen. Aber es war jedes Mal aufs Neue eine Tortur.

Die Dämonen taten sich nun in aller Gemütlichkeit gütlich an den beiden Männern. Offenbar glaubten sie sich vollkommen unbeobachtet und sicher. Archers Anwesenheit schienen sie weder zu bemerken noch zu ahnen.

Benommen vom Blutverlust und dem Alkoholpegel in ihrem Organismus, standen die beiden Personen auf unsicheren Beinen, als die Dämonen endlich von ihnen abließen. Eingehüllt in eine bewusstseinsverändernde Aura, die jedem Menschen suggerierte, es mit ihresgleichen zu tun zu haben, winkten sie den Bestien sogar noch zum Abschied, als diese weiterhetzten. Wenn sie wüssten, dass sie eben zwei Ausgeburten der Hölle an sich herangelassen hatten. Einen Zombie-Verschnitt mit blutunterlaufenen Augen und ausschlagübersäter Haut, der aussah, als sei er bereits stark verwest. Archer würde es nicht wundern, wenn sogar die Maden an ihm nagten. Näher in Augenschein nehmen wollte er ihn jedenfalls nicht. Der andere mit Beinen eines Ziegenbocks und dem Kopf eines tasmanischen Teufels inklusive des gefährlichen Gebisses.

Um Archers Mundwinkel erschien ein bitteres Lächeln bei dem Gedanken, dass die Menschen den absonderlichen Gestank der Dämonen nicht als solches wahrnehmen konnten. Allenfalls einen unguten Geruch, den sie eher für die Ausdünstungen ungewaschener Körper oder die fauligen Dämpfe der Kanalisation hielten. Manches Mal wünschte er sich, er wäre ein Mensch, nur um seine Vampirnase vor diesem üblen Duft zu bewahren.

Vor achtzehn Jahren wäre alles etwas einfacher gewesen, wenn er ein Mensch und kein Vampir gewesen wäre. Archer wäre gar nicht erst auf die Idee gekommen, sich Zugang zu Nikolas’ Wohnung zu verschaffen und ihn zu verführen. Und Nikolas hätte eine Chance gehabt, sich auf Anhieb in ihn zu verlieben, ohne Angst vor ihm zu haben oder ihn gar für das, was er getan hatte, zu hassen.

Ein trauriges Seufzen entkam ihm, als er an den jungen Kunststudenten dachte. Gerade als sie ihre Hindernisse aus dem Weg geräumt hatten und begannen, sich zu nähern, war Nikolas von Bòorig getötet worden. Archer spürte finstere Wut in sich aufkeimen. Noch heute könnte er den Dämon für seine Tat in der Luft zerreißen, wenn er es nicht schon in der verhängnisvollen Nacht getan hätte. Er hatte ihm Nikolas genommen, so wie Komunibaag ihm Thoron genommen hatte, hundert Jahre zuvor, in einem fiesen Kuhhandel übervorteilt und Archer denken lassen, sein holländischer Geliebter sei von einem Taschendieb ermordet worden.

Blinder Zorn kochte in ihm hoch, wollte ihn auch achtzehn Jahre danach noch nicht ruhen lassen. Fast entging ihm erneut, dass die beiden Dämonen aufbrachen und der S-Bahn-Linie weiter nördlich folgten.

Je weiter sie sich vom Stadtkern München fortbewegten, desto geringer wurde die Wahrscheinlichkeit, Blutwirte zu finden. Die Bewohnerzahl der Stadtteile sank, je mehr sie sich von der Großstadt entfernten. Damit auch die Sicherheit, nächtlichen Herumtreibern zu begegnen. Für gewöhnlich hielten sich Vampire und Dämonen in dicht besiedelten Gebieten auf, da Menschen ihre einzige Nahrungsquelle waren. Dass diese beiden lediglich einen Ausflug in landschaftlich interessante Regionen unternahmen, bezweifelte Archer. Er blieb ihnen auf den Fersen, allein schon aus Neugier, um zu erfahren, was blutsaugende Wesen dazu bringen könnte, in sogenannte Brachgebiete, Regionen mit spärlicher Besiedelung, aufzubrechen.

Zunächst streunten sie durch die Wohngebiete rechts der S-Bahn-Trasse, ehe sie sich auch die linke Seite vornahmen. Ein Neubaugebiet, das großteils mit dem Lineal auf dem Reißbrett geplant worden war. Der Herbstwind zog eisig durch die Straßen, wirbelte trockenes Laub auf und brachte den Duft des nahen Winters mit sich. Archer spürte die Kälte nicht. In seinem Herzen wohnte ohnehin seit Nikolas’ Tod der Winter.

Oft hatte er sich gewünscht, ihm folgen zu können, hin und wieder sogar damit geliebäugelt, in die andere Welt zu wechseln, dort, wo alles beginnt und wohin jedes Lebewesen irgendwann zurückkehrt. Dort, wo er Nikolas zurückgelassen, ihn den weißen Wolken übergeben und dem Kreis des Lebens übereignet hatte. Doch in dem Wissen, dass seine Zeit noch nicht gekommen war, hatte er es nicht gewagt, diesen Schritt zu gehen. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, hinüberzuwechseln. Er wusste jedoch, dass er Nikolas dort nicht mehr finden würde.

Ein weiteres Mal schalt sich Archer, seine Gedanken nicht unter Kontrolle zu haben. Verdammt noch mal! Er war ein Vampir, bald 380 Jahre alt, und hing einer Liebe nach, die er vermutlich niemals richtig bekommen hatte. Seine Brüder zogen ihn damit auf, meinten es aber nicht böse. Sie wollten ihn lediglich aufmuntern. Dennoch schaffte es Archer nicht, sich davon zu lösen und nach vorn zu sehen. Der Kreis schließt sich, hatte Thoron ihm versprochen. Genau deswegen hatte er Nikolas gehen lassen, um ihn irgendwann wieder in die Arme schließen zu können.

Aber wann?

Seine Geduld war am Ende. Er sehnte sich nach Zweisamkeit und nach einer verbundenen Seele, so wie es seine älteren Brüder hatten. An so manchen Tagen kam giftiger Neid auf, wenn er sie mit ihren Frauen turteln sah. Aber er war nicht wie seine Brüder. Er war der einzige schwule Vampir. Menschenfrauen, die in der Lage waren, einen Vampir zu betören und ihn um den Verstand zu bringen, gab es schon wenige. Noch viel weniger Männer, die dazu imstande wären. Archer hatte in seinen bald 380 Jahren bislang nur zwei getroffen: Thoron und Nikolas.

Verfluchte Dämonenscheiße! Archer zischte einen unterdrückten Fluch und verpasste sich einen gedanklichen Arschtritt. Er sollte sich endlich zusammenreißen und verdammt noch mal seinen Job tun. Sein Vater würde ihm sicher den Arsch aufreißen, wenn er sich von seinen Gefühlsduseleien ablenken ließ. Es war die Pflicht der Vampire, die Dämonen in Schach zu halten. Selbst wenn sein Herz vor Sehnsucht brannte wie Feuer und so von Trauer erfüllt war, dass er sich am liebsten in eine dunkle Ecke verziehen und verzweifeln wollte.

Beinahe wäre ihm nicht aufgefallen, dass der Zombiedämon Beute gewittert hatte. Die Kreatur schlich wie ein räudiger Köter in leicht gebückter Haltung an einem Gartenzaun entlang. Die Art, wie er sich auf dem Gehweg bewegte, hin und wieder die Nase in den Wind reckte, alarmierte Archer und animierte ihn dazu, seine Gedanken und seine eigenen Nöte auf die Seite zu kicken. Er hatte genug Erfahrung im Jagen von Dämonen, dass er nun seine Eier dafür verwettet hätte, dass der Dämon bald ein neues Opfer schlagen würde. Und das, obwohl die beiden Blutsauger bestimmt schon voll bis über die verfaulten Ohren sein mussten. Hinter dem mannshohen hölzernen Zaun verbarg sich etwas, das den natürlichen Jagdtrieb des Dämons aktiviert hatte. Archer hob ebenfalls seine Nase in den kalten Wind, doch außer dem ätzenden Gestank der beiden Unterweltler konnte er nichts ausmachen. Nicht einmal Blut.

Dennoch musste dort etwas verborgen sein. Menschen? Er aktivierte seine Sinne, lauschte in die Nacht. Doch im selben Moment rauschte unweit von ihnen ein Zug über die Schienen und verbarg jegliches Geräusch, vor allem die ganz leisen.

Lautlos pirschte Archer näher, auch wenn dies seine Nase mit einem juckenden Prickeln bestrafte. Bis auf wenige Meter war er an sie herangekommen. Auf diese geringe Distanz schaffte es lediglich ein mächtiger Sturm, den Geruch zu zerstreuen, den die zwei Gestalten ausströmten. Er verwünschte sich, keine Maske mitgenommen zu haben. Aber wer hätte schon gedacht, dass diese beiden so penetrant das Bukett einer Müllkippe verbreiteten.

Der Dämon mit den Ziegenbeinen hüpfte leichtfüßig hinter seinem Kumpel her. Das Fell des tasmanischen Kopfes sträubte sich. Dann plötzlich … Selbst Archer war überrascht von der blitzschnellen Reaktion des Zombiedämons, der über den Zaun sprang. Ein Schrei ertönte, anschließend ein gurgelndes Geräusch. Der Zombie war diesmal eindeutig nicht nur auf einen Drink aus, sondern auf ein Gemetzel.

Archer setzte sich augenblicklich in Bewegung, riss noch im Laufschritt seine Titandolche aus dem Rückenhalfter und hatte dem tasmanischen Ziegendämon die Kehle aufgeschlitzt, noch ehe dieser seinem Kumpan folgen konnte. Um die Leiche vor dem Entdecktwerden durch einen Menschen zu verbergen und sie fortzuschaffen, blieb keine Zeit. Mit einem Sprung setzte der Vampir über den Zaun. Seine Titanklingen flogen durch die Nachtluft, die urplötzlich mit dem beißenden Geruch von Blut angefüllt war: Menschenblut.

Die vampirischen Sinne reagierten voll auf diesen Duft, stellten sich sofort prickelnd auf. Die Eckzähne schossen aus dem Zahnfleisch. Fast entglitten Archer die Messer, als aus seinen Fingerspitzen messerscharfe Krallen herausschnellten und sich schmerzhaft in seine Handballen bohrten. Flink ließ er sie in seiner Hand herumgleiten und vollführte einen Streich, der den Kopf vom Hals des Dämons trennen sollte. Doch die Klinge durchschnitt nur kalte Herbstluft. Mit einem Fauchen wirbelte er herum und sah, wie der Zombiedämon einen sich träge wehrenden und klagenden Leib fortschleppte, in die Schatten des übrigen Gartens hinein. In seiner unmittelbaren Nähe ertönte ein Wimmern. Nur kurz widmete sich Archer dem zweiten Menschen, der vor der geöffneten Tür eines Geräteschuppens lag. Es war ein junges Mädchen, sechzehn, höchstens achtzehn Jahre alt. Offenbar hatten sich die beiden Jugendlichen dort zu einem Schäferstündchen getroffen. Er wandte sich wieder um und folgte dem Dämon. Dafür hatte er zwar nicht mehr als eine Sekunde benötigt, dennoch war der Zombiedämon nicht mehr zu sehen.

Archer strengte seine Sinne an, sandte sie voraus, scannte mental die Gegend nach Lebewesen und fand die Gesuchten schließlich am anderen Ende der Straße. Der Dämon war trotz seiner Last verdammt schnell. Wenn er seine Beute nicht losließ, konnte er sich auch nicht in Rauch auflösen. Das war die Chance für Archer, um beide zu erhaschen. Er sprintete los, die Messer noch immer in den Händen. Seine Fänge füllten den Mund aus. In ihm pulsierte der Jagdinstinkt. Schon lange hatte er keinen Kampf mehr mit einem Dämon ausgefochten. Insgeheim freute er sich darauf, sich endlich austoben zu können, seinen Frust an ihm auszulassen, ihn stellvertretend für alle Finsterkreaturen, die es gab, für Nikolas’ Tod verantwortlich zu machen.

Er stellte den Bastard an den Gleisen und verpasste ihm einen tiefen Schnitt quer über den Rücken. Der Dämon brüllte wütend auf und warf sein Opfer auf die Schienen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer noch hässlicheren Fratze, die durch die verweste Haut jedem Horrorfilm Ehre gemacht hätte. Erst als die Wut in das schreckliche Antlitz einzog, erfasste Archer das Gesicht und kramte in seinen Erinnerungen nach einem Treffer. Die vielen Skizzen, Aquarelle und einfachen Buntstiftzeichnungen waren wie ein Schatz für ihn. Nikolas lebte in jedem davon weiter. Wenn er die Dämonen betrachtete, die dieser junge Kunststudent bereits als Kind wie im Wahn angefertigt hatte, glaubte er ihn zu spüren. In diesen Zeichnungen wurde er wieder lebendig, obwohl er auf keinen davon zu sehen war. Aber für Archer waren sie ein Zeugnis dafür, dass dieser unglaubliche junge Mann je gelebt hatte.

Er hatte die Bilder, die Nikolas gezeichnet und ihm hinterlassen hatte, genauestens studiert und sich jedes eingeprägt. Doch diese Fratze befand sich nicht unter dem Vermächtnis des jungen Mannes. Also musste er ein neuer Dämon sein.

Das Herz wurde ihm schwer, als seine Gedanken zu dem Mann zurückkehrten, dessen Duft er eines Nachts in der Innenstadt von München aufgenommen hatte. Seine Aufmerksamkeit wurde dadurch abgelenkt und dem Dämon gelang es, den verletzten Jungen zu schnappen und mit ihm in das Wohngebiet zu entkommen. Verflixt! Dass ihm das aber auch immer wieder passierte.

Mit einem Fluch setzte ihm Archer hinterher. Er sollte sich verdammt noch mal endlich zusammenreißen und diesen Abschnitt seines Lebens hinter sich lassen. Nikolas war gegangen, gestorben. Er selbst hatte ihm das Leben genommen, damit dieser den vorbestimmten Weg weitergehen konnte. Thoron hatte ihn persönlich besucht und dazu überredet, Nikolas gehen zu lassen. Körperlich hatte er den jungen Münchner bereits vor achtzehn Jahren fortgeschickt. In seinem Herzen wohnte er jedoch noch immer.

Aus! Vorbei! Sein Leben rotierte weiter und in diesem ging ihm gerade ein blutdürstiger Bastard durch die Lappen.

Der Dämon schleppte seine Beute durch die Straßen. Der Mensch blutete stark, schien inzwischen bewusstlos oder gar schon tot zu sein. Er hing nur noch wie ein nasser Sack unter dem Arm des Dämons. Archer warf sich auf die Bestie, brachte sie zu Fall und damit dazu, die Beute loszulassen. Der Mensch plumpste im Vorgarten eines der direkt an der S-Bahn-Trasse gelegenen Häuser in einen mit Drahtgitter abgedeckten Fischteich. Archer registrierte dies nur am Rand, denn der Dämon war stinksauer und stürzte sich wütend auf ihn.

Schneller, als er mit seinen eigenen Augen erkennen konnte, ließ der Vampir die Titanklingen durch die Luft wirbeln, verpasste dem Zombie tiefe Schnitte im fauligen Gesicht und der Brust. Der Dämon fuhr seine Krallen aus und versuchte sie in Archers Hals zu bohren. Dieser wich blitzschnell aus, ließ einen der Dolche hochschnellen und trennte eine Hand vom Arm des Dämons. Mit einem Aufschrei wankte die verletzte Ungestalt zurück, griff aber sogleich wieder an.

Normalerweise lösten sie sich sofort in Rauch auf, wenn sie ins Hintertreffen gerieten, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen. Dämonen spielten selten fair. Doch dieser schien es auf einen Nahkampf ankommen zu lassen und dafür jedes Risiko einzugehen. Die andere unversehrte Hand verkrallte sich in Archers Schulter. Dank des Ledermantels konnten die Krallen jedoch nicht tief eindringen. Mit einem weiteren blitzschnellen Streich durchtrennte er auch die verbliebene Hand vom Arm. Ein drittes Aufschnellen seiner Klingen und der Zombie verharrte augenblicklich, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen, rot unterlaufenen Augen. Im nächsten Moment sackte er in sich zusammen und fiel leblos auf die Gleise.

Schwer atmend blieb Archer über ihm stehen und betrachtete den Kadaver.

Warum zur Hölle hat er sich nicht in Rauch verwandelt, so wie jeder vernünftige Dämon? Und was wollte er hier draußen am Arsch der Welt?

Selbst ein Dämon konnte einfallsreich werden, wenn es um Futter ging. Aber die Wahrscheinlichkeit, den Bauch zu füllen, war in der Innenstadt größer und effektiver als hier draußen auf dem Land, wo die Leute mit dem Untergehen der Sonne in ihre Bettchen verschwanden und das Nachtleben nicht einmal im Wortschatz existierte. Außer Teenies, die sich in Gartenhäusern vergnügten, oder spätheimkehrende Pendler würden ausgehungerte Dämonen nichts in ihre Krallen bekommen.

Archer sah sich um. Die beiden Fratzen waren recht zielstrebig der Bahnlinie gefolgt. Gab es hier eine Quelle, von der die Vampire nichts wussten? Oder waren hier die Menschen köstlicher, weil sie der Großstadtmief nicht vergiften konnte? Fingen die Dämonen an, sich gesundheitsbewusster zu ernähren, indem sie sich nur noch an Beute labten, die nicht täglich Autoabgase und Smog inhalierten?

Als er einen letzten Blick auf den Kadaver warf, begriff er. Der Dämon war kein Dämon im wirklichen Sinne, sondern hatte sich eines Menschen bemächtigt. Er lebte in dem menschlichen Körper, der inzwischen ziemlich verfallen war. Daher das Zombieaussehen. Hier in der Abgeschiedenheit der Großstadt war er auf der Suche nach einem neuen gewesen. Der junge, kräftige Mann, den er beim Techtelmechtel aufgescheucht hatte, stellte für ihn offenbar die ideale Hülle für die nächsten Wochen oder Monate dar. Dumm nur, dass Archer ihm diesen Plan vereitelt hatte. Denn sich eines Menschen zu bemächtigen hieß, ihn zu töten. Und dagegen hatten die Vampire entschieden etwas.

Dämonen konnten ihre Gestalt frei wählen. Die meisten verwandelten sich in wahre Gruselgestalten. Nur wenige bevorzugten menschliche Körper, mit dem Vorteil oder gar dem Zweck, dass sie sich in den ersten Tagen unerkannt zwischen den Menschen bewegen konnten. Sogar die Vampire taten sich schwer, jene Dämonen als solche zu erkennen. Dazu müssten sie ihnen sehr nahe kommen und ihnen direkt in die glasigen Augen sehen. Es hatte aber auch den Nachteil, dass eine Hülle aus Fleisch und Blut nicht so einfach durch mikrobengroße Löcher im Untergrund verschwinden, geschweige denn, sich in schwarzen, stinkenden Rauch auflösen konnte. Deswegen nutzten Dämonen menschliche Körper meist nur kurz. Außer diesem hier, der seine fleischliche Hülle bis zum deutlichen Verfall gebraucht hatte.

Verdammter Bastard, dachte Archer wütend und schickte seinem gedanklichen Fluch ein verächtliches Zischen hinterher. Offenkundig wussten diese Biester genau, wo man die besten und gesündesten Körper bekam.

Der Vampir hob seine Nase in den Wind und inhalierte die Gerüche, die der kühle Hauch heranbrachte. Es roch nach trockenem Laub und modernder Feuchtigkeit. Die frische Brise ließ erahnen, dass bald knisternde Eiskristalle das Land überzogen. Das Blut des Verletzten stieg ihm in die Riechorgane, worauf seine Vampirsinne erneut prickelnd zum Leben erwachten. Sein Zahnfleisch juckte. Die Fänge drängten gegen die dünne Haut und wollten es mit ihren scharfen Spitzen zerschneiden. In ihm lockte der Blutdurst, verlangte, dass er sich einen Schluck aus der Ader des jungen Mannes nahm, der hilflos, blutend und röchelnd im Fischteich lag, ehe sich die lebensnotwendige Flüssigkeit aus den Adern mit dem eiskalten, trüben Teichwasser vermischte. Seine Finger zuckten. Seine Beine verlangten, dass er zu dem Menschen ging und sich an ihm labte, bevor dieser das Zeitliche segnete. Er benötigte frisches Blut, musste unbedingt wieder seine Reserven auffüllen. Aber allein bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um. Was er brauchte, war Nikolas’ Blut. Er war verdammt.

Mit diesem Gedanken konnte er sich aus dem beginnenden Rausch lösen. Seit Nikolas’ Tod war es nicht mehr so einfach für ihn, sich an einem anderen Mann zu nähren. Es ekelte ihn förmlich davor und er zögerte die Nahrungsaufnahme jedes Mal so lange wie möglich hinaus.

Wann hatte er das letzte Mal etwas zu sich genommen?

Es musste nun schon über eine Woche her sein. Nach Thorons Tod war es ihm nicht so schwergefallen, sich andere Blutwirte zu suchen. Warum ausgerechnet bei Nikolas?

Im Grunde wusste er die Antwort selbst, wollte es nicht wahrhaben. Nikolas war der Krieger gewesen, der keiner war. Der von einer uralten Vampirlegende dazu vorbestimmt war, über die Dämonen zu herrschen. Bevor es jedoch dazu kommen konnte, hatte ihn Bòorig ermordet.

Das Röcheln aus dem Vorgarten wurde allmählich zu einem erstickten Keuchen. Der junge Mann hatte Probleme beim Atmen. Archer wandte sich um, als ein weiteres Geräusch seine Aufmerksamkeit verlangte. Eine S-Bahn näherte sich. Er betrachtete einen Moment die herannahenden Scheinwerfer wie eine Motte das Licht, ging leicht in die Knie und schnellte aus dem Weg, nur eine Sekunde bevor der Zug über ihn hinwegrasen konnte. Der Kadaver des Dämons wurde dabei bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt.

Leichtfüßig wie eine Raubkatze kam der Vampir im Garten auf, wo er sich sogleich über den Schwerverletzten beugte. Der Dämon hatte ihm eine gefährliche Wunde am Hals verpasst. Blut sickerte im Takt des Pulses aus den zerrissenen Schlagadern. Wenn der junge Mann nicht schnellstens Hilfe bekam, würde er verbluten.

Es war die Bestimmung der Vampire, die Menschen zu beschützen. Daher nahm er den Jungen auf die Arme und brachte ihn, so schnell ihn seine Füße trugen, zur nächstgelegenen Klinik. Sie befanden sich ziemlich weit außerhalb von München. Dank seiner übernatürlichen Fähigkeiten gelang es ihm dennoch, den Verletzten in die Notaufnahme zu bringen, bevor der an Blutverlust starb, und zu verschwinden, noch ehe jemand seine Anwesenheit bemerkte.

Als Archer wieder in die kühle Nacht hinaustrat, atmete er tief durch. Das Blut des jungen Mannes hatte den Hunger noch mehr angestachelt. Wie ein wildes Tier tobte der Drang nun in ihm. Die Eckzähne schoben sich aus dem Zahnfleisch. Er biss sich in die eigene Zunge, um sein Blut zu schmecken und seinen vernachlässigten Magen zu besänftigen. Doch ihn lechzte nicht nach Vampirblut.

Lange würde er sich nicht mehr zurückhalten können. Sein Gaumen war trocken und brannte wie Feuer. Sein Kopf dröhnte. Ganze Schmiedewerke hämmerten dort auf ihren ehernen Werkzeugen herum und brachten ihn dazu, dass er immer wieder zusammenfuhr, sobald ein Geräusch ertönte.

Bluthunger konnte aus dem gelassensten Vampir eine rasende Bestie machen. Wenn die Gier nach einem griff und den Verstand ausschaltete, war er verloren. Wie die Dämonen gab er sich dann nicht mehr nur mit einigen Schlucken Blut zufrieden, sondern saugte sie gänzlich aus oder nährte sich sogar an ihrem Fleisch. Das war der Tod für jeden Vampir.

Archer unterdrückte das Brennen in seiner Kehle und dem aufbegehrenden Magen. Wenn er daran dachte, sich einem anderen Mann zu nähern, wurde ihm übel.

Wie damals, als er in die Pension gestürzt war und das Blut des Freiers wieder ausgekotzt hatte.

Wie benommen wanderte er zurück, ließ das Örtchen Haar hinter sich, wo er den Verletzten zurückgelassen hatte, und marschierte mit ausholenden Schritten den leuchtenden Punkten in der Ferne entgegen. München leuchtete wie ein ganzer Schwarm Glühwürmchen. Vom Weltall aus musste es gigantisch aussehen. Doch im Moment hatte er wenig Sinn für die Romantik, die hinter diesem beeindruckenden Anblick steckte. Er sehnte sich nach seinem Geliebten.

Nikolas.

Der Name war wie Balsam für seine Seele und ein Aphrodisiakum für seine Libido. Sein Schwanz pochte, allein schon, wenn er sich diesen Namen durch die Gedanken rinnen ließ, sich dessen Lächeln vorstellte, jenes, das er ihm geschenkt hatte, kurz bevor er ihn den weißen Wolken übereignet hatte. Es war so voller Liebe gewesen, hatte sein Herz berührt und ihn mit Wärme erfüllt.

Archer blieb stehen und sank auf die Knie. Mühsam musste er den Schauder bekämpfen, der ihn überkam.

Es war so unfair. Kaum dass sie sich nach etlichen Anfangsschwierigkeiten gefunden hatten, war ihm Nikolas wieder genommen worden.

In den Tiefen der Tasche seines Ledermantels vibrierte sein Handy. Archer ignorierte es. Wenn er in diesem Zustand das Gespräch annahm, würde er erneut Ziel von Hohn und Spott werden. Nicht, dass er Angst davor hatte, von seinen Brüdern wegen seines Liebeskummers aufgezogen zu werden. Sie behandelten ihn schon immer als Nesthäkchen, da er der jüngste der fünf Brüder war. Aber Archer war inzwischen 380 Jahre alt und kein Baby mehr.

Obwohl er sich manchmal so fühlte.

Wie in diesem Moment.

Verdammt! Er war ein Mann. Ein Vampir. Ein Krieger, den die Menschen fürchteten. Er sollte gefälligst die Arschbacken zusammenkneifen und sich auch so benehmen.

Mit einem Fluch sprang er auf die Beine und eilte weiter.

Doch keine zwei Schritte später blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen, hob die Nase in den Wind und inhalierte den Duft, den er unversehens eingefangen hatte. Ein Prickeln erfasste ihn, das ihn schon lange nicht mehr überkommen hatte. Seine Sinne vibrierten. Jede Faser seines Körpers reagierte auf diesen Duft, vor allem sein Schwanz, der beinahe schlagartig anschwoll und sich gegen die enge Lederhose stemmte.

Er war es.

Kein Zweifel.

Er war zurück.

Nikolas.

Aber die Duftspur war schwach, als sei sie Wochen alt und bereits vom Wind stark verstreut. Sie war hauchdünn und kaum festzuhalten, wie ein seidiger Spinnenfaden. Als Archer dem Geruch folgen wollte und ein paar Schritte in die Richtung machte, aus der sie vermeintlich kam, verflog sie. Ein seichter Wind war aufgekommen. Die Duftspur damit verwischt.

Hatte er sich getäuscht? War der Duft noch von Nikolas übrig geblieben? 18 Jahre lang? Archer glaubte es nicht. Die Hoffnung klammerte sich an diesen Gedanken. Seine Sehnsucht krallte ihre scharfen Krallen hinein und war nicht gewillt, loszulassen.

Daher ging er zu der Stelle zurück, an der er die Duftspur aufgenommen hatte, sie war jedoch verschwunden. Der Wind hatte sie vollkommen auseinandergetrieben.

Er musste sich getäuscht haben. Offenbar war der Kreis doch noch nicht geschlossen.

 

 

3

 Mit einem Fußtritt katapultierte Nick die Haustür ins Schloss. »Bin da, wer noch?«, brüllte er laut seine Begrüßung heraus. Auch wenn er längst das Interesse an stupiden, uralten Dinosaurier-Vorabendserien verloren hatte, blieb dieser Spruch als Running Gag hängen. Doch entgegen zu früher antwortete ihm heute niemand, denn seine Mutter war arbeiten. Außer dem verfressenen Kater Nikodemus befand sich keine Seele im schmalen Reihenhäuschen weitab des wirklichen Lebens von München. Die Zeiten, in denen das Tier freudig angelaufen kam und schnurrend um die Beine strich, waren längst vorbei. Denn der zog es inzwischen vor, majestätisch von der obersten Empore seines Kletterbaumes herunterzublicken und seine Mitbewohner gerade mal mit einem Zucken der Schwanzspitze zu würdigen. Wie das leicht übergewichtige Vieh da hinaufkam, war Nick jedes Mal ein Rätsel. Genauso wie es immer mehr an Gewicht zulegen konnte, obwohl es schon seit Jahren auf Diät gesetzt war. Vermutlich hatte es in der Zwischenzeit zahlreiche, gut gefüllte Depots angelegt, aus denen er sich bediente, wenn er glaubte, zu verhungern, oder erbettelte sich bei Nachbarn Notrationen. Auf dem Weg vom Eingang zur Küche kam Nick am Wohnzimmer vorbei, warf einen Blick hinein und entdeckte das rotbraune Fellbündel auf seinem Lieblingsplatz.

»Ich freu mich auch, dich wiederzusehen, Nikodemus«, trällerte Nick ihm halbherzig entzückt entgegen, lachte leise auf und begab sich in die Küche, um etwas für seinen knurrenden Magen zu suchen. Als halbwüchsiger Teenager in der Endphase der Pubertät konnte er Essen wie ein Scheunendrescher vernichten und war dennoch ständig hungrig. So raffte er sich einige Sachen aus dem Kühlschrank und eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch. In seinem Zimmer warf er seinen Rucksack neben dem Schreibtisch auf den Boden und machte es sich mit seiner Beute erst einmal auf dem Bett bequem.

Der Tag hatte schon ziemlich beschissen begonnen. Wegen Personenschadens verspätete sich die S-Bahn massiv, weswegen Nick zu spät in die Schule kam und prompt von seinem Lehrer einen Rüffel und einen Eintrag ins Klassenbuch bekam. Warum musste sich dieser verflixte Selbstmörder ausgerechnet vor die einzige Verbindung zwischen dem Arsch der Welt und dem wahren Leben werfen? Und das in der Nacht vor einem Schultag. Und als ob das noch nicht genug wäre, fanden seine Mitschüler dies eine willkommene Gelegenheit, ihn noch zusätzlich zu triezen. Sie hatten ihn wegen seiner Homoscheiße eh schon auf dem Kieker. Wenn ihm in der Schule ein Missgeschick passierte, artete das stets zur doppelten Strafe aus.

Missmutig knurrend biss Nick in seine Käsestulle und ließ sich rücklings auf das Bett fallen, um einen Moment mit vollen Backen kauend an die Decke zu starren.

In ein paar Wochen wurde er siebzehn. Dann noch ein Jahr, das Abi hinter sich bringen. Danach wartete die große weite Welt auf ihn. Er konnte es kaum noch erwarten, nach dem Gymi auf die Kunstschule zu gehen. Eine Zusage hatte er schon, da seine Zeichnungen dort für großen Anklang gesorgt hatten. Und dann, irgendwann in zehn oder fünfzehn Jahren, wenn er ein berühmter Comic-Zeichner war, würde er auf die Vollpfosten der Q12 abfällig herunterblicken und ihnen ganz süffisant und hämisch grinsend den Mittelfinger zeigen. Nick freute sich schon drauf.

Aber noch viel lieber, als von Walt Disney, Marvel oder Pixar unter Vertrag genommen zu werden, würde er an der Seite seines Lieblingsdämonenjägers stehen und ihn anhimmeln.

Nick entkam ein Kichern und er musste zeitgleich die Glut eindämmen, die ihm bei diesem Gedanken kam. Es war ein Geheimnis, von dem nicht einmal seine Mutter wusste.

Er nahm einen weiteren großen Bissen von seinem Käsebrot, erhob sich vom Bett und ging zum Schreibtisch, wo in der abschließbaren Schublade der kostbarste Schatz lag, den er je gehabt hatte. Seine Finger zitterten bereits vor Erwartung, als er aufschloss und den Papierstapel herausholte, der darin verborgen lag.

Es waren selbst angefertigte Zeichnungen, teils in Farbe, teils lediglich mit Bleistift skizziert. Doch weder Farbe noch Papier waren das Besondere daran, sondern die Motive – genauer gesagt, ein einziges Motiv in zig verschiedenen Ausführungen.

Nick fächerte die Loseblattsammlung auf seinem Schreibtisch aus. Dafür musste er die Tastatur beiseiteschieben und lächelte, als ihm das Gesicht entgegen prangte.

Er. Der Dämonenjäger.

Sein heimlicher Schwarm. Schon seit vielen Jahren.

Der Hüne mit dem langen, dunklen Haar, dem knöchellangen Ledermantel und dem stechenden, dunklen Blick war eines seiner Lieblingsmotive. Auf dem obersten Bild war der heroische Mann allerdings nackt zu sehen, mit schwarzen Schwingen wie ein Engel und einem Ständer, der fast aus dem Bild sprang. Eine seiner ganz persönlichen Wichsvorlagen.

Er war in diesen Kerl verknallt. Bis über beide Ohren in eine fiktive Figur verschossen.

Deswegen gab es dieses Motiv auch in verschiedenen Varianten in höchst anzüglichen Posen, nicht selten mit einem jungen Mann an dessen Seite, der Nick verdammt ähnlich sah. Wenn er daran dachte, wie einfallsreich er es sich auf dem Papier schon von dem Kerl hatte besorgen lassen, wurde ihm ganz anders im Schritt. Der Kerl war einfach der Hammer – aber leider nur virtuell. Er existierte nur in Nicks Kopf.

Oh, das wäre krass, wenn dieser Dämonenjäger, seine eigene Kreation, irgendwann Wirklichkeit werden würde. Nick würde wahrscheinlich vor Schreck sterben und gleich danach den weltbewegendsten Orgasmus bekommen, den je ein fast siebzehnjähriger Schwuler mit fantastischen Flausen im Kopf erlebt hatte.

Dieser Kerl war auch der Grund, warum Nick schon früh merkte, in welche Richtung seine sexuelle Orientierung ging. Anfangs hatte er nur wegen dessen Erscheinung und der Taten von ihm geschwärmt. Taten, die allerdings auch nur Nicks Fantasie entsprungen waren. Als Junge hatte er sogar mit den selbst gezeichneten Bildern gesprochen wie mit einem richtigen Menschen. Auch wenn da sein Dämonenjäger noch lange nicht so ausgereift und explizit dargestellt worden war. Aber er hatte schon als Kind sehr genaue Vorstellungen, wie dieser Mann aussah.

Anfangs stellte diese Figur den Ersatz für den Vater dar, den er nie kennengelernt hatte. Später wurde er zu einem guten Kumpel und irgendwann mutierte er zu Nicks Liebhaber – in fast jedem feuchten Traum. Einen Namen hatte er für ihn nicht. Kein einziger war gut genug. Er war der Dämonenjäger, ein Engel mit schwarzen Schwingen, furchteinflößend und heroisch.

Liebevoll strich Nick über die riesigen, sorgsam detaillierten Flügel, die den Mann über ein brennendes Feld trugen. Das Bild war schon ein paar Jahre alt und noch immer arbeitete er daran, verfeinerte und verbesserte daran herum. Es war eines der ersten Bilder, in denen er den Dämonenjäger nackt gemalt hatte, mit einem Penis, der stark erigiert von dessen Bauch abstand. Erinnerungen keimten auf, wie er beim Zeichnen hochrot angelaufen war und ständig zur Tür linste, aus Angst, seine Mutter stürmte herein und überraschte ihn bei seinem Tun. Beim Ausfertigen des männlichen Glieds hatte er selbst einen so massiven Ständer bekommen, dass er sich selbst befriedigen musste. Wenn seine Mutter es mitbekommen hätte, hätte sie ihm bestimmt eine gewaltige Standpauke gehalten. Aber sicher nicht, weil er sich schon mit gerade mal fünfzehn selbst einen herunterholte, sondern weil er sich am Bild eines nackten Mannes aufgeilte. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass ihr Sohn homosexuell ist. Ein paar Wochen später hatte er es ihr schließlich gestanden. Ohne Angst war er vor sie getreten. Er hatte noch nie Angst vor seiner Mutter gehabt und ihr selbst die intimsten Geheimnisse anvertraut. Ihr Verhältnis zueinander war sehr eng. So verbarg auch sie nichts vor ihrem Sohn. Offenheit, Ehrlichkeit, Vertrauen und viel Liebe. Daraus bestand ihre Erziehungsmethode. Er hatte nicht einmal Herzklopfen, als er eines Abends zu ihr ins Wohnzimmer kam, sich neben sie setzte und es ihr erzählte. Dieser Abend hatte viel zwischen ihnen verändert, aber nicht im negativen Sinne. Sie war nahezu erleichtert gewesen, weil sie offenbar schon einen Verdacht gehegt hatte. Aber seither schien sie zu ihren üblichen Methoden noch übertriebene Fürsorge gefügt zu haben, denn er konnte kaum aus dem Haus gehen, ohne ihr explizit und detailgenau schildern zu müssen, wohin er ging, wie lange er gedachte fortzubleiben und mit wem er sich traf. Dabei ging es ihr nicht darum, ihn zu kontrollieren. Es war fast schon lachhaft. Nick entkam tatsächlich ein Kichern, als sie ihm den Grund für das Geschenk nannte, das sie ihm am Tag darauf machte. Ein Päckchen mit Kondomen in allen Farben und Größen. Seither brachte sie ihm bei fast jedem Einkauf neue mit, obwohl er nicht einmal Gelegenheit gehabt hatte, die ersten aufzubrauchen. Sie machte sich Sorgen, dass man ihrem Sohn wehtun und er sein Herz an den Falschen verlieren könnte. Es war rührend, und dennoch erstickte Nick so manches Mal an ihrer Fürsorge. Er liebte sie trotzdem seit diesem Abend mehr als sonst, weil sie ihn einfach so nahm, wie er war, es akzeptierte, dass er anders war und weil sie ihn auf ihre ganz besondere Weise unterstützte.

Sie unterstützte ihn auch bei seinem Hobby, schickte ihn auf Workshops und Zeichenkurse, besorgte ihm alle Malutensilien und Geräte, die er für seine Leidenschaft brauchte, auch wenn damit das ohnehin knappe Haushaltsgeld noch knapper wurde. Sie begleitete ihn auf Ausstellungen, auf Comic-Cons und hatte ihm Mut zugesprochen, als er sich für die Kunstschule angemeldet hatte.

Nur vom Dämonenjäger wusste sie nichts.

Nicks Finger zitterten, als er die Federn zärtlich streichelte, über die kräftigen Schwingen zum Brustkorb überging und langsam tiefer wanderte. Im Laufe der letzten Monate hatte Nick dieses männliche Geschlechtsteil noch etwas besser ausgearbeitet und größer und imposanter gemacht. Und jedes Mal, wenn die Bleistiftspitze es berührte, durchzuckte ihn ein heißer Blitz, der direkt in seine eigene Körpermitte fuhr.

Brennende Sehnsucht erfüllte ihn. Wenn er die Augen schloss und sich vorstellte, wie er in den Armen dieses Engels lag, konnte er es tatsächlich fühlen. Er spürte die Kraft, die von diesem Mann ausging. Mehr als einmal wünschte er sich, er könnte ihn wahrhaftig berühren, die stahlharten Muskeln drücken und einen Kuss auf die Lippen setzen, die ihn sinnlich anlächelten. Allein bei diesem Gedanken wurde er schon wieder hart. Nick räusperte sich, öffnete die Augen und blickte sich nervös um. Er war allein, niemand konnte ihn bei seinen unkeuschen Gedanken beobachten. Er kicherte leise. Oh, wenn seine Mutter nur wüsste …

Und wenn sie von dem Elternbrief wüsste, den er heute mitbekommen hatte, würde sie vermutlich mit einem Seufzen an den Küchentisch sinken und sich überlegen, welche der dringenden Ausgaben sie streichen konnte, um ihren Sohn an der Abschlussfahrt nach Paris teilnehmen lassen zu können.

Geld war bei ihnen schon immer knapp gewesen. Um sich das Leben am Rand von München leisten zu können, hatte seine Mutter oft mehrere Jobs angenommen. Wenn das Einkommen nicht ausreichte oder größere Reparaturen am Haus finanziert werden mussten, hatten sie sogar Zimmer untervermietet. Aber dies machte sie nur in aller größter Not, weil es ihr nicht gefiel, Fremde ins Haus zu lassen. Seit Nicks Outing hatte es erst recht keinen Untermieter mehr gegeben. Vermutlich würde sie es trotzdem wagen. Aber er wusste, wie schwer es ihr fallen würde. Daher musste er sich etwas einfallen lassen. Sein Blick fiel auf das Bild vor ihm.

Hitze durchzuckte ihn. Er hatte schon öfter selbst gemalte Bilder auf Cons oder an Comic-Verlage verkauft. Aber meist brachten sie nicht mehr als ein paar Euro. Den bisher höchsten Preis von fünfzig Euro hatte er für ein Fan-Bild erzielt, das ein Liebhaber bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Er war in der Szene noch relativ unbekannt, jedenfalls nicht so bekannt wie manch andere begabte Zeichner, die für ihre Kunst mehrere hundert Euro oder gar tausende verlangen konnten. Vielleicht war es ein Versuch wert, sagte er sich aufmunternd. Mehr als durchfallen konnte er nicht.

Aber nein. Seinen größten Schatz konnte er nicht hergeben. Dieser Dämonenjäger war nicht zu verkaufen.

Dennoch musste er sich etwas einfallen lassen, um ihre spärliche Finanzen zu schonen. Er konnte von seiner Mutter nicht verlangen, dass sie Überstunden schob oder keinen Schlaf in der Nacht fand, weil fremde Leute im Haus waren. Sie hatte schon genug für ihn getan, sich ihr ganzes Leben lang für ihn aufgeopfert und zurückgesteckt, damit er es besser hatte. Jetzt war er an der Reihe, etwas zu tun und sich den Aufenthalt in Paris selbst zu finanzieren.

Daher legte er das kostbare Bild zurück in die Schublade und holte andere Skizzen und Zeichnungen heraus, um sie einzuscannen und sie auf Auktionsplattformen und Kunstseiten anzubieten.

 

4

»Ist dir schon etwas Seltsames am Verhalten der Dämonen aufgefallen?«

Archer betrat nach Christof das Arbeitszimmer seines Vaters und nickte.

»Verdammt viele Zombies unterwegs«, antwortete Barton statt seiner.

»Und ich dachte immer, die Biester sind zu eitel dafür«, meldete sich Tomas zu Wort. »Weil die dann nicht einfach puff-und-weg machen können.«

Barton lachte und schlug seinem Cousin auf die Schulter. »Das kratzt an deiner Kriegerehre, was? Dass die sich einfach in Rauch auflösen können und du nicht schnell genug bist, sie zu erwischen.«

»Ich hab letztes Jahr mehr Dämonen erledigt als du«, maulte Tomas.

»Genau einen einzigen.«

»Und du hattest auch nur zwei«, warf Luthor ein. Seit ihre Direktive hieß, die Dämonen nur zu beobachten, hatte sich die Anzahl der Kämpfe weitgehend auf null eingependelt. Archer verzog das Gesicht. Seit dem Zwischenfall in Haar, wo er zum ersten Mal auf solche Untoten gestoßen war, gab es inzwischen auffallend mehr Begebenheiten. Auf Zombies, wie jene Dämonen in Vampirkreisen genannt wurden, die sich des Körpers eines Menschen bemächtigten, war er in den darauffolgenden Tagen immer öfter gestoßen. Offenbar machte es unter diesen Kreaturen nun die Mode. Das Grauenvolle daran war jedoch, dass der befallene Mensch dafür sein Leben geben musste. Und deswegen hatten ihnen die Vampire eine Grenze zu setzen.

»Das macht weltweit die Runde«, bemerkte Damon wissend, rückte sich einen der mit rotem Samt gepolsterten, antiken Stühle zurecht und ließ sich nieder.

»Was?«, warf Tomas ein. »Dass Barton keine Dämonen töten kann?«

Christof kicherte hämisch und erhielt dafür von seinem jüngeren Bruder einen Rempler gegen den Oberarm.

»Die Dämonen benutzen vermehrt menschliche Körper«, erläuterte Luthor ohne auch nur einen Hauch von Heiterkeit. Es war ihm verdammt ernst mit dem, was er nun zum Besten geben wollte. »Damit machen sie sich bewusst langsamer und angreifbarer für uns. Aber da wir die Kreaturen genau kennen, muss ein triftiger Grund dahinterstecken, den wir unbedingt herausfinden müssen.«

»Vielleicht gefallen sie sich nicht mehr als Rauchschwaden.« Fargo, der Jüngste in der Runde, der Sohn von Luthor und der dunkelhäutigen Schönheit Soma, hatte sich neben seinen Vater postiert und verschränkte nun die Arme vor der Brust, als ihn alle ansahen. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren galt er in Vampirkreisen noch als Kind. Dennoch nahm ihn sein Vater gelegentlich bei Einsätzen mit und trainierte ihn bereits für seinen späteren Beruf als Vampirkrieger. Er war auch bei fast allen Einsatzbesprechungen dabei, obwohl er nur selten mit zu den wirklich bedeutsamen Aufträgen gehen durfte. Seine dunklen Augen, die denen seiner Mutter sehr glichen, begegneten dem Blick der Erwachsenen ohne Scheu oder Reue. Wie fast alle Heranwachsenden konnte auch Fargo es kaum noch erwarten, endlich richtig mitmischen zu dürfen.

»Die Dämonen sind eitel«, sagte Damon. »Bisher versuchten sie sich im Gruseloutfit zu übertrumpfen. Aber es scheint tatsächlich ein Wandel einhergegangen zu sein.«

»Vielleicht sind die Menschen in ihren Augen jetzt gruseliger als noch vor fünfzig Jahren.« Tomas verzog amüsiert die Mundwinkel, lehnte sich zurück und warf seinem Partner Barton einen verschmitzten Blick zu. »Ich meine, manche von ihnen sind grausamer und skrupelloser zu ihrer eigenen Art als so mancher Dämon.« Plötzlich kicherte er los. »Modische Dämonen … Gehen Sie mit der Zeit. Schlüpfen Sie in einen attraktiven, gesunden, jungen Menschen und verwandeln Sie sich allmählich in eine stinkende, matschige Fleischhülle. Die Maden und Schmeißfliegen werden Sie unwiderstehlich finden.« Er lachte laut auf, doch ein strenger Blick von Luthor ließ ihn wieder verstummen.

»Unser Findelkind hat gar nicht so unrecht«, warf Damon ein.

»Ich bin kein Findelkind«, protestierte Tomas entrüstet. »Nicht mehr.«

»Hat er tatsächlich nicht«, meldete sich nun endlich Herb Falcon zu Wort. Die Stimme des Mannes lenkte die Aufmerksamkeit der Brüder augenblicklich in seine Richtung. Damon setzte sich sofort gerader und auch Barton richtete sich aufrechter, als das Oberhaupt ihrer Familie das Wort ergriff. »Die anderen Clans melden dieselbe Entwicklung. Es scheint unter diesen Kreaturen wirklich Mode geworden zu sein. Warum sie ihren einzigen Vorteil uns gegenüber dafür aufgeben, ist noch unklar. Aber da es offenbar immer mehr gibt, die sich einer menschlichen Hülle bemächtigen, ist dahinter eine Strategie zu vermuten. Nur welche genau, liegt noch im Dunklen. Sicher ist jedenfalls, dass Menschen dafür sterben müssen. Und dies ist inakzeptabel. Daher wird es unsere Aufgabe sein, die Dämonen daran zu hindern, neue Körper zu nehmen.«

»Das tun wir ohnehin schon«, warf Christof ein. »Das Verschwinden von immer mehr Menschen bleibt auch bei ihnen nicht unbemerkt. Ich verfolge die Polizeiberichte und Vermisstenanzeigen. Es werden immer mehr. Die Zahl explodiert förmlich.«

»Vor rund zwanzig Jahren haben sie auch ihr Verhalten geändert und sind scharenweise aus ihren Löchern gekrochen gekommen«, kam es von Luthor. Sein Blick glitt dabei zu Archer, der bisher geschwiegen hatte.

Alle Augen wanderten zum jüngsten der Falcon-Brüder. Doch der schüttelte nur langsam den Kopf. Dass diese Veränderung etwas mit einer eventuellen Rückkehr von Nikolas zu tun hatte, bezweifelte Archer. Er hätte es wissen oder zumindest spüren müssen. Irgendwo tief in seinem Inneren, in seinem Herz, in seiner Seele, die sich über die wiedergewonnene Liebe freute. Aber da war nichts. Gähnende Leere. Ein tiefes Loch, das noch immer vor Schmerzen schrie und in das er Tag für Tag tiefer versank. Abgesehen von dem Vorfall bei Haar, wo er gedacht hatte, endlich Nikolas’ Duft aufgenommen zu haben. Inzwischen war er davon überzeugt, dass ihm die Sehnsucht nach dem Studenten und die Trauer um seinen Tod einen ganz fiesen Streich gespielt hatten. Im Internet war nichts zu finden. Keine auffälligen Dämonenbilder, keine Fratzen, wie Nikolas sie genannt hatte. Die Suchroutinen, die seit vielen Jahren unermüdlich sämtliche Auktionsplattformen durchforsteten, blieben ergebnislos.

Der antike Biedermeierstuhl unter ihm knirschte, weil sich der hundert Kilo schwere Vampir vor Blutdurst und Verlangen verkrampfte und seinen Rücken unwillkürlich in die Lehne drückte. Vielleicht war die Last des Verlustes nun so schwer geworden, dass der alte Stuhl es nicht mehr zu tragen vermochte. Ein Lächeln wollte sich auf sein Gesicht stehlen, als Erinnerungen in ihm aufkamen. Ein Bild von Nikolas und ihm, wie sich der Kunststudent in einem Aufenthaltsraum für Bahnbedienstete auf seinen Schoß gesetzt hatte und der einfache Alurahmenstuhl unter ihrer beider Gewicht zusammengebrochen war. Es war eine lächerliche Szene, die Archer aber auch vor Augen hielt, wie sehr er Nikolas manipuliert und damit gegen sich aufgebracht hatte.

Musste er noch einmal hundert Jahre warten, bis sein Geliebter zu ihm zurückkehrte? Archer schüttelte unbewusst den Kopf. Nein, er wollte das nicht. Er konnte es nicht noch einmal ertragen, so lange allein zu bleiben.

»Archer?« Die Stimme seines Vaters riss ihn in die Wirklichkeit. Er musste sich arg am Riemen reißen, um sich nicht ruckartig zu bewegen und mit seinem Verstand und der Aufmerksamkeit zur Besprechung zurückzukehren.

»Nein, nichts«, erwiderte er bedauernd, ein Tonfall, den er einfach nicht verbergen konnte. Oh, wie er sich nach Nikolas sehnte, nach seiner Wärme, nach seiner Nähe, nach seiner Stimme – auch wenn sie ihm manchmal nicht sehr nette Dinge an den Kopf geworfen hatte. Er erinnerte sich an das Lächeln, das er ihm schenkte, kurz bevor er den sterbenden jungen Mann in die Ewigkeit entlassen hatte. Dieses Lächeln gab ihm Kraft, durchzuhalten. Es schürte aber auch seine Sehnsucht an und zerrte an seiner Selbstbeherrschung. Die Duftspur war wie Zunder für seine Gedanken, Erinnerungen und Begierden. Sie hatte sie aufleben lassen, mit neuem Leben erfüllt und ließ sie nun stärker denn je in ihm wüten. Aber er konnte dem nicht nachgeben. Es war nur ein Trugschluss gewesen, eine Täuschung seiner Sinne, hervorgerufen von dem Seelenschmerz, der ihn so manche Tage durchwachen und keine Ruhe finden ließ. Unnötig, seiner Familie von der Duftspur zu erzählen. Denn er hatte es sich nur eingebildet.

»Er kann ja überall auf der Welt auftauchen«, meinte Christof. »Wenn Thoron die Wahrheit gesprochen hat, wird er zurückkommen. Irgendwann.« Eine Hand legte sich tröstend auf Archers Schulter. »Ihr seid füreinander bestimmt. Also wird er zur Stelle sein, sobald seine Zeit gekommen ist.«

Der jüngste der fünf Brüder zwang sich zu einem Nicken. Dessen Hoffnung hing an einem hauchdünnen Faden und drohte jeden Tag zu reißen und in die kalte, finstere Verzweiflung abzustürzen. Seit dem Vorfall in Haar mehr denn je. Achtzehn Jahre, in denen nicht ein verdammter Tag vergangen war, an welchem er nicht vor Schmerz hätte aufschreien wollen.

»Wir halten auch unsere Augen und Ohren auf«, versprach ihm Barton und nickte seinem jüngeren Bruder zuversichtlich zu.

Auch wenn sich Archer geehrt fühlte, dass sich seine Familie so viel Sorgen um ihn machte, gaben sie ihm damit doch stets das Gefühl, ein Kleinkind zu sein. Ein Knurren entkam ihm, das er jedoch gewaltsam wieder zurückdrängte.

Herb Falcon schien den Ärger zu spüren, der in seinem Sohn heranwuchs, und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Ich habe mit anderen Clanoberhäuptern gesprochen, wie auch mit den Vorständen der kleineren Familien«, begann er und ließ seinen Blick über die Schar vor seinem Schreibtisch gleiten. »Wir brauchen jeden Krieger, um die Dämonen zu kontrollieren. Daher werden wir neue Mitglieder anwerben. Die Last kann nicht nur auf den Schultern der Clans liegen.«

Luthor und Christof richteten sich gerader, beugten sich sogar ein Stück vor und sahen ihren Vater überrascht an.

»Ist das eine Order aus China?«, erkundigte sich Damon verwundert.

»Nein.« Herb schüttelte langsam den Kopf. »Das ist eine Entscheidung unter den Oberhäuptern.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die in ihrer Seniorenresidenz auch nur einen Gedanken für die Zombies übrig haben. Die hatten nicht einmal wegen des Aufgebots bei Nikolas’ Auftauchen etwas zu sagen.« Barton fauchte abfällig und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch ein strafender Blick seines Vaters ließ ihn die Arme wieder herunternehmen.

»Die in ihrer Seniorenresidenz …«, wiederholte Herb mit schneidendem Tonfall und verschärfte seinen Blick noch mehr, als Barton sich mit einem Zischen gegen die Maßregelung zur Wehr setzte, »sind vielleicht auch irgendwann mal deine Zukunft. Dieses respektlose Verhalten gegenüber den Ältesten unserer Rasse ist nicht akzeptabel. Hast du mich verstanden, Barton?«

Der Angesprochene zögerte nur minimal. »Ja, Vater.« Er zeigte jedoch keinerlei Reue, sondern kniff nur die Lippen zusammen und entgegnete dem strengen Blick des Mannes trotzig.

»Außerdem unterstehen wir nur einem und nur dieser hat uns etwas vorzugeben.« Herb schob seine Finger auf der Tischplatte ineinander und bedachte jeden Einzelnen im Raum mit einem strengen Blick. »Ich bin mir bewusst, dass die Jugend euch so manches vergessen lässt. Doch keiner von euch sollte unterschätzen, was wir wirklich sind. Die Dämonen sind unsere Brüder und stammen vom gleichen Blute ab. Nur ihr Ziel und die Art und Weise, wie sie ihr Leben gestalten, unterscheidet uns von ihnen.«

»Und noch so ein paar weitere Dinge«, warf Tomas ein. Mutig hob er sein Kinn an, als ihn alle Blicke trafen. »Sie sehen anders aus, haben andere Fähigkeiten und betrachten die Menschen als niedere Lebensformen. Sie nehmen sich nicht nur das, was sie zum Überleben brauchen, sondern nutzen sie aus und scheuen sich nicht davor, ihnen das Leben zu nehmen.«

»Und sie stinken«, fügte Fargo trocken an, worauf er einen Rempler von seinem Vater erhielt.

Ein Schmunzeln huschte um Herbs Lippen. Er hatte sich jedoch im Griff und bedachte den Jüngsten in der Runde mit einem kurzen, strengen Blick.

»Ein paar Clans in Stockholm und Oslo haben bereits begonnen, neue Krieger auszubilden«, fuhr Herb fort, »Hermann Kreutzer hat sich ebenso bereit erklärt, neue aufzunehmen. Das sollten wir auch tun …«

»Kreutzer?« Christof stieß ein verächtliches Zischen aus, worauf sein Vater abbrach. »Dem Kerl sollte das Revier entzogen werden. Er hat zahlreiche Menschen versklavt und sie den Dämonen als Blutwirte verschachert. Er ist dick in Drogen- und Menschenhandel verstrickt. So jemand sollte nicht noch mehr Krieger zur Hand haben. Ich verstehe nicht, warum man ihm nicht schon längst das Handwerk gelegt hat.«

»Weil die Entscheidung hierfür nicht bei uns liegt«, erwiderte Herb scharf.

»Bei wem dann? Den Alten oder ihm.« Als Herb nicht antwortete, sprach Christof weiter. »Wir haben eine ganz andere Aufgabe auf den Weg mitbekommen, als dieser Kreutzer nun praktiziert. Dank seiner missratenen Bastards ist Nikolas doch erst zu Schaden gekommen. Wenn sie nicht gedacht hätten, sich eine Scheibe davon abschneiden oder sich die Lorbeeren ans Revers nageln zu können, wäre der Eine noch am Leben.« Damit bedachte er Archer mit einem mitleidigen Blick, in dem aber auch deutlich zu erkennen war, dass er sich die Bestätigung für das Gesagte holen wollte.

Archer reagierte nicht, sondern starrte einfach vor sich ins Leere. Es war müßig, darüber zu diskutieren, ob es geschehen wäre, wenn sich die Kreutzers nicht eingemischt hätten. Vielleicht wäre es auch nicht eingetroffen, wenn Archer brav gewartet hätte, bis Nikolas eines Tages von ganz allein in das Falcon-Revier gekommen wäre. München war groß, aber nicht so groß, um sich sein Leben lang nur in einem kleinen Teil davon aufzuhalten. Doch die Geduld hatte er nicht aufbringen können. Vielleicht war es so, wie Thoron ihm gesagt hatte, dass sich der Kreis immer schließen würde. Dass er stets aufs Neue brach und sich wieder zusammenfügte.

Er musste nur warten.

Aber genau das konnte er nicht mehr länger.

Er erhob sich. Sämtliche Augen flogen zu ihm und blickten ihn fragend an. »Roman hat dafür seine Strafe erhalten«, gab er finster von sich. Archer ärgerte sich lediglich darüber, dass nicht er es gewesen war, der diesem Bastard den Hals aufgerissen hatte. Es wäre ihm eine Genugtuung gewesen, diesem Maulhelden persönlich die Kehle zu zerfetzen und seelenruhig dabei zuzusehen, wie er langsam ausblutete und das Leben aus ihm entwich.

»Hat sich Thoron irgendwann mal wieder gemeldet?«, erkundigte sich Damon unvermittelt.

Archer blinzelte, weil er geistig noch dabei war, seine Krallen in die Halsschlagader des Kreutzer-Sprosses zu schlagen. Dann schüttelte er den Kopf. Das letzte Mal, dass er seinen einstigen Geliebten gesprochen hatte, war in der Nacht, kurz bevor er Nikolas gehen ließ.

»Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt noch am Leben ist. Seine Worte klangen, als hätte er ein weiteres Abkommen getroffen.« Wehmut erfasst ihn. Sein Herz hing trotz allem noch an diesem Holländer, den er einst vor dem Selbstmord bewahrt hatte. Thoron van Bottgan hatte sein Leben für die Liebe, für Archer Falcon geopfert, damit dieser sein Schicksal erfüllen konnte.

»Es wäre nützlich, einen Spion unter den Dämonen zu haben.«

»Thoron ist jetzt ein Dämon«, erinnerte ihn Archer, als wäre damit alles erklärt.

»Und er liebt dich noch immer.« Damon begegnete dem Blick seines jüngeren Bruders ungerührt. Schließlich erhob er sich, kam zu Archer und sah ihn nun mit einem weichen Zug um die Mundwinkel an. »Besteht eine Möglichkeit, Kontakt mit ihm aufzunehmen?«

Archer schüttelte den Kopf. Er wollte dies auch nicht, weil sein früher so hübscher Liebhaber nun eine Mischung aus Wolf und Bär war, dessen Gesicht nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem Bild aus seinen Erinnerungen hatte, und weil es ihm glühende Dolche ins Herz jagte, ihn so zu sehen. Er konnte diesen Anblick nicht ertragen. Es hielt ihm vor Augen, dass er nichts dagegen unternommen hatte, um Thoron von dem Glauben abzubringen, er wäre der Eine. Nur diese Überzeugung hatte ihn dazu getrieben, diesen fatalen Kuhhandel mit Komunibaag einzugehen.

»Schade«, sagte Damon betrübt und klopfte ihm kurz auf die Schulter. »Wäre echt hilfreich gewesen.« Er wandte sich um und nickte seinen Brüdern zu. »Die Dämonen scheinen heute Nacht nicht auf Einkaufstour zu sein. Es ist alles ruhig. Dafür treiben es ein paar durstige Vampire zu bunt. Wer begleitet mich ins Blue Velvet

Tomas’ und Bartons Hände schnellten sofort hoch. Fargo gesellte sich nur einen Augenblick später hinzu, worauf er von seinem Vater ein warnendes Knurren erhielt und sich wieder zurückzog. Mit einem verschmitzten Grinsen drehte sich Damon zu Archer um. »Du auch!«, verfügte er.

»Warum ich?« Archer blieb stehen wie eine Wand, als ihn Damon in Richtung Ausgang schieben wollte. Er hatte keine Lust, sich in schmierigen Nachtclubs mit halbwüchsigen Vampiren herumzuschlagen, die einen über den Durst getrunken hatten.

»Weil du dringend mal ausgelüftet gehörst. Sobald das Thema zu Nikolas oder Thoron wandert, krieg ich einen so massiven Ständer, dass ich viel lieber Florence ins Bett werfen würde, als mich auf Dämonenjagd zu begeben.«

Tomas und Barton prusteten laut los. Fargo kicherte verlegen und drehte seinen Kopf zur Seite. Man konnte die Röte in seinem Gesicht trotz des gewohnt karamellfarbenen Teints erkennen. Auch Christof und Luthor vermochten ihr Grinsen nicht vollends zu unterdrücken. Herb Falcons Miene blieb jedoch ungerührt, obwohl ihn die pheromongeschwängerte Luft in seinem Arbeitszimmer sicher nicht gänzlich kaltließ. Ein kaum merkliches Zucken eines Mundwinkels verriet, dass er arg mit seiner Selbstbeherrschung ringen musste.

Archer stieß einen unflätigen Fluch aus, wirbelte herum und rauschte mit weit ausholenden Schritten aus dem Arbeitszimmer. Der Saum seines langen, schwarzen Ledermantels flatterte dabei hinter ihm her und erweckte den Eindruck, als seien ihm Flügel gewachsen. Er hatte gehofft, dass die Hitze, die ihn jedes Mal unvermittelt befiel, sobald er an Nikolas auch nur dachte, nicht zu bemerken war. Der Granitblock in seiner Hose war jedoch nicht zu übersehen. Er flüchtete regelrecht nach draußen, wo ihn die herbstliche Nachtluft empfing und sein Gemüt ein klein wenig herunterkühlte.

»Mach dir nichts draus«, versuchte Barton ihn zu trösten und schlug ihm kumpelhaft an die Schulter. »Jetzt hast du jedenfalls genau das richtige Odeur, um die hitzköpfigen Blutsauger abzulenken, bis wir sie aus dem Lokal geschafft haben.«

»Du kannst mich mal!«, zischte Archer und schlug die Faust weg, die ihm noch einmal gegen die Schulter schlagen wollte.

»Ich liebe dich auch«, kommentierte Barton trocken und lachte laut auf, drehte sich um und winkte Tomas zu sich. Der empfing ihn mit einer zu einem High five auf Kopfhöhe gehaltenen Handfläche, worauf Barton die seine hinein klatschte. Dann lachten sie gemeinsam und rannten los, von einem Augenblick zum anderen verschwunden. Vampire waren so schnell, dass selbst das Auge eines Artgenossen Schwierigkeiten hatte, sie zu erfassen.

Damon schob sein Handy in die Gesäßtasche seiner schwarzen Cargo-Hose, an deren Gürtel es vor Waffen nur so strotzte. Breit grinsend rückte er das Halfter mit der Halbautomatischen zurecht und gesellte sich zu Archer. Vampire brauchten eigentlich keine Waffen. Sie waren selbst eine Waffe, sobald ihre Fangzähne und Krallen ausgefahren waren. Sie wussten jedoch die Annehmlichkeiten und Vorteile der modernen Waffentechnik sehr zu schätzen. Selbst Archer verließ das Haus nie ohne seine Titanklingen und einige Pistolen am Gürtel.

»Dann wollen wir mal«, rief Damon auf und rannte los.

Kein Auto war so schnell wie ein Vampir. Erst recht nicht durch den dichten Münchner Stadtverkehr, der selbst zu dieser späten Stunde nicht versiegen wollte. Von ihrem Sitz in Grünwald bis in die Innenstadt würden sie zu Fuß nur etwa ein Viertel der Zeit brauchen.

Archer seufzte leise, nahm einen tiefen Atemzug und setzte sich endlich in Bewegung.

Impressum

Texte: (c) Ashan Delon
Cover: Caros Coverdesign
Lektorat: Ingrid Kunantz, Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2018

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