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1

»Dumm wie Dodo!«

Die leere Hülle eines Computerspieles flog dem beleidigenden Spruch hinterher. Sie verfehlte den Sprecher jedoch und landete auf dem Wohnzimmertisch, wo es vom Schwung entfacht über die glatte Platte schlitterte, die TV-Zeitschrift, die Schale mit den Salzstangen und ein volles Glas Cola mitnahm. Die Katastrophe war jedoch nicht mehr aufzuhalten, denn Finn, der die Hülle geworfen hatte, saß zu weit entfernt, um sie mit einem beherzten Hechtsprung aufzuhalten. Und Lars, derjenige, der seinem Bruder die drei Worte an den Kopf geworfen hatte, machte sich nicht die Mühe, das Wurfgeschoss aufzuhalten. So landete das Cola mitsamt den Salzstangen auf dem weißen Teppich, wo es zu einem bizarren abstrakten Kunstwerk mutierte.

Ihre Mutter würde ihnen den Kopf abreißen – nein, nur Finn, denn im Grunde war er ständig an allem schuld.

Es war aber auch irgendwie zum Haareraufen. Von Kindesbeinen an hatte Finn das Pech für sich gepachtet, als sei an seiner Wiege eine böse Fee gestanden, die ihn mit diesem Unglück gesegnet hatte. Dazu kam, dass er ein wenig langsamer war und viel länger als andere Kinder gebraucht hatte, um etwas zu kapieren.

Ein Fluch entkam Finn. Er sprang vom Schreibtischstuhl auf und versuchte noch, wenigstens das Colaglas aufzuhalten. Doch dazu hätte er über den Tisch springen müssen, was rein logisch nicht zu bewältigen war. Stattdessen blieb er mit dem Fuß an der Teppichkante hängen und landete bäuchlings auf dem weißen Flauschbelag.

Lars lachte schallend los. »Sag ich doch, dumm wie Dodo!«, gaggerte er, sich den Bauch haltend.

»Ich hasse dich!«, warf ihm Finn an den Kopf, rappelte sich auf die Beine, rieb die angeschlagenen Knie und zog den Tisch zur Seite, um die bis unter das Sofa verstreuten, mit Cola getränkten Salzstangen einzusammeln. Die Fernsehzeitschrift schwamm in brauner Brühe. Der Zuckersaft war bis zum Sofa gespritzt, sodass nicht nur das Heiligtum ihrer Mutter, sondern auch noch das teure Möbel besudelt war. Als ob das nicht genügte, kam eben jene ins Zimmer und stieß einen Entsetzensschrei aus.

»Was hast du jetzt schon wieder getan?«, kreischte sie und eilte näher. Sie stieß ihren Jüngsten beiseite, als befürchtete sie, dass er noch alles verschlimmerte. »Kannst du denn nicht aufpassen?«

»Lars …«, setzte Finn an und wurde prompt von seiner Mutter unterbrochen.

»Schieb nicht alles auf ihn!«, fauchte sie ihn an. »Du bist ein Tollpatsch in Person. Lass mich! Geh weg!«, befahl sie säuerlich. »Ich mach das schon.«

Finn seufzte laut, erhob sich und verließ das Wohnzimmer. Das neue Computerspiel, das er hatte ausprobieren wollen, war nun uninteressant geworden. Er hatte es sich ohnehin nur von einem Kumpel ausgeliehen. Gleich morgen würde er es ihm wieder zurückgeben. Doch plötzlich blieb Finn stehen und kehrte um. Die Hülle war sicher auch mit Colasaft besudelt. Sein Kumpel würde ihm den Hals umdrehen.

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, nahm seine Mutter die Plastikhülle gerade mit spitzen Fingern hoch und warf sie achtlos auf den Tisch. Dunkle Tropfen fielen von dem schwarzen Plastik herab und bildeten auf dem Wohnzimmertisch eine kleine Pfütze.

Mist! Damit war ein neues Spiel fällig. Und das, wo er ohnehin ständig mit seinen Finanzen zu kämpfen hatte.

Warum musste ihm auch immer so eine Scheiße passieren? Wenn Lars ihn nicht bei jeder Gelegenheit provozieren würde, wäre es vermutlich gar nicht passiert. Dass man ein neues, unbekanntes Spiel versemmelt und es die ersten zwanzig Versuche gar nicht erst über das erste Level schafft, ist doch normal. Finn liebte Computerspiele, aber das war was Neues und er musste sich erst eine Strategie überlegen, wie er Level Eins überstehen konnte, ohne als roter Fleck auf dem Bildschirm zu enden. Dass Lars ihm die ganze Zeit über die Schulter geschaut hatte und jeden seiner Schritte, Sprünge, Würfe und Schüsse mit abfälligen Kommentaren bedacht hatte, war nicht sehr hilfreich. Aber das kannte er bereits von ihm.

Von Lars stammte auch der Spruch: »Dumm wie Dodo!«

Nein, eher von Finn selbst, denn als ihn Lars das erste Mal der Dummheit bezichtigt hatte, war Finn vier Jahre alt gewesen und hatte den Spruch »Dumm wie Bohnenstroh!«, nicht richtig verstanden. Da er im Kindergarten ein Buch über ausgestorbene Lebewesen gelesen hatte, in welchem auch von einem Dodo die Rede war, hatte er gedacht, Lars meinte den Vogel und hatte sich erst stolz gezeigt, dass ihn sein Bruder mit diesem ganz besonderen Tier verglich. Natürlich hatte er nachgefragt und Lars damit einen Lachflash verpasst, der bis heute unvergessen war. Zu allem Übel hatte Finn auch noch den Dodo aus dem Buch abgezeichnet und ihm seinen Namen gegeben. Das war dann die Besiegelung des Spruches, sodass Lars ihn nun bei jeder Gelegenheit an den Mann brachte.

»Dumm wie Dodo!«

Finn hasste es mittlerweile so sehr, dass er jedes Mal sofort auf hundertachtzig war, sobald ihm sein Bruder diesen Satz an den Kopf warf. Er war nicht dumm, ganz und gar nicht. Finn brauchte einfach nur ein wenig länger und tat Dinge, die er besser vorher genauesten überlegt hätte. Gut möglich, dass er ein Tollpatsch war und unüberlegt, aber dumm war er wirklich nicht. Er war zu gutmütig, um an das Schlechte im Menschen zu glauben. So passierte es ihm leider zu oft, dass man ihn ausnutzte. Auch sein Bruder nutzte dies gnadenlos aus und hatte sich schon die Datenscheibe aus dem Player-Fach geholt, noch bevor Finn sie retten konnte.

»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mal mein Glück versuche, oder?«, rief er und eilte damit schon aus dem Raum, hinauf unters Dach, wo er seine Studentenbude hatte, voll ausgestattet, mit einem Hochleistungscomputer, Musikboxen und jede Menge technischen Krimskrams, das er für sein Ingenieurstudium brauchte. Finn wohnte im Erdgeschoss, in einem Zimmer neben dem Schlafzimmer seiner Eltern. Finns Jugendzimmer war mit knapp 12 Quadratmetern nicht einmal halb so groß wie das Atelier unter dem Dach. Es bot auf Teufel komm raus keinen Platz für einen Schreibtisch und einen Computer, sodass dieser im Wohnzimmer untergebracht war. Spielen war für ihn nur möglich, wenn seine Eltern nicht fernsahen, also eigentlich nur tagsüber, wenn er selbst in der Arbeit war.

»Das ist nur geliehen!«, rief er seinem Bruder hinterher. »Ich muss es morgen zurückgeben.«

»Kein Problem!«, kam es zurück. Dann schepperte die Tür zu seinem Zimmer ins Schloss. Der Knall hallte bis zu ihm herunter.

Seufzend wandte sich Finn um. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, ihm die CD wieder abzujagen.

Seine Mutter war noch immer damit beschäftigt, die Salzstangen aufzusammeln. Mit spitzen Fingern pulte sie fast jeden Krümel einzeln aus den Fasern, damit sie den Colasaft nicht zu tief reindrückte. »Hilf mir!«, rief sie über ihre Schultern hinweg. »Hol was, wo wir den Dreck reintun können!«

»Du sagtest doch …« Finn gab es auf, marschierte in die Küche und schnappte sich die große Salatschüssel, die seine Mutter gerade abgespült und auf der Anrichte abgestellt hatte.

»Doch nicht sowas!«, keifte sie sofort. »Eine Kehrrichtschaufel!«

»Hast du nicht gesagt«, gab er pampig zurück, wandte sich um und holte das Gewünschte.

Mit einem unwirschen Laut entriss sie ihm die Schaufel. »Den Besen auch!«, schob sie hinterher. »Oder wie soll ich die Krümel unter dem Sofa sonst rausbekommen?«

»Dann sag das doch!« Finn trottete ein drittes Mal in die Küche und holte auch den Handbesen. Manchmal hasste er alle. So oft hatte er davon geträumt, dass er dies alles hinter sich lassen und in einer fernen Stadt vollkommen neu beginnen konnte. Als neuer Finn, dem nicht ständig solche dummen Sachen passierten.

Er musste aber zugeben, dass er mit seiner Familie trotz allem Glück hatte. Als er mit fünfzehn erkannte, dass er schwul ist und sich vor ihnen outete, nahmen sie es ganz locker auf. Als Jüngster von fünf Kindern, drei Jungs und zwei Mädels, war er schon immer das Nesthäkchen, das niemand für voll nahm. Lars war der Älteste und hatte nach dem Auszug der anderen Geschwister das Dachgeschoss für sich beansprucht, das bis dahin ein einziges großes Kinderzimmer gewesen war. Timo, Alina und Marie waren jeweils mit 18 ausgezogen. Timo hatte inzwischen schon einen Sohn und arbeitete als Manager in einer Fastfood-Kette. Die Zwillinge Alina und Marie konzentrierten sich auf ihre Karrieren als Bürokauffrau und Verkäuferin in einem teuren Modeladen und hatten mit Kind und Kegel wenig am Hut, eher für Partys und ständig wechselnde Partnerschaften.

Finn wäre auch gerne mit 18 ausgezogen, um all dem zu entgehen. Doch sein Schreinergehalt reichte bei weitem nicht aus, um sich eine Wohnung und ein Leben zu finanzieren. Er hatte erst vor einem Jahr die Lehre abgeschlossen, mit einem Notendurchschnitt, auf den er selbst stolz war, bei Lars jedoch höhnisches, schallendes Gelächter hervorrief. Finn hatte sich im Lernen schon immer schwer getan, sodass er hart dafür gebüffelt hatte, um unter den Schnitt von 3,0 zu kommen und die Prüfung damit zu bestehen. Er schaffte es schließlich mit 2,7, worauf er so stolz war, dass er auf dem Nachhauseweg von der Schreinerinnung fast platzte. Lars hatte ihn schnell von seinem persönlichen Treppchen heruntergeholt und ihn noch Wochen danach mit dem für ihn miesen Abschluss aufgezogen. Die Firma, in der er seine Lehre gemacht hatte, übernahm ihn letztendlich, weil sie einen großen Auftrag bekommen hatten. Finn war das egal, Hauptsache, er konnte in seinem Beruf arbeiten. Es machte ihm Spaß, etwas mit eigenen Händen zu schaffen. Er hatte sein Zimmer bereits komplett umgeplant, sodass neben Bett und Kleiderschrank auch ein Schreibtisch für seinen Spielecomputer Platz fand. Im Internet war er auf intelligente Systeme gestoßen, mit denen man mit wenigen Handgriffen Möbelstücke komplett umfunktionieren und damit auf kleinstem Raum doch alles unterbringen konnte, was benötigt wurde. Doch es haperte an der Ausführung, dem Mut und dem Geld. Seine Eltern waren nicht bereit, ihm etwas vorzuschießen, weil sie es für unnötig hielten und nicht daran glaubten, dass er es schaffte. Sein Vater hielt es für Geldverschwendung und wusste bereits im Vorfeld, dass sein Jüngster das Vorhaben nicht zu Ende bringen würde.

Nach einer Stunde Schrubben, Teppich einweichen und saugen war von dem Malheur nichts mehr zu sehen. Seine Mutter war noch immer sauer und gestattete ihrem Jüngsten nicht, sich mit einer Ersatzcola auf dem Sofa zu platzieren. So nahm Finn die Flasche auf sein Zimmer und verkrümelte sich ins Bett. Es war noch lange nicht Schlafenszeit, dennoch wusste er nichts anderes zu tun. An den PC konnte er jetzt nicht mehr, weil gleich die Tagesschau begann und sein Vater störte das Surren des Computers und das Klacken der Tastatur, wenn er Nachrichten schaute.

Er könnte ausgehen, aber dazu war ihm die Lust vergangen. Vermutlich war er der einzige zwanzigjährige Schwule in der Stadt, der an einem Freitagabend nicht die Sau rausließ. So einer war Finn nicht. Er mochte keine One-Night-Stands, obwohl er sich schon oft darin probiert hatte. Aber es hinterließ in ihm stets eine Leere, die viel unangenehmer war als der herzlose Sex, so heiß er auch gewesen sein mochte.

Oh, es gab schon den einen oder anderen, den er gerne mitgenommen und in seinem Bett noch einmal vernascht hätte. Abgesehen davon, dass dies unmöglich war, weil er noch zuhause wohnte und es seine Eltern sicher nicht verstanden hätten, wenn aus seinem Zimmer eindeutige Geräusche gekommen wären, wollte er sich nicht damit blamieren. Sein Bruder hätte die Gelegenheit sofort beim Schopf gepackt und die Eroberung seines kleinen Bruders genauestens über den Dodo aufgeklärt. Nicht nur hätte, sondern er hat es auch schon getan. Finn war 17 und brachte stolz seinen neuen Freund nachhause, um ihn seinen Eltern vorzustellen. Lars hatte nichts besseres zu tun gehabt, als das Baby-Album herauszuholen und Klein-Finn in Windeln oder gar nackt zu präsentieren. Ausgeschmückt mit Anekdoten aus dem Leben, in denen es um Missgeschicke und Fehlentscheidungen ging. Finns neuer Freund beendete wenige Tage später die Beziehung, worauf Finn niemals wieder jemanden mitbrachte.

Gegen neun Uhr ging die Tür auf und sein Vater trat unaufgefordert herein. Ein weiterer Grund, warum Finn darauf verzichtete, jemanden mitzubringen. Hier wurde die Privatsphäre ziemlich klein geschrieben, zumindest, wenn es um die von Finn ging.

»Geh ins Bett. Ich brauch dich morgen früh zum Ausräumen der Garage. Die Sperrmüllleute kommen am Montag«, eröffnete ihm sein Vater.

Finn murrte. »Ich treffe mich morgen mit einem Arbeitskollegen, muss ihm das Spiel wiedergeben. Was ist mit Lars? Der kann doch auch helfen.«

»Lars muss für seine Klausuren lernen. Dann hilfst du mir eben vorher.« Damit war das Thema für den Vater beendet. Er schloss die Tür und ließ Finn in seiner Wut allein.

Warum immer ich?, fragte sich Finn. Ja, genau, weil ich dumm wie Dodo bin.


2

Linus rempelte die Kaffeetasse an, worauf sie umkippte und sich der hellbraune Inhalt über den Tisch ergoss. Er fluchte, sprang auf und holte schnell einen Lappen. Er war heute Morgen aber auch absolut schusselig. Normalerweise war er nicht so, hatte alles zu jeder Zeit unter Kontrolle. Missgeschicke passierten ihm selten, weil er lieber dreimal drüber nachdachte, als einmal unkonzentriert zu sein. Ganz anders der Gast, der sich für drei Uhr angekündigt hatte. Eigentlich sollte er nur das ausgeliehene Computerspiel zurückgeben. Aber Linus hoffte, dass er ihn dazu überreden konnte, in die Wohnung zu kommen, damit sie sich noch ein wenig über das Spiel unterhalten konnten – vielleicht auch für mehr. Linus hoffte es so sehr.

Finn war ein liebenswerter, süßer Chaot, dessen Lächeln so entwaffnet war, dass man sich kaum auf die Arbeit konzentrieren konnte. Linus hatte jedenfalls seine liebe Müh und Not, sich nichts anmerken zu lassen. Als Finn eines Tages von einem Spiel erzählt hatte, das er toll fand, glaubte Linus, darin eine Chance zu sehen, dem Mann näherkommen zu können. So behauptete er, es bereits zu besitzen, und bot ihm an, es ihm auszuleihen. Natürlich hatte Linus mit derart Zeitvertreib absolut nichts am Hut, besaß nur einen Laptop, mit dem er surfen und chatten konnte. Spiele spielte er nur in Form von Solitär. Für weiteres war ihm seine Zeit zu schade. Er besaß nicht einmal eine Spielekonsole, allenfalls ein paar Brettspiele und einen Satz Karten, die nur selten aus der Schublade geholt wurden. Als Finn auf dieses Angebot einging, marschierte Linus nach Feierabend in den nächsten Spieleladen, kaufte es und brachte es am darauffolgenden Tag mit. Natürlich hatte er es vorher von der Cellophanhülle befreit, das Inlett ein wenig zerknittert und die Scheibe selbst ein ganz klein wenig zerkratzt, damit es benutzt aussah. Finns glückliches Lächeln war die Belohnung für den Haufen Kohle, den er vermutlich für ein Teil ausgegeben hatte, das er niemals benutzen würde können. Er hatte sogar damit geliebäugelt, es ihm einfach zu schenken. Vielleicht tat er dies auch, nur um noch einmal dieses Lächeln zu sehen.

Noch über vier Stunden. Schlaf hatte er in dieser Nacht keinen gefunden. Ständig musste er daran denken, dass am Nachmittag Finn zu ihm kam. In Gedanken malte er sich schon aus, was er alles zu ihm sagen und was er mit ihm tun würde. In der Schreinerei konnte er nicht zeigen, dass er sich Hals über Kopf in den frisch gebackenen Gesellen verknallt hatte. Niemand wusste von seiner Homosexualität. Und das sollte auch so bleiben. Es gab genug Arschlöcher dort, sodass er auf Ärger verzichten konnte. Bereits am ersten Tag hatte Linus bemerkt, dass auch Finn am gleichen Ufer fischte. Die Blicke, die er anderen Männern hinterherschickte, waren eindeutig. So manches Mal wünschte sich, er würde ihm so hinterher sehen.

Noch drei Stunden. Linus’ Magen knurrte, weil er kaum etwas gegessen hatte. Er brachte jedoch keinen Bissen herunter. Seit er vollkommen entnervt aus dem Bett gerollt war, hatte er versucht, sich mit Hausarbeit abzulenken. Die Küchenspüle schrubbte er nun schon zum dritten Mal ab. Der Staubsauger stand noch immer im Wohnzimmer. Sollte er auch noch die Fenster putzen? Linus lachte über sich selbst. So nervös war er schon lange nicht mehr gewesen. Doch er hatte sich vorgenommen, heute endlich Nägel mit Köpfen zu machen und Finn zu sagen, was er für ihn empfand. So schnappte er sich den Staubsauger und lief ein zweites Mal durch die Wohnung, um sämtliche Spinnweben, Staubflusen und Krümel einzusammeln.

Noch zwei Stunden. Inzwischen wusste Linus schon nicht mehr, was er noch tun sollte. Duschen war eine gute Option, also sauste er ins Bad und setzte die Idee in die Tat um. Danach putzte er sämtliche Wassertropfen und Kalkflecken ab und war danach wieder reif für eine weitere Dusche. Die Nervosität ließ die Schweißporen rotieren. Mann, er kannte sich selbst nicht mehr. Aber die Vorfreude auf Finn brachte ihn total durcheinander. Heute war der Tag der Tage. Seit einem Jahr scharwenzelte er schon unschlüssig um Finn herum, sodass es endlich an der Zeit war, für Klarheit zu sorgen. Er mochte ihn, sehr sogar, träumte von ihm und stellte sich jeden Morgen vor, wie es wäre, wenn der süße Kerl neben ihm schlief. Wenn er die Augen aufmachte und in sein entspanntes Gesicht sah, die Lippen leicht geöffnet, ein Lächeln auf ihnen, das noch in den Erinnerungen der vergangenen heißen Nacht schwelgte.

Er hatte ihn schon oft stöhnen und ächzen hören, bei der Arbeit, wenn er schwere Sachen stemmte. Dabei steckte er oft die Zungenspitze in den Mundwinkel. Das war so süß, dass Linus mit dem Zucken seines Schwanzes kämpfen musste. Oder wenn er sich mit gespreizten Fingern durch die Haare fuhr, die Hand kurz im Nacken liegen ließ und seine eben getane Arbeit mit kritischem Blick musterte. Der Blick, den Finn dabei draufhatte, hätte er gerne gesehen, wenn sie zusammen im Bett lagen. Wenn er sich streckte, hob sich sein T-Shirt an und entblößte einen Streifen nackte Haut. Der Anblick versetzte Linus regelmäßig in Ekstase, zumindest schoß ihm der ungehinderte Blick auf begehrenswerte Haut direkt in den Unterleib. Wie gerne würde er den Bauch mit der Zunge erkunden. Dass Finn mit der Aktion auch die Sägespäne und den Holzstaub in seinen Haaren verteilte, schien dieser gar nicht zu bemerken. Linus würde ihm aber am liebsten jeden einzelnen Krümel aus den Haaren zupfen.

Leider war das alles Wunschdenken, denn Finn erkannte ihn nur als Arbeitskollegen und quasi Vorgesetzten, weil Linus schon drei Jahre als Geselle dort arbeitete – nichts weiter.

Noch eine Stunde. Die Wohnung war fast klinisch rein. Dennoch wischte Linus noch ein weiteres Mal über die Fensterbretter, die Wohnzimmerschränke und die Türblätter, um ja jedes Staubkorn und jeden Fingerabdruck zu entfernen. Er zitterte vor Anspannung. Nur noch eine Stunde, dann würde Finn in seiner Wohnung stehen und hoffentlich wieder so scheu und unsicher lächeln. In seiner Hose war seit heute Nacht Dauerbetrieb. Sein Schwanz saute ihn ununterbrochen ein. Was musste sich das verdammte Ding auch so auf das Treffen freuen. Ob es dazu kam, war noch nicht einmal gewiss. Er könnte sich auch total in Finn täuschen und er war hetero. Er könnte auch vergeben sein und Linus’ Annäherungsversuche schroff abweisen. Vielleicht war er auch gar nicht sein Typ und der zwanzigjährige stand eher auf Sugardaddys als auf adrette, knapp fünfundzwanzigjährige, mit Six-Pack-Ansätzen und eine fast schon manische Abneigung davor, sich jeden Tag gründlich zu rasieren. Vielleicht war ihm der Sinn eher nach einem flüchtigen Abenteuer, als nach einer Schulter, an der sich immer wieder anlehnen konnte. Oder er bevorzugte die Anonymität in Darkrooms, den schnellen Sex, die Abwechslung und den Nervenkitzel, etwas dem Linus absolut nichts abringen konnte. Er war ein Familienmensch, stand auf traute Zweisamkeit mit einem längerfristigen Partner, mit dem er sich austauschen und zusammen Erfahrungen machen konnte.

Gut, Finn war noch jung, erst 20 und hatte das Leben und vor allem sein Sexleben noch vor sich. Mit 20 hatte Linus auch mehrere Männer ausprobiert, sich nicht festlegen wollen und war ständig auf der Suche nach dem Einen gewesen, der ihn mit einem Augenzwinkern vom Sockel hauen konnte. So einer war Finn, der ihn vom ersten Tag an nervös machte, in dessen Nähe sich Linus absolut hervorragend aber auch unwohl fühlte. Es genügte schon, wenn er ihn in der Nähe wähnte. Er glaubte, ihn direkt an seinem Leib zu spüren, die Wärme des Körpers auf seiner Haut wahrnehmen, obwohl er einige Meter entfernt stand. Er sehnte sich nach dessen Stimme und verwickelte ihn nur allzu gerne in Gespräche. Er liebte Finns Lachen und den Glanz in dessen Augen, wenn er über einen von Linus’ Witzen lachte.

Dreißig Minuten. Linus stand in seinem Wohnzimmer und ließ den Blick über die Einrichtung schweifen. Was würde Finn wohl über das Herzkissen denken, dass er von seiner Schwester zum Geburtstag bekommen hatte? Damals fand er es süß. Jetzt kam es ihm kitschig vor. Sollte er es in eine der Schubladen stopfen? Dann war da noch das Bild von ihm, als zehnjähriger, als er einen Preis in einem Schwimmwettbewerb gewonnen hatte. Damals noch mit reichlich Babyspeck. Linus wusste heute nicht mehr, warum er es aufhob und auf das Regal neben dem Fernseher gestellt hatte. Im selben Moment erinnerte er sich wieder daran. Das war das letzte Foto, das sein Vater geschossen hatte. Auf dem Nachhauseweg hatte ein Lastwagen die Vorfahrt missachtet, den Wagen gerammt und er war gestorben. Die anderen Insassen, seine Mutter, seine Schwester und er waren mit leichten Verletzungen davongekommen.

Zwanzig Minuten. Sollte er etwas kochen? Schon mal Getränke vorbereiten? Nein, das wäre zu auffällig. Damit würde er Finn vielleicht sogar vergraulen. Aber mit irgendwas musste er sich noch beschäftigen, sonst drehte er durch.

Zehn Minuten. Sein Handy summte auf dem Wohnzimmertisch und tanzte im Takt des Vibrationsalarms über die Platte. Linus trottete zum Tisch und hob es hoch. Wenn es seine Schwester war, würde er auf die SMS nicht reagieren. Doch es war Finn.

Linus’ Finger zitterten, als er die Nachricht öffnete.

»Sorry, aber ich kann nicht kommen – muss meinem Vater helfen, die Garage auszuräumen. Dauert noch. Ich bring das Spiel Montag mit. Versprochen! Finn.«

Für Linus stürzte eine Welt zusammen. Er musste sich setzen. Seine Beine wurden weich. Wie in Trance taumelte er zum Sofa und ließ sich darauf fallen. Unbewusst griff er nach dem roten Herzkissen und presste es an seinen Leib. Verdammt nochmal! Er wusste, dass Finn noch zuhause wohnte, in einem kleinen Zimmer neben dem Schlafzimmer seiner Eltern, wie er selbst erzählt hatte. Er hatte noch zwei Brüder und zwei Schwestern, Zwillinge – erinnerte sich Linus. Und er war der Jüngste. All dies hatte Finn ihm in Gesprächen anvertraut. Aber mehr wusste er von ihm nicht. Beide hatten es vermieden, allzu Vertrautes oder Intimes zu preiszugeben. Sie waren Arbeitskollegen, mehr nicht. Mehr würde Finn vermutlich auch nicht zulassen.

Mit einem wütenden Zischen schleuderte Linus das Herzkissen von sich. Es landete hinter dem Fernseher in der Ecke, wo es vermutlich auch liegen bleiben würde. Er hatte keine Lust mehr auf aufräumen und saubermachen. Wozu die ganze Mühe?

Ein herzhafter Fluch entkam ihm. Er erhob sich und marschierte in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Vielleicht sollte er heute ausgehen, um sich den Frust von der Seele zu ficken. So große Hoffnungen hatte er in den heutigen Tag gesetzt. Die Enttäuschung brannte wie Lava in seinem Herzen und drohte es zu einem hässlichen, verrunzelten Klumpen werden zu lassen. So war das mit der Liebe. In einem Moment konnte man über alle sieben Wolken fliegen, berauscht wie mit Drogen vollgepumpt, im nächsten Moment klatschte man so hart und brutal auf den kalten Boden, dass man kaum noch Luft bekam. Für Linus war dies nichts Neues. Wenn er sich verliebte, dann mit Geigen am Himmel und mit ganzen Schmetterlingsschwärmen im Bauch. Dann wurde der Blick rosarot und das Lächeln so dümmlich, als hätte man zu heftig an einem Joint gezogen. Für Linus galt das Ganz-oder-gar-nicht-Prinzip. Wenn er sich verliebte, dann hörte die Welt auf sich zu drehen. Mit der SMS hatte sie wie ein uralter Motor zu stottern begonnen und rumpelte nun arg aus dem Gleichgewicht geraten weiter.

Ihm war schwindlig geworden. Aber er wäre nicht Linus, wenn er nicht auch Erfahrungen damit hätte, dies verdauen zu müssen. Es war nicht aller Tage Abend. Finn war am Montag noch da und würde ihm das Spiel überreichen. Dann könnte er ihn immer noch zu sich einladen, damit sie zusammen den Highscore brachen oder über das Spiel fachsimpelten. Aber dafür müsste er sich erst mal eine entsprechende Hochleistungsmaschine besorgen und sich die nötigen Kenntnisse aneignen. Dafür musste er das Spiel ein zweites Mal kaufen. Seine Ersparnisse würden ihm alles andere als dankbar sein, aber was tat man nicht alles für die Liebe.



Impressum

Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: Pixabay: OpenClipart-Vectors / Pezibaer
Lektorat: myself
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2017

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