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Mein Bruder, sein bester Freund und ich


Die drei waren schon von klein an ein festes Gespann. Doch die Zeiten ändern sich. Aus ausgelassenen Jungs wurden heranwachsende Männer. Und damit begann das Dilemma, zumindest für einen von ihnen.
Es war trotz aller Liebe und Freundschaft eine saudumme Idee gewesen. Noch vor drei Jahren hätte Samuel das Angebot seines Bruders Aaron und seines besten Kumpels Jörn mit einem Jubel kommentiert. Zwei Wochen Sonne, Strand, Party und Windsurfen auf dem Gardasee hörten sich damals noch wie eine Einladung zur ganz großen Sause an. Aaron und Jörn waren knapp zwei Jahre älter und ihm damit einen großen Schritt voraus. Sie haben ihn trotzdem überall mit hingenommen, selbst in Ü18-Filme, vollkommen egal, welche Körpersäfte auf der Leinwand flossen. Samuel war stolz, zu dem Trio zu gehören. Doch seit drei Jahren war nichts mehr wie vorher. Vor allem, wenn Jörn dabei war.
Samuel wusste nicht mehr genau, wann es begonnen hatte. Auf einmal war es ihm peinlich geworden, sich von Jörn anfassen oder auch nur ansehen zu lassen. Zeitgleich konnte er nicht genug davon bekommen, den Mann zu beobachten und in seiner Nähe zu sein. Mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Er bekam sogar einen Ständer, wenn ihn Jörn nur anlächelte. Samuel versuchte, sich aus dem Gespann herauszunehmen, was allerdings hieß, dass er weniger Zeit mit seinem Bruder verbringen konnte. Ihr inniges Verhältnis litt darunter und sie begannen auch immer öfter, sich zu streiten. In einem der harmonischen Momente hatte Aaron ihn zu diesem Urlaub eingeladen, worauf Samuel zunächst begeistert zugestimmt hatte. Aaron hatte ihn mit den Worten: »Wir beide fahren in den Urlaub!« geködert. Die Wörtchen wir beide waren für Samuels Entscheidung maßgeblich gewesen. Warum er angenommen hatte, dass Jörn nicht dabei sein würde, konnte er nun nicht mehr nachvollziehen. Anders als Samuel, der sich mit der Zeit verstärkt zurückgezogen hatte, waren die beiden noch immer ein enges Gespann. Als die Planungen expliziter wurden und er unweigerlich wahrhaben musste, dass sie zu dritt verreisen würden, hätte er am liebsten einen Rückzieher gemacht. Ihm fielen jedoch keine triftigen Argumente ein und so hockte er nun auf der Rückbank in Jörns BMW und schmollte vor sich hin. Er wusste ohnehin nicht, was er zu der Unterhaltung beitragen sollte. Die beiden Männer diskutierten seit der Abfahrt abwechselnd über ihre Unternehmungen am Gardasee, den Sehenswürdigkeiten und den vielen Mädchen, die man auf den Beachpartys aufreißen könnte. Dabei bemerkte Samuel, dass sich Jörns Vorstellungen von der Traumfrau sehr von denen Aarons unterschied. Etwas, das Aaron ausreichend Zündstoff gab, seinen Kumpel wegen der hohen Ansprüche aufzuziehen. Die beiden hatten genügend Gesprächsstoff für die Fahrt und schienen ihren Mitreisenden vollkommen vergessen zu haben. Samuel tat lange so, als ob er schlafen würde, denn es war nicht auszuhalten, ständig seinen Hinterkopf anstarren zu müssen.
In den Pausen verzog er sich an ein ruhiges Plätzchen etwas abseits der beiden. Aaron bedachte ihn zwar mit einem skeptischen Blick, schien es jedoch zu akzeptieren, dass sich sein Bruder distanzierte. Auf der siebenstündigen Autofahrt wechselten sich die Männer am Steuer ab. Als Samuel an der Reihe war, wurde es seltsam still im Wagen. Aaron hatte es sich auf der Rückbank bequem gemacht und schien zu schlafen. Jörn saß auf dem Beifahrersitz. Durch die Nähe konnte sich Samuel kaum konzentrierten und hätte beinahe beim Wiedereinscheren nach einem Übelholmanöver auf der Autobahn einen anderen Verkehrsteilnehmer geschnitten.
»Bist du müde? Sollen wir eine Pause machen?«, erkundigte sich Jörn besorgt.
Samuel schüttelte den Kopf, nicht nur, um die Frage zu beantworten, sondern auch um das seltsame Gefühl aus seinem Kopf zu bekommen, das Jörns Nähe ausmachte.
»War eben mit den Gedanken woanders«, sagte er, was in etwa dem gleichkam, was gerade in seinem Schädel vor sich ging.
»Wir wollen heil ankommen«, ermahnte ihn Jörn und rückte sich im Sitz bequemer zurecht. »Außerdem hätte ich gerne, dass du meinen Wagen in einem Stück belässt.«
»Sorry«, entkam es Samuel schuldbewusst und er räusperte sich. »Wird nicht wieder vorkommen.«
»Waren die Prüfungen stressig?«, wollte Jörn wissen, offenbar mit der Absicht, ein Gespräch zu beginnen. »Aaron hat so etwas erzählt. Du bist die letzten Wochen nur noch wie ein Zombie herumgelaufen.«
Die Urlaubsreise sollte auch eine Belohnung für die erfolgreich absolvierte Gesellenprüfung sein, hatte Aaron seinem Bruder stolz eröffnet. Für so schwierig hatte Samuel sie nicht empfunden, dennoch hatte er die letzten Monate in der Tat hauptsächlich mit Büffeln verbracht., um einen guten Schnitt zu erreichen. Letztendlich war er als Vierter sogar mit den zehn Besten von der Handelskammer ausgezeichnet worden. Samuel war schon stolz auf seine Leistung. Das Pauken hatte ihn zudem von Jörn abgelenkt. Aber jetzt waren die Prüfungen vorbei. Er hatte seinen Chemielaborant in der Tasche und würde in ein paar Wochen seine neue Stelle antreten.
»Ziemlich«, erwiderte er, nicht sicher, auf welchen der Sätze seines Sitznachbarn er geantwortet hatte.
»Wir haben dich im letzten halben Jahr kaum noch zu Gesicht bekommen«, beschwerte sich Jörn halbherzig und kicherte. »Ich kenn das aber. Ich bin selbst fast durchgedreht.«
Samuel nickte lahm. Er konnte sich noch gut daran erinnern. Vor zwei Jahren waren Jörn und Aaron in derselben Lage gewesen. Aber anders als Samuel, der kurz vorher entdeckt hatte, dass ihm der beste Freund seines Bruders mehr bedeutete als ein Kumpel, konnte er ihm nicht beistehen.
»Es ist vorbei«, stieß Samuel mit einem Seufzen aus. Seine Hände wurden kalt, obwohl es dank der Klimaanlage angenehme 24 Grad im Auto hatte.
»Das müssen wir ausgiebig feiern.« Ein leichter Hieb traf ihn an der Schulter. »Unser Kleiner ist nun auch ein richtiger Mann geworden. Ich hoffe, du bist trinkfest.«
»Ich steh nicht so auf Saufgelage. Außerdem mag ich es nicht, wenn ihr mich Kleiner nennt. Ich werde bald 23 und von der Größe her kann keiner von euch auf meinen Kopf spucken.«
Erneut traf ihn ein Hieb an die Schulter. Die getroffene Stelle pochte noch eine Weile nach, aber nicht, weil Jörn so hart zugeschlagen hatte, sondern weil er ihn dort berührt hatte.
»Du weißt schon, wie ich das meine. Früher hattest du nie Probleme damit, wenn wir dich Kleiner nannten.«
»Ich bin inzwischen erwachsen geworden.«
»Okay«, gab Jörn erstaunlich schnell nach. »Hast du schon eine Arbeitsstelle?«
Samuel nickte, obwohl er sich sicher war, dass Aaron es ihm längst brühwarm erzählt hatte. Am liebsten hätte er einen Job ganz weit weg gefunden, doch er brachte es nicht fertig, sich an einem fernen Ort eine neue Existenz aufzubauen. Die Nähe zu seiner Familie war ihm trotz allem wichtiger als sein blutendes Herz.
»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen«, murrte Jörn. »Du verhältst dich ohnehin ziemlich seltsam. Ist es dir unangenehm, mit uns zusammen zu sein?«
»Nein«, beeilte Samuel sich zu erwidern. »Sonst wäre ich wohl nicht mitgefahren.«
»Aaron erzählte, er hätte dich regelrecht überreden müssen. Liegt es am Gardasee oder an uns.«
»Was soll das Verhör?«, maulte Samuel. Am liebsten hätte er dem Kerl die Klappe zugeklebt. Nicht nur, dass dessen Stimme sich erotisierend auf Samuels Libido auswirkte. Mit jedem Wort wurde ihm bewusst, wie gern er ihn sprechen hörte. Die tiefe, sonore Stimme ging ihm bis tief ins Mark und löste dort Schwingungen aus, die seinen Schwanz im Dauerständerzustand festhielten.
»Verhör?« Jörns Stimme klang entrüstet. Dann lachte er kurz auf. »Mann, du musst unbedingt wieder lockerer werden. Ich habe das Gefühl, dass du dich zu sehr in deine trockenen chemischen Formeln vertieft hast. Zeit wird’s, dass du zurück ins reale Leben kommst.«
»Jörn hat recht«, meldete sich Aaron aus dem Fond. »Du bist in letzter Zeit ziemlich patzig. Ich hoffe, es gibt im Hotel viele Mädchen, die dich ablenken können.«
»Fangt ihr schon wieder an?!« Samuel knurrte laut. »Ich habe kein Interesse an einer Freundin.«
»Aber vielleicht an einem Freund?« Jörn kicherte laut wegen seines Scherzes.
Aaron fiel nur halbherzig ein. »Hör auf damit. Am Ende kommt Samuel wirklich mit ’nem Kerl daher.«
Samuel musste sich zusammenreißen. Ihm war schon eine Erwiderung auf der Zunge gelegen, die er jedoch mühsam wieder runterwürgte. Wie nah Jörn doch an der Wahrheit lag. Jedenfalls, wenn es nach Samuels Wunschdenken ging. Er bezweifelte jedoch, dass Jörns saloppe Frage ernst gemeint war. Die zwei feixten oft miteinander und warfen sich Sprüche und und Bezeichnungen an den Kopf, die Samuel aufgrund der Gefühle, die er für Jörn hatte, nicht mehr in den Mund nehmen würde. Die aufkommende Wut ließ ihn das Lenkrad fester in die Hand nehmen.
Aaron merkte davon nichts. Er richtete sich dabei auf, streckte sich in alle Richtungen und gähnte. »Wo sind wir?«
»Haben gerade den Brenner hinter uns«, informierte ihn Jörn. »Was wäre so falsch an einem Kerl?«, wollte er neugierig wissen.
»Es ist falsch, weil Samuel auch ein Kerl ist.«
»Seit wann bist du homophob?« Jörn drehte sich leicht zu seinem Kumpel um.
»Bin ich nicht. Ich habe nur keine Lust auf einen Vierer.«
»Wenn wir jeder eine Freundin hätten und nicht solo wären, wären wir jetzt zu sechst.«
»Ihr seid echt Idioten«, maulte Samuel, dem das Thema absolut gegen den Strich ging. Nicht nur, weil es seine vagen Hoffnungen mit Füßen trat, sondern auch, weil er erkannte, dass sein Bruder ein ignoranter Idiot war. Allerdings hatte bisher nur Aaron echte Beziehungen vorweisen können. Was Samuel betraf, hätte er nichts dagegen, wenn es beim Vierer blieb. Nur leider war ihm allzu sehr bewusst, dass dies bis in alle Ewigkeit ein Traum blieb.
»Warum? Nur weil du noch keine Freundin gefunden hast? Du musst dich nur etwas anstrengen.«
»Ich will keine Freundin!«, blaffte Samuel verärgert. »Hab gerade absolut keine Zeit dafür.«
»Ja, und dann triffst du sie und es macht Bamm, und all deine Prinzipien kannst du in die Tonne treten. Wirst schon sehen.«
»Ich kann es abwarten«, gab Samuel zerknirscht von sich.
»Er ist ja noch jung. Ich hab auch noch nicht die Richtige gefunden«, versuchte Jörn ihn zu trösten und legte ihm dabei eine Hand auf den Oberschenkel.
Samuel zuckte regelrecht zusammen und machte dabei einen kleinen Schlenker auf die linke Fahrspur. Zum Glück befand sich dort kein Fahrzeug, sonst wäre es böse ausgegangen. Seine Reaktion war so heftig ausgefallen, dass Jörn sofort seine Hand wieder zurückzog, mit einer gemurmelten Entschuldigung auf den Lippen. Per raschen Blick über den Rückspiegel hinweg vergewisserte sich Samuel, dass sein Bruder nichts von dem Geschehen mitbekam. Es würde den Urlaubsspaß gehörig vermiesen, wenn auch nur der Hauch eines Verdachts aufkäme.
Aaron zischte erschrocken auf. »He, pass doch auf!«, schimpfte er. »Hast du das Auto fahren verlernt? Fahr bei der nächsten Gelegenheit raus. Ich fahre weiter.«
Dagegen hatte Samuel ganz und gar nichts einzuwenden. Er wollte nicht mehr länger neben Jörn sitzen müssen. Seine ganze rechte Seite war schon total verbrannt und fühlte sich an, als hätte er sich die ganze Zeit an dessen nackter Haut gerieben. Außerdem pochte und zuckte sein Schwanz jedes Mal, wenn er beim Schalten versehentlich das Knie neben dem Steuerknüppel berührte. Jörns Hand auf seinem Oberschenkel hatte ein wahres Fiasko ausgelöst. Selbst wenn man die beachtliche Beule durch die weite Jogginghose, die er für die Fahrt trug, nicht sehen konnte, wollte er nicht riskieren, in voller Fahrt einen Orgasmus zu bekommen. Eine weitere Berührung und es wäre geschehen.
Zwei Kilometer weiter wurde eine Raststätte angekündigt. Samuel verließ an der Ausfahrt die Autobahn und hielt auf dem erstbesten freien Parkplatz an. Er sprang regelrecht aus dem Wagen und musste tief Luft holen, als ihn die heiße, italienische Sommerluft empfing. Sein ganzer Körper stand unter Strom. In seiner Brust probten tausende von stachelbewehrten Hornissen einen Aufstand und attackierten sein Herz, das mit jedem Stich hektischer pochte. Sein Unterleib stand lichterloh in Flammen. Es war eine absolut blöde Idee gewesen, mit Aaron und Jörn in den Urlaub zu fahren. Wie kam er nur auf den Gedanken, es volle vierzehn Tage neben dem Schwarm seines Lebens auszuhalten, ohne dass dieser etwas davon bemerkte. Niemand durfte wissen, dass er sich unsterblich in den besten Freund seines Bruders verknallt hatte. Niemand durfte erfahren, dass er schwul ist.
»Alles in Ordnung mit dir?« Aarons Stimme ließ ihn fast genauso heftig zusammenfahren wie Jörns Berührung. Samuel fuhr herum und zischte einen Fluch.
»Kopfschmerzen«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und nickte zeitgleich.
Aaron beäugte ihn ungläubig. »Der Urlaub war wohl dringend notwendig. Du hast dir in letzter Zeit zu viel zugemutet.«
Am liebsten hätte Samuel ihm zugestimmt, doch er brachte die Lüge nicht über die Lippen. Aber vielleicht hatte er doch recht. Es bedurfte eine gewaltige Anstrengung, sich nichts anmerken zu lassen. Er musste sich ständig verstellen, eine Rolle spielen, und das beinahe 24 Stunden am Tag. Sein Blick glitt zum BMW hinüber, wo Jörn lässig an dem Kotflügel gelehnt stand und sich eben eine Kippe anzündete. Die Art, wie er den Glimmstängel zwischen die Lippen schob, sie mit leicht geschürzten Lippen festhielt, bis die Glut den Tabak auflodern ließ und dann den heißen Rauch in seine Lungen sog, verursachte in Samuel erneut einen Tsunami aus loderndem Feuer. Mit aller Gewalt riss er den Blick von ihm und drehte sich um.
»Ich habe so manchmal das Gefühl, dir gefällt es nicht mehr, als Dreiergespann herumzuziehen. Was hat sich geändert?«, wollte sein Bruder wissen.
Samuel zuckte ahnungslos mit den Schultern. »Nichts«, erwiderte er ausweichend. »Ich bin müde.«
»Du bist ständig mies gelaunt. Nichts kann man dir recht machen. Erst dachte ich, es sei wegen der Prüfungen. Du hast dich ganz schön reingekniet. Ich sag jetzt nicht, dass ich nicht stolz auf dich bin, weil du als Viertbester abgeschnitten hast. Aber es hat dir ganz schön zugesetzt. Allerdings sind die Prüfungen schon vor vier Monaten gelaufen. Allmählich solltest du wieder runterkommen und in den Normalzustand zurückkehren. Jörn und ich hofften, dass du wieder zu dir findest, wenn wir dich in den Urlaub mitnehmen.«
»Danke«, murrte Samuel und seufzte tief. Er konnte sich in seinem jetzigen Zustand selbst nicht ausstehen, wusste aber nicht, wie er das ändern konnte.
»Ist es wegen eines Mädchens?«, versuchte Aaron zu erraten.
Die Hitze schoss in Samuels Gesicht. Er musste sich abwenden, um die Röte zu verbergen. Dennoch hatte sein Bruder genug gesehen, um seine Vermutung bestätigt zu sehen. »Also doch!« Er lachte kurz auf. »Jörn und ich waren kurz davor, Wetten abzuschließen. Du hast dich verknallt, aber die Süße will dich nicht. Oder?«
»Nein!«, stieß Samuel hastig hervor. »So ist es nicht.«
»Dann fühlst du dich einsam und sehnst dich nach einer Partnerin?«
»Lass das bitte!«, flehte der Jüngere seinen Bruder an. »Ich will nicht darüber reden.«
»Warum nicht? Es ist besser, wenn du es rauslässt. Außerdem konnten wir immer über alles reden. Ich habe nicht vor, etwas daran zu ändern. Wenn du etwas auf dem Herzen hast, dann möchte ich es wissen.«
»Ich habe keine Freundin und ich will auch keine«, bekräftigte Samuel noch einmal ausdrücklich. Zumindest dies konnte er ohne Gewissensbisse sagen. Er wollte tatsächlich keine Partnerin, sondern einen Partner. Und zwar einen ganz bestimmten, den er aber nicht haben konnte. Schließlich zuckte er erneut ratlos mit den Schultern. »Ich weiß doch auch nicht, was mit mir los ist. Vielleicht komme ich in die zweite Pubertät …«
»Ha!«, machte Aaron höchst ungläubig und schüttelte energisch den Kopf. »Bei der ersten bist du wenigstens etwas umgänglicher gewesen.«
Samuel knurrte nur und wollte sich wegdrehen. Es hatte keinen Zweck, auf einem überfüllten, sonnenerhitzten, italienischen Autobahnrastplatz über seine Seelenprobleme zu diskutieren. Wenn überhaupt, es gab keinen Platz auf dieser Erde, an dem er Aaron davon erzählen konnte.
»Hör zu, kleiner Bruder«, sagte Aaron milde, zog ihn zu sich zurück und hielt ihn an den Oberarmen fest, damit er ihn ansehen musste. »Genieße einfach die nächsten zwei Wochen. Denke nicht an das, was dich bedrückt, lasse alles hinter dir und gönn dir was Gutes. Danach hast du vielleicht genug Abstand, um darüber reden zu können.«
»Ich weiß es zu schätzen«, erwiderte Samuel. »Aber du kannst mir nicht helfen.«
»Wenn du schon weißt, dass ich dir nicht helfen kann, dann weißt du immerhin, dass du ein Problem hast. Womöglich kann ich es doch. Lass es raus. Ich bin ganz Ohr.«
Jörn stand plötzlich neben ihnen, schnippte den Zigarettenstummel in die Rinne zwischen Bordstein und Asphalt und schob die Hände in die Vorderseiten seiner knielangen Bermudas. »Seid ihr fertig? Mir brennt die Sonne auf den Kopf.«
»Dann zieh eine Käppi auf«, murrte Aaron und knuffte ihm kichernd in die Schultern. »Ich fahre jetzt.«
»Das ist mein BMW«, begehrte Jörn auf.
»Du bist schon den Großteil der Strecke gefahren. Ich hab noch viel aufzuholen.«
»Wer sagt, dass wir Gleichstand brauchen?« Jörn gab den Knuffer zurück.
»Ich. Und jetzt halt die Klappe und setz dich brav auf den Beifahrersitz.«
»Ich hab die Schlüssel«, erinnerte ihn Jörn daran, holte seine Hände aus der Tasche und hielt einen Schlüsselbund in die Höhe.
Aaron griff danach. Jörn wich zurück. Aaron setzte nach, schließlich rangelten die beiden um den Schlüssel, bis einer über den Bordstein stolperte und beide in das trockene Gras plumpsten. Lachend rappelten sie sich wieder hoch. Aaron hatte den Schlüssel erobert und eilte zum Wagen, noch ehe Jörn ihn zurückholen konnte. Ein Grinsen saß auf seinen Lippen und ließ die Augen strahlen. Doch als sein Blick auf Samuel fiel, glitt ein Schatten auf sein Gesicht.
»Kommst du?«, fragte er mit belegter Stimme. »Wir haben noch gut drei Stunden vor uns.«
Samuel nickte stumm, folgte ihm und schob sich auf die Rückbank, allerdings, ohne Jörn auch nur eines Blickes zu würdigen. Erst vertiefte er sich in eine Zeitschrift über Computer, die Aaron als Ferienlektüre mitgenommen hatte. Als er aber kein einziges Wort von dem Geschriebenen verinnerlichen konnte, legte er sie weg, ließ den Kopf an die Nackenstütze sinken und schloss die Augen. Es würden sehr anstrengende zwei Wochen werden. Allerdings hatte niemand gesagt, dass er jede Minute mit den anderen beiden verbringen musste. Er konnte vorgeben, anderes unternehmen zu wollen und sich ins Hotelzimmer schleichen, wenn die beiden schliefen oder die Bars unsicher machten.

 

Erfrischung, Übermut und nackte Beine


Jörn könnte sich jede Sekunde für die saublöde Idee ohrfeigen. Noch vor ein paar Jahren hätte er sich keine Gedanken darüber machen müssen. Aber seither war viel passiert und es hatten sich Dinge, Voraussetzungen und vor allem die Gefühle geändert. Aus dem schlaksigen, hübschen Jungen war ein richtiger Mann geworden, der seinen Dreitagebart ebenso stolz zur Schau trug, wie so manch anderer, wesentlich älterer Mann. Aus dem Bruder im Geiste war eine Person geworden, die sich Tag und Nacht in Jörns Gedanken schlich und ihn nicht in Ruhe ließ. Als Aaron von Urlaub und Ausspannen sprach, stand es außer Frage, dass Samuel mitkam. Sie gehörten zusammen. Seit Kindesbeinen an waren sie ein Dreiergespann, das bei Tod und Teufel zusammenhielt und das so manchen Unsinn angestellt hatte. Samuel war der jüngere Bruder seines Freundes und damit auch sein Bruder, obwohl zwischen ihnen keinerlei Blutsverwandtschaft bestand. Als Kinder hatten sie sogar Blutsbruderschaft gefeiert, sich mit einem Taschenmesser in den Daumen geschlitzt und ihr Blut miteinander vermischt. Dafür hatte Jörn aus dem Weinbestand seines Vaters ein paar Flaschen mitgehen lassen, die sie nachts im Zelt, versteckt im Gebüsch am Fluss, geleert hatten. An die Kopfschmerzen am nächsten Tag konnte sich Jörn noch immer sehr gut erinnern. Aaron, Samuel und Jörn … Er hätte niemals gedacht, dass irgendetwas sie auseinanderbringen könnte. Doch es war geschehen. Warum, wusste keiner von den Dreien zu bezeichnen. Sie waren älter, erwachsener und reifer geworden, hatten Berufe erlernt, neue Freunde kennengelernt, neue Aufgaben bewältigt, neue Herausforderungen gemeistert. Zusammen oder – wie in letzter Zeit – immer öfter getrennt. Die Entwicklung gefiel Jörn ganz und gar nicht, vor allem weil er merkte, dass ihm die Dreisamkeit fehlte. Ihm fehlte das Ungezwungene zwischen ihnen, dass er so sein konnte, wie er war. Dass er sein Herz ausschütten konnte, ohne dass jemand über ihn zu lästern oder schimpfen begann. Dass er sich jemanden anvertrauen konnte, ohne dass er befürchten musste, sein Vertrauen aufs Spiel zu setzen. Aaron und Samuel waren seine Brüder – zumindest bis vor ein paar Jahren.
Wann genau ihre Beziehung begonnen hatte, auseinanderzudriften, war nicht mehr festzulegen. Eines Tages hatte er festgestellt, dass es nicht mehr so ungezwungen und frei war, mit ihnen zusammen zu sein. Aaron gegenüber schien sich nichts verändert zu haben. Aber mit Samuel kam er einfach nicht mehr klar. Der Tag, an welchem er das Warum begriff, hatte einen noch gewaltigeren Schnitt in ihr Gespann getrieben.
Nun, wo er mit Aaron und Samuel das Hotelzimmer betrat und erkannte, dass alle Betten in einem Raum standen, kam es ihm so absurd vor, die nächsten 14 Tage hier auszuharren. Es musste schon ein Wunder geschehen, wenn er nicht verrückt wurde. Zu seiner Erleichterung warf Samuel seine Gepäck sofort auf die Gästeliege, die dem breiten Doppelbett gegenüber an der Wand stand. Mit einem erschöpften Ächzen sank er sich darauf nieder, als wollte er mit dieser Geste sein Revier markieren. Aaron ließ seine Tasche neben dem großen Bett fallen und inspizierte die Schränke und das Badezimmer auf Tauglichkeit. Jörn marschierte am Bett vorbei, öffnete den Balkon und trat hinaus. Der Blick auf den Pool und die Poolbar, die mit einer blinkenden Leuchte darauf aufmerksam machte, dass es Cocktails gab, war nicht gerade das, was seine zitternden Nerven beruhigte.
14 Tage neben Samuel, im gleichen Zimmer, im selben Badezimmer, hin und wieder vielleicht sogar nackt, denn die Privatsphäre auf einem so kleinen Raum konnte nicht immer aufrechterhalten werden. Sie hatten sich schon öfter nackt gesehen, waren hüllenlos in Baggerseen gesprungen, oder als sie noch klein waren, im aufblasbaren Plastikbecken im Garten der Familien geplanscht. Es war ihnen zu keiner Zeit peinlich gewesen. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Samuel nackt zu sehen, würde seine Selbstbeherrschung enorm strapazieren. Um dies zu überstehen, brauchte er jede Menge hochprozentige Cocktails.
»Testen wir gleich den Pool?«, schlug Aaron vor und knuffte Jörn in den Arm. »Ich brauche dringend eine Erfrischung.«
Jörn sog die Luft hörbar durch die Nase ein. »Stimmt!«, pflichtete er bei und handelte sich gleich den nächsten Hieb ein.
»Du bist auch nicht besser. Also auf! Lasst uns das Feuchtgebiet erobern!« Aaron war voller Tatendrang, wirbelte herum, riss seine prall gefüllte Reisetasche auf und leerte den Inhalt auf dem Bett aus. Kurz wühlte er in den Stapeln herum, bis er seine Badehose gefunden hatte und begann sofort, sich die Shorts über die Hüften zu streifen. Er hatte keine Scheu davor, sich vor seinen Mitbewohnern auszuziehen und streckte Jörn den nackten Hintern entgegen. »Komm schon!«, forderte er ihn auch noch dazu auf, es ihm gleichzutun.
Jörn zog die Stirn in Falten und überlegte, ob und wie er sich selbst umziehen konnte, ohne sich vor Samuel in ebensolcher freizügiger Weise zu präsentieren. Der Gedanke, dass Samuel ihn so sehen konnte, verpasste ihm geile, prickelnde Impulse, die sich leider in Form eines Ständers bemerkbar machten. Aber in den Pool springen wollte er schon. Also holte er seine eigene Badehose hervor und machte sich auf in Richtung Badezimmer.
»Ich komm gleich, muss nur schnell … Bin ja kein kleines Kind mehr, das ins Badewasser strullert.« Er verzog sein Gesicht zu einem Grinsen und verschloss die Tür. Kaum dass er den Schlüssel umgedreht hatte, war ihm wohler. Mann, warum musste ihm Samuel auch so tief gehen. Bei keinem anderen Kerl hatte er so intensive, stark wankende Gefühle durchlebt. Zumal er kaum eine Beziehung zugelassen hatte, denn es durfte niemand wissen, dass er schwul ist. Weder Aaron und Samuel schon gleich gar nicht. Auch seine Arbeitskollegen und seine Eltern wussten es nicht, denn würde er auch nur ein Wort darüber verlieren, würden es postwendend auch die beiden erfahren. Die Freundschaft zu den Brüdern war ihm zu wichtig, als dass er es mit einem Outing aufs Spiel setzte.
Erleichtert und umgezogen kehrte er zurück. Aaron schnappte sich ein Handtuch, warf es sich über die Schultern und stand schon abmarschbereit an der Zimmertür. Samuel lag noch immer auf seinem Bett und machte keinerlei Anstalten, sich den beiden anzuschließen.
»Kommst du nicht mit?«, wollte Jörn wissen. Trotz allem machte sich Enttäuschung in ihm breit. Er sehnte sich nach den alten Zeiten, in denen die drei Jungs ausgelassen und ohne Scheu voreinander herumgetobt waren.
Samuel schüttelte den Kopf, ohne ihn dabei anzusehen. Doch dann richtete er sich doch auf und hielt mitten in der Aufwärtsbewegung inne, als sein Blick auf Jörn fiel. Das Gesicht erstarrte, blieb an der nackten Brust und den unbekleideten Beinen hängen, schien sich im ersten Moment nicht für eines von beiden entscheiden zu können. Dann verfinsterte es sich und ein Knurren entkam ihm.
»Kannst du dir nichts anziehen?«, fauchte er mürrisch und riss seinen Blick von Jörns Gestalt ab, als ob ihn dieser Anblick aufs Höchste kompromittierte.
»Ich gehe an den Pool«, erinnerte Jörn ihn verwirrt. Er wusste nicht, was an seinem Anblick verstörend sein sollte, kam sich aber dennoch entblößt und schutzlos ausgeliefert vor. Auf einmal war es ihm peinlich, halb angezogen im Zimmer erschienen zu sein. Das war doch wie ein direkter Hinweis darauf, dass er schwul ist. Oder nicht? Er räusperte sich, hatte sich jedoch sogleich wieder im Griff. Samuels patzige Worte kratzten an seiner Ehre und wiegelten die Angriffslust in ihm auf. »Hast du was dagegen, dass ich für den Urlaub den Smoking zu Hause gelassen habe?«
Überhaupt benahm sich Samuel in letzter Zeit komisch. Er kannte ihn kaum wieder. Verschlossen, griesgrämig und lustlos war er geworden, so als ob ihm die Gesellschaft der beiden anderen Männer lästig geworden war.
Aaron ging dazwischen. »Kommt runter! Lasst uns erst mal im Pool ausspannen. Danach geht es euch besser.« Er schob Jörn aus dem Zimmer. »Komm nach!«, warf er seinem Bruder über die Schulter hinweg zu und zog die Tür hinter sich ins Schloss. »Lass ihm noch etwas Zeit«, sagte er zu Jörn, als sie allein auf dem Korridor waren. »Die Prüfungen waren extrem stressig.«
»Er hat ziemlich gut abgeschnitten«, sagte Jörn, nicht ohne selbst auf den Jüngeren stolz zu sein.
»Sprich ihn nicht drauf an. Er kann es nicht mehr hören.« Aaron kicherte leise. »Sonst wird der kleine Streber noch hochnäsig.«
»Samuel doch nicht. Der ist so bodenständig wie ein Teppich.«
Aaron prustete los. »Teppich? Lass ihn das bloß nicht hören.« Sie standen vor dem Aufzug. Aaron drückte mit dem Daumen auf den Rufknopf. »Hoffentlich kriegt er sich während des Urlaubs wieder ein. Es war echt ätzend in letzter Zeit. Man durfte ihn gar nicht mehr ansprechen, ohne dass er halb ausgerastet ist.«
»Hoffe ich auch. Es fehlt mir.«
»Was? Unsere gemeinsame Zeit?« Aaron seufzte leise. »Mir auch. Irgendwie komme ich mir nur wie ein Drittel vor.«
»Du bist ein Drittel.« Jörn kicherte. »Außerdem bin ich doch auch noch da. Damit wären wir schon zwei Drittel.«
»Apropos: Wie sieht es eigentlich bei dir in Sachen Freundin aus? Läuft da irgendwo was. Oder sollen wir uns bei den Italienerinnen umsehen?«
»Auf Fernbeziehungen stehe ich nicht, und jedes Mal zu einem Date fast 800 Kilometer abspulen zu müssen, ist auf die Dauer mühsam.«
»Wir hatten uns irgendwann geschworen, mit 25 bereits Frau und mindestens ein Kind zu haben. Weißt du noch? Davon sind wir alle drei noch weit entfernt.«
»Ich hab noch drei Monate. Du hast bereits versagt.« Jörn zwinkerte ihm schelmisch zu, obwohl ihm bei dem Gedanken an diesen uralten Schwur eiskalt wurde. Damals, als Zehnjähriger, hatte er noch nicht wissen können, dass er ihn nicht einhalten konnte.
Der Aufzug kündigte sich mit einem Pling an. Die beiden traten ein. Eine seltsame Stille stülpte sich über sie, als sie sich in der engen Kabine gegenüberstanden.
»Ich mach mir um Samuel Sorgen«, brach Aaron das Schweigen. »Seit vielen Monaten, eigentlich seit Beginn der Ausbildung kapselt er sich immer mehr ab. Ich weiß, dass es kein Zuckerschlecken war. Die Ausbildung zum Chemielaboranten war alles andere als ein Ponyhof, aber noch lange kein Grund, sich mehr und mehr rauszunehmen. Ich habe ihm alle mögliche Hilfe angeboten, ihm versichert, dass wir drei, komme was wolle, zusammenhalten. Wenn er Unterstützung braucht, sind wir beide da. Aber er wollte nicht. Daher wunderte es mich, dass er dem gemeinsamen Urlaub zugesagt hat. Allerdings glaube ich, er wollte es sich bald darauf anders überlegen.«
»Nun warte doch erst mal ab, wie es im Urlaub ist. Vierzehn Tage Freiheit, Sommer, Sonne, Wasser und hübsche Mädels. Er wird sich schon einkriegen.«
Aaron seufzte tief. »Wenn du meinst.« Der Aufzug kam im Erdgeschoss an. »Dann wollen wir mal. Poolmädels, wir kommen!« Er stürmte voran und stieß einen Laut aus, der eine Mischung aus Indianerkriegsgeheul und Brunftschrei sein könnte. Nur wenige Schritte vom Aufzug entfernt befand sich die Tür zum Außengelände. Aaron rannte wild drauflos, als könne er es nicht mehr erwarten, sich in die kalten Fluten zu stürzen. Das Handtuch rutschte von seinen Schultern und fiel achtlos auf den Boden. Jörn hob es auf und drapierte es auf einen unbenutzten Liegestuhl. Wenig später platschte sein Kumpel auch schon ins Wasser.
Jörn ließ es etwas langsamer angehen. Er blieb am Rand stehen, seinen Blick über das Terrain wandern lassend. Natürlich waren sie nicht die Einzigen, die Erholung und Entspannung suchten. Familien mit Kindern, die auf Luftmatratzen und Schwimmringen herumdümpelten, junge Paare, die händchenhaltend auf Liegestühlen nebeneinanderlagen und sich die Sonne auf den Bauch brennen ließen. Ältere Herrschaften, die mit gerunzelter Stirn hochsahen, als Aaron wie ein Wildfang in den Pool stürzte. Was sie sich wohl dabei dachten, wenn drei junge Männer allein Urlaub machten? Ob sie ahnten, dass einer von ihnen schwul ist? Mit einem Kopfschütteln umrundete Jörn das Becken und kletterte auf das kleine Sprungbrett, von dem sich ganz tapfer ein Kleinkind per leicht missratenem Hechtsprung ins Wasser wagte. Der Bauchplatscher wurde von dessen Vater trotzdem belobt. Ein Meter war eigentlich nicht sein Niveau, aber er wollte hier auch keine Rekorde anstreben. Er stellte sich auf den Absprungbock, der nichts anderes war als ein Betonklotz, der leicht über den Beckenrand ragte. Dann stieg er wieder hinunter und legte die Hände auf die Kanten des Klotzes, um seine Beine in die Höhe zu schwingen. Per Handstand war er schon lange nicht mehr ins Wasser gesprungen. Aber heute war ihm danach. Er hielt sich einen Moment gerade, dann kippte er sich leicht Richtung Wasseroberfläche und ließ los, um kopfüber einzutauchen. Die Kühle des Wassers nahm ihn sofort ein und ließ seinen durch die lange Fahrt im heißen Auto überhitzten Körper fast schockerstarren. Doch rasch hatte er sich wieder gefangen, rollte sich im Wasser ab, stieß sich mit den Füßen am Beckenrand ab und tauchte ein paar Meter zur Mitte des Beckens. Zum Glück war es hier tief genug, um solche Kapriolen machen zu können. Er hatte sich bei einer solchen Gelegenheit schon böse den Kopf angestoßen.
Aaron kraulte heran, warf sich auf ihn und tauchte ihn unter, kaum dass Jörn den Kopf aus dem Wasser herausstrecken und nach Luft schnappen konnte. Jörn wand sich mit einer raschen Drehung aus der Klammer heraus und tauchte neben Aaron auf.
»Na warte!«, zischte er atemlos und stürzte sich auf ihn. In den nächsten Minuten versuchten sie, sich gegenseitig unterzutauchen oder unter Wasser zu ziehen, bis ihnen beiden die Luft knapp wurde und sie keuchend und lachend an den Beckenrand kamen. Samuel stand dort, in voller Montur, und starrte die beiden Männer an, als hätten sie eben den Fehler ihres Lebens begangen. Aaron reagierte blitzschnell, schnellte aus dem Wasser, packte seinen Bruder und zog ihn mit sich. Mit einem Schrei gingen beide unter.
Jörn hielt sich zurück, wurde aber mitgerissen, als Samuel im Reflex nach ihm griff und ihn gerade noch am Arm packen konnte. Einen Augenblick später kam Samuel prustend hoch und begann sofort, wütend zu brüllen. Keuchend, schimpfend wie ein Rohrspatz kroch er an den Beckenrand, nicht ohne seinen Bruder mit den wüstesten Beleidigungen zu überschütten. Die Eltern mussten ihren Kleinkindern die Ohren zuhalten und bedachten Samuel und Aaron mit bösen Blicken. Plötzlich stand auch ein Mann mit dem Logo des Hotels vor ihnen und begann, auf Italienisch auf sie ein zu schimpfen.
Aus dem Kauderwelsch, das der Hotelangestellte über sie ausschüttete, konnte Jörn entnehmen, dass es gar nicht gern gesehen war, wenn man so ausgelassen herumtobte oder mit Klamotten ins Wasser ging. Für heute erhielten die drei lediglich eine Verwarnung und gelobten, sich künftig zurückzuhalten. Zumindest Aaron tat ziemlich schuldbewusst und schwor hoch und heilig, sich zu bessern. Immerhin hatte er es angezettelt. Samuel knurrte nur missmutig und Jörn nickte zu Aarons Beteuerungen beschwichtigend. Erst als sie sich brav auf den Liegestühlen niederließen, war der Mann zufrieden und kehrte auf seinen Beobachtungsplatz zurück.
Samuel hatte nun sein Shirt ausgezogen, wrang es umständlich aus und breitete es auf der Liege aus. Seine Laune hatte sich durch die Aktion keineswegs gebessert.
»Du bist ein Idiot!«, murrte er weiter und bedachte seinen Bruder mit vernichtenden Blicken. »Wegen dir fliegen wir hier noch raus.«
»Gut möglich. Aber jetzt bist du wenigstens auch schon im Wasser gewesen.«
»Hättest du damit nicht warten können, bis ich eine Badehose anhabe?«
»Ja, warum hast du denn keine angezogen? Du kommst zum Pool ohne Badehose. Was hattest du denn hier vor? Uns beim Planschen beobachten?«
Samuel schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund, sodass die Feuchtigkeit aus seinen Haaren in alle Richtungen davonflog. Aaron quietschte theatralisch, aber da er schon nass war, konnten ihm die Wassertropfen weniger anhaben, als er vorgab. Jörn rückte die Sonnenliege ein Stückchen von den beiden weg, allerdings nicht, weil ihn die Tropfen störten, sondern weil er Samuels Anblick nicht ertragen konnte. Warum nur hatte er jemals denken können, dass es ihm nichts ausmachen würde, so nahe bei ihm zu sein. Mit dem Ausziehen des Shirts wurde es beinahe unerträglich. Die nassen Haare gaben ihm einen verwegenen Ausdruck. Am liebsten hätte er seine Finger hineingegraben und sie noch einmal tüchtig zerwuschelt, um die letzte Flüssigkeit aus ihnen herauszuschütteln. Die Jogginghose klebte ihm an den Beinen wie eine dunkelgraue Haut. Ein Wunder, dass er sich in dem Ding überhaupt noch bewegen konnte.
»Zieh die nassen Sachen aus«, forderte Aaron kichernd.
»Ich hab keine Badehose an«, fauchte Samuel. »Warum hast du Idiot das getan?«
»Jetzt ist mal Schluss. Ist doch nur Spaß gewesen.«
»Unter Spaß verstehe ich was anderes.«
Jörn sprang auf seine Beine. »Ich hole dir deine«, bot er sich an. Samuel angelte den Zimmerschlüssel aus der nassen Hose und warf ihn ihm ohne ein weiteres Wort zu. Jörn fing ihn auf und eilte davon. Er konnte gar nicht schnell genug wegkommen. Oh Mann, war das schwer, sich zurückzuhalten, nicht zu zeigen, wie es in einem aussah. Nicht zu zeigen, wie es wirklich um ihn stand. Er hatte zwar weder Aaron noch Samuel homophobe Sprüche absondern hören, aber er war sich sicher, dass auch die beiden ihre Meinungen hinter verschlossenen Türen hielten.
Allein im Zimmer musste er erst einmal tief durchatmen. Sie hätten jeder eines für sich nehmen sollen, anstatt ein Dreibettzimmer. Aber um Kosten zu sparen, hatten sie sich wortlos auf diese Variante geeinigt. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Abgesehen von Jörns sexueller Gesinnung.
Samuels Gepäck lag neben der Gästeliege. Als sich Jörn darauf zubewegte, kam er sich wie ein Eindringling vor. Seine Hände zitterten beim Öffnen der prall gefüllten Reisetasche. So ganz anders als sein Bruder, der Chaos und Übermut für sich gebucht hatte, war die Tasche überraschend gut sortiert und wirkte mit Sorgfalt und Überlegung gepackt worden zu sein. Vielleicht brauchte man das als Chemiker, dachte Jörn leicht höhnisch, kam sich bei seinem Vorstoß in Unterhosen, T-Shirts und kurzen Hosen dennoch wie ein Industriespion vor. Er stieß ein erleichtertes Seufzen aus, als er endlich die gesuchte Badehose und ein Strandhandtuch gefunden hatte. Mit einem weiteren Handtuch für sich selbst, dass er bei seinem ersten Ausflug zum Pool vergessen hatte, verließ er das Zimmer. Seine Schritte verlangsamten sich, als er den Aufzug verließ und Richtung Außenanlagen marschierte. Es zog ihn magisch nach draußen zu Samuel. Gleichzeitig zerrte ihn eine andere Kraft in die entgegengesetzte Richtung. Er scheute die neuerliche Begegnung mit dem Jüngeren, genauso wie er gar nicht schnell genug zurückkehren konnte.
Als er Samuel die Sachen gebracht hatte, erregte die Bar im Hintergrund seine Aufmerksamkeit. Heiße Latinopop-Rhythmen aus versteckten Lautsprechern und die Aussicht, sich mit zuckersüßen Cocktails einen gewaltigen Rausch anzusaufen, lockte ihn an. Das war allemal besser, als Samuel dabei zusehen zu müssen, wie er sich umzog. Nackte Beine und eine bloßgelegte Brust konnte er jetzt nicht ertragen, so sehr er sich auch nach diesem Anblick sehnte.

 

 

Impressum

Texte: Ashan Delon 2016
Bildmaterialien: Caros Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 17.09.2016

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