Mit ungefähr Zehn hatte Ailen das letzte Mal einen Fuß über die Torschwelle nach Wejym gesetzt. Damals war ihm die Hauptstadt des Landes wie ein stinkender, lauter, überfüllter Sündenpfuhl vorgekommen. Auch heute, 15 Jahre später, graute es ihn davor, sich der Stadt zu nähern oder gar das Tor zu durchschreiten. Schon auf der Zufahrtsstraße hatte er gegen den Strom von Menschen und Wesen, die entweder nach Wejym wollten oder von dort abzogen, ankämpfen müssen. Wie vor 15 Jahren wütete auch an diesem Tag ein nasskalter Herbststurm über der Stadt, verwandelte die Straßen in morastige Fallen und ließ die Kleidung bald feucht und klamm am Körper kleben. Es stank fürchterlich. Ailen rümpfte die Nase, versuchte, so flach wie möglich zu atmen und seinen Kopf unten zu halten. Nicht nur, damit der Regen ihm nicht in die Augen peitschte. Er musste unerkannt bleiben, zumindest bis er seinen Auftrag erledigt hatte.
Die Erinnerungen an den ersten Besuch in Wejym war mindestens so grauenvoll, wie die Angelegenheit, die er hier zu erledigen hatte. Seine Familie, sein ganzes Dorf war bei einem Massaker durch Trolle umgekommen. Er überlebte als Einziger, weil ihn sein Vater in einen Brunnen geworfen hatte. Fahrende Kaufleute hatten ihn entdeckt und nach Wejym gebracht, wo es ein Waisenhaus gab. Als Mischling hatte es Ailen nicht einfach. In der Abgeschiedenheit seiner Heimat, wo sich die verschiedensten Wesen freundlich begegneten oder gar ineinander verliebten, hatte er ein weitgehend sorgenfreies Leben geführt. Doch in der Hauptstadt galt er als Abschaum, noch viel weniger wert, als der stinkende Dreck in der Gosse der Altstadt. Nicht einmal einen angemessenen Schlafplatz wollte man dem verängstigen, traumatisierten Jungen anfänglich geben. Doch Ailen hatte Glück im Unglück, denn ein Großmeister der Magiergilde war zu dieser Zeit in der Stadt. Auf der Suche nach talentiertem Nachwuchs kam er auch ins Waisenhaus. Erst wollte man ihn wegen seines Mischblutes nicht an den Prüfungen teilnehmen lassen. Doch der Großmeister verlangte, alle Kinder zu testen. Ailen bestand und hatte so nur ganze sieben Wochen in Wejym verbringen müssen.
Der Magier zog die Kapuze des Umhangs tiefer ins Gesicht, als der Strom der Reisenden so dicht wurde, dass er ständig mit den Schultern an andere Passanten anrempelte. Die Feuchtigkeit hatte den festen, dunkelgrauen Stoff seines Mantels schwarz werden lassen. Wie ein Unheilsbote kam er sich selbst vor. Doch wenn er die Reisenden betrachtete, die ihm entgegenkamen, wirkten sie nicht anders. Das nasskalte Wetter zauberte verdrießliche Mienen in die Gesichter der Wesen und machte sie mürrisch und gereizt. Ailen unterschied sich von ihnen lediglich darin, dass seine Kleidung von edlerer Beschaffenheit war. Die Magier sorgten für ihresgleichen, statteten selbst die Frischlinge mit allem Komfort aus. In den Räumlichkeiten der Gilde in Scorchard hatte Ailen zum ersten Mal in seinem Leben ein Badezimmer mit fließend warmen Wasser gesehen. Für einen Zehnjährigen erschien dies wie ein Wunder.
Ein Wunder erwartete Ailen in diesem Moment nicht. Aber ein heißes Bad wäre ihm gerade mehr als recht.
Der Weg war gepflastert und bot somit ein wesentlich komfortableres Vorankommen, sofern der Weg frei genug war. Abseits davon blieb man leicht im Schlamm stecken. Ein Ochsenkarren rutschte mit einem Rad von dem Pflaster, blieb prompt im aufgeweichten Boden hängen und sorgte somit noch zusätzlich für Störungen im Strom. Die Zugtiere bemühten sich ächzend, stemmten sich in das Zugzeug, begleitet vom Schimpfen und Peitschenknallen ihres Besitzers. Ailen seufzte leise. Er hasste es, wenn Lebewesen, gleich welcher Art, misshandelt wurden. Seine Finger zuckten. In seiner Hand sammelte sich bereits prickelnd die Magie, um sich über den Mann zu entladen. Doch er hielt sich zurück. Er durfte nicht auffallen. Magier waren gern gesehene Leute, wurden oft um Hilfe und Rat ersucht. Wenn dieser Magier allerdings Elfenohren und die Hörner eines Feuerdämons besaß, war es mit der Freundlichkeit rasch vorbei. Wäre er ein reinrassiger Elf oder auch ein Dämon von unverfälschtem Blut, hätte man ihn überall mit allem gebührenden Respekt empfangen. Ailen war jedoch beides. Er hätte versuchen können, die unübersehbaren Anzeichen mittels üppiger Haarmähne oder Zauber zu verbergen. Aber ersteres war mit einem größeren Aufwand an Fürsorge und Geziere verbunden, dem er als Mann nicht unbedingt etwas abgewinnen konnte. Zudem hatte er schon beobachten müssen, wie einem Jungmagier die langen Haare beim Umgang mit brennbaren Materialien zum Verhängnis wurden. Bei der Arbeit auf dem Hof seiner Eltern waren sie ebenfalls hinderlich gewesen, sodass Ailen schon von klein an dafür sorgte, dass ihm keine Strähne ins Gesicht fiel. Für letzteres war andauernde Konzentration von Nöten, die der Magier für andere Dinge als wichtiger erachtete. Er wollte es auch gar nicht verbergen. Seine Eltern hatten ihn mit Stolz auf seine Herkunft erzogen.
Den Magiern war es gleichgültig gewesen, wer er war oder wie vielfältig sich sein Blut vermischt hatte. Jedes Geschöpf, das die Magie beherrschen konnte, wurde aufgenommen und ausgebildet. Obgleich lediglich Reinrassige die Möglichkeit erhielten, jemals Großmeister zu werden. Ailens Talent war herausragend. Er war besser, als so mancher Reinblütiger. Dennoch war ihm eine steile Karriere in den Reihen der Magier versagt. Man hatte ihm Botendienste und kleine Aufträge gegeben. Wie diesen, der ihn nach Wejym führte, obgleich er nicht wusste, was genau er hier tun musste. Er hatte von seinem Mentor Guon, jenem Großmeister der ihn entdeckt hatte, lediglich ein paar Angaben erhalten, sollte in einem Gasthaus jemanden treffen, der ihm alles weitere erläutern konnte. Es war nicht das erste Mal, dass er ihn mit ungenügenden Informationen losschickte. Guon vertraute darauf, dass Ailen die Angelegenheiten trotzdem mit Bravur meisterte.
Der Ochsenkarren steckte noch immer fest. Die Massen an Leute, die vor dem Herbststurm Schutz in der Stadt suchen oder dort Geschäfte erledigen wollten, mussten sich an ihm vorbeischlängeln. Der Strom, der aus der Stadt herauskam, zwang sie dazu, auf das unbefestigte Feld neben der Straße auszuweichen. Ailen blieb stehen, da er die Stiefel nicht beschmutzen wollte. In seiner Hand kribbelte es immer stärker. Er begann, sich über den Kaufmann zu ärgern, der die entkräfteten Tiere mit knallender Peitsche und wüsten Beschimpfungen zu größerer Anstrengung zwang. Die Tiere keuchten, wichen den Schlägen aus und gaben klägliche Laute von sich, wenn sie getroffen wurden. Ailen ballte die Hände zu Fäusten und presste sie in den Tiefen des Umhangs an den Bauch, um nicht zu reagieren. Er hatte schon immer Probleme damit, gegen die Liebe zur Natur anzukämpfen. Ein Erbe seiner Elfenmutter. Sein impulsiver Vater, ein Halbdämon, in dessen Blut das eines Feuergeistes und das einer Imp floss, hatte ihm die Ungeduld und die Hitzköpfigkeit vermacht, die Ailen während seiner Ausbildung zum Magier oft genug in Schwierigkeiten gebracht hatten.
Einer der Ochsen glitt auf dem nassen, schlammigen Boden aus und knickte mit den Vorderbeinen ein. Dadurch zog er den ganzen Karren ein kleines Stück nach vorn, worauf der noch tiefer in den Dreck rutschte. Ailen, der von nachfolgenden Leuten gegen den Wagen gedrückt worden war, geriet aus dem Gleichgewicht und drohte zu Boden zu fallen. Die Ausbildung hatte seine Reflexe geschult, sodass die Magie aus seinem Körper herausfloss, ohne dass er viel dazutat. Sein Sturz wurde von einer unsichtbaren Barriere aufgefangen, die dem Karren jedoch auch einen massiven Schubs verpasste und ihn damit aus dem Dreck stieß. Die Ochsen gaben ein erschrockenes Grunzen von sich. Der Bauer fiel hintenüber, mitten in sein frisch geerntetes Gemüse hinein und zermatschte dabei die Ware. Die vor dem Karren befindlichen Leute und Wesen sprangen vor Schreck beiseite, um nicht von den Ochsen überrannt zu werden. Dabei wichen sie in den Matsch aus, worauf sie lauthals zu schimpfen begannen. Es entstand Tumult. Die Passanten bedachten sich gegenseitig der Schuld für diesen Vorfall und ihren beschmutzten Schuhen. Ailen zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und schob sich an den Reisenden vorbei. Sein Herz klopfte hart. Er musste unbedingt besser aufpassen. Sonst wurde er entdeckt, noch ehe er die Aufgabe überhaupt beginnen konnte. Der Erfolg seines Auftrages hing eventuell davon ab, ob er für die große Magierkammer zugelassen wurde, obwohl Mischwesen dort nur bedingt Zugang hatten.
Je näher Ailen der Stadt Wejym, der Hochburg der Asoth kam, desto mehr kribbelte es in ihm. Wejym gehörte zu den fünf ältesten Siedlungen im Landstrich, von denen man behauptete, sie wurden noch von den alten Göttern gegründet. Tatsächlich besaß es mit dem Königspalast und dem Eonath-Tempel Gebäude, die aus einer bestimmten Lehmart bestanden, die noch vor hunderten von Jahren verwendet wurden. Heutzutage nutzte man eher Holz oder Gestein, das aus den nahegelegenen Steinbrüchen oder dem Küstengebiet herausgeschlagen wurde. Idyllisch gelegen, zwischen fruchtbaren Wiesen und Wäldern und einer malerischen, zerklüfteten Küstenlinie, beinhaltete Wejym alles, was man für eine Hauptstadt brauchte. Prunkvolle Villen, breite, mit Bäumen und Blumenbeeten eingefasste Promenaden, bis hin zu verwahrlosten Bretterbauten, in engen, dunklen, stinkenden Gassen, in denen man seines Lebens nicht mehr sicher war. Als Zehnjähriger war Ailen wenig damit konfrontiert. Zudem war er vom Tod seiner Eltern und den schrecklichen Geschehnissen so geschockt, dass er erst wieder wirklich zu sich kam, als er längst in der Magiergilde angekommen war. Dennoch erinnerte er sich noch genau an die Stadt, die ihm heute noch das pure Grauen den Rücken herunterlaufen ließ.
Am meisten Angst hatte ihm als Kind das Zugangstor gemacht. Es stellte das weit aufgerissene Maul eines gigantischen Ungeheuers dar. Zähne, so lang wie Wehrtürme hoch waren, ragten bis fast zu den Besuchern herunter. Wind und Wetter hatten das Gestein geschwärzt und damit das Gesicht der Bestie so unheimlich werden lassen, dass man glauben konnte, es wäre echt. Um den Effekt zu verstärken, loderten in den Augen des Monsters zu jeder Tages– und Nachtzeit Feuerschalen, die besonders bei Dunkelheit so bedrohlich wirkten, dass man sich zweimal überlegte, hinter den Mauern des Tores etwas Unrechtes zu tun. Auch wenn Ailen als Kind nicht viel davon mitbekommen hatte, so wusste er, dass das Verbrechen in Wejym genauso blühte und florierte, wie in anderen Städten.
Und auch heute, als er über die Brücke marschierte, mit jedem Schritt näher an das gigantische Monstrum heran, überkam ihn jener eiskalter Angstschauer, den er als Kind verspürt hatte. Inzwischen war er ein Mann, 25 Jahre alt und hatte schon so manche Kämpfe und Prüfungen bestehen müssen. Eigentlich sollte ihn nichts so schnell erschüttern können. Doch der Schock von damals hing noch immer hartnäckig in seinen Knochen. Ailen bemühte sich redlich, ihn abzuschütteln und gefestigten Schrittes auf das steinerne Ungetüm zuzugehen. Er hörte den Feuerdämon in sich drohend den vermeintlichen Rivalen anfauchen. Das Elfenblut besänftigte ihn, rief ihn zur Ruhe und erinnerte ihn daran, dass es lediglich eine in Stein gemeiselte Skulptur war. Als er dem Tor jedoch bis auf wenige Meter nahegekommen war, kochte Hass und Wut in ihm hoch.
Das Tor wurde von zwei Trollen bewacht, denen ein magisches Sklavenhalsband Gehorsam beibrachte. Ailen konnte die starke Magie in den Bändern bis zu sich spüren, als er an ihnen vorüberging. Das Kribbeln, das in ihm immer mehr an Bestand gewann, je näher er ihnen kam, ging nicht nur von dem Halsschmuck aus, sondern auch von den Wesen selbst. Ailen verabscheute Trolle. Sie hatten seine Eltern getötet.
In seinen Handflächen sammelte sich erneut die Magie. Am liebsten würde er die beiden mit bloßen Händen erwürgen, auch wenn sie doppelt so groß waren und zehn Mal so viel Körpermasse aufbrachten. Aber er hielt sich zurück und stapfte mit hängendem Kopf und raschen Schritten an ihnen vorbei, direkt ins klaffende Maul der Bestie, noch weiter hinein in den Schlund einer viel schlimmeren Kreatur: den Asoth.
In Gedanken klammerte er sich an die Worte seines Meisters. Die Warnung, sich zu beherrschen, klang in seinem Kopf wieder, als würde der alte Mann direkt neben ihm stehen und sie ihm wie ein Priester predigen. Ailen biss die Zähne zusammen bis sie knirschten und marschierte über das Pflaster in die Stadt hinein. Obwohl sein Herz raste, gönnte er sich nur flache Atemzüge. Es stank noch immer so fürchterlich wie in seiner Erinnerung. Die Bewohner von Wejym schienen ihre Abfälle direkt in die Gossen zu kippen. Ratten wuselten am hellen Tag um die Ecken und bedienten sich unter den Augen der Bewohner an den Resten.
Ailen marschierte weiter. Erinnerungsfetzen keimten auf. Sieben Wochen reichten bei weitem nicht aus, um sich das Straßengewirr einer Großstadt bis ins Detail einzuprägen. Wie alle Waisenkinder hatte auch er arbeiten müssen, Botendienste erledigt, in den Häusern betuchter Leute ausgeholfen und selbst für die Asoth-Priester Handlangerdienste verrichtet. Billige Arbeitskräfte waren überall gefragt. Da kamen entbehrliche Mischlinge gerade recht. Entlohnt wurde er dafür nie. Er hatte dankbar sein müssen, wenn man ihm am Ende des Tages eine Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen gewährte. Aber aus dieser Zeit stammte noch die Orientierung durch das Labyrinth der Stadt, wenn auch lückenhaft und verschwommen wie durch einen Nebelschleier betrachtet. Einige der Gassen kamen ihm sofort bekannt vor. So manches Mal marschierte er einfach drauflos, in der Hoffnung, an einem Punkt anzukommen, an welchem er sich neu orientieren konnte. Es wäre viel leichter und effektiver, Bewohner nach dem Weg zu fragen. Das Risiko, dabei erkannt zu werden, wollte Ailen jedoch nicht eingehen und so ließ er sich von seinen Instinkten und seinen besonderen Sinnen leiten.
Das Wirtshaus, in welchem er erwartet wurde, befand sich im Zentrum der Stadt, in unmittelbarer Nähe der alten Kathedrale, in der noch heute die Hohepriester der Eonath ihre Lehren unter die Leute brachten. Die Priester der Asoth dienten der Göttin Eonath. Die Asoth waren ein altes Volk, das schon seit Tausend Jahren existierte und dem der jetzige König des Landes angehörte. Gegen die Asoth zu sein, hieß, sich gegen König Torunor aufzulehnen. Ihren Lehren verdankten es Mischwesen wie Ailen, dass sie es in dieser Welt schwer hatten. Denn die Asother akzeptierten nur das Reine als würdig, vollkommen gleichgültig, welcher Rasse man angehörte.
Der herbstliche Regen hatte seinen Umhang längst reichlich getränkt, als er an der Schenke ankam. Schwer, dunkel und nass hing er über den Schultern. Die Nässe drang dank des dicken Stoffes jedoch nicht bis zur Haut durch. Dennoch war das Hemd klamm und kalt. Ein Schauder überkam ihn, der durch den Anblick des Schmuckes über dem Eingang noch verstärkt wurde. Eine verdorrte Weinrebe, an die der Besitzer des Lokals abgetrennte Extremitäten von allen möglichen Wesen gehängt hatte, zierte die Tür der Schenke. Manche faulten noch vor sich hin, was bedeutete, dass sie erst kürzlich dort aufgehängt worden waren. Ailen kannte dies als Zeichen. Mischwesen wurden hier nicht gern gesehen.
In einem traditionellen, in Ailens Augen barbarischen, Ritual entfernten die Asoth sämtliche überflüssige äußerlichen Erkennungsmerkmale, sodass nur noch sichtbar eines übrig blieb, und hängten sie an eine geweihte Rebe. Zum Schutz vor diesen ungebührlichen Wesen, aber auch zur Abschreckung. Die Asoth-Priester nannten das Abtrennen eine Reinigung des Blutes, was genau genommen vollkommener Unsinn war. Denn die Extremitäten zu entfernen, änderte nichts an der Beschaffenheit des Blutes. Er hatte aber auch schon davon gehört, dass Mischlinge, die in Ungnade gefallen waren, kastriert, massiv verstümmelt und zur Belustigung aller, an Schandpfähle gebunden worden waren. Wejym war definitiv kein Ort für Melézcum, wie sie hier verächtlich genannt wurden – was so viel bedeutete wie: ›nicht einmal Abschaum‹.
Ailen betrat trotzdem die Stube, aus der die Stimmen vieler mehr oder weniger angetrunkener Kehlen drangen, blieb einige Schritte nach dem Eintreten im Raum stehen und blickte sich um. Die Luft war angefüllt mit dem beißenden Gestank von schwitzenden, ungewaschenen Leibern, den Rauch aus Pfeifen und dem Backofen, dem fettigen Geruch von Gebratenem und dem berauschenden Aroma von süffigem Wein. Ailen verschlug es fast den Atem. Die Hitze, die hier herrschte, schlug ihm nach der Nasskälte draußen wie die eines Kohleofen ins Gesicht. Schweißperlen traten sofort auf seine Stirn. Er wagte es jedoch nicht, sie wegzuwischen und kniff die Augen leicht zusammen, auch um durch den Nebel sehen zu können.
Sein Kontaktmann sollte ein Waldgeist sein. Unter den Gästen befanden sich zahlreiche Wesen aus allen möglichen Völkern, Rassen und Arten. Aber einen bärtigen, zotteligen Gnom mit grünem Spitzhut und knorrigem Spazierstock konnte Ailen nicht entdecken. Er bewegte sich daher zu dem Wirt, der in jeder Hand fünf Bierkrüge schleppte und sie unter einem Ächzen auf einem der Tische abstellte. Mit einem Nicken registrierte er Ailen und wies ihm mit einem weiteren einen freien Platz in einer Ecke des Gastraumes zu.
»Ich grüße Euch, Fremder«, warf ihm der Wirt freundlich über die Schulter hinweg zu, während er die Krüge vor die Gäste schob. »Nehmt Platz. Ich habe gleich Zeit für Euch.«
»Ich suche einen Mann namens Valowiel.« Ailen zog die Kapuze des Mantels tiefer ins Gesicht, als die Gäste neugierig ihre Köpfe hoben.
»Ah ja!«, sagte der Wirt, der offenbar Bescheid wusste, wandte sich rasch um und pfiff nach der Magd, die eben mit voll beladenen Tellern aus der Küche kam. »Geleite den Herrn nach oben!«, bellte er, schnappte sich ein paar der Krüge und brachte sie zum nächsten Tisch.
Die Magd lächelte ihn freundlich an, stellte die Teller vor die wartenden Gäste, machte vor dem Fremden einen höflichen Knicks und ging voran. Ailen verfolgte ihren Gang, als er hinter ihr her marschierte. Sie hinkte leicht. Als sie einen Fuß auf die Stufe setzte und er dabei einen Verband an ihrem Bein entdeckte, wusste Ailen, woher die halb verwesten Flossen über der Tür herkamen. Die Magd war eine Wassernymphe – zumindest zu einem Teil. Denn ihr Gesicht ähnelte dem einer Najade. Hauchfeine, schimmernde, weiße Haut bedeckte ihre Wangen. Große, dunkelblaue Augen blickten ihn traurig an. Langes, offenes Haar, so weiß wie Schnee fiel über ihren Rücken bis fast zum Hintern. Sie wirkte wie ein Geist, wenn die wachen, großen Augen und die roten, vollen Lippen nicht wären. Sie war eine Schönheit, hatte die verführerische Betörung der Nymphen geerbt. Aber bei jedem Schritt verzogen sich ihre Gesichtszüge. Der Wirt schien die Flossen, die über den Rücken bis zu den Beinen gereicht haben mussten, abgeschnitten zu haben.
Ailen erschauderte und zwang sich dazu, seine Gedanken von dem Leid dieser Frau abzulenken und sich lieber auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Was genau er zu tun hatte, würde ihm der Waldgeist sagen.
Vor einer der Türen blieb sie stehen, machte einen unsicheren Knicks und ging wieder davon. Ailen widerstand der Versuchung, ihr hinterherzublicken. Er könnte ihr mit einem einfachen Zauberspruch die Schmerzen nehmen und ihr Leid mildern. Dennoch hielt er sich zurück.
Stattdessen klopfte er an der schäbigen Tür an. Nur einen Augenblick später wurde sie geöffnet. Ein Mann versperrte die Öffnung, der der Beschreibung Waldgeist nur annähernd gerecht wurde. Für Ailens Vorstellung war er viel zu groß und schlank und reichte ihm gerade mal bis zur Schulter. Außerdem fehlte der obligatorische lange Bart. Wams und Hose waren dagegen aus jenem grünen Baumleder gefertigt, von dem in den Erzählungen berichtet wurde, und entsprachen dem, was sich Ailen vorstellte.
»Der Magier?«, fragte dieser. Als Ailen zur Bestätigung nur ganz leicht seinen Kopf neigte, erwiderte der Mann die Geste respektvoll. Magier waren sogar im Land der Asoth gern gesehen. Es wunderte ihn daher nicht, dass ihn der Waldgeist wie einen Würdenträger behandelte.
»Ich bin Valowiel«, stellte sich der zu groß geratene Gnom vor und verneigte sich erneut. Er schwang die Tür weiter auf, ließ den Gast eintreten und bot ihm mit einer großzügigen Geste Platz am Tisch an.
»Ailen«, gab der Magier knapp von sich, folgte der Aufforderung einzutreten, blieb aber stehen.
»Es ist mir eine Ehre, einen Abgesandten der Magiergilde in Wejym begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise.« Er marschierte an Ailen vorbei, zog einen der grob gezimmerten Stühle für den Gast zurecht und begab sich auf die andere Seite des Tisches. Da sich Ailen nicht setzte, zögerte er kurz, ließ sich dann aber doch ächzend auf seinen Stuhl niedersinken.
»Das Wetter ließ zu wünschen übrig«, erwiderte Ailen höflich und schüttelte den Mantel leicht aus. Regentropfen flogen davon. Unter seinen nassen Stiefeln hatte sich bereits eine Pfütze gebildet.
»Es ist Herbst. Zu dieser Zeit toben gern Stürme über das Land«, erzählte Valowiel und bot ihm erneut mit einer Geste Platz am Tisch. Ailen blieb stehen.
»Hat man Euch über unser Problem unterrichtet?«, wollte der Waldgeist wissen. Es schien ihm unangenehm zu sein, von derart tief unten aufzublicken. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass es ihn juckte, aufzuspringen und diesen Zustand zu ändern. Vermutlich war er es nicht gewohnt, augenscheinlich der Unterlegene zu sein. Als direkter Diener des Königs, übte er sicher eine erhabene Position aus, die ihn über die von manch anderen stellte. Valowiel schien es aber nicht zu wagen, dieses Recht gegenüber eines Magiers einzufordern. Mit unruhigem Zittern blieb er sitzen, kniff die Lippen zusammen und blickte zu Ailen auf.
»Leider nein«, gab der Magier zurück. Es wäre ihm auch lieber gewesen, wenn Guon ihm mehr über den Auftrag erzählt hätte. Doch er war nicht bereit, ihm Details zu verraten, sodass Ailen annahm, dass er selbst nicht mehr wusste. Sich aufs grade Wohl auf etwas einzulassen, gefiel ihm nicht. Aber vielleicht war genau das die Herausforderung.
»Ein Barghest«, sagte Valowiel und kniff erneut die Lippen zusammen. An seinem Hals hüpfte ein Kehlkopf auf und ab, als machte ihm allein das Wort Angst.
Der Magier kramte in seinem Gedächtnis nach diesem Begriff. Ein Höllenhund, der aus dem Reich des Todes kam und Rache an jenen verübte, die sich mit Schuld beladen hatten. Er jagte seine Opfer manchmal bis zum Tod.
Ailen überlegte kurz, ob nun der richtige Moment gekommen war, seine Identität zu offenbaren. Der Waldgeist war über sein Kommen informiert, oder besser gesagt, er hatte lediglich einen Magier erwartet und ihn auch mit dem gebührenden Respekt empfangen. Nur kurz zögerte er. Dann schob er die Kapuze über den Kopf und drehte sich so in das Licht der Öllampen, dass deutlich die spitzen Ohren aber auch die kleinen Hörner an der Stirn zu sehen waren.
Sofort sprang Valowiel auf die Beine und spuckte vor Ailen aus. »Ein verfluchter Melézcum. Warum bei allen Waldgnomen schickt mir die Gilde einen dreckigen Melézcum?« Sämtliche Hochachtung für den Gast war mit einem Mal verpufft. Er schien vergessen zu haben, dass es sich hierbei um einen der mächtigsten Wesen handelte, die man besser nicht reizte. Der Hass hatte jeglichen Anstand und Bewunderung sofort ausgemerzt.
Von dieser Reaktion fast schon belustigt, konnte sich Ailen eines Schmunzelns nicht erwehren. »Weil sich kein Magier reinen Blutes freiwillig die Hände schmutzig macht«, gab Ailen schnippisch von sich. »Was erwartet Ihr von mir?«
Valowiel schnaubte wütend, spuckte noch einmal aus und rückte den Stuhl ein Stückchen weiter weg von Ailen. Allerdings setzte er sich nicht.
»Der Barghest«, grunzte er miesgelaunt. »Das ist ein Mörder. Er ist in der Stadt. Man munkelt, er will den König töten.«
»König Torunor weiß sich gewiss gut zu schützen. Nicht einmal ein Barghest kommt an ihn heran.«
»Dieser hier hat schon fünfzehn Asoth-Priester zerfleischt.«
Ailen widerstand der Versuchung, Sympathie für diese Bestie aufzubringen. Er hasste diese Prediger beinahe noch mehr als Trolle. Dennoch kam ihm eine triftige Frage auf. Warum nun die Asoth, wenn sie aufgrund der hier herrschenden Gesetze kein Unrecht begingen?
»Und was soll ich nun für Euch tun?«, erkundigte er sich noch einmal.
»Ihr sollt den Barghest zur Strecke bringen«, blaffte Valowiel patzig. Er musterte den Magier mit einem Blick, der Dolchen gleichkam.
Ailen begann, langsam durch den Raum zu schreiten, strich mit Daumen und Zeigefinger über die leichten Bartstoppeln am Kinn, das er zuletzt vor zwei Tagen, in den Annehmlichkeiten eines Waldgasthauses, rasiert hatte. Seine schmutzigen Schuhe hinterließen auf den blankpolierten Holzplanken Abdrücke. Sein nasser Mantel tropfte auf den Boden. Das Wasser sickerte durch die Ritzen.
Sein Elfenblut verbot ihm, einem Wesen gleich welcher Art und Gesinnung, etwas anzutun. Er war sich nicht sicher, ob Guon über den tatsächlichen Grund dieses Auftrags informiert war. Wenn ja, hätte der Großmeister wissen müssen, dass es Ailen schwerfallen würde. War es eine Prüfung? Wollte Guon herausfinden, ob sich sein Schützling über sein eigenes Blut hinwegsetzen konnte? Ailen schaffte es nicht einmal, selbst zu jagen, aß nur Fleisch, das bereits fertig gebraten und angerichtet auf den Tisch gebracht wurde.
Valowiel beobachtete ihn argwöhnisch, verfolgte ihn mit einer grimmigen Miene, als Ailen im Raum auf und ab ging.
»Soweit ich weiß, verfügen die Asoth über eine eigene Bewachung der Tempel«, sagte Ailen, in seinen Erinnerungen kramend. Er konnte sich gut an die Garde erinnern. Als Kind kamen ihm die Männer furchteinflößend und unbesiegbar vor.
»Der Barghest ist rein«, erwiderte Valowiel fast schon verschnupft. »Die Asoth würden ihm kein Haar krümmen.«
»Auch nicht, wenn das Leben ihres König bedroht ist?«
»König Torunor persönlich hat mich beauftragt, die Magiergilde um Hilfe zu ersuchen.«
Ailen hob die Augenbrauen an und verharrte. »Wie das? Einen Waldgeist?« Normalerweise blieben die Waldwesen unter sich und scherten sich nicht um die Belange der übrigen Welt. Es war verwunderlich, dass ein Waldgeist in den Diensten des Königs stand und auch noch mit einer so wichtigen Aufgabe betreut worden war.
»Und die Magiergilde schickt mir ein verfluchtes Mischblut.« Valowiel knurrte verärgert. »Ihr solltet Eure Zunge hüten, Melézcum. Ein Wort und die Meute da unten wird Euch mit Freuden lynchen.«
Ailen lächelte kalt. »Ein Wort von mir und Euer Leben wird fortan als erbärmlicher Wurm weitergehen.«
Ganz langsam reckte der Waldgeist seinen Körper, plusterte sich auf, als könne er sich dadurch größer und stattlicher machen, und baute sich vor Ailen auf. Sein Gesicht war versteinert. Die Drohung des Magiers schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Von der vorherigen Hochachtung existierte nicht einmal mehr ein Hauch. »Die Worte eines Melézcum«, sagte er, jedes Wort triefend vor Verachtung. Er schien nicht zu glauben, dass der Magier das Leben eines anderen nahezu mit einem Fingerschnippen beenden konnte. »Dem König gefällt es schon lange nicht mehr, dass sich die Magiergilde erdreistet, sich über die Gebote der Asoth hinwegzusetzen. Kein Blut sollte sich mischen.«
»Erinnert Euch, wen König Torunor zu Hilfe gerufen hat.« Ailen blieb gelassen. Er spürte aber schon wieder das dämonische Blut in sich hochkochen. Auch ohne dass man ihm einen Spiegel vorhielt, wusste er, dass seine Augen zu glühen begonnen hatten. Irgendwo in der Reihe seiner Vorfahren musste ein jähzorniger, leicht reizbarer Feuerdämon sein, der sich in ihm jedes Mal manifestierte, sobald er drohte, die Fassung zu verlieren. Er zwang sich zur Ruhe und erinnerte sich an die Sanftmut seiner Mutter, die ihn bei solchen Gelegenheiten in den Arm genommen und beruhigt hatte. Wehmut erfasste ihn und schürte die Wut in ihm noch mehr an. Er konnte sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern.
Valowiels Gesichtszüge verloren sich für einen Moment. Er wich vor den glühenden Augen zurück. Als Ailen auch noch seine Hand hob und Magie die Faust umwaberte wie ein glitzernder Mückenschwarm, wich er noch weiter rückwärts.
»Wage es nicht, dreckiger Melézcum!«, stieß der Waldgeist warnend hervor. »Wage es nicht, mich zu bedrohen.«
»Dasselbe gilt auch für Euch, Waldgeist.« Ailen steckte die glitzernde Faust unter den Umgang und versuchte, sich zu besänftigen. »Wo ist der Barghest?«
»Hätte der König die Gilde um Hilfe gerufen, wenn er es wüsste?« Valowiel spuckte vor Ailen aus und gab dem Stuhl einen Schubs, sodass er an den Tisch rumpelte. »Er taucht wie aus dem Nichts auf, schlitzt unbedarfte Priester auf und hinterlässt ein grauenvolles Massaker.«
»Unbedarft?« Ailen konnte nicht gegen den Hohn ankämpfen, der in seiner Kehle tobte. Unbedarft waren diese Priester keineswegs. Es waren Sadisten, die sich am Leid von verängstigten Kindern ergötzten. Die sieben Wochen im Waisenhaus waren die Schlimmsten, die er je erlebt hatte. Der Leiter des Heimes war ein glühender Anhänger der Asoth gewesen. Es war ihm ein persönliches Vergnügen und sah es als Pflicht an, Mischlingskindern wie Ailen ihre Herkunft schmerzvoll wissen zu lassen. Ailen glaubte, noch immer die Rutenschläge auf seinem Rücken zu spüren.
Die Magier waren auch nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen. Doch bei ihnen wusste er, warum sie ihn drangsalierten und gängelten. Sie wollten das Beste aus ihm herausholen, ihn locken, seine Kräfte mobilisieren. An so manchen Tagen war er verzweifelt und hatte sich gewünscht, sich von einem hohen Turm stürzen zu können. Die Qualen, die er bei seiner Ausbildung hatte erleiden müssen, hatten aber letztendlich dazu verholfen, dass er einer der besten Magier geworden war.
»Unbedarft«, wiederholte Valowiel betonter. »Priester, die das Wort der Göttin Eonath verbreiten.«
Ailen rückte näher, bis er nur noch wenige Zentimeter vor dem Waldgeist stand. »Priester«, sagte er kalt. »Die sich in ihrer Macht suhlen wie Schweine im Dreck.«
»Wie könnt Ihr …?«
Ailens Augen glühten wieder. Der Mann wich zurück und starrte ihn an.
»Der Feuerdämon in mir ist ein klein wenig verstimmt«, sagte Ailen tonlos. »Ihr solltet ihn nicht zu sehr reizen.«
Valowiel wich vor dem Glühen zurück, stieß dabei aber gegen die Wand und keuchte erschrocken. Er wagte jedoch einen weiteren Versuch, sich zu behaupten, und spuckte vor Ailen aus. Der Magier bewunderte trotz allem den Mut des wesentlich kleineren Mannes. »Melézcum«, schickte der verächtlich hinterher. »Geh mir vom Leib!« Seine Stimme war leise geworden, drohend, als wollte er noch eine letzte Warnung losschicken, ehe er sich gegen die Bedrohung wehrte.
Ailens Blick wanderte über den Mann, registrierte die Beschaffenheit der Kleidung und den Schmutz an den Stiefelsohlen. An der Gürtelschnalle entdeckte er das Symbol der Asoth. Ebenso an den Knöpfen am Wams. Dieser Mann würde es nicht tatenlos zulassen, wenn jemand gegen die Asoth sprach, gleich wer dieser jemand war. Vermutlich würde er sogar derjenige sein, der die Garden der Priester rief, um den Frevler verhaften zu lassen.
Um die Situation zu entspannen, zog sich Ailen tatsächlich zurück, ging ein paar Schritte in den Raum und wandte sich wieder um. »Ich brauche mehr Informationen. Ich kann nicht einfach so durch Wejym marschieren und den Barghest suchen. Er wird sich auch kaum offen zeigen.«
»Warum schickt die Magiergilde einen wie Euch, wenn sie genau weiß, dass Ihr Euch nicht frei bewegen könnt?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich mich nicht frei in Wejym bewegen kann. Wie Ihr bereits erwähnt habt, ersuchte König Torunor persönlich um Hilfe.« Ailen verzog süffisant einen Mundwinkel. »Er muss sehr besorgt um sein Leben sein.«
»Er wird es nicht dulden, dass Ihr in Wejym herumstrolcht.«
Ailen überging diese Bemerkung. Mit seinen Gedanken war er bereits um einiges weiter. »Ich muss mit allen sprechen, die etwas über den Barghest zu wissen glauben. Auch mit der Garde der Priester. Ich weiß, dass die Tempel sehr gut bewacht sind. Dennoch ist es dem Höllenhund gelungen, einzudringen und die Priester zu töten.«
»Ich werde Euer Gesuch dem König unterbreiten.« Valowiel verzog das Gesicht zu einer grimmigen Maske. »Aber er wird gewiss nicht entzückt sein, ein Mischblut wie Euch in seiner Stadt zu wissen.«
»Ihm wird keine andere Wahl bleiben, wenn er dieses Biest loswerden möchte.«
»Unterschätzt König Torunor nicht.« Der Waldgeist bewegte sich ein wenig auf den Magier zu, blieb aber in einem angemessenen Abstand stehen. »Euch zu entsenden, ist eine offene Provokation.«
»Macht das mit den Großmeistern der Gilde aus.« Ailen schlug die Kapuze über seinen Kopf und zog sie tief ins Gesicht. Damit wandte er sich um und verließ das Zimmer. Valowiel ließ er einfach stehen. Er war es überdrüssig, sich mit ihm über Moralvorstellungen und Prinzipien zu streiten. Wut kochte in ihm hoch. Denn bislang hatte er stets gedacht, dass ihn die Großmeister als das akzeptierten, das er war. Obwohl er die Grenzen, die ihm seine Herkunft in den Weg warfen, beinahe jeden Tag vor sich sehen konnte, war er bis zum heutigen Tag davon überzeugt, dass die obersten Magier sein Talent mehr schätzten, als sein Blut. Sie mussten gewusst haben, welche Aufgabe Ailen hier auferlegt werden würde. Einen Barghest zu erlegen war beinahe unmöglich. Nicht nur für jemanden wie ihn. Abgesehen davon, dass sie wie aus dem Nichts auftauchen und ebenso wieder verschwinden konnten, war es noch keinem einzigen Wesen gelungen, je einen zu fangen. Wer einem Barghest begegnete, sollte mit seinem Leben abschließen. Ailen war von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Er kniff die Augen leicht zusammen, so weit, dass er noch die einzelnen Stufen und den Weg zu erkennen vermochte. Es würde ihm gerade noch fehlen, die Treppe herunterzufallen, weil er seine vor Wut glühenden Augen verbarg und daher blind herumstolperte. So rasch er konnte, durchschritt er den Gastraum, ließ sich auch vom Ruf des Wirtes nicht aufhalten und trat ins Freie. Der Regen hatte inzwischen stärker eingesetzt und füllte die Zwischenräume im Pflaster mit tiefen Pfützen auf.
Mit einem Fluch zog er den Umgang enger um sich und marschierte los. Er hatte sich noch nie davor gescheut, schmutzig oder nass zu werden. Die ersten zehn Jahre seines Lebens hatte er auf einem einfachen Bauernhof verbracht. Seinen Eltern bei der Arbeit zu helfen, den Stall auszumisten und in der Erde zu wühlen, die Früchte zu ernten, war für ihn selbstverständlich gewesen. Selbst in der Ausbildung, in der neben Lektionen in Zauberkunst und Kräuterkunde auch Kampfübungen dazugehörten, hatte er nicht gezögert, sich in den Schlamm zu werfen. Er hatte aber die schönen Seiten des Wohlstands schätzen gelernt und genoss es daher, in feinem Tuch und blank polierten Stiefeln umherzuwandeln. Aber nicht das miese Wetter hatte ihm die Laune verhagelt, sondern die Enttäuschung über die Magier, die ihn nach Wejym geschickt hatten.
Maßlos enttäuscht war er von jenem Mann, von dem er gedacht hatte, dass er bislang sein väterlicher Mentor und einzig wirklich vertrauter gewesen war.
Ailen zwang sich zur Ruhe. Dem Feuerdämon in ihm hatte er es zu verdanken, dass er selbst schwierige oder Kräfte raubende Prüfungen überstanden hatte. Aber in Momenten wie diesen, hasste er ihn. Es war leider nicht nur das Glühen, das ihm in Wejym Schwierigkeiten einbringen könnte. Es war die Verbindung von Aussehen und den Eigenschaften, die er mitbrachte. Die Gene seiner Mutter waren ebenso stark wie die seines Vaters. Die Hörner wuchsen binnen kürzester Zeit nach. Sich die Ohren abzuschneiden, scheiterte an der eigenen Courage und an der Überzeugung. Es widerstrebte ihm, das Erbe seiner Eltern auf diese Art zurückzuweisen.
Ailens Füße brachten ihn geradewegs vor den Asoth-Tempel, an den das Priestergebäude anschloss. Die ganze Tempelanlage bestand aus einer Gruppe von riesigen, rechteckigen Bauten, die mittels kleinerer Gebäude, Übergängen, Brücken und Gartenanlagen miteinander verbunden waren. Vom großen Eingang zum Tempel für die Allgemeinbevölkerung aus, umrundete eine dicke Mauer das ganze Areal. Lediglich das Hauptportal mit den zwei imposanten Säulen, die so breit wie uralte Baumstämme den schmalen Firstvorsprung stützten, war frei zugänglich und bot mit offenen Toren den Gläubigen jederzeit Einlass. Das Priestergebäude, in welchem auch die Wachen untergebracht waren, verfügte über einen eigenen Eingang, durch den auch die Lieferungen erfolgten. Ailen hatte als Kind dort hin und wieder Waren abgeholt oder hingebracht. Schon damals fand er den Bau beeindruckend und furchteinflößend zugleich. Die schlichte, gerade Bauweise, aus glattgehauenem braunen Gestein und den vielen kleinen dunklen Fenstern, wirkte für ihn wenig einladend. Nur am Hauptportal hatte der Architekt in Form der runden Säulen, deren Oberflächenstruktur tatsächlich die von alten, verwitterten Baumstämmen sein könnte, die schlichte Bauform aufgebrochen. Das große Tor war ebenso bescheiden gehalten, beherbergte lediglich das Abbild der Göttin Eonath in einer ganz groben Schnitzarbeit. Als Ailen nun wieder davorstand, kam ihm der Zugang zum Tempel fast schon verschwenderisch pompös vor. Seine Mundwinkel zuckten spöttisch, als der den Blick über die Frontseite gleiten ließ.
Er umrundete das ganze Areal einmal und prägte sich sämtliche Zugänge und Möglichkeiten ein, durch die sich der Barghest Zutritt verschaffen könnte. Vor jedem Eingang standen Wachen der Garde. Jeder der den Tempel betreten wollte, wurde aufgehalten und überprüft, selbst Priester in ihren unverkennbaren, unscheinbaren grauen Kutten. Ailen bezweifelte, dass Besucher und Bewohner erst seit dem Zwischenfall sorgsamer kontrolliert wurden. Die Wachen, Vertreter verschiedener Gattungen und Wesen, sahen allesamt wie bissige Hunde aus, die zuerst zuschnappten und dann erst prüfend an ihrer Beute schnupperten. Der Schutz der Priester und des Asoth-Tempels war für sie höchstes Gebot. Für Ailen hieß dies, dass er nicht ohne Freibrief des Königs die Schwelle überschreiten konnte. Seine magischen Fähigkeiten würden ihm nicht viel helfen können.
Er bezweifelte jedoch auch, dass er innerhalb dieser Mauern Antworten finden würde. Der Barghest kam mit Sicherheit von außerhalb, hatte sich im Schutz der Nacht angeschlichen und die Mauern und Wachen überwunden, ohne entdeckt zu werden.
Der Nieselregen verwandelte sich in einen Platzregen. Die Straßen überfluteten in kürzester Zeit. Aus den Pfützen wurden rasch kleine Seen, in denen man bis zu den Knöcheln eintauchte. Ailen überlegte, ob er gehen und besseres Wetter abwarten oder die Gunst der Stunde, in der jeder auf sich selbst bedacht war und ihn kaum wahrnahm, nutzen sollte. In seinen Händen sammelte sich die Magie. Er ballte sie zu Fäusten, damit sie nicht vorschnell losbrach. Schließlich steckte er sie doch aus dem Umgang heraus und schickte sie auf die Straße vor ihm. Wie filigrane Seidenfäden schwebte sie über das nasse Pflaster, von dem kaum noch was zu sehen war. Ailen konzentrierte sich auf die Individuen, die hin und her huschten, um sich vor dem kalten Regenguss in Sicherheit zu bringen. Er konnte die Menschen spüren, jeden einzelnen davon. Aber auch die Seelen von anderen Wesen und Tieren. Jede Art hatte ihre eigenen Merkmale, anhand dessen Ailen sie erkennen konnte. Trolle, Gnome, Zwerge, Elfen, Nymphen … Nur ganz wenige waren ungenau und leicht verwischt. Das waren die Mischlinge, die sich unerkannt oder verstümmelt unter die Reinrassigen gemischt hatten. Er spürte Ratten, Katzen, Hunde und Vögel auf, ebenso Insekten, Würmer und Reptilien, die in Ritzen und Spalten kauerten und den Regen abwarteten. Und plötzlich vernahm er auch eine starke Präsenz, die ihn zurückschrecken ließ, als hätte er einen weißglühenden Ofen angefasst. Der Barghest. Er war da. Irgendwo im oder in der Nähe des Tempels.
Ailens Herz raste los. Es war später Nachmittag. Auch wenn der starke Regen für ein Dämmerlicht sorgte, war es sehr gewagt, sich am Tage in die Stadt zu begeben. Vermutlich versteckte sich der Höllenhund bis zur Nacht, um dann neuerlich zuzuschlagen.
Er musste die Priester warnen, auch wenn es ihn persönlich freuen würde, wenn noch ein paar mehr zum Opfer fielen. Aber sein persönlicher Ehrgeiz, angestachelt vom Feuerdämon, verlangte es, dass er den Großmeistern zeigte, wozu er fähig war. Daher setzte sich Ailen in Bewegung und folgte der magischen Spur, die ihn direkt zum Barghest führen würde. Die Magie waberte wie ein seidiger Faden vor ihm in der Luft. Nur er allein konnte ihn sehen. Die Leute, die durch den Regen hetzten, eilten sogar mitten durch die Spur hindurch, ohne sie zu beschädigen oder gar überhaupt zu bemerken.
Binnen weniger Schritte waren Ailens Stiefel durchnässt und er dachte erneut ernsthaft darüber nach, den Barghest ungehindert in der Stadt wüten zu lassen. Die Großmeister erwarteten wahrscheinlich ohnehin keinen Erfolg von ihm. Doch der Dämon in ihm zwickte ihm in den Hintern und hieß ihn an, sich zusammenzureißen. Also marschierte er weiter und verfolgte die Spur durch das Wirrwarr der Gassen bis hin zu einem Eingang auf der Rückseite des Priestergebäudes, in welchem sich die Unterkünfte der Prediger und der Wachen befanden. Der Barghest schien sich bereits im Gebäude zu befinden.
Ailen lauschte, versuchte, die Geräusche der Stadt auszublenden und konzentrierte sich auf die Geschehnisse hinter den Mauern. Die Wachen am Tor beäugten ihn misstrauisch. Er ignorierte sie jedoch und ließ seine Sinne der magischen Spur bis ins Innere des Gebäudes folgen. Fast glaubte er sogar, den Barghest leibhaftig zu sehen. Oder ihm spielte die Erinnerung an Legenden und Zeichnungen einen Streich. Jedenfalls glaubte er einen großen, schwarzen Hund, mit wuchtigem Schultergürtel, einer massiven mit Reißzähnen bewehrten Schnauze und Klauen an den Vorderpfoten, die eine Kehle in Windeseile zerfetzen konnten, auszumachen. Ailens Herz schlug noch schneller. Seine Vernunft gebot ihm, eine Warnung auszustoßen. Seine Lippen blieben jedoch geschlossen.
»Heda!«, rief eine der Wachen. »Was lungert Ihr hier herum?« Ein Mann löste sich von dem Tor und kam bedächtig auf ihn zu.
Ailen wandte sich um und begegnete der Wache. »Ich bin ein Magier, von König Torunor persönlich geschickt«, erklärte er und gab schließlich seinen Widerstand gegen die Vernunft auf. »Ich soll den Barghest aufspüren.« Er kam näher, hob seinen Kopf gerade so weit an, dass die Wache die roten Augen und die Hörner auf der Stirn sehen konnte. Die Ohren blieben jedoch unter der Kapuze verborgen. »Er befindet sich bereits im Gebäude.«
Die Wache blieb abrupt stehen und starrte ihn entsetzt an. »Seid Ihr sicher? An uns ist niemand vorbeigekommen.«
»Ich weiß nicht, wie er eindringen konnte. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich im Gebäude befindet. Ich kann seine Anwesenheit wahrnehmen. Er ist da. Eindeutig. Ruft Euren Hauptmann! Alarmiert die Wachen!«
»Halt!«, rief der andere. »Woher sollen wir wissen, dass Ihr nicht ein betrunkener Scherzbold seid?«
Ailen schob die Hand unter dem Umhang hervor, ballte die Magie in seiner Faust zusammen und schickte dem Zweifler eine kleine Demonstration seines Könnens direkt vor die Füße. Die Pfütze spritzte auf, benetzte den Mann bis zum Wams. Pflastersteine stoben aus dem Boden hoch, knallten gegen die Wand und polterten rumpelnd über die Straße. Die Wache wich erschrocken zurück, starrte auf die Stelle, an der die Magie eingeschlagen war.
»Ruft Euren Hauptmann!«, stieß Ailen zwischen den Zähnen hervor. »Der Barghest befindet sich bereits im Gebäude.«
Nun kam endlich Leben in den Mann. Er wirbelte herum, warf die Tür auf und schrie lauthals los. Der andere brachte ein Horn hervor und blies hinein. Ein grässlicher Ton erschallte, der Ailens Ohren zum Klirren brachte und er leicht zusammenzuckte. Binnen weniger Minuten erstand helle Aufregung. Schreie hallten durch die Gassen. Männer rannten umher. Ailen blieb stehen, wo er war. Er wagte es nicht, die Schwelle zu übertreten und selbst nach dem Barghest zu suchen. Würde er der Spur folgen, könnte er sicher binnen kurzer Zeit die Bestie ausfindig machen. Doch er war ein Mischling und wenn er sich ohne Erlaubnis Zutritt zum Heiligtum der Asoth verschaffte, wäre das vermutlich sein Todesurteil. Trotz allem Ehrgeiz wollte er dies nicht riskieren. Der Barghest entkam ihm dennoch nicht.
Eine ganze Weile schien der gesamte Tempel auf den Beinen zu sein. Dies machte es der Bestie zumindest schwer, seine Opfer unerkannt zu reißen. Ailen wartete geduldig ab, beobachtete das Geschehen und ahnte aus undefinierbaren Gründen schon, dass sie ihn nicht finden würden.
Irgendwann kam ein Mann auf ihn zu. An seinem gefestigten Schritt erkannte Ailen, dass es sich um einen Anführer handelte. Den Blick unverwandt auf Ailen gerichtet, den Kopf ein klein wenig gesenkt, sodass er mit stechenden, dunklen Augen, unter leicht zusammengezogenen Augenbrauen zu versuchen schien, den Störenfried zu durchschauen. Die schwarzbraunen, schulterlangen Haare wurden zunächst vom Wind erfasst und umwaberten den Kopf wie unheilvolle Fäden. Doch je länger er sich dem Regen aussetzte, desto schwerer wurden sie und hingen ihm bald wie ein schwarzer Vorhang herunter. Der durchdringende Blick war es, der Ailen sofort bis ins Mark traf. Er konnte nicht sagen, warum ihn der Anblick dieses Mannes so aufwühlte. An ihm war etwas, das ein gewisses Zentrum in seiner Körpermitte berührte, mit erotisierendem Prickeln erfüllte und in seinem Kopf für Gedanken sorgte, die er sich schon lange nicht mehr ausgemalt hatte. Der Blick, zusammen mit dem leicht kantigen Gesicht, dem dunklen Bartschatten auf Kinn und Wange und die misstrauisch zusammengekniffenen Lippen, löste es etwas in Ailen aus, das er seit gefühlten ewigen Zeiten nicht mehr gespürt hatte. Der Mann beeindruckte ihn, noch bevor er auch nur ein Wort hatte mit ihm wechseln können. War es dessen erhabene, leicht aufgeplusterte Art, sich zu bewegen, oder die Erkenntnis, dass das Imponiergehabe tatsächlich Wirkung auf ihn hatte? Die Haltung des Mannes zeugte von Kraft und Überlegenheit. Er wusste um seine Wirkung und setzte sie gezielt ein. Er baute sich vor Ailen auf und beäugte ihn überheblich.
»Ihr seid ein Magier?«, sagte er, leicht belustigt und mit deutlichem Hohn in der Stimme.
»Und Ihr seid?«
»Honon, der Hauptmann der Garde.« Sein Blick glitt selbstgefällig über Ailen und blieb für einen Moment länger an der Körpermitte haften. Ailen zog leicht die Augenbrauen zusammen, versuchte, den Mann einzuschätzen und kam zu dem Schluss, dass er es sich mit ihm vorerst nicht verscherzen sollte. Kurz vor dem Erscheinen des Mannes war die Spur zum Barghest verschwunden. Sie hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst, als sei mit ihm auch der Höllenhund in Rauch verpufft. Wenn er mehr erfahren wollte, musste er sich mit dem Mann gutstellen.
»Vom König persönlich entsandt?«, gab der Hauptmann ungläubig von sich. »Davon müsste ich wissen.«
»Offenbar seid Ihr es nicht würdig, über derartige Entscheidungen informiert zu werden«, erwiderte Ailen kühl. Wo zum Teufel war Valowiel? Und warum war die Garde nicht darüber aufgeklärt, dass sie Hilfe bekamen?
»Woher nehmt Ihr die Gewissheit, dass sich ein Barghest innerhalb dieses Gebäudes befinden soll?«
»Ich bin ein Magier«, wiederholte Ailen schon fast entnervt, »und habe das Talent, Wesen aufzuspüren. Ich konnte ihn ausmachen. Er war da.«
»Ach!« Honon schien davon wenig beeindruckt zu sein. »Ich muss Euch aber enttäuschen, Magier. Wir haben alles abgesucht, jedoch nicht einmal einen räudigen Straßenköter entdeckt. Ihr habt Euch getäuscht.«
»Das glaube ich nicht.«
Honon beugte sich leicht zu ihm, jedoch noch immer so weit von ihm entfernt, dass er ihm nicht zu nahe kam. »Ist er noch da?«, wollte er mit einem Anflug von Spott wissen.
Ailen knurrte innerlich. »Nein. Euer Aufgebot hat ihn verscheucht.«
»Na dann weiß ich ja nun, wie ich diese Bestie auf Dauer fernhalten kann.«
»Das wird nicht lange vorhalten.«
»Woher wollt Ihr das wissen? Wisst Ihr mehr als ich?«
Ailen seufzte innerlich. »Wo ein Barghest auftaucht, gibt es nur noch Tod und Verderben. Er wird erst verschwinden, wenn er getan hat, wonach ihm ist.«
»Vielleicht hat er das schon.«
»Er hat fünfzehn Priester getötet. Ich würde gerne mehr über die Opfer wissen, was sie verbindet oder wer sie zu Lebzeiten waren. Vielleicht kann ich ein sechzehntes Opfer dadurch verhindern.«
»Nehmt es mir nicht übel. Aber solange mir König Torunor nicht persönlich sagt, dass ich einem Magier Auskunft über verstorbene Ehrenmänner geben soll, wird nichts davon über meine Lippen fließen. Ihr habt mir keinen Beweis für Eure Behauptungen geliefert. Selbst der Barghest, weswegen Ihr meine Wachen ziemlich durcheinandergebracht hat, ist nicht aufgetaucht. Ihr seid ein Lügner. Ich sollte Euch in den Kerker werfen.«
»Tut, was Ihr für richtig haltet. Aber bevor Ihr das Ableben eines weiteren Ehrenmannes verzeichnen müsst, würde ich vorschlagen, Ihr schenkt meinen Worten Glauben.« Ailen konnte sich nicht davon abhalten, der Bezeichnung Ehrenmann einen verächtlichen Unterton zu verpassen.
»Nein, tu ich nicht.« Er winkte einem der Wachen, der sofort herangeeilt kam und Ailen in Gewahrsam nehmen wollte. Dieser reagierte sofort, noch bevor Honon selbst einschreiten konnte, und katapultierte die beiden Männer mit einer magischen Salve gegen die Außenmauer des Priestergebäudes.
»Wagt es nicht, mich anzutasten!«, warnte er die Wachen. Er straffte sich, als sich die zwei Männer auf die Beine hievten und erneut herankamen. Bevor sie einen weiteren Versuch machten, seiner habhaft zu werden, hielten sie jedoch inne.
»Bringt mich zum König!«, befahl Ailen mit scharfem Ton. »Dann können wir ganz schnell sämtliche Missverständnisse beiseite räumen.«
»Und was, wenn Ihr der Barghest seid?«
»Sehe ich wie ein räudiger Straßenköter aus?« Ailen schnaubte beleidigt und reckte sein Kinn. Honon begegnete dem stummen Blickduell ein paar Augenblicke lang, dann riss er sich davon los und nickte dem anderen zu.
»Also gut. König Torunor wird entscheiden, ob Ihr ein Lügner seid oder nicht.« Er winkte einigen Wachen und setzte sich schließlich in Bewegung. Ailen folgte ihm. Die Wachmänner hielten Abstand zu ihm, was dem Magier mehr als recht war. Er musste seine Tarnung so lange aufrechterhalten, bis er vor dem König stand, und durfte sich erst dann zu erkennen geben. Wüssten die Wachen über ihn Bescheid, käme er nicht einmal über die Schwelle des Palastes.
Honon marschierte in angemessenem Abstand neben ihm her. Ailen bemerkte die Seitenblicke, mit denen der Hauptmann das Profil des Magiers studierte. Ihm wurde mulmig zumute. Aber nicht, weil er durch die Musterung befürchtete, enttarnt zu werden. Sondern weil der Blick des Mannes so durchdringend war, dass seine Haut zu prickeln begann.
»Wie ist Euer Name?«, wollte der Honon wissen.
»Ailen.« Er kannte keinen Grund, warum er dies verheimlichen sollte.
»Ihr seid ein Feuerdämon?«
»Ja.«
Honon lachte kurz auf. »Wie kommt es, dass sich ein Dämon in die Dienste der Magier begibt? Ich dachte stets, dafür wären sich diese Kreaturen zu fein.«
»Da habt Ihr euch getäuscht.« Ailen konnte sich nicht gegen die Spitzfindigkeit wehren, die dem überheblichen Hauptmann einen Dämpfer verpassen wollte. »Und wie kommt es, dass es ein Mensch ohne nennenswerte Fähigkeiten bis zum Hauptmann der Asoth-Garde bringen kann?«
Ein Schnauben entkam dem Mann. »Euer Talent, Wesen aufzuspüren, scheint nicht weit zu reichen«, entgegnete Honon amüsiert. »Wenn Eure Behauptung wahr wäre, hättet ihr sehen müssen, dass ich ein hervorragender Kämpfer und Anführer bin und ich eine Vielzahl hervorragender Männer befehlige.«
»Um Arroganz zu erkennen, braucht es keine besonderen Talente«, gab Ailen kalt von sich.
Der Hauptmann grinste erhaben. »Was Ihr so abfällig Arroganz nennt, ist in Wirklichkeit Ehrgeiz und Stolz. Das hat mich zu einem bedeutenden Mann gemacht, zu dem man nun aufsieht.
»Zu einem Mann, der es zugelassen hat, dass fünfzehn seiner Schützlinge von einer Bestie zerrissen werden«, fügte Ailen spitz an.
»Ich bin der Meinung, alles Mögliche getan zu haben. Jedenfalls hat sich weder der Hohepriester noch König Torunor wegen der Geschehnisse bei mir beschwert. Sie wissen: Vor einem Barghest gibt es keinen Schutz. Keine hohen Mauern und keine noch so große Armee.«
»Seid Ihr da so sicher?«
Honon nickte selbstsicher. »Ich kenne die Legenden. Nichts kann diesen Höllenhund aufhalten. Wir können lediglich wachsam sein.«
»Er reißt nur Wesen, die Schuld auf sich geladen haben. Demnach haben diese fünfzehn Ehrenmänner ordentlich Dreck am Stecken. Oder wie seht Ihr das?«
»Ein Barghest ist ein Rächer. Er denkt vermutlich, dass ihm Unrecht zugefügt wurde und er nun dafür Vergeltung sucht.«
»Für was? Heißt es in den Lehren der Asoth nicht, dass niemandem Unrecht zugefügt werden darf?« Ailen kannte die Texte auswendig. Auch wenn die Großmeister nicht nach den Prinzipien lebten, standen diese auf seinem Lehrplan. »Niemandem bedeutet für mich, keinem einzigen Wesen. Weder einer Kreatur der Hölle, noch einem Mischwesen.«
Honon gab ein Knurren von sich, als Ailen die Mischwesen erwähnte, so als ob ihm allein die Erwähnung dieser Lebewesen unangenehm wäre. »In den Lehren der Asoth steht auch, dass ein Blut rein bleiben muss.«
»Haltet Ihr den Barghest für ein … Melézcum?« Ailen tat sich schwer, dieses Wort über seine Lippen fließen zu lassen.
Der Hauptmann lachte humorlos auf. »Es ist unmöglich, dass ein Barghest sich mit einem menschlichen oder irgendeinem anderen Wesen paart. Ihr wisst, was man von ihm sagt. Er ist im Grunde nichts weiter als ein Hund. Und welche Frau würde sich schon einem Köter hingeben?«
»Sicher nicht freiwillig.«
Erneut spuckte Honon aus. Dieser Gedanke schien ihn anzuwidern. »Ihr sprecht etwas aus, das kein gläubiger Asoth in den Mund nehmen würde.«
»Ich bin kein gläubiger Asoth«, gab Ailen gelassen von sich. »Ich bin ein Magier.«
»Vor dem König tätet Ihr gut, die Lehren zu achten.«
Ailen seufzte. »Ich weiß mich zu benehmen.«
Erneut wurde er von dem Hauptmann gemustert. Die Blicke, die dieser über seinen Körper schweifen ließ, machten ihn nervös. Ihm wurde heiß und kalt und er glaubte, dass die Blicke tiefe Löcher in seine Haut fraßen. Wären sie nicht in Wejym, würde er sich geschmeichelt fühlen. Anderenorts, weit weg von der Hochburg der Asoth scherte man sich einen Dreck drum, aus welchem Holz der andere geschnitzt war, solange man sich sympathisch war und es einem gefiel, sich aufeinander einzulassen. Ailen war nicht davon abgeneigt, sich mit einem Mann auf ein nächtliches Techtelmechtel zu treffen. Dies gefiel ihm wesentlich besser als mit einer Frau. Er hatte gelernt, die harten, sehnigen Körper zu schätzen. Sie waren ihm lieber, als die weichen, weiblichen Rundungen. Der Hauptmann gehörte zweifellos zu jener Sorte, mit der er sich gerne näher beschäftigt und ihn vielleicht auch sogar in sein Bett gezerrt hätte. Doch noch bevor er seine Gedanken weiter ausführen konnte, erinnerte er sich daran, wo er sich befand. In Wejym, jener Stadt, in der Mischlinge keine Rechte besaßen.
»Ist das Euer erster Besuch in Wejym?«, erkundigte sich Honon interessiert.
Ailen überlegte, ob er etwas von sich preisgeben sollte. »Schon lange her«, erwiderte er schließlich ausweichend.
»Wie lange?«
»Ist das von Belang?«
Der Hauptmann schritt einen Augenblick neben ihm her, ohne zu antworten. Offenbar musste er über die Antwort erst nachdenken. »Wenn Ihr nicht zum ersten Mal hier seid, solltet Ihr wissen, dass es gewisse Hierarchien gibt.«
»Befürchtet Ihr, ein Fremder könnte Euch den Rang ablaufen?«
Erneut lachte Honon auf. »Ganz gewiss nicht. Ohne mich werdet Ihr Euch verlaufen.«
Ein süffisantes Schmunzeln huschte um Ailens Lippen. »Ganz gewiss nicht.«
Die kleine Delegation an Wachleuten führte ihn in den Palast und brachte ihn nach kurzer Abklärung tatsächlich vor König Torunor. Ailen stand zum ersten Mal vor diesem Mann, der ihm nun in einer kostbaren Robe aus purpur gefärbtem Fell entgegenkam. Mit Grauen erkannte Ailen, dass das Fell von einem Einhorn stammte, denn der unverwechselbare Schimmer konnte selbst durch das Purpur nicht übertüncht werden.
Trotz aller Widerwillen beugte der Magier sein Knie und senkte ergeben den Kopf. Viel lieber hätte er dem Mann ins Gesicht gespuckt. Aber er konnte sich dem Erfolg seines Auftrags wegen beherrschen.
»Seid gegrüßt, Magier«, sprach ihn Torunor freundlich an. Der Mann war weit über die fünfzig. Gekräuseltes, graues Haar quoll über die Ränder der Krone. Die Hände, die er erhaben vor seinem Bauch faltete, wiesen deutliche Alterszeichen auf.
»Ich danke Euch«, erwiderte Ailen, bewusst auf die Anrede verzichtend. Er brachte es nicht über die Lippen, »Mein König« zu sagen. Es war nicht sein König.
»Ihr seid der Magier, den mir die Gilde geschickt hat?« Er schritt ein wenig auf den Gast zu. »Eigentlich hatte ich verfügt, dass die Angelegenheit diskret behandelt wird.«
»Die Umstände lagen etwas ungünstig«, antwortete Ailen, dem plötzlich bewusst geworden war, dass König Torunor gar nicht erst mit der Anwesenheit eines Magiers in seiner Stadt behelligt werden wollte. »Ich habe den Barghest im Priestergebäude aufgespürt und sah mich veranlasst, die Garde zu informieren.«
»Habt Ihr ihn erwischt?«
»Nein. Die Priester-Garde hat so viel Aufhebens verursacht, dass er entkommen ist.«
»Das ist betrüblich. Die Bedrohung ist also noch nicht abgewendet.«
Ailen erhob sich, ohne dazu aufgefordert zu werden. Die Magier hatten sich noch nie vor dem Herrscher von Wejym gebeugt, allerhöchstens aus Höflichkeit und um Streit zu vermeiden. Er blickte Torunor unvermittelt ins Gesicht. Dieser wich aufgrund der Hörner an der Stirn zurück, da auch er sofort den Dämon in seinem Gegenüber erkannte. Es war Ailen aber nicht genug. Er wappnete sich und nahm einen tiefen Atemzug, bevor er die Kapuze zurückschlug und die Elfenohren präsentierte.
Sofort wich der König zurück. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Wachmänner zückten ihre Schwerter. Alle Umstehenden schlugen die Hände vor den Mund und hielten den Atem an.
»Ein Melézcum?«, schrie Torunor und wandte sich sofort an den Wachmann, der den Frevel begangen hatte. Honon war ebenso wie vom Donner gerührt und starrte Ailen überrascht an. Dieser erkannte jedoch auch ein gewisses Aufblitzen in dessen Augen, als hätte er etwas geahnt oder als gefiel es ihm.
»Die Gilde schickt mir ein Mischblut?«, keifte der König entrüstet. »Wie können die Großmeister es wagen, mir einen Mischling ins Haus zu schicken?«
»Im Hause der Magier gilt jedes Lebewesen als gleich«, gab sich Ailen unbeeindruckt. Dies stimmte nicht so ganz, aber er wollte jetzt nicht alle Feinheiten erörtern. »Ich bin der Einzige, der den Barghest aufspüren kann.«
»Ich habe nach einem Magier geschickt.« Der Herrscher schnaubte wütend. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen. »Ich bin der König und da kann ich erwarten, dass wenigstens ein Großmeister persönlich seine Aufwartung macht. Ich erachte, diesen Frevel als eine öffentliche Demütigung zu betrachten.«
»Wie Ihr wünscht«, erwiderte Ailen besonnen. »Das beseitigt aber nicht Euer Problem.«
»Ich kann nicht zulassen, dass …« Torunor war außer sich vor Wut. Ailen war es jedoch müde, sich zu rechtfertigen oder die Entscheidung der Großmeister, ihn zu entsenden, infrage zu stellen. Er wusste genau, warum sie es getan hatten und welchen Ausgang sie sich davon versprachen. Und erst recht nicht wollte er sich von dem Monarchen anschreien und die Schuld dafür geben lassen, dass die Magier es wagten, einen König zu verhöhnen. Er verneigte daher sein Haupt, wandte sich einfach mitten im Satz des Königs um und schickte sich an, den Saal zu verlassen.
Die Wachen versperrten ihm sogleich den Weg. Ailen hob seine Hand, worauf sich das Prickeln der Magie in ihr sammelte und sich in Form von kleinen Funken entlud. Die Männer verharrten, schienen sich nun unschlüssig zu sein, ob sie es wagen sollten, sich gegen einen Magier zu stellen.
»Wo wollt Ihr hin?«, kreischte Torunor zornig.
Ailen wandte sich langsam um. »Da Ihr meine Dienste offenbar ablehnt, ziehe ich es vor, in die Feste der Gilde zurückzukehren … mit Eurer Antwort, mit Verlaub.«
Der Mund des Mannes öffnete sich. Ailen sah im Augenwinkel, wie der Hauptmann sich ein Grinsen nur schwer verkneifen konnte. Sein Gesicht war starr. In seinen Augen glitzerte es jedoch.
»Soll ich Euch nun helfen oder nicht?«, gab sich Ailen ungeduldig und trat wieder näher an den Monarchen heran. »Solltet Ihr Euch für ersteres entscheiden, so wäre es von Vorteil, wenn ich mich frei in der Stadt bewegen könnte, ohne belästigt zu werden. Entscheidet Ihr Euch dagegen, liegt es sicher auch in Eurem Interesse, wenn ich mich baldigst entferne.« Er blickte den Mann ernst an und begegnete dem stummen Duell mit den Augen problemlos. Dem Dämon in ihm hatte er die Ausdauer zu verdanken. Aber auch den Umstand, dass seine Augen zu glühen begannen, wenn die Emotionen in ihm hochkochten. Der König wich zurück, als er das Glühen bemerkte und schluckte hart.
»Ich weiß nicht, was sich die Großmeister dabei gedacht haben«, gab er leise, beinahe kalt von sich. »Ich habe stets versucht, ein gutes Verhältnis zwischen uns aufrecht zu erhalten. Aber dies ist der Gipfel. Eine Beleidigung auf höchstem Maße. Ich werde das nicht ungesühnt lassen.«
»Urteilt, wenn ich meine Arbeit vollendet habe«, riet Ailen ungeduldig. Sein Blick glitt zum Hauptmann, der seine Lippen zu einem schmalen Strich presste. Er sah aus, als müsse er jeden Moment lauthals loslachen oder sich vor Scham über seine Blindheit auf dem Boden winden. Ailen war sich noch nicht ganz sicher, wie er den Mann einschätzen sollte. Eine Idee machte sich in seinem Kopf breit. »Zu meiner Sicherheit und gewiss auch im Interesse aller Bewohner in Wejym, verlange ich Geleitschutz für die Dauer meines Aufenthalts. Euer bester Mann sollte gut genug sein, einen Melézcum zu beaufsichtigen. Meint Ihr nicht auch, König Torunor?«
Der Herrscher öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder. Er atmete einige Male tief durch, ehe er sich umwandte und Honon, den Hauptmann der Priester-Garde, zu sich winkte.
»Ihr seid mir für die Sicherheit Wejyms zuständig«, sagte er schroff. »Kein einziger Schritt ohne Euch.«
Honon nickte ergeben und gesellte sich sogleich pflichtbewusst an Ailens Seite.
»Nun denn«, verfügte der König. »Die Gilde wird noch von mir hören. Solltet Ihr versagen, werde ich nicht zögern, Eurem Geleitschutz anzuweisen, Euch die Kehle durchzuschneiden. Als Antwort auf diese Schmach der Gilde.«
Ailen lächelte erhaben. »Es wird mir eine Freude sein«, erwiderte er, verneigte leicht sein Haupt, wandte sich ohne ein weiteres Wort oder einer Erlaubnis um und schickte sich ein erneut Mal an, den Saal zu verlassen. Diesmal hielt ihn keine Wache auf. Sie schienen sogar froh zu sein, ihn passieren zu lassen.
Honon folgte ihm wie ein Schatten.
Den Weg bis zur Straße absolvierten sie schweigend. Um Ärger im vornherein zu vermeiden, stülpte sich Ailen die Kapuze über, sobald sie den Saal verlassen hatten. Der Hauptmann trottete hinterher, als würde ihn nichts mehr aufregen können. Dennoch überkam Ailen das Gefühl, dass die Unruhe in diesem Mann herrschte wie ein Feuer im Schmiedeofen.
»Euch liegt etwas auf der Zunge, Hauptmann?«, brach Ailen das Schweigen und trat auf die Straße.
»Ich bewundere Euren Mut, Magier«, erwiderte Honon. Aus seiner Stimme war nicht herauszulesen, ob er es ironisch oder aufrichtig meinte.
»Es beruhigt mich, dass Ihr mich Magier nennt und nicht …« Diesmal schaffte er es nicht, das Schimpfwort über seine Lippen fließen zu lassen.
Ein leises Lachen entkam Honon. »Mit diesem letzten Satz habt Ihr mich eben wieder enttäuscht.«
Ailen blieb stehen und wandte sich zu dem Mann um. Honon ungefähr im selben Alter wie er selbst, allenfalls ein oder zwei Jahre älter. Um die Augenwinkel hatten sich erste Lachfältchen gebildet, was bedeutete, dass er ein humorvoller Mann war. Eine Narbe am Kinn und eine über der rechten Augenbraue zeugten von der Leidenschaft, Einsatz im Kampf zu zeigen und sich selbst vor Verletzungen nicht zu scheuen. Die listigen Augen sagten Ailen, dass der Mann klug und umsichtig war und man ihn nicht so schnell übertölpeln konnte. Als er aber das Kinn neckisch vor reckte, gab Ailen ein abfälliges Grunzen von sich. Vermutlich war Honon ein Meister darin, sich über andere lustig zu machen und sich gerne in Prügeleien verwickeln zu lassen. Vermutlich liebte er es, Intrigen zu schmieden und Unglück über andere heraufzubeschwören.
»Ich bin es gewohnt, von euresgleichen verhöhnt zu werden«, begann er und musste das neuerliche Aufglühen seiner Augen niederringen. »Ich verzichte auf Eure Wertschätzung und jegliche geheuchelte Freundlichkeit mir gegenüber. Ihr müsst Euch nicht verstellen. Alles, was ich von Euch erwartete, ist, dass Ihr mir Leute wie Euch vom Hals haltet, damit ich ungehindert arbeiten kann.«
»Das habt Ihr geschickt eingefädelt.« Honon schenkte ihm ein anerkennendes Nicken. »Auch wenn Ihr es nicht hören wollt, aber ich bewundere Euren Mut wirklich. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Mischblut sich so ohne Weiteres vor den König schmuggelt und auch noch Forderungen stellt.«
»Und ungeschoren davonkommt«, vervollständigte Ailen den Satz. »Das muss Euch wohl ganz besonders wurmen.«
»Ihr habt mich überrascht.«
»Das schmälert Euer Ansehen. Erst lasst Ihr den Barghest laufen, dann erkennt Ihr einen Mischling nicht einmal, wenn er sich direkt vor Eurer Nase befindet.«
»Ich hatte einen Verdacht, es jedoch nicht gewagt, einen leibhaftigen Magier zu verunglimpfen.«
»Das sagt Ihr jetzt nur, um Eure Ehre zu retten.«
»Das sage ich, weil es so ist.«
»Ich habe Euer Gesicht studiert. Ihr wart ebenso überrascht und überrumpelt, wie jeder im Raum. Das kratzt an Eurer Ehre, doch Ihr seid zu stolz oder zu überheblich, um es zuzugeben.«
»Ihr treibt dieses Spielchen wohl oft?« Ein Mundwinkel zuckte süffisant. In den Augen blitzte es belustigt auf.
»Unseresgleichen spielt keine Spielchen.«
»Wen meint Ihr damit? Die Magier, die Dämonen oder die Elfen?«
»Sucht Euch was aus.« Damit wandte sich Ailen wieder um und marschierte weiter. Ob Honon ihm folgte, überließ er diesem, war jedoch davon überzeugt, dass er den Befehl des Königs ernst nahm und ihn nicht mehr unbewacht ließ.
»Dann nehme ich die Dämonen«, sagte Honon, der sich mit wenigen Schritten an Ailens Seite gesellt hatte. »Mit denen ist nicht zu spaßen.«
»Elfen und Magier können Euch keinen Respekt einflößen?«
»Nicht wirklich. Elfen sind zu weichherzig und würden es nie wagen, einem anderen Lebewesen etwas zuleide zu tun. Magier sind an einen Kodex gebunden, der ihnen besagt, alles Leben zu schützen und zu ehren. Die Dämonen jedoch scheren sich nicht darum. Sie töten aus Freude. Also will ich den Dämon in Euch lieber nicht zu einem Spielchen herausfordern.«
Ailen knurrte leise. Dieser Mann ging ihm auf die Nerven. Gleichermaßen, wie er ihn faszinierte.
»Mich wundert, dass sich ein Hauptmann der Asoth-Garde überhaupt soweit herablässt, mit einem Mischblut über Scherze zu reden.«
»Ihr solltet aufhören, so über Euch zu reden, Magier. Mit jedem Satz enttäuscht Ihr mich mehr. Ich dachte, Ihr hättet den Mumm für Euer verwässertes Blut einzustehen. Stattdessen macht Ihr Euch vor mir nieder.«
Ailen blieb stehen, besann sich einen Moment der Ruhe, bevor er sich umdrehte und den Mann mit glühenden Augen anfunkelte. »Treibt es nicht zu weit!«, warnte er ihn. »Der Dämon in mir ist sehr leicht reizbar.«
Honon blieb unbeeindruckt. »Ich sehe es.«
»Fordert Ihr mich heraus?«
»Würde mir nicht einmal im Traum einfallen.«
»Was treibt Ihr dann für ein Spiel?«
»Ich bewundere Euren Mut.«
»Das habt Ihr mir schon gesagt. Ich will den wahren Grund hören.«
»Euer Mut«, blieb Honon hartnäckig. »Jemand mit Eurer Herkunft und Euren Fähigkeiten, der es mit einem Barghest aufnehmen will. So etwas erlebt man nicht alle Tage.«
»Ihr könnt den Ruhm gerne für Euch ernten. Ich bin nicht daran interessiert.«
»Wofür riskiert Ihr es dann? Aufstieg zum Großmeister? Anerkennung innerhalb der Gilde?«
»Was geht Euch das an?«
»Reine Neugier.«
Ailen schnaubte, wandte sich um und ging weiter. Er war es leid, sich weiterhin mit diesem Mann zu beschäftigen. Einzig, um ihn am Ende dieses Auftrags ins Bett zu bekommen, würde die Mühe lohnen, weiter auf ihn einzugehen. Vorerst hatte er aber andere Angelegenheiten zu meistern. Auf der Straße kam ihnen der Waldgeist Valowiel entgegen. Seinem Gesicht war zu entnehmen, dass ihm die Geschehnisse ganz und gar nicht gefielen.
»Konntet Ihr nicht warten, bis ich mit dem König gesprochen habe?«, fuhr er ihn sogleich an. »Ihr habt mich bloßgestellt. Und das von einem Mel…«
Schneller als Ailen reagieren konnte oder auch nur erwartet hatte, war Honons Hand vorgeschnellt, hatte sich um den Hals des Mannes gelegt und ihm damit sprichwörtlich das Wort abgeschnitten. Er rückte nahe an den Waldgeist heran und zischte ihm drohend ins Gesicht. »Wir beide wissen, was er ist. Und dabei bleibt es. Also zügelt Eure Zunge, Waldschrat.«
Valowiel keuchte erschrocken und nickte verhalten. Als Honon losließ, schnaufte er tief durch und warf der Wache einen bitterbösen Blick zu. »Ich bin des Königs Gesandter«, murrte er. »Was habt Ihr mit … ihm zu schaffen?«
»Er ist der Aufpasser«, kam ihm Ailen zuvor. »Ich konnte leider nicht warten und habe mir den Passierschein selbst besorgt.«
»Es gab einen Aufruhr am Tempel. Seid Ihr dafür verantwortlich?«
»Nein, der Barghest.«
»Das sagt Ihr«, widersprach Honon.
»Das sage ich, weil es so ist«, gab Ailen schnippisch von sich.
»Ich durchschaue nun Euer Spiel, Magier. Ihr habt uns damit in Aufregung versetzt, um dem König vorgestellt zu werden.«
»Denkt, was Ihr wollt, Wachmann. Ich weiß, was ich gespürt habe.«
»Ich bezweifle, dass der Barghest am hellen Tag Beute reißt. Er hat es bisher nur nachts getan. Ihr habt die Angst unbescholtener Priester genutzt, um Eure Ziele zu erreichen.«
Ailen nahm einen tiefen Atemzug. Er wollte sich nicht mit dem Mann streiten oder ihm erklären, wie sich diese Gabe auf ihn auswirkte. Es war vollkommen einerlei, was der Gardist von ihm dachte oder wofür er ihn hielt. Es zählte einzig, dass er die Bestie aufspürte und unschädlich machte. Wobei er ihn lieber fangen und ihn für alle Zeiten in einen Zwinger sperren würde, als ihn zu töten. Das Aufspüren hatte schon einmal reibungslos geklappt. Für das Unschädlichmachen musste er sich noch etwas einfallen lassen. Nichtsdestotrotz wollte er sich nicht auf ein Streitgespräch einlassen und ballte seine Hände unter dem Umhang zur Faust. In den Handballen kribbelte die Magie ungeduldig.
»Es hat funktioniert«, erwiderte er nur schroff. Damit ging er einfach weiter und ließ die beiden Männer stehen. Er war müde und würde sich am liebsten an einen ruhigen Ort verziehen, um sich auszuruhen oder etwas zu schlafen. Vorher musste er aber noch herausfinden, warum der Barghest gerade diese Opfer ausgesucht hatte.
»Waldgeist!«, rief er über seine Schulter hinweg. »Habt Ihr die Priester schon befragt? Ich brauche Antworten.«
»Ich lasse mir von Euch … nicht befehlen!«, entrüstete sich Valowiel und konnte sich gerade noch zurückhalten, jenes unflätige Wort zu nennen. »Die Priester weigern sich, Euch in den Tempel zu lassen oder auch nur anzuhören.«
»Dann erklärte König Torunor bitte, warum heute Nacht das sechzehnte Opfer fällt.«
Honon war plötzlich an seiner Seite. »Woher wollt Ihr wissen, dass er heute Nacht zuschlagen wird?«
»Er befindet sich bereits im Gebäude«, blieb Ailen beharrlich bei seiner Aussage. »Vielleicht ist er schon die ganze Zeit da und weiß sich gut zu verstecken oder tarnen. Und er weiß sich meinem Spürsinn zu entziehen. Ich muss da rein. Sagt das den Priestern. Wenn sie nicht noch einen Toten zu beklagen haben wollen, müssen sie mich wohl oder übel dulden.«
»Der Hohepriester höchstpersönlich hat verfügt, Euch keinen Einlass zu gewähren.«
Ailen blieb kurz stehen, wirbelte herum und marschiert zurück zum Palast.
»Was habt Ihr vor?«, rief Valowiel hastig.
»Torunor zu erzählen, dass sich die Priester seinem Befehl widersetzen.«
Der Wachmann war stehen geblieben. »Die Priester sind die Hoheiten hier im Land. Sie gegen den König aufzuhetzen wird unmöglich sein.«
Ailen hielt an und wandte sich zu Honon um. »Und was schlagt Ihr vor, wie ich dann herausfinden soll, was die Priester ausgefressen haben, um den Tod zu verdienen?«
Honon sah zu Valowiel. »Hat der Hohepriester nur den Tempel erwähnt oder was hat er genau gesagt?«
Valowiel besann sich kurz, um sich an jedes Wort zu erinnern. »Dieses …« Er räusperte sich, um das Wort zu überspielen, dass der hohe Mann benutzt hatte, »… darf seinen Fuß nicht in die heiligen Hallen setzen. Kein Diener der Asoth darf ihm Gehör schenken … Dann spuckte er aus und verneigte sich vor der Statue der Göttin Eonath.«
»Nun denn …«, wandte sich Honon an Ailen. »Der Tempel ist Euch verwehrt. Die Priester werden auf Eure Fragen nicht antworten. Aber die Wohngebäude dürft Ihr betreten. Dort sind auch die Morde passiert. Und ich kann für Euch mit den Priestern reden.«
»Warum tut Ihr das?«
»Wir haben dasselbe Ziel. Die Bestie zu fangen und zu töten.« Honon machte ein verbissenes Gesicht. Es war jedoch nicht zu deuten, ob er genauso entschlossen war, oder ob ihn ein anderes Problem quälte.
»Nun denn …« Ailen machte sich wieder auf den Weg Richtung Tempel.
Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Bonny B. Bendix
Lektorat: ich selbst und die betagruppe
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2017
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