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Im Zeichen von Sawwa

 

Es ist schon ein harter Job, knochenbrecherisch und zermürbend, doch Sandre hatte sich nun einmal entschlossen, das Erbe ihres Vaters anzutreten und es weiterzuführen und hieß sich deshalb durchzuhalten. Sie sprang von einem Bein auf das andere, schwang sie hoch über ihren Kopf in die Luft, dehnte und streckte ihre Muskeln und wärmte sich für den bevorstehenden Kampf auf. Wie es einst ihr Vater getan hatte, zog nun auch sie von Stadt zu Stadt und kämpfte um die begehrten Preisgelder. Die meisten ihrer Mitstreiter kannte sie aus vorangegangenen Wettbewerben. Nur dann und wann befand sich ein neues Gesicht darunter. Ihr Vater lehrte sie, ihre Gegner abzuschätzen und einzuordnen. Sie beobachtete, so wie sie es gelernt hatte und sah sich aufmerksam um, während sie sich weiter aufwärmte. Vom letzten Kampf schmerzte noch eine angeschlagene Rippe. Sandra atmete tief ein und unterdrückte den Schmerz. Sie brauchte, wie die meisten, die sich nur wegen des Wettbewerbes in der Stadt aufhielten, das Preisgeld dringend nötig. Daher musste sie kämpfen, ob sie sich in der Lage befand, oder nicht.

 

Helfer, Bewohner aus der Stadt, begannen die Kreise, die die Kampfarena darstellen sollten, auf den Boden zu malen. Für Sandre ein gewohntes Bild. Auch sie beobachtete die Männer bei ihrer Arbeit, kontrollierte und schätzte den Umfang der Kreise oberflächlich ab und achtete auf jede Abweichung von der Regel. Sie setzte sich auf den Boden und spreizte ihre Beine so weit es ging. Ihre Glieder mussten weich und geschmeidig sein, wenn es losging.

Sie kannte die überheblichen Blicke der männlichen Mitbewerber und konterte dementsprechend. Als Frau hatte sie eine noch beachtlichere Leistung zu vollbringen, als die Männer. Innerhalb der Arena gab es keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Jeder kämpfte gegen jeden, gleichgültig welches Geschlecht oder welches Gewicht. Niemand nahm auf den Anderen Rücksicht. Es wurde geprügelt, gestoßen und nicht selten verließ nur einer der Kämpfenden den Kreis aus eigener Kraft. Sandre hatte schon Kämpfe gesehen, in denen das Blut Literweise floss, und mehr als einmal musste sie mit ansehen, wie es tödlich ausging. Es gab nur wenige Regeln. Hilfsgeräte waren nicht erlaubt. Man musste mit bloßen Händen um das Preisgeld kämpfen. Sieger war derjenige, der es schaffte, seinen Gegner vier Mal aus dem Kreis zu befördern, oder ihn so hart zu treffen, dass er nicht mehr in der Lage war, weiterzukämpfen. Wie, das war einem selbst überlassen.

Dann sah sie ihn.

Sirjhana Menahem. Ein begnadeter Kämpfer. Für ihn schien alles nur ein Spiel zu sein. Mit einer spielerischen Leichtfertigkeit besiegte er jeden Gegner, und selten dauerten seine Kämpfe länger als zehn Minuten. Meist ließ er seinem Gegner zwei, drei Punkte machen, dann schlug er zurück. Erbarmungsloser und unaufhaltsamer, als irgendein Anderer. Die Männer, die ihn jemals besiegen konnten, waren an den Fingern einer Hand aufzuzählen. Alles Namen, die ebenso ehrfürchtig ausgesprochen wurden, wie der von Menahem. Leicht wie eine Feder, sprang er aus dem Aktionsradius seines Gegners und schlug so hart wie ein Vorschlaghammer zurück. Er war groß, schlank und unter seiner Haut zeichneten sich die ausgeprägten Muskeln jahrelangen Trainings ab. Seine geschmeidigen Bewegungen zeigte er nicht nur innerhalb des Kreises. Auch nun, als er Stolz an den Männern und Frauen vorbei spazierte, die sich für den bevorstehenden Wettbewerb aufwärmten, oder nur beobachtend herumstanden.

In Sandre keimte Bewunderung auf. Er gehörte zu den Typ Männern, die ihr Herz höher schlagen ließen. Nicht nur seiner stolzen, heroischen Haltung wegen, auch sein Können und die leichtfertige Überlegenheit, mit der er sich präsentierte, ließen ihr den Atem stocken.

Sie musste ihre Gefühle gewaltsam unterdrücken, denn er war der Mörder ihres Vaters.

Sie zwang sich wegzusehen.

Wie für viele andere, bedeutete sein Auftauchen auch für sie das Schwinden ihrer Chancen. So viele Male hatte sie sich gewünscht, bis zu ihm vorzudringen und ihm im Endkampf gegenüber zu stehen, doch sie war nicht gut genug. Es gab auf dem Weg dorthin immer Jemanden, der besser war als sie. Irgendwann, schwor sie sich, würde ihm dasselbe Schicksal zuteil werden, wie ihrem Vater.

 

Irgendwo brüllte jemand, als wäre er auf einen Bratspieß gesteckt worden. Die Leute liefen zusammen. Sandre blieb wo sie war. Es interessierte sie zwar, was dort vorgefallen war, aber dennoch rührte sie sich nicht vom Fleck und machte mit ihren Aufwärmübungen weiter. Wahrscheinlich waren zwei Kämpfer noch vor dem Beginn des Wettbewerbes aneinander geraten, vermutete sie und beobachtete das Knäuel Menschen, in der Hoffnung, doch irgendetwas zu sehen. Das Brüllen wurde immer lauter. Die Leute lachten und diskutieren, doch Sandre konnte aus all dem nichts ableiten. Daher entschloss sie sich, nicht mehr daran zu denken und ihre Aufmerksamkeit ihren Übungen und dem bevorstehenden Wettbewerb zu widmen.

 

»Glaubst du, das hilft dir, wenigstens eine Runde einigermaßen glimpflich zu überstehen?«, sagte plötzlich eine Stimme nahe bei ihr.

Sandre erschrak und fuhr herum. Sie blinzelte gegen die Sonne an. Vor ihr stand ein Kerl, lässig auf ein Bein gestellt und schätzte sie von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz ab. Nicht der abfällige Ton erregte Sandres Gemüt, nicht die hohngespickten Worte, auch nicht der verzehrende Blick, der jede Zelle ihres Körpers mit einer Berührung bedachte, sondern sein breites, hämisches Grinsen, das seine Meinung über Frauen im Ring, deutlich kund tat. Sandre drehte sich abrupt wieder herum und ließ ihn einfach stehen. Sie verspürte keine Lust sich mit ihm in Worten zu messen. Er würde es schon noch merken, wie es ihr half, wenn sie sich im Ring gegenüber standen.

»Du redest wohl nicht mit jedem, was?«, fragte er leicht amüsiert.

»Du hast es erraten«, knurrte sie missmutig und zwang sich, mit ihren Übungen in aller Ruhe fortzufahren.

»Dir hat wohl noch keiner deine hübsche, arrogante Nase eingeschlagen, was?«, grinste er noch breiter.

»Du kannst es ja mal versuchen«, konterte sie und lächelte ihn breit an.

Er betrachtete sie eine Weile grinsend, dann stellte er sich auf das andere Bein und atmete tief ein. »Ich habe die Leute vor einem Wettbewerb schon alles mögliche machen sehen«, begann er nachdenklich. »Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel daran nehmen und auch solche Verrenkungen machen wie du. Oder meine Wut einfach herausbrüllen, wie Cluster.« Er zeigte mit dem Kopf in die Richtung des brüllenden Mannes. »Vielleicht verhilft mir das zu etwas mehr Mut.« Er zog einen Mundwinkel hoch und betrachtete sie dann stumm.

Das eben gehörte bewirkte in Sandre einen Wandel. Sie betrachtete ihn, ohne ihn jedoch zu sehen und ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. »Du siehst nicht aus, als würde dir der Mut fehlen«, stellte sie danach fest.

Er lachte kurz auf. »Mut habe ich genug«, sagte er grinsend. »Sonst würde ich mich nach einer anderen, weitaus ungefährlicheren Möglichkeit zum Geldverdienen umsehen. Mir geht es wie vielen hier.« Er seufzte kurz. »Irgend jemand kam auf die Idee zu behaupten, Menahem würde hierher kommen. Vielleicht stimmt es, vielleicht aber auch nicht. Aber das allein genügt schon, um Mut, Hoffnung und alles andere, was einen Menschen aufbaut, in den Keller sinken zu lassen. Cluster will den Kerl schon seit langem erledigen und jetzt brüllt er sich in Form.« Er lachte erneut kurz auf, beruhigte sich aber schnell wieder. Weitaus nachdenklicher sprach er weiter. »Vielleicht sollte ich meine Sachen packen und verschwinden, solange noch ein einziger meiner Knochen heil ist.« Er verzog seinen Mundwinkel wieder nach oben und bedachte Sandre mit einem verschmitzten Blick.

»Durch Angsthasen wie dich, ist Menahem zu einer Persönlichkeit geworden«, warf sie ihm an den Kopf verzog ihre Mundwinkel. »Und dieser Cluster sollte sich lieber auf den Kampf vorbereiten, anstatt seine Kräfte bereits mit der Stimme aus sich heraus zu brüllen.«

»Entweder kennst du ihn nicht besonders gut, oder du besitzt einen solch enormen Mut, von dem wir Männer nur träumen können«, versuchte er zu erraten.

»Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass auch er nur ein Mensch ist«, erwiderte sie knapp und versuchte sich wieder ihren Übungen zu widmen.

»Dann weißt du schon mehr als ich«, gab er anerkennend von sich. »Manche behaupten, er wäre ein Dämon.« Er kicherte amüsiert, über seine eigenen Worte. »Ich habe zwar schon einiges von ihm gehört und ich denke, dass vieles, was von ihm erzählt wird, Märchen sind, doch langsam ich werde immer neugieriger auf diesen Wunderkerl. Ich sollte vielleicht doch noch nicht verschwinden und warten, bis er eintrifft.«

»Warum warten?«, wollte Sandre wissen. »Er ist doch bereits hier.«

»Wer? Menahem?« Der Kerl sah sich rasch um.

Sandre nickte und zeigte in die Richtung, in die der Gesuchte war längst in der Menge verschwunden war. Sie zuckte mit den Schultern.

»Vorhin sah ich ihn hier irgendwo«, sagte sie deshalb. Weshalb sie dies verriet, wusste sich selbst nicht. Sie vermutete, dass ihr Innerstes wünschte, den Mörder ihres Vaters von allen Seiten bedrängt zu sehen. Sie hatte vorgehabt ihn selbst zu erledigen, doch nun, als noch mehr diesen Wunsch hegten, und aufgrund der Erkenntnis, dass sie noch lange nicht soweit war, Menahem ernsthaft die Stirn zu bieten, erkannte sie dies als willkommene Gelegenheit. »Er ist bereits hier«, fügte sie hinzu und zeigte großflächig über den von Menschen wimmelnden Platz.

»Das wird Cluster aber freuen.« Mit einem Kichern wandte er sich wieder an sie »Wie sieht er aus?«

Sandre zuckte erneut mit den Schultern. Eigentlich wollte sie ihn als seltsam fremdländisch gekleidet beschreiben, doch dies traf auf so ziemlich alle zu. Viele der Kämpfer, versuchten allein schon durch ihre Kleidung aufzufallen, einzuschüchtern, oder einfach nur zu prahlen. Damit also konnte sie ihm nicht helfen. »Wenn ich ihn wieder sehe, sage ich es dir«, erwiderte sie deshalb.

»Aber vergiss es nicht«, ermahnte er sie grinsend. »Ich muss die Neuigkeit Cluster erzählen. Vielleicht treffen wir uns im Kreis wieder. Viel Glück!« Er nickte ihr kurz zu und verschwand.

Sandre weigerte sich, ihm zum Abschied einen Gruß zu schenken. Sie verzog ihre Lippen und entspannte sie auch gleich wieder, bevor sich die Mauer von Menschen vollends hinter ihm schließen konnte. Dann seufzte sie tief und widmete sich wieder ihren Übungen. Irgendwie kam ihr dieser Kerl seltsam vor und ihre Gedanken begannen um ihn zu kreisen. Ihr war es noch nie passiert, dass sich jemand mit ihr in ein Gespräch eingelassen hatte. Die Meisten versteiften sich vollends auf den Wettbewerb und konnten, oder wollten sich um ihre Mitbewerber nicht mehr kümmern, es sei denn um ihnen irgendeinen Streich zu spielen, der sie kampfunfähig machen sollte. Niemand kam auf die Idee mit einem Rivalen locker zu plaudern. Sandre schüttelte den Kopf, um die wirren Gedanken los zu werden.

 

Ihre erste Runde überstand sie relativ gut. Sie hatte einen saftigen Schlag auf die Nase bekommen und nur beinahe wäre der Ausspruch des redefreudigen Kerls wahr geworden. Noch bevor der Knochen unter der Wucht des Schlages brechen konnte, ließ sie sich fallen und brachte sich aus der Gefahrenzone. In der vierten Runde stand sie einem Gegner gegenüber, an dem sie sich die Zähne auszubeißen drohte. Sandre hatte auch schon in den vorherigen Runden schwer zu kämpfen gehabt, doch nun schien sie sich nicht mehr lange halten zu können. Nur mit Mühe und knapp vor dem vierten Mal aus dem Kreis heraus katapultiert zu werden, gewann sie die Runde. Sandre atmete tief ein. Wie so oft schalt sie sich, ihre Knochen für diese harte Art zu Leben, hinzuhalten. Wenn ihr Rachedurst und ihr Ergeiz, ihre Vernunft nicht um ein vielfaches überflügeln würden, hätte sie es längst aufgegeben.

»Du bist nicht übel«, sagte eine ihr bekannte Stimme und klopfte ihr anerkennend auf die Schultern. »Hätte nicht gedacht, dass du soweit kommst.«

»Da siehst du, wie man sich täuschen kann«, sagte sie und lächelte überfreundlich zurück.

»Ich muss mich wohl für meine vorschnelle Meinungsäußerung entschuldigen.« Ein Grinsen zog sich von einer Wange zur anderen.

»Wurde aber auch Zeit.«

»Was dir noch fehlt, ist etwas bessere Technik, Schnelligkeit und vor allem Kraft.«

»Ach«, machte sie und verzog ihr Gesicht. »Du kennst dich wohl sehr gut aus.«

Er betrachtete sie eine Weile grinsend. Sandres beißender Hohn in ihrer Stimme und ihr offenkundiger Unwille, mit ihm ein weiteres Gespräch zu führen, mussten ihm unweigerlich auffallen.

»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du mich nicht ausstehen kannst«, sagte er schließlich.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie leicht genervt.

»Ich kann mir denken, dass es für eine alleinstehende Frau nicht leicht ist. Du hast dir aber auch nicht gerade die beste Überlebensmöglichkeit herausgesucht.«

»Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen«, unterbrach ihn Sandre, bevor er Luft für weitere Ausführungen holen konnte.

»Das bezweifle ich nicht«, gab er anerkennend von sich.

Ohne um Erlaubnis zu fragen, setzte er sich zu ihr auf den Boden. Sandre wollte bereits protestieren, als er sie mit einer kurzen Geste zum Schweigen und Zuhören überredete.

»Die meisten hier, ziehen in Gruppen durchs Land«, begann er. »Zum Einen, weil es sicherer ist. Ein einzelner Mann, oder Frau«, fügte er schnell hinzu. »... ist hilflos, ob er nun der beste Kämpfer ist, oder nicht. Gegen die Heerscharen von Räubern und Wegelagerern, die auf dem Weg von einer Stadt in die andere nur darauf warten, einem das Preisgeld wieder abzunehmen, hat man als Einzelner keine Chance. Und zum anderen, um sich gegenseitig als Sparringspartner auszuhelfen. Sie lernen voneinander, stehen aber im Ring nur für sich selbst ein. Was hältst du davon?«

»Von was?«, fragte sie nach und gab sich unwissend. Sie konnte sich denken, was er von ihr wollte.

»Wenn wir beide uns zusammen tun«, erklärte er. »Ich könnte dir etwas mehr Technik beibringen und du zeigst mir, wie das mit diesen Verrenkungen funktioniert.«

»Ich bin bisher ganz gut allein zurechtgekommen«, sagte sie schnell und drehte sich um.

»Mag sein«, ließ er nicht locker. »Aber wie lange noch. Irgendwann kommt der Tag, an dem du hilflos auf der Straße liegst, ausgeraubt und blutend, und dir wünschst, mit irgendjemanden mitgezogen zu sein.« Er erhob sich abrupt, als hätte er es plötzlich aufgegeben. »Ich will dich nicht drängen. Überlege es dir.«

»Ich brauche nichts zu überlegen«, maulte Sandre.

»Ich denke schon«, nickte er. »Nach meiner letzten Begegnung mit einer Bande Straßenräuber, denke ich anders. Vorher hätte mich auch niemand dazu überreden können, mit irgendjemanden durch die Lande zu ziehen. Aber wenn man zwanzig entschlossen Kerlen gleichzeitig gegenübersteht, überlegt man es sich tatsächlich.«

Sandre spürte, dass er es ehrlich gemeint hatte. Der Ton in seinen Worten, ließ ihr einen Schauer über den Rücken jagen. Sie kam sich plötzlich töricht vor. Sie fühlte sich schuldig, da sie ihn zu etwas Anderem verdächtigt hatte.

»Ich überlege es mir«, sagte sie schnell und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.

Ein Lächeln umspielte lässig seine Lippen. Er schien sich seines Sieges sicher zu sein.

»Wir sehen uns später.« Er nickte ihr zum Abschied zu und wand sich um. Doch plötzlich kam er wieder zurück. Er hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Dugan«, stellte er sich vor.

»Sandre«, erwiderte sie und schlug ein. Dann verschwand er endgültig.xxx

Sandre musste lächeln. Ein komischer Kauz, sagte sie zu sich und war sich eigentlich schon sicher, dass sie fortan mit ihm zusammen von Stadt zu Stadt zog. Was würde sie denn groß verlieren, fragte sie sich. Hilfe kam ihr so gelegen, wie ein Becher kühles Wasser inmitten einer Wüste.

 

In ihrer siebenten Runde erwischte es Sandre. Sie hatte sich tapfer geschlagen, doch irgendwann ließen ihre Kräfte nach und ihr Gegner konnte mit ihr umspringen, als wäre sie nichts weiter, als ein Spielball. Nach vier Aufenthalten außerhalb des Kreises, war Sandre ausgeschieden. Sie ärgerte sich, wie immer, denn dies zeigte ihr, dass sie noch lange nicht so weit war, den Mord an ihrem Vater zu rächen.

Sonst verließ sie gleich anschließend die Stadt. Denn für Verlierer gab es nichts mehr zu holen. Doch diesmal blieb sie. Sie wartete auf Dugan, der noch im Rennen lag.

Sie sah bei seinen Kämpfen zu und stellte fest, dass auch er nicht übel war. Seine Techniken schienen tatsächlich perfekter zu sein, denn er brachte seine Gegner weitaus mehr zum Schwitzen, als Sandre je die ihren. Je länger sie ihn beobachtete, desto mehr festigte sich ihr Entschluss, mit ihm zu ziehen. Verlieren konnte sie nichts. Im Gegenteil. Wenn er tatsächlich bereit war, ihr einiges beizubringen, wäre es nur zu ihrem Vorteil. Ihre selbst entworfenen Aufwärmübungen würde sie ihm schon beibringen. Sie lächelte, als sie daran dachte.

 

Ihr Lächeln starb augenblicklich, als sie ihre Augen wie beiläufig über die Zuschauermenge wandern ließ und unversehens den Blick des Mannes einfing, den sie so sehr hasste, wie sie ihn bewunderte. Die Adern in ihrem Gesicht füllten sich mit siedend heißem Blut. Ihr Herz pumpte das Blut mit rasender Geschwindigkeit durch ihre Adern.

Menahem hatte seine wallenden, bodenlangen Gewänder gegen wesentlich praktischere eingetauscht. Knielange Hosen und ärmelloses Hemd. Er unterhielt sich mit einem Nachbarn und wies ab und zu in ihre Richtung. Demonstrativ entzog sie ihm ihren Blick und bemerkte erst jetzt, dass sein Augenmerk gar nicht ihr galt, sondern den zwei Kämpfenden. Die beiden standen ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Kreises und schienen Praktiken und Techniken des kämpfenden Paares auszudiskutieren. Je mehr Punkte Dugan machte, desto stiller wurden sie, bis sie schließlich nur noch stumm beobachteten. Da begriff Sandre, dass der Sieger aus dieser Runde, der nächste Gegner Menahems war.

Plötzlich machte sie sich Sorgen um Dugan, denn so wie es im Moment aussah, würde er die Runde für sich entscheiden können. Und das hieß, dass er bald gegen den unbesiegbaren Wunderkämpfer antreten musste. Dies bedeutete wiederum, dass für Dugan spätestens in der nächsten Runde Schluss war. Sorgenvoll beobachtete sie Dugans zielstrebiges Zugehen auf den Sieg. Ihr Blut begann bei jedem Schlag, den er ausführte, heißer zu werden und ihr Herz klopfte bis zum Hals, denn sie wusste um das Schicksal ihres zukünftigen Weggefährten.

 

Dugan gewann und kam freudestrahlend und noch völlig außer Atem auf sie zu.

»Gut, was?«, keuchte er lachend.

Sandre kannte dieses Glücksgefühl. Sie hatte es selbst erlebt, als sie zum ersten Mal über die fünfte Runde hinauskam. Mit der Zeit jedoch ebbten diese Gefühle ab, und sie war nur noch froh, überhaupt noch mit heiler Haut davon gekommen zu sein. Sie lächelte für ihn, denn sie freute sich trotz allem über seinen Sieg. Doch gleich darauf verlor sich dieses Lächeln wieder.

»Weißt du, wer dein Nächster ist?«, fragte sie.

Dugan schüttelte den Kopf. Er war mit seinen Gedanken noch bei dem letzten Kampf.

»Menahem«, verriet es ihm Sandre.

Dugans Gesicht verfinsterte sich für einen Moment. Dann erschien ein schmales Lächeln. »Das war es dann wohl«, seufzte er wenig hoffnungsvoll.

»Er hat dich vorhin genau beobachtet«, gab sie vorsichtig von sich und sah sich suchend um, doch Menahem war längst wieder verschwunden. »Gegen ihn hast du keine Chance.«

»Die hätte ich auch nicht, wenn er mich nicht beobachtet hätte«, erwiderte er wesentlich ernüchterter. Seine Freude über den letzten Sieg war wie weggewischt. Er suchte in der Menge nach dem Gesicht seines nächsten Gegners.

Sandre betrachtete Dugan mit gemischten Gefühlen. Ihr Innerstes verlangte, dass sie ihm beistand und ihre Vernunft sagte ihr, sie solle sich um ihn keine Gedanken machen. Sie kannte ihn doch erst seit ein paar Stunden.

 

Dugan ging mit Unwille in den Kreis zurück, in dem Menahem bereits geduldig wartete. Wie das Ende dieser Runde ausgehen sollte, konnte selbst der Ahnungsloseste mit sicherer Bestimmtheit voraussehen. Entmutigt durch den Ruf seines Gegners, resigniert durch dessen lockeres und selbstsicheres Auftreten und ohne Hoffnung auf einen Sieg, trottete er über die Linie. Wie bei jedem Kampf bei dem Menahem mitwirkte, versammelten sich die Zuschauer eng um den Kreidekreis und bildeten eine dichte Mauer aus Leibern. Sandre bahnte sich einen Weg durch die Mauer. Obwohl auch sie den Sieger dieser Runde schon nennen konnte, wollte sie sich um keinen Preis davon abhalten lassen, zu zusehen.

Menahem begann sein gewohntes Spiel, wie er es auch bei Sandres Vater getan hatte. Er ließ sich zwei Mal aus dem Kreis werfen, ohne viel dagegen anzukämpfen, und leistete allerdings beim dritten Mal schon etwas mehr Widerstand, doch zum vierten und entscheidenden Punkt ließ er es nie kommen. Plötzlich wie ausgewechselt, schlug er zurück und noch ehe sein Gegner über weitere Taktiken nachdenken konnte, befand er sich auch schon das vierte Mal außerhalb des Kreises. So auch mit Dugan. Die ersten zwei Punkte konnte er sich spielend holen, für den Dritten musste er bereits mehr kämpfen, doch vor dem Vierten fand er sich plötzlich selbst hinter der weißen Linie wieder. Leise vor sich hin fluchend, trottete er wieder zurück. Sandre schloss die Augen, denn sie wusste, was nun kommen würde. Menahem würde Dugan aus dem Wettbewerb werfen, ohne dass dieser auch nur einen Handstrich dagegen tun konnte. Das Zweite und Dritte ließ nicht lange auf sich warten. Nur äußerst widerwillig kehrte Dugan immer wieder in den Ring zurück. Er wand sich hilfesuchend nach den Zuschauern um, doch keiner war bereit ihm zu helfen. Es konnte ihm auch niemand helfen. Gegen Menahem bestehen zu können, hieß ebenso unbesiegbar sein zu müssen. Dugan war es nicht.

Doch plötzlich richtete er sich stolz auf. Dugan wollte sich nicht zu denen zählen lassen, die mutlos zu Menahem in den Ring gingen und mit sich umspringen ließen, wie mit einem Spielball. Er atmete tief ein, nahm all seine Kraft und all sein Können zusammen und wagte etwas, was vor ihm nur Wenigen geglückt war.

Wenn Menahem Dugans Schlägen nicht lässig auswich, so steckte er sie grinsend ein, als wären sie so hart, wie das sanfte Streicheln einer Geliebten. Es war deutlich zu sehen, dass der begnadete Kämpfer mit seinem Gegner spielte und sich mit ihm lediglich die Zeit vertrieb. Seine Stürze, Sprünge, Abrollmanöver und Vorstöße bremste er gerade noch, nur wenige Zentimeter vor der weißen Linie ab, als stünde auf ihr eine unsichtbare und undurchdringliche Wand.

Und dann katapultierte eine harte Faust Dugan ein viertes Mal aus dem Kreis heraus. Er blieb schwer atmend liegen und ärgerte sich maßlos. Seine Hände zu Fäusten geballt, versuchte er wieder zu Fassung zu kommen.

Dankbar nahm er eine Hand entgegen, die ihm half, sich wieder auf die Beine zu stellen und erkannte, erst als er stand, dass es Menahems war. Sofort wollte sich Dugan aus seinem Griff befreien, doch dieser hielt ihn fest.

»Nicht schlecht«, nickte er anerkennend und setzte wenig später ein lässiges Lächeln auf. »Hartnäckig, selbst nach dem dritten Punkt. An dir könnten sich Manche ein Beispiel nehmen.« Er lachte kurz und klopfte Dugan auf die Schulter. »Wenn du einmal gelernt hast, dich nicht vom Ruf deines Gegners einschüchtern zu lassen, möchte ich dir nicht wieder gegenüber stehen.«

Dugan verzog sein Gesicht. Er wusste nicht, ob er dies als Lob, oder als Maßregelung deuten sollte. Noch bevor er den Mund für eine Antwort öffnen konnte, brüllte eine tiefe Stimme hinter der Mauer aus Menschen. Ein hünenhafter Kerl bahnte sich durch die Zuschauer, schubste sie achtlos beiseite und marschierte zielstrebig auf die Kämpfer der letzten Runde zu. Menahem ließ Dugan sofort los und baute sich, breitbeinig und die Hände in die Hüften gestützt, vor dem Riesen auf.

»Kannst du nicht warten, bis du an der Reihe bist, Cluster?«, fragte Menahem, eher etwas gelangweilt.

»Ich bin an der Reihe«, brüllte Cluster.

Mancher hätte sich schon allein durch sein barsches Auftreten einschüchtern lassen, doch nicht so Menahem. Er lächelte gelassen, ließ sich selbst durch seine etwas geringere Körpergröße nicht einschüchtern, wand sich entschuldigend nach Dugan um und ging dann gemächlich in die Mitte des Kreises.

»Wenn das so ist, dann zeig mal, was du kannst«, erwiderte er gelassen und winkte Cluster zu sich. Dieser ließ sich dies nicht zweimal sagen. Er stürmte los und rannte erst einmal ins Leere. Doch kurz vor der Linie bremste er seinen Schwung wieder ab.

»Na, was ist?«, rief Menahem grinsend. »Ich dachte, du wolltest mich umbringen.«

Cluster brüllte laut auf und stürmte erneut los. Seine Fäuste, die die Auswirkung von Vorschlaghämmern besaßen, hätten Viele allein schon durch den Luftzug umhauen können. Ein Treffer hätte verheerendere Schäden angerichtet, als eine Tonne Dynamit. Menahem ließ sich einfach nicht erwischen. Er bog seinen Körper, wie ein Schilfgras im Wind, sprang so leichtfüßig und ausgelassen herum, wie eine aufgezogene Feder und vollführte Ausweichmanöver, denen der bullige Kerl mit seinem massiven Körper niemals hätte folgen können. Zum flinken Ausweichen war er viel zu steif und zu unbeweglich. Clusters ganze Stärke besaß darin, seinen Gegner mit seiner enormen Kraft und seiner Standfestigkeit umzuhauen. Ein normaler Schlag brachte ihn nicht einmal zum Straucheln. Es musste weitaus mehr angewandt werden.

Sandre kämpfte sich durch die gaffende Menge zu Dugan vor, der noch immer an derselben Stelle stand, an der ihn Menahem hatte stehen lassen müssen. Um Dugans Lippen spielte ein kleines Lächeln, als sich Sandre an seine Seite stellte, doch seine ganze Aufmerksamkeit lag bei dem Kampf. Er ließ Sandre nur einen kurzen Blick zukommen und konzentrierte sich gleich wieder auf Menahem und Cluster.

Sandre hätte sich ebenfalls nicht abbringen lassen, dieser Runde zuzusehen. Sie hegte jedoch mehr Hoffnungen, als Interesse. Sie wünschte sich fest, dass es Cluster dem Mörder ihres Vaters einmal so richtig zeigen würde. Ihre Wünsche wurden allerdings nicht erfüllt. Menahem ließ sich kein einziges Mal treffen. Wenn er außerhalb des Ringes geriet, dann nur weil er beim Ausweichen nicht anders konnte. Sandre bezweifelte, dass dies unabsichtlich geschah. Menahem spielte wieder sein Spiel. Er hielt sich zurück, bis er das dritte Mal den Kreis verlassen musste und war dann plötzlich wie verwandelt. Er reizte Cluster mit derben Sprüchen und forderte ihn immer wieder auf, anzugreifen, ließ sich jedoch kein viertes Mal hinausdrängen.

Sandre schloss vor Übelkeit die Augen. Die Erinnerungen an den Kampf mit ihrem Vater, bei dem sie unweigerlich zugesehen hatte, wurden wieder wach. Damals war er ebenso vorgegangen. Er hatte ihn gereizt bis aufs Blut, um ihm dann schließlich in einer geeigneten Gelegenheit, als sich ihr Vater zu einer nicht mehr kontrollierbaren Handlung hinreißen ließ, mit einem Schlag zu besiegen.

Auch Cluster bot eine solche günstige Gelegenheit. Menahem nahm kurz Anlauf, sprang mit beiden Beinen hoch und trat ihm mit einem Bein ins Kreuz und mit dem anderen in den Oberschenkel seines Standbeines. Ein dumpfes Krachen und der darauffolgende laute Schmerzensschrei ließ einige der Umstehenden, so auch Sandre, aufschrecken und starr vor Entsetzen die Luft anhalten. Die Anderen lächelten milde. In ihren Augen blitzte ein merkwürdig gefährliches Glitzern auf.

Der Schiedsrichter, dessen einzige Aufgabe es war, die erreichten Punkte zu zählen und sie laut zu verkünden, sprang auf und schrie: »Punkt Menahem und aus.« Er zeigte auf den Sieger, denn auch er hatte folgerichtig erkannt, dass Cluster mit einem gebrochenem Bein nicht weiterkämpfen konnte.

Cluster krümmte sich vor Schmerzen und brüllte seinen Pein und seinen Ärger aus sich heraus. Menahem stand breit grinsend daneben und suhlte sich in den Blicken der Zuschauer. Ein weiterer schmutziger Sieg stand auf seinem Konto, schimpfte Sandre still in sich hinein. Und mehr denn je wünschte sie sich, diese Bestie zu erlegen. Doch sie hielt sich zurück. Würde sie es jetzt wagen, erginge es ihr ebenso wie Cluster.

»Der Kerl ist einfach fantastisch«, rief Dugan begeistert.

Sandre fand dies überhaupt nicht fantastisch. Fast genauso hatte Menahem es mit ihrem Vater gemacht. Nur dass ihr Vater seinen Kopf hinhielt, der ihm prompt zerschmettert wurde. Angewidert kehrte sie Menahem den Rücken zu. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem sie für alles Rache nehmen konnte.

Sie ließ Dugan mit seiner Begeisterung stehen und kämpfte sich aus der Menschenmenge heraus. Als sie endlich aus dem Pulk heraus war, atmete sie erleichtert auf. Sie musste sich arg beherrschen, sich nicht sofort auf diesen Kämpfer zu werfen, denn sie wusste, er war - wie es Dugan gesagt hatte - fantastisch. Er war der Beste.

 

Eiligst packte Sandre ihre Sachen zusammen. Es kam ihr vor wie eine Flucht. Sie hatte es nicht nötig, vor irgendwas oder irgendjemandem davon zu laufen, doch sie wusste, wenn sie sich nicht sofort auf den Weg in die nächste Stadt machte, würde sie sich nicht mehr lange zurückhalten können. Hastig schnürte sie ihr Bündel auf den Rücken und rannte beinahe aus der Stadt.

»Halt warte«, rief eine Stimme. »He, Sandre, warte!«

Nur widerwillig blieb sie stehen. Sie atmete einige Male tief ein und musste feststellen, dass ihr fester Entschluss, zu fliehen bevor sie Dummheiten machen konnte, mit einem Mal verflogen war.

»Deine heimliche Flucht, soll also ein Nein bedeuten«, keuchte Dugan, als er endlich neben ihr stand.

Sandre verzog ihr Gesicht. An Dugans Angebot hatte sie nicht mehr gedacht. »Wenn du dich beeilst, kannst du dich mir anschließen«, sagte sie schnell und weigerte sich, einen Blick zurück auf den Platz mit den weißen Kreidekreisen und den vielen Menschen zu werfen.

»Ich wüsste nicht, in welcher Stadt wir zu spät ankämen, wenn wir uns nicht beeilten«, schüttelte er den Kopf.

»Ich habe keine Lust, noch länger hier zu bleiben«, gab sie ihm zur Antwort.

»Zumindest bis ich meine Sachen zusammengepackt habe, könntest du doch noch warten, oder?« Er betrachtete sie kurz mit einem fragenden Blick, wartete aber die Antwort nicht mehr ab. Auf dem Rückweg ließ er sich mehr Zeit. Er musste ja niemandem mehr hinterher laufen. Für Sandre war dies beinahe unerträglich. Mit jeder Minute die verstrich, ohne dass Dugan zurückkam, glaubte sie einen größeren Kampf mit ihrem Hass führen zu müssen.

 

Dugan ließ sich Zeit. Es dauerte viele, schier endlose Minuten, ehe er endlich kam. Sandre war die ganze Zeit am selben Fleck stehen geblieben und hatte es kein einziges Mal gewagt, sich umzudrehen, sich zu setzen, oder auch nur ihr Gepäck abzulegen. Tränen stiegen in ihre Augen, als sie an den letzten Kampf ihres Vaters denken musste. Er starb in ihren Armen. Wenn Dugan ihr nicht einen sanften Schups verpasst hätte, wäre sie umgekehrt und hätte Menahem herausgefordert. Aus ihren Gedanken gerissen, von ihrer Wut und ihrer Rachsucht davon gestoßen, setzten sich ihre Beine wie von selbst in Bewegung und sie entfernte sich von der Stadt.

 

Dugan entpuppte sich als rechter Weggefährte. Nicht ein einziges Mal wagte er es, Sandre unlauter anzutasten, oder sie zu irgendetwas zu zwingen, was sie nicht wollte. Er behandelte sie als ebenbürtiger Kumpel und ihr gefiel dies. Was ihr selbst im Traum nie eingefallen wäre, schaffte dieser junge Mann mit seiner heiteren und lockeren Art, mit ihr und anderen Menschen umzugehen. Sie fasste zu jemandem anderen, als sie selbst, Vertrauen und ließ es zu, dass sich zwischen ihnen ein beherztes, beinahe geschwisterliches Verhältnis entwickelte. Tatsächlich konnte sie noch einiges an Technik von ihm lernen. Und als er versuchte, ihre Aufwärmübungen nachzumachen, kugelte sie sich jedes Mal vor Lachen, denn er stellte sich reichlich dumm an. Seine Gelenke und Glieder waren es nicht gewohnt, derart gedehnt und verdreht zu werden. Doch allmählich ging es immer besser. Die Übungen erreichten, dass er sich im Kampf geschmeidiger bewegte, seinen Körper schneller und besser biegen konnte und damit so manchem Hieb, dem er früher mit seinen Knochen entgegenstehen musste, ausweichen konnte. Sandres Schläge wurden Dank Dugans Lektionen härter, ihre Technik ausgereifter.

Eines Tages erkannten sie, dass sie sich bestens ergänzten und entschlossen sich, nun endgültig zusammen zu bleiben. Die Wochen und Monate vergingen, ohne dass sie Menahem ein weiteres Mal über den Weg liefen. Sandre vergaß ihn sogar zeit weilen.

 

Doch eines Morgens - die Beiden hatten es sich wegen dem andauernden schlechten Wetter in einer Herberge bequem gemacht und harrten dort dem Dauerregen aus - stand ein Mann vor ihnen, der Sandre bekannt vorkam. Nach einigem Überlegen, erinnerte sie sich. Sie hatte ihn an Menahems Seite, sich mit ihm unterhalten und mit ihm über Dugans Kampf diskutieren, gesehen. Er stellte sich als Raolo Saintdegro vor und verlangte Dugan zu sprechen. Sie hielt sich abseits und verkrümelte sich in die Nähe des Kamins, aber noch in Hörnähe.

»Ich komme im Auftrag eines Freundes«, begann er und nahm bereitwillig den Krug mit dem dampfenden Inhalt entgegen.

Es war durch den Dauerregen kalt geworden und die neuen Gäste sehnten sich danach, ihre durchnässten Sachen an einem Kaminfeuer trocknen zu lassen und ihre bis auf die Knochen durchgefrorenen Körper an demselben zu wärmen. Raolo zog trotz der hohen Temperatur, die in dem einzigen Schlafraum der Herberge herrschte, seinen Umhang enger um sich. Unter seinen Füßen hatte sich bereits eine Wasserpfütze gebildet, die immer größer wurde. Seine klammen Finger krampften sich um den heißen Krug und schienen ihn nicht mehr loslassen zu wollen, selbst als seine Hände ihn zu den Lippen führten und wieder auf den grob gehauenen Tisch abstellten. Für die anderen Gäste, die bereits länger in der Herberge hausten, bildeten die Eintretenden eine willkommene und angenehme Erfrischung. Für die Neuankömmlinge war es eher die Hitze in dem Raum, die sie für willkommen hielten. Sandre roch die feuchte Kälte, die Raolo ausstrahlte und fühlte sich für einen Moment lang erfrischt. Die Hitze des Raumes nahm jedoch auch bald von Raolo Besitz und seine Frische löste sich auf.

»Leider kann er nicht selbst kommen«, fuhr Raolo nach weiteren Schlücken fort. »Er möchte mit dir sprechen und bittet dich daher, mir zu folgen. Ich werde dich zu ihm führen.«

»Wer ist dein Freund?«, erkundigte sich Dugan neugierig. Sandre glaubte den Namen des Freundes zu wissen, doch sie schwieg.

Um Raolos Lippen spielte ein schwaches Lächeln. »Er bat mich, es nicht zu verraten, bis du vor ihm stehst.« Dann zuckte er entschuldigend mit den Schultern.

»Warum so geheimnisvoll?«, wollte Dugan wissen und lehnte sich entspannt zurück. Er schien damit zeigen zu wollen, dass seine Neugierde auf Abenteuer, insbesondere wegen des Wetters, nicht besonders groß war. Was nicht unbedingt stimmte.

»Es ist ihm äußerst peinlich, nicht selbst kommen zu können«, erwiderte Raolo. »Boten hat er eigentlich nicht nötig.«

»Deswegen kann er doch trotzdem seinen Namen preisgeben«, ließ Dugan nicht locker.

»Dieser Meinung bin ich ebenfalls, doch in diesem Punkt ist er etwas eigensinnig«, zuckte Raolo mit den Schultern. »Ich musste es ihm versprechen. Es ist ihm schon peinlich genug, nicht selbst erscheinen zu können.«

Dugan schüttelte verständnislos den Kopf. »Und was will dein Freund von mir?«, packte ihn doch offenkundig die Neugierde.

»Ich möchte nichts vorwegnehmen«, erwiderte Raolo. »Außerdem, was er mit dir zu besprechen hat, geht nur euch beide etwas an. Ich bin nur der Überbringer der Bitte.«

»So langsam werde ich immer neugieriger auf deinen Freund«, gab Dugan kopfschüttelnd von sich. »Selten wünschte mich ein so geheimnisumwitterter Mann zu sprechen.«

Sandre wollte den Namen preisgeben. Sie wollte ihn herausschreien, doch sie biss sich auf die Lippen. Trotz allen Hasses, den sie für diesen Mann hegte und trotz des enormen Rachedurstes, respektierte sie seinen Willen. Er verlangte Dugan zu sprechen, nicht sie. Dugan hatte nichts mit ihrem Hass auf Menahem zu tun.

»Bin ich ihm schon irgendwann einmal begegnet?«, versuchte Dugan es aus Raolo herauszulocken.

»Ich glaube schon«, gab dieser knapp von sich.

»Also, ich bin wirklich gespannt«, grinste Dugan, als er erkannte, dass aus Raolo nicht mehr herauszubekommen war. »Warten wir den Regenguss ab, dann gehen wir.«

Raolo nickte dankbar. Niemand verließ einen wohlig gewärmten Raum gerne, um dann in einer Nasskälte zu stehen.

 

Nachdem sich der Regen ein wenig gelegt hatte, marschierten Dugan und Raolo los. Sandre weigerte sich mitzukommen. Sie würde früh genug erfahren, was Menahem von Dugan wollte, ohne dass sie ihm gegenüber stehen musste. Raolo führte ihn aus dem Städtchen hinaus ins offene Feld. Ihre Kleidung saugte sich mit Nieselregen voll und bald war auch ihre Haut durchnässt. Sie froren und gingen schneller.

 

Nach knapp einer halben Stunde waren durch den grauen Wasserschleier am Horizont zahlreiche bunte Zelte auszumachen. Raolo ging zielstrebig auf das Zelt in der Mitte des Lagers zu, schlug den Vorhang am Eingang zurück und ließ Dugan eintreten. Im Inneren des Zeltes herrschte eine angenehm warme Temperatur. Die Glut in einer sorgsam abgeschotteten Feuerstelle füllte den Innenraum mit ihrer wohltuenden Wärme. Über dem Zeltgestänge aufgehängte Tücher teilten die einzelnen Zimmer ab. Raolo schlug ein Tuch nach dem anderen zurück und führte den Gast durch den Irrgarten mit den seidenen Wänden. Beeindruckt von all dem, wurde Dugan immer neugieriger auf den seltsamen Mann, der ihn zu sprechen wünschte. Er konnte nicht einmal ahnen, wer Raolos Freund war. Dugan ließ seine Blicke über die Stoffe schweifen und trat nur vorsichtig mit seinen feuchten und beschmutzten Schuhen auf die Teppiche. Mit dem Eintreten in das Zeltinnere schien er in eine seltsame fremdländische Welt eingedrungen zu sein und ließ damit auch seine ihm bekannt Welt weit hinter sich. Wie vermögend mag der Herr dieses Lagers sein, fragte er sich im Stillen und beneidete ihn darum, gleich wer es sein mochte.

Raolo nahm die letzte seidene Wand zur Seite und ließ Dugan in den eigentlichen Wohnraum des Zeltes eintreten. Auf einem breiten Bett lag Menahem. Über seine Beine lag eine Decke ausgebreitet und an den unnatürlichen Erhebungen und Ausbeulungen ließ sich Ungutes darunter vermuten. Dugan vermutete folgerichtig Beinschienen.

Menahem schien zu schlafen. Raolo berührte ihn vorsichtig an der Schulter und rüttelte ihn behutsam wach.

»Wach auf Sirjhana!«, rief er leise. »Er ist hier.«

Menahem öffnete die Augen und blinzelte schlaftrunken. Nur langsam kam er in die Wirklichkeit zurück.

»Ich habe Dugan gefunden«, erklärte Raolo. »Er ist hier.« Dann trat er zur Seite, damit sein Freund einen Blick auf seinen Gast werfen konnte.

»Freut mich, dass du meiner Bitte gefolgt bist«, lächelte er müde und versuchte sich zu strecken. Doch eine Welle von Schmerz ließ ihn sein Vorhaben abbrechen.

Dugan zuckte hilflos mit den Schultern. »Was ist denn passiert?«, fragte er unvermittelt.

»Ein dummer Zufall«, antwortete Menahem.

»Ein Fehler von mir«, erwiderte Raolo beinahe gleichzeitig.

»Ach was«, tat es Menahem gleich ab. »Es war mein Fehler. Ich hätte da nicht stehen dürfen.«

»Und ich hätte schneller reagieren müssen«, ließ sich Raolo die Schuld nicht abnehmen.

»Wir hatten beide Schuld«, versuchte Menahem, den kleinen Streit zu verhindern. »Bist du jetzt zufrieden?«

Raolo nickte lächelnd und trat einen weiteren Schritt zur Seite.

Dugan blickte von einem zum Anderen und brachte es nicht fertig, irgendetwas zu sagen. Er kam sich plötzlich überflüssig vor und wartete ab, bis sich die beiden beruhigt hatten und sich der eigentlichen Sache widmeten.

»Setz dich«, bot ihm Menahem einen Stuhl an. »Und zieh deine nassen Sachen aus. Gießt es draußen immer noch so?«

»Unaufhörlich«, antwortete Dugan und gehorchte bereitwillig. Liebend gern zog er den triefenden Mantel aus und überreichte ihn Raolo, der damit zwischen den Tücherwänden verschwand.

»Was sollte diese ganze Geheimnistuerei?«, kam Dugan gleich zur Sache. »Warum lässt du deinen Freund Raolo nicht erzählen, dass mich der große Menahem sprechen will?«

»Das ist es ja gerade«, lächelte dieser milde. »Im Moment komme ich mir nicht so vor, wie der große Menahem. Eher wie ein erbärmlicher Wurm, der Angst haben muss, dass ein großer Stiefel kommt und ihn unter sich zerquetscht. Ich kann nicht einmal auf meinen eigenen Beinen stehen, ohne vor Schmerz zu jammern, wie ein altes, wehleidiges Weib.«

»Was ist passiert?«, wagte Dugan einen zweiten Versuch. Seine Neugierde ließ sich nicht mehr zähmen.

Menahem lächelte müde. Seine Augen verrieten, dass ihn ständige Schmerzen plagten und er des langen Liegens überdrüssig war. Dennoch ließ sein munteres, beinahe listiges Lächeln erkennen, dass er sich nicht unterkriegen lassen wollte. Er atmete tief und vorsichtig ein, bevor er antwortete.

»Es passierte bei einem harmlosen Trainingskampf«, kam er endlich mit der Sprache heraus. »Vielleicht haben wir uns missverstanden, oder das Falsche zum falschen Zeitpunkt gedacht. Jedenfalls sind beide Beine gebrochen.«

Dugan starrte ihn entsetzt an. Für Manche hieß dies das Aus für die weitere Zukunft als Kämpfer. Doch für Menahem sicherlich nicht. Als er von seinen gebrochenen Beinen sprach, war nicht einmal ein Hauch von Selbstmitleid in seinen Worten.

»Und was machst du jetzt?«, wollte Dugan wissen.

»Warten bis ich wieder ohne Schmerzen und ohne Hilfe stehen kann«, grinste Menahem schelmisch. »Diese Angelegenheit hier zwingt mich vielleicht für einige Wochen kürzer zu treten, doch niemals zum Aufgeben. Dafür habe ich für meine Zukunft zu viele Pläne, als dass ich sie durch einen solchen Vorfall von mir werfe, wie einen faulen Apfel.« Er schüttelte entschlossen den Kopf, so weit es im liegenden Zustand ging. Behutsam richtete er sich in eine bequemere Lage und biss die Lippen aufeinander, als eine Welle von Schmerz durch seinen Körper jagte.

»Womit wir bei dir wären«, fuhr er fort, als er es aufgegeben hatte, gegen den Schmerz anzukämpfen. Er wäre zweifelsohne schwach geworden, wenn er weiter gemacht hätte. Und dies wollte er vor seinem Gast nicht erkennen lassen.

»Hast du schon einmal von den professionellen Kämpfen in den großen Arenen, wie das in Sankto Portoran, gehört?«

Dugan nickte. Natürlich hatte er davon gehört. Die Siegesprämien bei solchen Wettbewerben waren zwanzig mal so hoch, wie bei den offenen Kämpfen. Um aber zu den Profis zu gehören, musste man in einem Team mitwirken und zum anderen, genügend Geld besitzen, um sich einkaufen zu können. Das geringste Problem war das Können.

Noch zu Beginn seiner Kämpferkarriere hatte es sich Dugan nicht nehmen lassen, bei einem Profikampf als Zuschauer dabei zu sein. Sein Enthusiasmus wurde durch dieses Erlebnis merklich geschmälert. Die Profis besaßen ein Können, bei den Dugan keine Minute würde durchhalten können. Dass Menahem Chancen besaß, an die verlockend schwindelerregend hohen Preisgelder zu kommen, bezweifelte er keineswegs.

»Das ist mein Ziel«, verriet Menahem seinen Zukunftsplan. »Ich bin dabei ein Team aufzustellen und suche fähige Leute. Wie wäre es? Hast du Lust mitzumachen?« Menahem blickte ihn erwartungsvoll an.

Dugan verschlug es beinahe die Sprache. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

»Ich ...?« Mehr brachte er nicht heraus. Er war kein besonders guter Kämpfer. Jedenfalls hielt er sich nicht für so gut, um gegen einen Profi bestehen zu können. »Ich glaube nicht, dass …«

»Jetzt erzähle mir nicht, du hättest keine Chance gegen einen Profi«, unterbrach ihn Menahem. »Vielleicht im Moment«, verbesserte er sich schnell. »Aber du bist talentiert und besitzt genug Verbissenheit. Ich habe dich genau beobachtet.«

»Ich hatte da gerade einen guten Tag, und Gegner, die leicht zu schlagen waren«, tat Dugan sein eigenes Können nieder.

»Nicht nur an dem Tag, als wir beide uns im Ring begegnet waren«, schüttelte Menahem leicht den Kopf. »Ich sah dich schon vorher. Raolo und ich, wir wechseln uns ab. In der einen Stadt gehe ich in den Kreis, in einer anderen er. Wenn er arbeitet, mische ich mich unerkannt unter die Zuschauer. So entdeckte ich dich eines Tages und fand, dass du für unser Team wie geschaffen bist.« Er ließ Dugan das eben gehörte erst einmal verdauen, bevor er seine Frage wiederholte. »Machst du mit?«

Dugan zögerte. Ihn freute dieses Angebot. Er hatte sich, seit er das erste Mal in den Kreis gegangen war, nichts sehnlicher gewünscht, als ein Profi zu werden. Damals lockten ihn die enormen Preisgelder, heute eher das Ansehen und den Ruhm, den er unwillkürlich erlangen würde, wenn er an der Seite eines so fantastischen Kämpfers wie Menahem stand.

»Du kannst dir Zeit lassen, mit deiner Antwort«, meinte Menahem verständnisvoll. »Bis jetzt habe ich noch kein vollständiges Team zusammen und meine Knochen benötigen ebenfalls noch einige Wochen. Also überlege es dir in Ruhe. Ich kann mir denken, dass du Bedenkzeit brauchst. In einem Profiteam zu kämpfen, klingt zwar recht gut, doch dahinter steckt knochenbrecherische Arbeit, noch schlimmer, als es in diesen offenen Wettbewerben gefordert wird. Ein Zuckerschlecken wird es nicht, das kann ich dir gleich sagen. Die Preisgelder sind hoch, doch die Anforderungen noch höher. Ich verlange einiges ab von meinem Team. Und ich werde nicht zimperlich mit meinen Leuten umgehen, dass kann ich dir bereits heute versprechen. Ich werde euch fordern, bis ihr nicht mehr könnt und vor Erschöpfung zusammenbrecht.«

»Ich zögere nicht, weil ich mich vor den Gefahren oder vor den Anstrengungen fürchte«, sprach Dugan seine Gedanken laut aus. »Es ist …« Er brach ab und überlegte, ob er ihm von seiner Weggefährtin erzählen konnte. Dugan brachte es nicht fertig, Sandre wegen dieser Riesenchance zurück zu lassen.

»Was ist dein Problem?«, wollte Menahem wissen.

»Ich ... », begann Dugan und verwarf seine Worte wieder. »Meine Schwester«, brachte er hervor. »Ich nehme an, wenn ich einwillige, in deinem Team mitzuspielen, dann werden wir immer in einer Gruppe zusammen sein. Aber ich kann meine Schwester nicht irgendwo allein zurücklassen.« Dugan kam sich bei seiner Notlüge falsch vor, doch als Menahem erleichtert lächelte, glaubte er doch richtig gehandelt zu haben.

»Das brauchst du nicht«, beruhigte er ihn. »Wenn sie sich nützlich machen kann, kann sie auch im Lager bleiben. Wir können jede, auch noch so kleine Hand gebrauchen.« Er lächelte zuversichtlich.

Die weiche Wand hinter Dugan teilte sich und entließ Raolo in das Zentrum des Zeltes.

»Ich glaube, wir können ein neues Mitglied in unserem Team begrüßen«, rief Menahem und grinste zufrieden.

»Wie viele hast du denn schon?«, wollte Dugan wissen.

Menahem grinste plötzlich über das ganze Gesicht. »Mit Raolo, mir und dir, sind wir jetzt drei«, kicherte er leise. Den Schalk hatte er sich, auch von seiner schmerzenden Verletzung nicht nehmen lassen.

Dugan verzog die Mundwinkel und schalt sich für seine Neugierde. Raolo trat zum Bett, stellte ein Tablett auf einen kleinen Beistelltisch und reichte dem Gast seines Freundes eine Tasse mit dampfendem Inhalt. Die angenehme Wärme im Inneren des Zeltes hatte längst von Dugan Besitz genommen. Er fror nicht mehr. Dennoch nahm er die Tasse entgegen.

»Gratulation«, beglückwünschte Raolo das neue Mitglied, als er ihm die Tasse überreichte. Menahems Scherz schien er für nicht besonders witzig zu halten. Nur kurz verzog er seine Mundwinkel. Dann widmete er sich Menahem.

»Dieser andere Kerl aus Roggs, war leider nicht zu sprechen«, erzählte Raolo ernst. »Er bekämpfte das miese Wetter, mit dem Inhalt von Steinkrügen. Und so wie der aussah, hatte er den Kampf verloren.« Raolos Humor war um ein wesentlicheres trockener, als der seines Freundes. »Ich werde wieder vorbeisehen, wenn das Wetter besser ist.« Er setzte sich vorsichtig auf das Bett, achtete darauf, dass er Menahem nicht unnötig Schmerzen zufügte und fuhr scheinbar interesselos fort. »Und der, den du in Beaufort City getroffen hast, vertrieb sich seine Langeweile im Nahkampf mit zartbesaiteten Amazonen. Er versprach, morgen zu kommen. ... Mehr konnte ich noch nicht ausfindig machen.«

Menahem grinste zufrieden.

»Du findest die Idee wohl nicht so besonders?«, wand sich Dugan an Raolo.

»Oh doch, einfach grandios«, erwiderte Raolo und grinste frech. »Es wurde langsam Zeit, dass wir endlich mehr aus uns machen. Dieses Herumgebalge in Kreidekreisen ist nur etwas für den Anfang, oder für Möchtegernkämpfer.«

»Schluss«, fuhr Menahem dazwischen, bevor ein Streit entstehen konnte. »Ihr seid im selben Team, in meinem Team und ich dulde keine Meinungsverschiedenheit.«

»Wer ist hier verschiedener Meinung?«, tat Raolo entrüstet. »Wir sind uns doch einig, oder etwa nicht?« Er blickte Dugan so erwartungsvoll an, dass dieser nicht anders konnte, als zustimmend nicken.

»Raolo hält nichts von übermäßigem Alkoholgenuss und von mehr als einer Frau auf einmal«, grinste Menahem. »Wenn überhaupt«, fügte er leiser hinzu. Ein warnender Blick seines Freundes ließ ihn schnell das Thema wechseln.

»Trotz allem«, rief er so plötzlich, dass Dugan, der sich noch auf Raolo konzentrierte und versuchte ihn einzuschätzen, vor Schreck etwas zusammenzuckte. »Überlege es dir gut. Solltest du dich zu überhastet entscheiden und nach den ersten harten Schlägen ins Gesicht erkennen, dass dies nichts für dich ist, ist es für uns Beide nicht von Nutzen. Ich muss mir einen neuen Mann suchen und du hast einen unehrenhaften Abgang zurück in den Kreidekreis. Du kannst dir Zeit lassen, mit deiner Entscheidung. Ich habe für die nächsten Wochen Zeit genug. Wir werden uns, bis ich wieder stehen kann, nicht von hier fortbewegen. Also weißt du, wo du uns finden kannst.«

Dugan nickte. Seine Antwort hätte auch in diesem Moment schon Ja gelautet, doch er wollte noch mit Sandre darüber reden. Schließlich war sie zu einem Teil seines Lebens geworden und wenn er etwas darüber nachdachte, musste er zugeben, sie war ihm bereits wirklich zur Schwester geworden.

 

Die heiße Flüssigkeit in seinem Magen wärmte ihn auf seiner Rückkehr noch bis in die Herberge, in der Sandre auf ihn wartete. Er konnte sich nicht lange zurückhalten und noch ehe er seine durchnässten Sachen über einen Balken zum Trocknen aufhängen konnte, wusste Sandre auch schon von Menahems Vorschlag.

Sandre lauschte schweigend. Immer mehr keimte Neid in ihr auf. Gleichzeitig aber, wuchs die Ablehnung, die sie Menahem gegeben hätte, wenn er sie gefragt hätte.

Dugan hielt in seiner Erzählung plötzlich inne. Er setzte sich ihr gegenüber und blickte sie nachdenklich an. Scheinbar musste er sich seine Worte erst noch zurecht legen, ehe er sie aussprechen konnte.

»Vielleicht bin ich wirklich zu sentimental, wie Manche behaupten«, begann er. »Aber jetzt, wo wir uns aneinander gewöhnt haben, bringe ich es nicht fertig, mich von dir zu trennen. Es würde mir etwas fehlen, wenn du nicht mehr da wärst und meine Aufwärmübungen mit Argusaugen überwachst, um dann deine Meinung darüber zu äußern.« Er lächelte leicht verschmitzt.

Sandre erwiderte es und wartete ab. Sie kannte Dugan zwischenzeitlich gut genug, um zu wissen, dass er nie etwas gerade heraus aussprechen konnte, was ihm sehr am Herzen lag. Er druckste herum und redete weitläufig um den heißen Brei herum. Sie hatte gelernt, ihn einfach reden zu lassen, bis er von selbst auf den Punkt kam. Geduldig wartete sie das Ende ab.

»Ich erzählte Menahem, ich würde mit meiner Schwester durch die Lande ziehen und möchte mich nicht von ihr trennen«, kam er endlich mit seiner Seelenlast heraus.

»Bist du verrückt?«, rief Sandre entsetzt. »Du lässt dir eine Riesenchance durch die Lappen gehen.«

»Er war einverstanden, dich ebenfalls in seinem Lager aufzunehmen, sofern du dich nützlich machen kannst«, ließ sich Dugan nicht von ihrem Ausbruch beeindrucken.

»Was meint er mit, nützlich machen?«, hakte Sandre nach.

»Na, ich denke, das was Frauen so machen«, zuckte Dugan mit den Schultern.

»Vergiss es«, rief Sandre bestürzt. »Ich lass‹ mich doch nicht seit Jahren durch den Kreis scheuchen, nur um irgendwann Menahems Dienstmagd zu sein. Nein!« Sandre schüttelte energisch den Kopf.

»Vielleicht nimmt er dich auch in sein Team auf, wenn er dich erst kämpfen sieht. Du bist nicht schlecht.«

»Darauf kann ich verzichten«, maulte sie.

»Ich habe irgendwie das Gefühl, du kennst Menahem besser, als du vorgibst«, meinte Dugan mit einem skeptisch hochgezogenem Augenbrauen. »Wenn ich von ihm spreche, bist du stets äußerst knapp angebunden und kannst dich für gar nichts begeistern, was ihn betrifft. Woher kommt deine Abneigung ihm gegenüber?«

Sandre drehte sich abrupt um. Sie weigerte sich mit ihm darüber zu reden. Es ginge nur Menahem und sie etwas an.

»Was hat er dir getan?«, ließ Dugan nicht locker.

»Wenn du in sein Team einsteigen willst, bitte, ich habe nichts dagegen«, maulte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Ich bin früher auch ohne männlichen Schutz ausgekommen. Wegen mir brauchst du dir keine Sorgen machen. Ich komme schon zurecht.« Damit sah sie die Angelegenheit als erledigt an, erhob sich und wollte so schnell wie möglich weg, völlig gleichgültig wohin, nur einfach weg.

»Warte Sandre«, rief Dugan und lief ihr hinterher. »Was ist nur los mit dir?« Sie blieb stehen und musste ihre Tränen schnell runterschlucken, bevor Dugan sie bemerken konnte. »Ich werde nicht ohne dich gehen«, versicherte er.

»Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen«, erwiderte Sandre heißer. »Ich komme schon zurecht.«

»Ich will, dass du mitkommst. Ich werde dich nicht allein weiterziehen lassen.« Dugans Stimme verriet seine feste Absicht, Sandre notfalls gefesselt in Menahems Lager zu schleifen. Er ließ keine weiteren Ausflüchte mehr zu. Sandre weigerte sich beharrlich, da die Entscheidung ihres Partners ihr Leben und ihre Pläne vollkommen veränderte. Sie befürchtete, wenn sie Menahem tagtäglich gegenüber stand, eines Tages nicht mehr die Kraft besaß, zu warten, bis sie ihm ebenbürtig war. Doch Dugan blieb eisern. Er wollte sich seine Chance nicht entgehen, aber auch genauso gut Sandre nicht ohne ihn weiterziehen lassen.

Irgendwann gab Sandre nach. Menahem jeden Tag beobachten und ihn studieren zu können, wäre vielleicht besser, dachte sie sich und willigte ein. Als sie mit Dugan in das Zeltlager einzog, überkam sie ein seltsames Gefühl. Ob es Menahems Nähe, oder die Blicke der fremdländisch gekleideten Leute waren, wusste sie nicht. Sie kam sich fehl am Platze vor. Dugan zog sie weiter, als sie plötzlich stehen blieb und schob sie in das größte Zelt in der Mitte des Lagers. Raolo kam aus dem Zelt heraus. Sobald er Dugan und Sandre erblickte, blieb er kurz stehen und starrte die beiden an.

Dugan schob die Reaktion auf sein vielleicht unerwartet frühes Erscheinen. Sandre fühlte sich irgendwie schuldig und glaubte einen Fehler gemacht zu haben. Als ihr Vater im Ring stand und von Menahem ermordet wurde, hatte sie zwar am Kreidekreis gestanden und zugesehen, aber seit damals war viel Zeit vergangen und sie hatte sich verändert. Sie war um einige Jahre älter und reifer geworden. Ihre Frisur und ihr Kleidungsstil waren nicht mehr dieselben. Aus diesem Grund hatte Sandre eigentlich gehofft unentdeckt zu bleiben, bis sie sich von selbst zu erkennen gab. Aber nun schien sie erkannt worden zu sein. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite und versteckte sich hinter Dugans Rücken.

 

Die Beiden waren bereits zu nahe, als dass Raolo so unhöflich sein konnte, einfach wieder im Zelt zu verschwinden. Er wartete bis sie sich gegenüberstanden und ignorierte Sandre, als gäbe es sie nicht.

»Hast du dich für das Team entschieden?«, fragte Raolo und legte ein Lächeln um seine Lippen.

»Sonst wäre ich nicht hier«, nickte Dugan. »Das ist Sandre.« Er zog das Mädchen hinter seinem Rücken hervor und schob sie vor Raolo. Dieser drehte sich ohne Begrüßung und ohne eine Antwort um, schlug das Tuch zur Seite, das den Eingang versperrte und winkte Dugan zu.

»Er wird sich freuen dich zu sehen«, meinte er und lud Dugan ein, einzutreten. Zu Sandre sagte er kein Wort und immer mehr keimte in ihr das Gefühl auf, einen Fehler begangen zu haben.

Dugan zog Sandre hinter sich her. Raolo verzog missbilligend das Gesicht, hielt sich aber zurück, etwas zu sagen. Stattdessen führte er sie durch den Irrgarten der Tücher, bis sie endlich vor Menahem standen.

 

Der Herr des Lagers hatte sich, gestützt von unzähligen Kissen, halb aufgerichtet und schlürfte etwas gelangweilt an einer Tasse herum. Als Sandre ihn entdeckte, wie er wie ein Pascha, inmitten von Kissen, Decken und Köstlichkeiten lag, begann sie sich über ihn mehr denn je zu ärgern. Doch als sie die seltsamen Erhebungen unter der Decke erkannte, hielt sie den Atem an.

Menahem fuhr herum, als Raolo den letzten Vorhang auftat und die Gäste eintreten ließ. Dankbar für die Abwechslung in seinem tristen Dasein und noch weitaus erfreuter, als er Dugan erkannte, lächelte er ihnen entgegen. Doch als er Sandre erblickte, verstarb sein Lächeln augenblicklich. Sein Blick suchte Raolo und sie verstanden sich stumm. Als Dugan weiter ins Innere des Zeltes ging, hinderte Raolo die vermeintliche Schwester daran, ihm zu folgen. Sandre wand sich zornig um und wollte sich losreißen, doch Raolos flehender Blick und sein leichtes Kopfschütteln ließen sie innehalten. Raolo zog sie mit sanfter Bestimmtheit an den Rand des innersten Zimmers und blieb bei ihr stehen, als müsse er darauf achten, dass sie sich nicht weiter hineinwagte. Sandre hatte keinerlei Ahnung, was dies zu bedeuten hatte, fügte sich aber vorerst. Ihr Entschluss bei Dugan zu bleiben, geriet gehörig ins Wanken. Sobald Dugan das Zelt wieder verließ, würde sie sich von ihm verabschieden.

 

»Wie geht es dir?«, wollte Dugan wissen.

»Ich sterbe vor Langeweile«, erwiderte Menahem und stellte die Tasse auf ein Tablett. »Bist du zu einer Entscheidung gekommen?«

Dugan nickte lächelnd. »Ich bin dabei.« Dann wand er sich zu Sandre um und war überrascht, dass sie noch soweit entfernt stand. Er winkte sie zu sich. »Das ist Sandre, meine Schwester«, erklärte er und betonte das letzte Wort etwas weniger. Die Lüge wollte ihm nicht so ohne weiteres über die Lippen kommen.

Sirjhana nickte nur stumm, ohne sie jedoch anzusehen. »Es freut mich, dass ich dich nun endgültig zu meinem Team zählen kann. Mit dir sind wir jetzt sieben.« Er verzog leicht sein Gesicht. »Jetzt fehlt nur noch, dass ich wieder auf meinen eigenen Füßen stehen könnte.«

»Das wird schon wieder«, versicherte Dugan leichthin.

»Ich kann es kaum erwarten«, erwiderte Menahem skeptisch und seufzte leise. »Raolo wird dir zeigen, wo du dich häuslich niederlassen kannst. Mach es dir erst einmal gemütlich. So wie dies hier aussieht ...« Damit zeigte er auf die Beinschienen unter der Decke. »... wirst du noch genug Zeit haben dich auszuruhen.«

Dugan grinste über die Selbstverzweiflung des jungen Kämpfers und wie er sich selbst darüber lustig machte. Vielleicht war das die einzige Möglichkeit, die Bewegungslosigkeit etwas aufzulockern. Er nickte und wand sich zum Gehen.

Zu seiner Überraschung war Sandre seiner Aufforderung näher zu treten nicht gefolgt. Noch immer stand sie neben Raolo an der seidenen Wand und wartete geduldig darauf, dass ihr Bruder zurückkehrte. Bevor Dugan den Mund öffnen konnte, zog Raolo das Mädchen mit der selben Bestimmtheit, mit der er sie zurückgezogen hatte, hinter den Vorhang. Sandre begann sich zu ärgern und riss sich los. Raolos böser Blick brachte sie jedoch bald wieder zur Ressort.

»Dugan, warte«, rief Raolo ihn zurück, bevor er durch den letzten Vorhang gehen konnte. »Bleibt stehen.« Nur weil er plötzlich in der Mehrzahl sprach, gehorchte Sandre und blieb stehen. Dass sie plötzlich als existent angesehen wurde, machte sie stutzig. »Warum hast du nicht gesagt, dass deine Schwester so alt ist?«, wollte er wissen.

Dugan setzte ein fragendes Gesicht auf. Er betrachtete Sandre und hielt sie eigentlich nicht für alt.

»Wieso?«, fragte er nach.

»Das hättest du ihm früher sagen sollen«, erklärte Raolo leicht tadelnd.

»Ich verstehe nicht«, zuckte Dugan mit den Schultern.

»Die Gesetze seines Glaubens verbieten ihm, mit erwachsenen Frauen, die nicht mindestens im dritten Grad zu ihm verwandt sind, zu verkehren. Er darf sie nicht einmal registrieren«, erklärte Raolo.

Sandre starrte ihn entsetzt an.

»Wie bitte?«, wollte Dugan das eben gehörte noch einmal bestätigt haben.

»Dass er dich nicht begrüßte«, wand sich Raolo an Sandre. »War keine Unhöflichkeit. Es ist ihm verboten. Ich weiß, bei euch ist das anders. Aber hätte er es getan, wäre das ein grober Verstoß gegen die Regel, völlig gleichgültig unter welchem Zeichen du geboren wurdest.«

»Heißt das, er muss mich ignorieren?«, fragte Sandre.

Raolo nickte. »Sirjhana kann sein Angebot nicht mehr zurücknehmen, ohne Dugan zu verletzen. Deswegen bitte ich dich, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen.«

Sandre war dies nur allzu Recht, obwohl sie für einen kurzen Moment nicht einsehen konnte, warum sie ihm und nicht er ihr aus dem Weg gehen sollte. Es waren schließlich die Gesetze seiner Religion, nicht die ihrer.

»Gut, in Ordnung«, nickte sie. »Ich werde aufpassen.« Sie betrachtete Raolo. Er trug dieselben bodenlangen, weiten Gewänder wie Menahem. »Und was ist mit dir? Warum darfst du mit mir sprechen?«, fragte sie schnippisch.

»Ich bin zwar Kemeerer«, erwiderte er mit einem leichten Lächeln. »Aber nicht unter diesem Zeichen geboren. Deswegen brauche ich mich nicht an die Regeln halten. Zumindest bedeutet es für mich keinen Verstoß.«

»Was soll das ganze für einen Sinn haben?«, wollte Dugan wissen. »Die Frauen nicht zu beachten, das ist schon beinahe Diskriminierung.«

»Das hat nichts mit Diskriminierung zu tun«, versuchte es Raolo zu erklären. »Diese Regel wurde in erster Linie zum Schutz der Geschlechter der Blutlinien aufgestellt. Sie gilt in beide Richtungen. Personen, die sich gegenseitig nicht beachten dürfen, können sich auch nichts antun.«

Dugan verzog das Gesicht. Ihm gefiel diese Sitte trotzdem nicht.

»Ich werde euch jetzt euer Zelt zeigen«, wechselte Raolo das Thema und wies die Geschwister zu einer Gruppe kleinerer Zelte.

 

Als sie endlich allein waren, blickten sie sich betreten an.

»War nicht so gut, deine Idee mit der Schwester«, meinte Sandre leise.

Dugan zuckte mit den Schultern. Hätte er von dieser Regel vorher gewusst, wäre er nie auf die Idee gekommen, Sandre als seine Schwester auszugeben. Doch nun mussten sie die Lüge aufrecht erhalten. Dugan fand es als zu früh, Menahem die Wahrheit zu erzählen. Ihre Freundschaft war noch zu jung und zu zerbrechlich, als dass es eine Lüge verkraften könnte. Er hoffte nur, dass ihm dies nicht einmal zum Verhängnis werden würde.

 

Sandre blieb im Lager. Sie hielt sich diskret zurück und blieb die meiste Zeit im Zelt. Wenn nicht plötzlich wieder eine Schlechtwetterlaune über das Land hereingebrochen wäre, die Alles und Jeden zwang im Haus zu bleiben, hätte sie es allerdings niemals ausgehalten. Und bereits mit den ersten Sonnenstrahlen, wagte sie einen Spaziergang durch das Lager. Dugan war mit Raolo und einigen anderen Lagergenossen in die nahe Stadt gegangen, um Besorgungen zu machen. Der Rest der Männer konnten, wie Sandre, nicht mehr länger in ihren Zelten bleiben und saßen davor, aalten sich in der Sonne, wuschen ihre Kleidung, oder beschäftigten sich mit Spielchen oder anderen Dingen.

Was Sandre sofort auffiel - Im Lager befanden sich nur Männer. Es hatte ihr niemand verboten, durch das Lager zu spazieren. Sie durfte nur niemanden ansprechen, der wie ein Kemeerer gekleidet war. Zu ihrem Glück und dem Tod ihres tristen Daseins, fand sie einige, die nicht nach Kemeerer aussahen. So konnte sie sich mit ihnen etwas die Zeit vertreiben.

Bald entdeckte sie die erste weitere weibliche Person im Lager, die jedoch etwas schüchtern und scheu zu ihr herüberblickte. Sandre hatte den Eindruck, dass sie mit ihr reden wollte, sich aber nicht traute sie anzusprechen. Daher unternahm Sandre den ersten Schritt.

Die junge Frau trug ähnliche weite, bodenlange Gewänder, bunten Holzperlenschmuck an Hals, Arm- und Fußgelenken und - zu Sandres Überraschung - keinen Schleier, wie sie von anderen fernöstlichen Kulturen her kannte. Dafür zierte ein goldenes Stirnband mit einem Stein in der Mitte, genau über ihrer Nasenwurzel, ihren Kopf und unterstrich die Schönheit und den Reiz ihren feinen Gesichtes. Sie war hübsch, musste Sandre eingestehen.

»Ich bin Sandre«, stellte sie sich selbst vor.

»Die Schwester von Dugan«, wusste sie sofort und lächelte freundlich. Sie wischte ihre Hände an ihrem Kleid ab und hielt ihr eine Hand hin. »Ich bin Dhiri.« Als Sandre einschlug fuhr sie fort. »Sirjhana erzählte mir von dir. Er sagte, ich solle mich etwas um dich kümmern, dir alles zeigen und, wenn du willst, dir auch etwas zu tun geben, bis wir wieder weiterziehen können. Du bist auch Kämpferin?«

Sandre überhörte Dhiris Frage. Sie musste erst noch das vorhergehende verdauen. Sie hatte keine Lust, etwas zu tun, zumindest keine Hausarbeit oder ähnliches, auch wenn sie sich zu Tode langweilte. Für Menahem die Dienstmagd zu spielen, fiel ihr nicht einmal im Traum ein. Erst nachdem Dhiri ihre Frage wiederholte, kehrte sie aus ihren Gedanken zurück und war bereit zu antworten.

»Bin ich«, nickte sie und fragte sich plötzlich, woher Menahem dies wusste. Hatte er sie vielleicht doch beachtet?

»Sirjhana meinte, du wärst nicht schlecht für eine Frau«, fuhr Dhiri fort.

»Nicht schlecht für eine Frau?«, echote Sandre, als glaubte sie nicht richtig gehört zu haben. »Ich bin besser«, protestierte sie. »Manche Männer haben sich an mir die Zähne ausgebissen.«

Dhiri lächelte unschuldig. »Ich könnte so etwas nicht«, schüttelte sie leicht den Kopf, ohne näher auf Sandres Protest einzugehen. »Ich stehe schon Ängste aus, wenn Sirjhana in den Kreis geht.«

»Um ihn brauchst du dir wirklich keine Sorgen machen«, ließ sich Sandre von Dhiris ängstlicher Stimme hinreißen, einen Trost auszusprechen. Sie räusperte sich, als sie dies merkte.

»Ich weiß«, nickte Dhiri. »Das sagen Viele.«

»Du hast ihn noch nie kämpfen sehen?«, schlussfolgerte Sandre.

Dhiri schüttelte den Kopf.

»Lässt er dich nicht?«

Wesentlich energischer als zuvor schüttelte sie den Kopf. »Ich könnte, wenn ich wollte«, protestierte sie. »Aber ich würde nicht einmal die erste Runde durchstehen.«

»Bist du Menahems Schwester?«, fragte Sandre geradeheraus.

Dhiri schüttelte den Kopf.

»Seine Frau?«

»Als meine Familie bei einem Unglück ums Leben kam, fiel ich meinem Onkel zu«, begann Dhiri bereitwillig zu erzählen. »Mesopta Menahem schenkte mich seinem Sohn, Sirjhana, in der Hoffnung, dass er durch mich endlich daran dachte, ein geregeltes Leben zu führen.« Sie lächelte etwas verschmitzt. »Aber Sirjhana denkt nicht daran, in den Kreis seiner Familie zurückzukehren.«

»Du lässt einfach so über dich verfügen?«, konnte Sandre nicht begreifen. »Du lässt dich einfach so verschenken?«

»Ich war damals noch zu jung, um über mich selbst bestimmen zu können«, verteidigte sie ihre Vergangenheit. »Ich musste froh sein, wenn sich überhaupt jemand um mich kümmern wollte. Sirjhana ist gütig und ich bin keineswegs traurig darüber, an ihn weitergereicht worden zu sein. In Mesoptas Kreis zu leben würde mir nicht mehr gefallen.«

Wie Dhiri über Menahem sprach, erinnerte an eine Liebeserklärung. Sandre betrachtete sie einen Moment, dann zwang sie sich, nicht mehr daran zu denken. Vielleicht konnte sie die Regeln und die Handlungsweise der Kemeerer nie begreifen, doch sie musste zumindest versuchen, sie als solches zu akzeptieren. Sie räusperte sich und suchte nach einem anderen Thema.

Dhiri war eben dabei die Wäsche zu waschen, als Sandre auf sie zugekommen war.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie und hätte sich im nächsten Moment am Liebsten auf die Zunge gebissen. Sie bot sich tatsächlich freiwillig als Dienstmagd an.

Dhiri nahm dies gerne an. Und nun gingen sie zu Zweit zum Wäschewaschen.

 

In den nächsten Tagen traf sie öfter auf Dhiri und sie erledigten gemeinsam Arbeiten, die Sandre vorher strikt verweigert hatte. Sie musste allerdings zugeben, dass es zwar unwillkommen, aber immerhin eine Abwechslung war. Solange Sirjhana noch ans Bett gefesselt war und nicht kämpfen konnte, waren alle zum Nichtstun verdammt.

Raolo, Dugan und einige des Teames gingen, um sich die Zeit zu vertreiben und nicht einzurosten auf Wettbewerbe in den umliegenden Städten. Einige Male ging Sandre mit, doch da sie im Beisein von Raolo nicht mehr unter ihrem eigenen Namen kämpfen konnte, bereitete es ihr keinen Spaß mehr. Sie blieb bei Dhiri.

 

Gedankenverloren saß sie vor Menahems Zelt und half Dhiri beim Putzen von Gemüse. Dhiri war frisches Wasser holen gegangen, als es plötzlich im Zelt schepperte, als wäre ein Tisch mit Gläsern und Geschirr umgefallen. Erschrocken blickte Sandre die Stoffwände, durch die jedes Wort und jedes Geräusch zu hören war, an und überlegte, ob sie hineingehen und nach dem Rechten sehen sollte. Sie blieb einen Moment sitzen und als erneut Gläser und Geschirr zu Boden schepperten, entschloss sie sich hineinzugehen. Vielleicht war es ein Fehler, doch wenn sie nur nachsah, ohne ein Wort zu sprechen, wäre das doch kein Verstoß gegen die straffen Regeln der Kemeerer. Sandre bahnte sich einen Weg durch den Irrgarten aus Tüchern und stand plötzlich im innersten Raum.

Sie hielt den Atem an, als sie Sirjhana am Boden liegen sah und wie er verzweifelt versuchte sich wieder aufzurichten. Die Beinschienen, die sie zuvor nur unter der Decke vermutet hatte, verhinderten, dass er sich richtig bewegen konnte, geschweige denn aufrichtigen. Er zog sich mühsam über den Boden und glaubte sich an einer Zeltstange hochziehen zu können. Die Stange bot ihm nicht genügend Halt. Er rutschte ab und fiel wieder hin. Erst jetzt bemerkte er Sandre. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und sie starrten sich stumm an, unfähig ihre Augen voneinander zu nehmen, oder auch nur ein Wort zu sprechen. Dann riss sich Sirjhana los und wand sich ab.

Ein böses Gefühl keimte in Sandre auf. Ein Gefühl, als hätte sie einen fatalen Fehler begangen. Ein Gefühl, das sie mehr berührte und mehr einnahm, als Mitleid. Ein Gefühl, das, wegen dem Hass auf den Mörder ihres Vaters, eigentlich nicht hätte auftreten dürfen. Doch es war da. Abrupt drehte sie sich um und suchte eiligst einen Weg nach draußen.

Dhiri war noch nicht wieder zurück. Aus dem Zeltinneren hörte sie Menahem nach Raolo und Dhiri rufen, doch keiner von beiden hielt sich in erreichbarer und hörbarer Nähe auf. Sie sah sich hektisch um und entdeckte Raolo, der eben von einem Wettbewerb zurück kehrte. Sie lief ihm entgegen und rief ihm zu, dass mit Menahem irgendetwas passiert sein musste, wohlweislich verschweigend, dass sie das Zelt betreten hatte. Raolo blickte sie kurz an und eilte dann zu Menahem.

Sandre blieb dieses Erlebnis stark in Erinnerung. Vor allem dieses seltsame Gefühl, das sie befallen hatte, als sich ihre Blicke trafen. Obwohl sie es sich selbst und vor allem ihres Vaters wegen, nicht zugestehen wollte, brachte sie Bewunderung über den perfekten Kämpfer auf. So wie er, unbesiegbar und über alles erhaben, wollte sie ebenfalls irgendwann im Kreis stehen. Nichts konnte ihn aus seiner Ruhe bringen und nichts konnte ihn bezwingen. Sie begann zu zittern, als sie daran denken musste und widmete sich wieder ihrem Gemüse. Ihre unruhigen Hände schälten viel zu dicke Schalen ab und von dem Gemüse blieb nicht mehr viel übrig.

Raolo kam nach einer Weile wieder aus dem Zelt heraus, betrachtete sie argwöhnisch, als wolle er ihre Gedanken nach einem vermeintlichen Verstoß durchstöbern. Doch Sandre zwang sich, weiter ihr Gemüse zu schälen und ihn nicht zu beachten. Er ließ von ihr ab und verschwand in seinem eigenen Zelt.

Sobald Sandre an dieses Erlebnis dachte, begann sie erneut zu zittern. Sie konnte es nicht vergessen. Was war nur los mit ihr? Insgeheim, wusste sie es allerdings. Doch sie weigerte sich, es wahr zu haben. Sie wollte den Mord an ihrem Vater rächen. Menahem war ihr Feind. Sie durfte sich nicht in ihn verlieben.

 

Die Wochen vergingen und Menahem erholte sich langsam. Irgendwann sah Sandre ihn, gestützt von Krücken und mit tatkräftiger Hilfe von Raolo, die ersten Gehversuche unter freiem Himmel zu unternehmen. Von diesem Tag an ging es beinahe schlagartig bergauf mit ihm. Sobald er wieder auf seinen eigenen Beinen stehen konnte, arbeitete er eisern an sich. Und bald darauf wagte er sich wieder in den Kreidekreis. Binnen kurzer Zeit gelangte er zu seiner altgewohnten Wendigkeit und Leichtigkeit zurück. Von Dhiri erfuhr Sandre, dass Sirjhana nach jedem Kampf noch starke Schmerzen in den Beinen hatte, doch er unterdrückte dies. Wieder keimte Bewunderung für ihn auf. Und wieder musste sie sie mit zittrigen Nerven niederdrücken.

Um sich von ihm abzulenken, widmete sie sich wieder mehr ihrer eigenen Karriere im Kreis. Sie hatte von Dugan, seit sie in Menahems Lager verweilten, einiges gelernt, das er von Raolo und Sirjhana selbst beigebracht bekam. Das kam ihr nun zugute. Sie schaffte es mehrmals bis in die zehnte Runde und einmal sogar bis in den Finalkampf – den sie allerdings verlor. Ihre Kräfte hatten nicht ausgereicht, gegen einen weitaus größeren und mächtigeren Gegner bestehen zu können. Trotzdem freute sie sich über ihren zweiten Platz, der ihr ebenfalls eine Prämie, wenn auch weitaus geringer, einbrachte.

So traf es sich eines Tages, dass sie auch bei demselben Wettbewerb wie Dugan und Sirjhana mitmischte. Ihre Absicht war nicht, die beiden Männer zu besiegen, sondern an ihrer neuen Karriere anzuknüpfen. Ihr fiel es auch diesmal, dank Dugans Lektionen, wesentlich leichter, die vier Punkte zu machen. Frohen Mutes stürzte sie sich in eine Runde nach der anderen.

 

»Dugan, warte einen Moment«, rief Menahem und hielt ihn auf, als dieser eben ins Versorgungsgebäude gehen wollte, um sich eine Erfrischung zu holen. Dugan blieb stehen. »Weißt du, dass deine Schwester mitmacht?«, fragte Menahem sogleich.

Dugan nickte. Er hatte sie heute irgendwann in einem Kreis gesehen und sich über sie gefreut. Sie war nicht mit ihnen in die Stadt gekommen. Und sein anfänglicher Ärger, dass sie allein gekommen war, verflog, als er sie mit alter Verbissenheit kämpfen sah.

»So wie es aussieht, wird sie die Runde gewinnen«, fuhr Menahem fort. »Sag du mir, was ich tun soll.«

Dugan legte fragend den Kopf schief. Er begriff nicht sofort.

»Wenn sie gewinnt, muss sie in der nächsten Runde gegen mich antreten«, erklärte Menahem. »Ich möchte weder ihren noch deinen Stolz verletzen. Andererseits verschenke ich einen Sieg nur ungern. Was soll ich also tun?«

Dugan setzte sich auf einen Holzpfahl, der sich zufällig in der Nähe befand. Das war ein schwieriges Problem. Er seufzte leise. Was sollte er ihm nur raten?

»Warum fragst du mich?«, wollte Dugan wissen.

»Wenn sie nicht deine Schwester wäre, hätte ich dich auch nicht gefragt«, erwiderte Sirjhana.

Die Lüge legte sich würgend um seinen Hals. Dugan schluckte und wäre sie liebend gern losgeworden. Doch sie wollte sich nicht von ihm trennen. Sie weigerte sich, über seine Lippen zu kommen.

»Sie ist bemerkenswert gut«, gab Menahem anerkennt von sich. »Ich entdeckte an ihr neue Techniken, die ich nur von mir kenne. Hast du es ihr beigebracht?«, wollte er wissen.

Dugan nickte und glaubte unerlaubt gehandelt zu haben. Er blickte seinen Freund und Lagerherrn an und erkannte, zu seiner Erleichterung ein stolzes Lächeln in dessen Gesicht.

»Sie ist begabt«, gab Dugan deshalb von sich.

»Wäre sie nur keine Frau ...«, gab Menahem leise von sich und wand sich ab, sodass es Dugan nicht hören konnte. Aber er hatte es gehört und verstanden. »Sag du mir, als ihr Bruder, wie ich vorgehen soll«, forderte Menahem plötzlich ernst.

»Was soll ich dazu sagen?«, rief Dugan ratlos. »Es ist deine Runde mit ihr. So wie ich sie kenne, wird sie alles versuchen, dich aus dem Kreis zu werfen. Wenn ich gegen dich antreten müsste, würde ich dasselbe tun.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß wirklich nicht, was ich dir raten soll.«

»Ich möchte ihr nicht wehtun«, erwiderte Menahem beinahe flehend.

»Du tust ihr wahrscheinlich mehr weh, wenn ausgerechnet du ihr den Sieg schenkst«, gab Dugan zu bedenken.

»Warum ausgerechnet ich?«, hakte Menahem nach. »Was meinst du damit?«

Dugan räusperte kurz. Beinahe hätte er sich verraten. Er vermutete, dass irgendetwas zwischen Sandre und Sirjhana vorgefallen sein musste. Solange er aber nichts konkretes wusste, hielt er lieber den Mund. Außerdem durfte er ohnehin nichts sagen, sonst wäre die Lüge ans Tageslicht befördert worden.

»Na, ausgerechnet du. Der unbesiegbare Menahem. Das meinte ich damit«, wich er aus. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es besonders glaubwürdig ist, wenn muskelbepackte Hünen es nicht schaffen, dich hinter den Strich zu werfen, es dann ausgerechnet einer Frau gelingt, die nur halb soviel wiegt wie du. Nein.« Dugan schüttelte den Kopf.

Menahem überlegte. Er wand sich dem Kampfgetümmel zu und beobachtete das Durcheinander und die kämpfenden Paare eine Weile.

»Tut mir leid, dir nicht helfen zu können«, gab Dugan entschuldigend von sich.

»Du hast mir bereits geholfen«, erwiderte Menahem, legte seine Hand kurz auf Dugans Schultern und verschwand bald wieder in der Menge.

 

Der Durst war Dugan nun vergangen. Auch wenn ihm die Zunge am Gaumen festgeklebt wäre, er hätte nicht einen Schluck Wasser hinuntergebracht. Der Kampf zwischen Menahem und Sandre interessierte ihn mehr. Er bahnte sich einen Weg zu dem Kreis, in dem Sandre ihren Gegner bereits zum vierten Mal hinter die weise Linie katapultiert hatte. Mit einem siegesgewissen Lächeln wand sie sich um und entdeckte Dugan am Rand des Kreises. Schwer atmend und zitternd vor Anstrengung und Glück winkte sie ihm zu. Dann tauchte ihr nächster Gegner auf und ihr Lächeln gefror augenblicklich. Ihr standen einige Minuten Pause zu, die sie sofort nahm. Fluchtartig verließ sie den Ring. Dugan eilte ihr hinterher und hielt sie auf.

»Das ist deine Chance«, versuchte er sie aufzumuntern.

»Dieselbe Chance, die du hattest, als du zum ersten Mal zu ihm in den Kreis gegangen bist«, hielt sie dagegen.

»Ich bin nicht davongelaufen«, ließ er nicht locker.

Sandre schluckte. »Ich werde mich hüten davonzulaufen«, rief sie aufgebracht.

»Dann zeige es ihm«, feuerte er sie an.

 

Sandre machte auf dem Absatz kehrt und kam in den Kreis zurück. Menahem hatte geduldig gewartet. Er betrachtete sie völlig teilnahmslos und schien in ihr nur den Gegner zu sehen. Für einen kurzen Moment fragte sich Sandre, ob sich dies mit den Regeln seiner Religion vereinbaren ließ, dann gab sie dem Schiedsrichter ein Zeichen, dass sie bereit wäre und ging in Stellung.

Menahem wartete und hielt sich zurück. Er spielte sein altes Spiel, erkannte Sandre sofort und nahm den ersten Angriff in die Hand. Nicht mit mir, sagte sie sich und brach ab, bevor er sich aus dem Kreis hinaustreiben lassen konnte. Sie wollte einen fairen Kampf, lockte ihn immer wieder mit Angriffen und brach ab, bevor er den Anlass sah, hinter die Linie zu treten, um ihr den Punkt zu schenken. Sie wollte nichts geschenkt bekommen und erst Recht nicht von ihm. Als sie erkannte, dass er begriffen hatte, dass sie nicht mit sich spielen lassen wollte und er daraufhin seine Taktik änderte, gab ihr das neuen Ansporn, obwohl ihr diese Änderung vielleicht den Sieg kostete. Sie griff erneut an und brach diesmal nicht ab, als er nahe an der Linie stand. Nur ein Schritt hätte genügt und sie hätte sich die Punkte leichter verdient, als sie wollte. Doch Menahem blieb im Kreis, als stünde auf der Linie eine unsichtbare Wand durch die es kein Durchkommen gab.

Menahem griff an. Sandre wich aus, wehrte ab und gab sofort zurück. Ein Tritt ins Standbein und Menahem verlor das Gleichgewicht. Noch im Fallen schlug er so schnell zu, dass Sandre nicht mehr reagieren konnte. Ein harter Haken an ihr Kinn katapultierte sie rückwärts.

»Punkt Menahem«, schrie der Schiedsrichter, als Sandre hinter die Linie getreten war.

 

Sandre rappelte sich auf und ging ärgerlich in den Ring zurück. Sie nahm sich vor, besser aufzupassen und griff gleich wieder an. Menahem ließ sie leer an sich vorbeilaufen und versetzte ihr einen Tritt in die Hüfte. Damit sie nicht erneut hinter die Linie geriet, ließ sich Sandre auf die Knie niedersinken, kippte seitlich um und stand nach einer Rolle wieder auf den Beinen. Sie konnte gerade noch schnell wieder auf die Knie sinken, als sie plötzlich eine Faust heranschießen sah. Ihre geballte Hand fuhr vor und grub ein tiefes Loch in die Magengrube ihres Gegners. Sie hörte ein leises Geräusch, das wie das plötzliche Ausstoßen der Luft klang, doch schneller, als sie dachte, erholte sich Menahem wieder, krallte seine Finger in ihren Kittel, ließ sich rücklings fallen und warf sie über seine Schultern.

»Punkt Menahem«, brüllte der Schiedsrichter.

 

Wütend auf sich selbst, hämmerte Sandre in den Boden. Sie musste endlich aufpassen, schalt sie sich und ging zurück in den Kreis. Menahem wartete teilnahmslos, als langweilte ihn dieser Kampf. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit unterließ er diesmal seine aufhetzenden Bemerkungen. Kein einziges Wort kam über seine Lippen. Sandre ärgerte sich mehr denn je. Sirjhanas gleichgültiges Verhalten, schürte ein Feuer in ihr. Sie griff erneut an. Menahem wehrte ab, ließ für einen Moment seine Deckung offen, Sandre erkannte die Chance, raste hinein und versetzte ihm einen so heftigen Tritt, dass er rückwärts taumelte. Als existierte die Mauer nur für ihn, kam er nur wenige Zentimeter vor ihr zum Stehen. Sandre sprintete sofort los, duckte sich vor seiner Faust und schubste ihn die letzten Zentimeter hinter die Linie.

»Punkt Parker«, rief der Schiedsrichter.

 

Sandre hatte sich noch nicht an ihren neuen Namen gewöhnt. Deshalb dauerte es eine Weile, bis sie registrierte, dass sie damit gemeint war. Sie ließ Menahem Zeit in den Kreis zurückzukehren. Trotz dieses verlorenen Punktes, stand noch immer die Langeweile in seinem Gesicht. Eine Stück Kohle mehr für Sandres Glut. Kaum hatte er dem Schiedsrichter das Zeichen gegeben, dass er zum Kampf bereit war, nahm Sandre erneut Anlauf und warf sich ihm mit spitzen Ellbogen entgegen. Menahem fing sie auf, wirbelte mit ihr herum und gab sie wie einen Diskus frei. Noch bevor Sandre ihren eigenen Schwung nicht mehr rechtzeitig vor der Linie abbremsen konnte, versetzte er ihr einen Tritt in die Schienbeine. Sandre sackte zusammen. Ihr Kinn schlug hart auf dem Boden auf. Zähne knirschten aufeinander. Wütend ignorierte sie den Schmerz, sprang auf und griff an, ohne zu registrieren, dass er sie vor dem dritten Punkt bewahrt hatte. Ihre Schienbeine fühlten sich an wie zerstampftes Stroh. Ihre Beine wollten sich kaum bewegen. Doch sie blieb eisern und stürmte vorwärts. Menahem konnte einen Schlag erfolgreich abwehren, dem Zweiten ausweichen, den Dritten an sich abgleiten lassen, den Vierten ins Leere gehen lassen, doch dem Fünften, der erneut seine Magengrube traf, etwas tiefer - als vorher - konnte er nicht mehr ausweichen. Er stolperte rückwärts, Sandre ließ sich fallen, wirbelte im Fallen ihre Beine herum und fegte ihm den Boden unter den Füßen weg. Beinahe gleichzeitig wie er zu Boden ging, musste er einen Kinnhaken von unten einstecken. Diese Aktion brachte ihn zwar nicht hinter die Linie und Sandre keinen weiteren Punkt, doch es tat ihren Rachegelüsten unheimlich gut. Keuchend rappelte sie sich hoch und gestattete sich, ihn nur aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten. Menahem hustete leise. Er musste sich arg beherrschen. Diese Runde zu beenden wäre ein Leichtes für ihn, doch etwas hielt ihn davon ab.

Geduldig wartete Sandre, bis Menahem wieder aufrecht stand. Er streckte sich ein wenig in alle Richtungen und begab sich wieder in Position. Dann griff diesmal er an. Sandre wehrte ab, musste sich vor einem Schlag ducken, vor einem Tritt hochspringen und konnte Dugans Lektion anwenden. Rücklings fallen lassen, ihren Fuß in die Beine des Gegners einhaken und sich mit dem anderen kräftig abstützen. Sie hielt ihren Fuß höher, als sie es geübt hatte, drehte sich im Fallen und trat ihm so heftig gegen die Brust, dass zum ersten Mal ein Laut über seine Lippen kam. Kaum war Sandre auf dem Boden aufgekommen, rollte sie herum, sprang wieder auf und warf sich auf ihren Gegner, wie eine Raubkatze auf ihr Opfer. Im Fallen zog sie ihr Knie an und ließ ihr ganzes Gewicht darauf aufkommen. Menahem konnte dies nur abmildern, indem er Sandre auffing, mit sich riss, herumwirbelte und sie mit sich hinter die Linie nahm. Trotzdem traf ihn Sandres Knie schmerzhaft in die Weichteile. Er stieß sie heftig von sich und stöhnte leise. Sandre hatte damit gerechnet, mitgerissen zu werden und den dritten Punkt an ihn zu verlieren. Doch dies war es ihr Wert gewesen.

Der Schiedsrichter stutzte kurz, bis er endlich die Punkte für beide ausrief. So etwas kam nur selten vor.

Schadenfroh grinsend begab sich Sandre in den Kreidekreis zurück. Vielleicht fand an diesem Tag nicht gerade eben jener Kampf statt, der ihren Rachegelüsten die geforderte Genugtuung gab, doch sie hatte ihm einen ordentlichen Dämpfer verpasst. Menahem atmete ein paar Mal tief durch, streckte seine Glieder und trat wieder in den Kreis. Längst war aus seinen Augen die Langeweile gewichen. Er hatte gemerkt, dass Sandre kein X-beliebiger Gegner war. Obwohl er sie trotzdem mühelos ein viertes Mal schlagen und sie besiegen konnte, nahm er diese Möglichkeit nicht wahr. Er ließ sie selbst entscheiden, ob sie verlieren, oder gewinnen wollte.

Er begab sich in Position und wartete ab. Sandre stellte sich ihm gegenüber auf und wartete ebenfalls ab. Einem Scheinangriff von Menahem zufolge, wehrte Sandre ab und schlug zurück. Sirjhana tat einen Schritt zur Seite und ließ sie an sich vorbeilaufen. Doch erneut, noch bevor sie über die Linie treten musste, da sie ihren Schwung nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, eilte er hinterher, packte sie und zog sie zurück. Sandre wirbelte herum mit hoch erhobenem spitzen Ellbogen und trieb ihn zwischen die beiden Rippenbögen, genau dort, wo die Knochen aufhörten und die Weichteile begannen. Er zuckte mit dem zweiten Laut, den er in diesem Kampf von sich gab, zusammen. Eigentlich hätte er für längere Zeit bewegungsunfähig sein müssen, denn Sandre wusste, dass sie getroffen hatte. Beinahe reflexartig vollendete er seine Drehung, packte sie fester und schleuderte sie schwungvoll in die andere Richtung, hinaus aus dem Kreis.

»Punkt Menahem und aus«, brüllte der Schiedsrichter und machte einen Satz in die Luft.

 

Keuchend setzte sich Sandre auf und konnte gerade noch sehen, wie sich Menahem eiligst durch die Wand der Zuschauer bohrte. Sie hatte getroffen, sagte sie sich freudig und erhob sich. Den Kampf hatte sie verloren und trotzdem einen Sieg davongetragen. Sie suchte Dugan in den Zuschauern und entdeckte ihn, wie er Menahem hinterher eilte. Dass er sich um ihn sorgte, anstatt ihr zu gratulieren, störte sie. Wesentlich missmutiger und gedämpfter in ihrer Freude bahnte sie sich einen Weg zum Versorgungsgebäude. Sie brauchte kaltes Wasser, um den Schmutz von sich zu waschen und ihre schmerzenden Körperteile zu besänftigen.

 

Menahem stürzte durch die Tür des Versorgungsgebäudes.

»Raolo ... », quälte er röchelnd hervor und sank zu Boden. Sein Freund, der ihm hinterher geeilt war, beugte sich augenblicklich über ihn, packte ihn, zog ihn hart zurück und zwang ihn zum langsamen durchatmen.

Die Türe schwang erneut heftig auf und Dugan trat ein. Menahems Gesicht war von Schmerzen und dem Kampf gegen Luftarmut und Besinnungslosigkeit schwer gezeichnet.

»Sie hat es dir ganz schön gezeigt, was?«, rief Dugan amüsiert.

Von Menahem kam nur ein Stöhnen, das er nun, da er unter Männern war, nicht mehr unterdrücken musste. Raolo warf ihm einen bösen Blick zu.

»Die Kleine hat was drauf«, kicherte Dugan. »Hättest wohl nicht gedacht, was?«

»Erspar dir das«, maulte Raolo und versuchte seinem Freund die Schmerzen zu erleichtern und ihn vor der Ohnmacht zu bewahren.

Dugan setzte sich auf ein steinernes Waschbecken und kicherte leise vor sich hin. Die Tür flog auf und ein blutüberströmter Verlierer stürzte herein, mit ihm einige seiner Freunde, die versuchten, mit kalten Umschlägen den Blutstrom zu stoppen. Dugan fand dies alles höchst amüsant und verließ den Waschraum, als ihn ein weiterer von Raolos bösen Blicken traf.

Vor der Türe prallte er beinahe mit Sandre zusammen. Er hielt sie auf.

»Keine gute Idee, wenn du da jetzt reingehst«, meinte er.

»Ich habe ihn getroffen«, rief sie aufgebracht.

»Er kämpft auch ganz schön mit deinem Treffer«, grinste Dugan. »Etwas härter und er wäre ins Traumland befördert worden. Du hast es geschafft, Schwester. Du bist echt gut.«

Sandre beruhigte sich augenblicklich. Ein Schmunzeln breitete sich um ihre Lippen aus.

»Er hat dich wohl ein bisschen unterschätzt«, grinste Dugan.

»Ach Quatsch, unterschätzt«, tat es Sandre mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Er versuchte seine typischen Spielchen an mich zu bringen. Aber ich sagte mir, nicht mit mir. Er hätte mich, wenn er gewollt hätte, mit vier einfachen Schlägen hinausbefördern können. Aber er tat es nicht. Ich frage mich wieso.«

Dugan wurde plötzlich ernst. »Bevor er zu dir in den Kreis stieg, kam er zu mir«, erzählte er. »Er wollte von mir wissen, was er tun soll. Ich hätte ihm sagen sollen, ob er dich besiegen dürfte oder nicht. Er meinte, er wolle deinen Stolz nicht verletzen und dir nicht wehtun.«

»Aber ... », stammelte Sandre und ihr Mund ging auf und zu, wie bei einem Fisch an Land. »Warum ... ?« Ihr fehlten die Worte.

»Ich weiß nicht«, zuckte Dugan mit den Schultern. »Er meinte, weil du meine Schwester wärst.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Das wird mir immer unangenehmer, Sandre. Wir sollten es ihm sagen, bevor es zu spät ist.«

»Dann wirft er dich womöglich aus dem Team«, warf Sandre ihre Bedenken ein. »Nach alldem, was bis jetzt passiert ist, kannst du es nicht mehr riskieren.«

Dugan kicherte plötzlich und beruhigte sich aber schnell wieder. »Ich glaube, du hast ihn beeindruckt«, bemerkte er mit einem Schmunzeln. »Schon bevor er zu dir in den Kreis ging. Er würde dich, glaube ich, auch in sein Team aufnehmen, wenn du keine Frau wärst.«

»Wie kommst du denn darauf?«, wollte Sandre wissen.

»Er machte so eine Andeutung«, zuckte Dugan mit den Schultern.

Plötzlich war Sandre wie versessen darauf, ebenfalls im Team mitspielen zu dürfen. »Mein Können ist wichtiger, als mein Geschlecht«, protestierte sie gegen die Diskriminierung.

»Du weißt, weswegen er es nicht machen kann«, erinnerte Dugan.

Die Türe des Versorgungsgebäudes ging auf und Raolo erschien. Er stutzte einen Moment, als er Sandre erblickte, dann rief er nach Dugan und winkte ihn zu sich.

»Bleib bitte draußen«, bat Dugan, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und folgte Raolos Winken.

Sandre nickte und blieb stehen.

»Sirjhana will dich sprechen«, verriet Raolo.

»Wenn er schon sprechen kann, hat er sich aber schnell erholt«, bemerkte Dugan anerkennend.

»Kann er nicht, aber er will nicht auf mich hören«, gab Raolo leicht mürrisch von sich und schob Dugan durch die Türe.

Erwartungsvoll blickte ihnen Sandre hinterher. Die Neugierde brachte sie schier um, denn sie konnte sich denken, dass über sie gesprochen wurde, doch sie blieb stehen. Dugan würde es ihr schon noch erzählen, wusste sie.

 

Nach ungefähr fünf Minuten kam Dugan wieder aus dem Gebäude heraus. Sandre stand noch immer an der selben Stelle. Er nahm sie wortlos in die Arme und zog sie mit sich fort.

»Und?«, konnte sich Sandre nicht mehr länger zurückhalten.

»Sirjhana ärgert sich maßlos darüber, dass er auf seine eigenen Tricks hereingefallen war«, kicherte Dugan. »Die Tricks, die Raolo und er mir beibrachten und ich dir. Aber er ist mir nicht böse deswegen. Er meinte, ich solle nicht aufhören dich weiter zu unterrichten.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter«, zuckte Dugan die Achseln. »Ich soll dir nur sagen, dass du so weitermachen sollst.«

»Mehr nicht?«, fragte Sandre. »Was ist mit dem Team? Hast du ihn gefragt ... ?«

»Habe ich nicht«, unterbrach Dugan. »Du weißt, er kann es nicht.«

»Er muss ja nicht mit mir reden«, bemerkte Sandre abschließend. »Er könnte die Anweisungen dir geben und du gibst sie an mich weiter.«

»Das ist unmöglich«, schüttelte Dugan den Kopf. »Vergiss es.« Damit war für ihn das Thema erledigt. Sandre wollte nicht locker lassen. Doch Dugan wand sich ab und verschwand im Getümmel des Wettbewerbes. Er musste sich schließlich seinem nächsten Gegner widmen, der mit Sicherheit bereits ungeduldig auf ihn wartete.

 

Die Nachricht, dass Menahem eine Zusammenkunft mit einem Profiteam erreichen konnte, breitete sich im Lager aus wie ein Lauffeuer. Von nun an hatte Dugan keine Zeit mehr für Sandre. Menahem trainierte seine Leute eisern und ließ nicht locker, bis sie vor totaler Erschöpfung niedersanken wo sie standen und sofort in einen tiefen Schlaf fielen. Sandre beobachtete die Männer neidisch und versuchte die Übungen nachzumachen. Viel lieber hätte sie mit ihnen trainiert.

 

Nervosität machte sich unter den Männern aus Menahems Team breit, als sie in das Stadion einliefen. Sandre saß auf der Zuschauertribüne und hätte sich von nichts in der Welt davon abhalten lassen. Im Grunde liefen die Profispiele nicht anders ab, als die Wettbewerbe in den Kreidekreisen. Nur mit dem Unterschied, dass hier maximal sieben Spieler jedes Teams auf einmal aufeinander losgingen und die gegnerische Mannschaft hinter die Linie werfen mussten. Die Begrenzungslinie bestand nicht aus einem auf den Boden gemalten Kreis, sondern eine, in den mit Moos und Stroh ausgelegten Boden eingelassene Steinlinie. Gerade so hoch, dass sie zu sehen war und niedrig genug, dass niemand darüber stolperte. Wer über diese Mauer trat, war sofort ausgeschieden. Dreimal durfte ein neuer Spieler für die Ausgeschiedenen in den Kreis kommen, dann dezimierte sich das Team mit jedem, der aus dem Kreis flog. Hilfsmittel wie leichte Waffen und Schutzvorrichtungen waren erlaubt.

Voller Spannung erwartete Sandre das gegnerische Team. Als sie mit lautem Begeisterungsbeifall und Zurufen in das Stadion liefen, rann ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Ein jeder der zehn Kämpfer sah aus, als könnte ihn selbst ein gewaltiger Rammbock nicht von den Füssen fegen. Mit Helm, Schutzpolstern, Schlagketten und Ringen, die gefährdeten Knochen mit harten Platten abgedeckt, standen sie ihren Gegnern gegenüber, wie eine Panzerechse einem Regenwurm. Menahems Team verzichtete auf lästige und in der Bewegungsfreiheit behindernde Schutzvorrichtungen. Ihre einzige Waffe bestand aus genieteten und mit Reißzähnen versehenen Fingerhandschuhen, die lediglich ihren Schlägen etwas mehr Wirkung verleihen sollten. Sandre bezweifelte, dass Menahems Idee besonders gut war, als sie die gegnerische Mannschaft, mit der seinen verglich.

Doch Menahem schien genau zu wissen, was er tat.

Und tatsächlich, zwar konnten sie bei ihrem ersten Profispiel nicht auch noch einen Sieg erringen, doch sie hatten es den gepanzerten Hünen ordentlich schwer gemacht zu gewinnen. Kraft und Standfestigkeit, stand Schnelligkeit und Wendigkeit gegenüber. Das was Menahem mit dem ersten Spiel beabsichtigte, war eingetreten. Ihr Team war im Gespräch.

Bald folgten weitere. Menahem verbesserte Technik und die Kondition seiner Männer unentwegt und unerbittlich. Ihr erster nur knapp errungener Sieg wurde groß im Lager gefeiert.

Sandre beschäftigte sich weiter in den Kreidekreisen. Wurde in der Nähe eines Stadions ein Wettkampf abgehalten, mischte sie mit. Ansonsten zitterte sie auf der Zuschauertribüne um den Sieg ihres Teams.

 

Eines Tages kamen einige Kemeerer in Menahems Lager. Sie unterhielten sich eine Weile mit dem Lagerherr und verschwanden dann wieder. Kurz darauf rief Menahem seine Männer zusammen.

»Was haltet ihr von ein wenig Zerstreuung?«, fragte er in die Runde. »Musik, Tanzen, Unterhaltung und die Gedanken in eine andere Richtung lenken?«

Die Männer nickten, keineswegs abgeneigt von diesem Vorschlag.

»Das Sawwa-Fest meines Familienkreises wird bald abgehalten«, fuhr Menahem fort. »Ihr seid herzlich eingeladen und könnt drei Tage und drei Nächte lang machen, wonach euch der Sinn steht. Euch bis zum Rand auffüllen ...« Er warf einen Blick auf ein bestimmtes Mitglied seines Teams, der volle Krüge immer noch nicht stehen lassen konnte. »Den Mädchen hinterher jagen ...« Sein nächster Blick galt einem weiteren seiner Männer, der daraufhin erkannt den Blick senkte. »Oder einfach nur, amüsieren, fröhlich sein und die heitere Atmosphäre einwirken lassen.« Er lachte, als freue er sich schon heute auf dieses Fest. »Jeder ist eingeladen«, meinte er, mit einem treffsicheren Blick zu Dugan - nicht ohne hintergründige Bedeutung. Dieser nickte, als er begriff.

 

Tags darauf brachen sie das Zeltlager ab und wanderten weiter. Menahem ließ das Lager in der Nähe einer Zeltstadt aufbauen, in der, wie er erzählte das Sawwa-Fest abgehalten wurde. Musik, laute Stimmen, Lachen und Geschrei drang zu ihnen herüber, als sie ihre Zelte wieder aufstellten. Gesammelt gingen sie dann zum Fest. Vor einer Linie, die aus dicht aneinander gesetzten Steinen bestand und um die ganze Zeltstadt herumzuführen schien, blieb Menahem stehen. Er wand sich nach seinen Leuten um.

»Ich muss euch warnen«, erklärte er und wies auf die steinerne Begrenzungsmauer. »Wenn ihr einmal hinter diesen Kreis getreten seid, dürft ihr das Fest bis zum Ende nicht mehr verlassen. Es gibt Wächter, die darauf achten. Es sind zwar nur Kinder, aber ihr könnt euch sicherlich vorstellen mit welcher Fantasie Kinder Strafen erfinden.« Er grinste über das ganze Gesicht. In diesem Moment tauchte eine Schar Kinder hinter einem Busch auf, die die Neuankömmlinge spitzbübisch betrachteten und sich bereits jetzt schon Strafen für eine Zuwiderhandlung auszudenken schienen. »Und ich muss euch noch etwas sagen. Auf dem Sawwa-Fest kann jeder tun was er will, solange es nicht eine gewisse Grenze überschreitet. Damit meine ich, dass ihr mit allen sprechen könnt. Es ist ein Fest der Freude und daher sind alle Zwänge aufgehoben.« Er warf Dugan einen kurzen Blick zu und wand sich wieder um. »Überlegt es euch gut. Drei Tage und drei Nächte sind lang. Wenn ihr die Linie überschreitet, müsst ihr bis zum Ende ausharren.« Er überschritt die Linie und wartete auf der anderen Seite auf seine Gäste. Raolo und Dhiri folgten ihm augenblicklich. Mit mehr oder weniger Respekt übertrat auch der Rest die Begrenzung. Menahem ließ sie an sich vorbei gehen und setzte sich ans Ende. Auch Raolo war stehen geblieben und verbarg sich schützend hinter den Leibern der Anderen. Skeptisch wand sich Dugan um und fragte sich, was dieses Verhalten wohl zu bedeuten hatte, als plötzlich aus einem Zelt eine Horde kreischender junger Mädchen gestürzt kam und sich auf die Neuankömmlinge warf. Sie hatten Kohlestücke, farbgetränkte Stoff-Fetzen und Pinsel in der Hand und die entsetzten Männer vermuteten nichts Gutes dabei. Schnell schützten sie ihre Gesichter mit den Händen, wanden sich um oder versuchten den frechen Händen auszuweichen. Doch die Mädchen waren zu flink, zu geübt und zu viele, um nicht zu ihrem Ziel zu gelangen. Als sie endlich von den Männern - die Frauen blieben unbeschadet - abließen, trug jeder Kriegsbemalung im Gesicht. Schimpfend und fluchend versuchten sie sich die Farbe aus dem Gesicht zu wischen. Hämisches Gelächter, schürte ihren Missmut nur noch mehr. Sirjhana und Raolo hatten sich klammheimlich verdrückt und waren hinter einem Zelt in Deckung gegangen. Es war gemein von ihnen gewesen, ihnen nichts von diesem Streich zu erzählen, doch keiner von ihnen wollte den Mädchen den Spaß verderben.

»Das geht mit Wasser wieder ab«, beruhigte sie Sirjhana kichernd. »Aber ich rate euch es nicht wieder abzuwaschen. Saubere Gesichter laden nur dazu ein, bemalt zu werden.« Dann marschierte er lachend tiefer in die Zeltstadt hinein.

Es herrschte reger Trubel. Musik dröhnte über den ganzen Platz. Menahem spazierte vorneweg, begrüßte dann und wann einige ihm bekannte Gesichter, unterhielt sich kurz mit ihnen und führte seine Gäste immer tiefer in das muntere Treiben des Festes. Vor einem großen Mann mit auffällig buntem Brustschmuck blieb er stehen und stellte ihn als Gastgeber vor. Menahem zählte jeden einzelnen seiner mitgebrachten Gäste auf und stellte seinem Gastgeber jeden Einzelnen persönlich vor. Durch Sandre ging ein seltsamer Ruck, als Sirjhana auf sie zeigte und sie zu sich winkte. Als er sie berührte und ihren Namen aussprach, fühlte sie sich wie elektrisiert. Es war ihr unangenehm. Sie lächelte den Gastgeber freundlich an und flüchtete gleich wieder an Dugans Seite.

Nachdem diese Formalität erledigt war, gestattete Menahem seinen Leuten, sich auf dem Fest frei zu bewegen. Sie konnten ihren Bedürfnissen und ihrer Laune freien Lauf lassen. Er selbst setzte sich auf eine Bank und überflog das Getümmel des Festes, bis seine Augen auf einem Mann haften blieben, der inmitten von einigen Kindern, halbwüchsigen Mädchen und Jungen saß und alles überblickte, wie ein Schäfer seine Herde. Menahem erhob sich wieder und ging zu ihm.

Sandre setzte sich auf die Bank und beobachtete ihn aus der Ferne. Zumindest solange sich niemand in ihr Blickfeld stellte. Dhiri blieb an ihrer Seite und begann ihr einiges über dieses Sawwa-Fest zu erzählen. Sie berichtete, dass die Kämpfe in den Kreidekreisen eigentlich von den Kemeerern abstammte. Es war ihnen verboten, sich in aller Öffentlichkeit zu prügeln, wenn sie Streitigkeiten auszutragen hatten. Da sich das ganze Leben der Kemeerer im Inneren von Kreisen abspielte, erfand man die Kreidekreise, in denen sich die Streithähne ohne Einschränkungen die Köpfe einschlugen konnten. Die Profispiele waren eine Abwandlung und Weiterentwicklung und vor allem Ausnutzung dieser Sitte durch Andersgläubige. Da kein Mensch immer unter Zwängen leben konnte, gab es das Sawwa-Fest, in dem beinahe alles erlaubt war, sofern es nicht die Sittsamkeit und die Moral untergrub. Sandre erkannte jetzt erst den Sinn der, mit einem Stecken in den Boden geritzten Linie, die jedes Mal um Menahems Lager gelegt wurde, wenn er es an einem anderen Ort neu aufbauen ließ. Sie lächelte und suchte wieder nach Menahem.

»Das ist Mesopta Menahem«, erklärte Dhiri und verzog das Gesicht.

»Du magst ihn nicht«, stellte Sandre fest und betrachtete Sirjhanas Vater eingehender.

»Er ist ein Mann, wie du dir einen eingefleischten Kemeerer vorstellen kannst«, antwortete sie. »Er lebt streng nach den Regeln von Sawwa und akzeptiert nichts außerhalb davon. Er versucht die ganze Zeit Sirjhana auf den rechten Pfad zurückzubringen, das heißt zurück in seinen Kreis und unter seiner Herrschaft.« Sie lächelte schelmisch, denn sie wusste, dass sich der Sohn niemals dem Willen des Vater beugen würde. Dann wurde sie etwas ernster. »Doch ich darf nicht so ungerecht sein. Ohne ihn wäre ich vielleicht nicht mehr am Leben. Er hätte mich nicht aufnehmen müssen. Außerdem, Sirjhana missachtet einige der Regeln und mit dem Umherziehen und den Kämpfen sind die Kreisväter ebenfalls nicht einverstanden. Er lebt haarscharf an der Grenze zum Ausschluss. Ständig wird er überwacht. Sie warten nur darauf, dass er einen fatalen Fehler begeht. Mesopta hält trotz allem zu ihm. Er drohte ihnen sogar, wenn sie Sirjhana aus der Gemeinschaft werfen, geht auch er. Mesopta ist ein angesehener Kreisvater. Seine Drohung hat gewirkt und sie lassen ihn nun weitgehend in Ruhe. Nur dann und wann regen sie sich über irgendetwas belangloses auf.« Sie lächelte wieder und wand sich einer Frau zu, die ihr zu Essen und Trinken anbot. Dankend nahmen beide Frauen das Angebot an und verharrten für eine Weile in Kauen und Schweigen.

Sandre ließ während dem Essen ihren Blick über das ganze Durcheinander von singenden und tanzenden, miteinander unterhaltenden, essenden und trinkenden, lachenden und schreienden Menschen schweifen. Wenn sie sie alle so betrachtete, konnte sie sich beinahe nicht vorstellen, dass sie außerhalb des Sawwa-Festes strengen Regeln unterworfen waren, die ihr Verhalten gänzlich veränderte. Aber so fröhlich, so heiter und so ausgelassen konnten nur Menschen sein, die nie durften, wie sie gerne wollten. Sie betrachtete Dhiri, wie sie mit einem gewissen Lächeln die Köstlichkeiten in sich hineinstopfte.

»Gefällt dir das Leben als Kemeererin?«, fragte sie unvermindert.

Dhiris Lächeln verstarb einen Moment, dann erschien es wieder. »Gefällt dir dein Leben, als Kämpferin?«, fragte sie zurück.

»Ich würde es gegen kein anderes eintauschen wollen«, erwiderte Sandre nach kurzem Überlegen.

»Mir geht es genauso«, lächelte Dhiri. Ihr glückliches Lächeln zauberte noch mehr Schönheit, noch mehr Anmut in ihr Gesicht und brachte ihren bunten Perlenschmuck und den Edelstein im Stirnband zum Erstrahlen. Sandre beneidete sie darum. Ihr eigenes Gesicht, war kantig und drahtig, einige Narben, wenn auch nur schwer sichtbar, waren ihr einziger Schmuck. An sich selbst fand sie jede Art von anderem Schmuck fehlplatziert und wirkte an ihr nur noch lächerlicher. Ihre vom harten Training ausgebildeten Muskeln prägten ihren Körper und übertuschten ihre wenigen fraulichen Formen. Sie beneidete Dhiri um ihre Schönheit.

Als könne die Kemeererin die Gedanken der Anderen lesen strich sie tröstend über deren Arm. Sie lächelte gütig und schien zu überlegen, wie man aus Sandre eine ebensolche Schönheit machen könnte. Dann wand sie sich wieder ab und widmete sich dem Essen.

 

Plötzlich schien ein Hornissennest in das Fest eingefallen zu sein. Die Musik wechselte ihren Takt. Sämtliche Besucher sprangen schreiend und klatschend auf und versammelten sich auf dem großen Platz in der Mitte des Zeltstadt. Alles Essen und Trinken, alle Scherze und Gespräche waren vergessen. Dhiri sprang ebenfalls auf und zog Sandre mit sich. Der Rhythmus der Musik ging sofort ins Blut über und man konnte nicht anders, als mitklatschen, mittanzen und mitsingen. Pärchen fanden sich augenblicklich zusammen und bewegten sich im schnellen Rhythmus der Musik eng umeinander herum. Ihre Beine führten Schritte aus, denen ein Nichteingeweihter nur schwerlich folgen konnte. Diejenigen die keine Partner fanden, hielten sich am Rand des Platzes und feuerten die Tanzenden mit aufmunternden Sprüchen und Rufen an. Dhiri zog Sandre in die vorderste Reihe der Zuschauer und wies sie an mitzumachen. Sandre kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit dem Einsetzen dieses Liedes waren sämtliche Gäste noch eine Spur aufgedrehter, als gäbe es für sie nur den hektischen Rhythmus, den die Musikanten mit nicht mehr zu verfolgenden Bewegungen über ihre Instrumenten vorgaben.

Plötzlich entdeckte sie Sirjhana, der ebenso ausgelassen, wie alle anderen, um eine junge Frau herumtanzte. Mit gekonnten Schritten, im Gleichklang mit allen anderen Tänzern, von denen dennoch jeder einen anderen Tanzschritt zu haben schien, wirbelte er seine Partnerin herum, umgarnte sie mit eleganten Hüftschwüngen und bewegte sich nicht minder graziös, als im Kreidekreis oder in der Arena. Schweiß glänzte auf seiner Haut. Die Heiterkeit in seinem Gesicht glänzte jedoch mehr.

Nur kurz wurde der Takt der Musik langsamer, doch nur um noch schneller und noch hektischer, das Letzte aus den Tanzenden und den Musikern herauszuholen. Sirjhana eilte auf die beiden Frauen zu, winkte ihnen zu und forderte sie auf näher zu kommen. Sandre fühlte sich angesprochen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Das Blut raste ihr kochendheiß durch die Adern. Doch als er nahe genug herankam und sich Dhiri schnappte, fühlte sich Sandre von ihrer Enttäuschung beinahe erschlagen. Zitternd vor Wut über sich selbst und im Kampf mit ihrer Niederlage, blieb sie dennoch stehen und konnte ihre Augen nicht von den Beiden nehmen. Dhiri und Sirjhana tanzten, als wären sie füreinander geschaffen. Im vollkommenen Gleichklang, stets prompt auf die Bewegungen und die Schritte des Anderen eingehend, wirbelten sie über den Platz und schienen von der Musik vollkommen eingenommen zu sein.

Mit dem Einsetzen der weitaus schnelleren und hektischeren Musik, trat etwas ein, was niemand geglaubt zu haben schien. Die Menschen konnten noch ausgelassener und aufgedrehter sein, beinahe schon hysterisch. Schreiend vor Übermut stürzten sie sich ins Getümmel und tanzten, ob sie einen Partner hatten, oder nicht. Sandre entdeckte einige Männer aus Menahems Team, die von Kemeererinnen mitgeschleift, ebenso ausgelassen herum tollten. Sandre war nicht dazu zu bewegen, mitzumachen, obwohl der mitreißende Rhythmus ständig an ihr nagte.

Die hektische Musik endete mit einem Schlag und eine Ruhe kehrte ein, wie sie nur nach einem gewaltigen Sturm eintreten konnte. Mit dem letzten Ton fielen alle Tänzer gleichzeitig zu Boden, als hätte sie alle gleichzeitig der Tod ereilt. Nur die Unwissenden waren stehen geblieben und ragten wie Salzsäulen aus dem Meer der Leiber hervor. Erschrocken blickte Sandre um sich, nur um im nächsten Moment noch einmal zu erschrecken, als die Zuschauer in gellende Begeisterungsschreie ausfielen. Erschöpft rappelten sich die Tänzer auf, lachten und beglückwünschten sich, trennten sich von ihren Partnern oder blieben zusammen. Bald darauf setzte die normale Musik wieder ein und das Fest nahm seinen gewohnten Gang.

Verwirrt sah sich Sandre um und war nicht mehr fähig, irgendetwas zu tun. Dhiri stürmte auf sie zu und fiel ihr ausgelassen um den Hals. Keuchend und noch immer nach Atem ringend, zog sie Sandre zu der Bank zurück und ließ sie sich darauf niederfallen. Schweiß glänzte auf ihrer Haut wie winzige Glasperlen. Dhiri konnte, gleich in welcher Verfassung, immer wunderschön aussehen, stellte Sandre erneut neidisch fest. Dhiri wollte unbedingt etwas sagen, doch sie brachte nichts außer Keuchen und Quäken hervor.

»Das ist immer das Schönste am ganzen Fest«, keuchte sie, als sie sich etwas erholt hatte. »Das ist der Sawwa-Tanz. Er wird auf jedem Fest dreimal gespielt. Man sagt, die Pärchen die sich zum Dritten zusammenfinden, bleiben für ihr Leben zusammen.« Sie lächelte glücklich und schien zu hoffen, dass sie für immer mit Sirjhana zusammen sein konnte. Doch im nächsten Moment entdeckte sie einen anderen Mann und für kurze Zeit, glänzten ihre Augen in vollkommenem Glück. Sandre folgte ihrem Blick und sah einen jungen Keemerer schüchtern an einer Zeltwand stehen und sehnsüchtige Blicke in ihre Richtung werfen. Sandre musste lächeln.

»Warum hat er dich nicht geholt?«, fragte Sandre und riss damit Dhiri aus ihrer Glückseligkeit.

Sie brauchte einen Moment bevor sie antworten konnte. »Sein Vater würde ihn dafür maßlos verprügeln«, erwiderte sie heißer und wand schüchtern den Blick ab. »Er und Mesopta können sich nicht leiden, seit Sirjhana den Kreis seines Vaters verließ.«

»Er besitzt wohl nicht soviel Mut wie Sirjhana?«, bemerkte Sandre feststellend.

»Mindestens ebenso viel«, schüttelte sie leicht den Kopf. »Aber keinen Vater, der absolut hinter ihm steht.« Ihr Lächeln kehrte allmählich zurück. Sie schien sich diese Liebe längst aus dem Kopf geschlagen zu haben. Und doch ertappte Sandre den einen oder anderen sehnsüchtigen Blick, den die beiden Liebenden miteinander austauschten.

»Weiß Sirjhana davon?«, fragte Sandre unvermittelt.

Dhiri nickte. »Er hat versucht zu vermitteln, doch Jamostas Vater verweigert jegliche Konversation.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern und widmete sich dann wieder den Festlichkeiten.

Sie deutete nach oben in den Mittagshimmel. Erst jetzt entdeckte Sandre hoch oben, über dem Hauptplatz der Zeltstadt, an zahlreichen Schnüren aufgehängt, scheinbar am Himmel schwebend, wie ein Stern, ein eigenartiges Ding. Eine leicht ovale Scheibe, in die ein Zeichen durchgestanzt worden war.

»Das ist das Zeichen von Sawwa, unter dem jeder Kemeerer geboren wird«, erklärte Dhiri.

Das war also mit dem Zeichen gemeint, erkannte sie und betrachtete es näher.

»Wie kommt es, dass Raolo nicht darunter geboren wurde?«, fragte Sandre neugierig.

»Seine Mutter war die Frau eines Mannes, der aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurde. Da verweigerten die Kreisväter es ihr, ihr Kind unter dem Zeichen zur Welt zu bringen«, erklärte Dhiri bereitwillig und suchte bereits nach dem nächsten Thema, welches eventuell für Sandre interessant sein könnte.

Sandres Augen wanderten indessen zurück zu Sirjhana, der sich wieder zu seinem Vater begeben hatte. In ein inniges Gespräch vertieft, schienen die Beiden nichts von der allgemeinen Heiterkeit auf diesem Fest mitzubekommen. Nur dann und wann unterbrach Mesopta das Gespräch um über eines seiner Kinder eine Maßregelung auszusprechen, die sich ohnehin wesentlich ruhiger verhielten, als die anderen Kinder. Er hatte seine Familie fest im Griff. Mit Ausnahme von Sirjhana, der es geschafft hatte, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sandre beobachtete die Zwei und sog jede noch so kleine Bewegung in sich hinein. Sie wusste nicht, warum sie das tat, aber sie konnte sich nicht mehr davon trennen.

»Warum sagst du es ihm nicht?«, riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken. Sandre fuhr herum.

Dhiri blickte sie amüsiert an und schien sich darüber zu freuen, dass sie die Schwäche ihrer Freundin erkannt hatte.

»Was soll ich ihm sagen?«, gab sich Sandre unwissend.

»Es ist Sawwa und nichts könnte dich aufhalten, ihm zu sagen, dass du ihn magst«, erklärte Dhiri. »So wie du Sirjhana ansiehst, kommt einem schon beinahe Mitleid auf.« Sie lächelte verschmitzt und stieß Sandre leicht an. »Geh und trau dich«, forderte sie Sandre sanft auf.

»Nein«, weigerte sich Sandre entschlossen. Sie wusste selbst nicht was sie tat. Um sich abzulenken, dachte sie an den letzten Kampf ihres Vaters und Wut und Rache keimten wieder in ihr auf. »Ich kann ihn nicht leiden«, knurrte sie mürrisch.

»Das ist eine Lüge«, behauptete Dhiri kühn. »Ich hege schon länger gewisse Vermutungen und beobachtete euch beide in letzter Zeit genauer. Irgendetwas bahnt sich da zwischen euch an. Nur keiner will es wahrhaben. Sirjhana hat jedes Mal einen seltsamen Glanz in seinen Augen, wenn er von dir spricht. Und du bist ausgesprochen neugierig, was ihn betrifft. Ich meine damit nicht, dass du mir Löcher in den Bauch fragst, sondern die Art, wie du ihn beobachtest. Wie eine jagende Katze, der nichts entgehen kann.«

»Ach was«, tat es Sandre leichthin ab und musste sich abwenden. Dhiri traf genau ins Schwarze. Sie selbst hatte sich einige Male dabei ertappt, wie sie während den Kämpfen nur noch Sirjhana beobachtete. Erneut musste sie ihre Gedanken auf diesen schrecklichen Kampf lenken.

»Ich irre mich nicht«, versicherte Dhiri. »Ich kenne Sirjhana genau und habe ihn schon einige Male so erlebt. Bisher bekam er diesen Blick nur, wenn er von einem besonderen Kämpfer redete, der ihn durch irgendetwas beeindruckte.«

»Ich bin auch ein Kämpfer«, versuchte Sandre abzulenken.

»Mit dem Unterschied, dass du eine Kämpferin bist«, verbesserte sie. »Und er weniger von deinen bisherigen Erfolgen oder besonders raffinierten Techniken redete, sondern mehr von den Bewegungen die du ausführst, deinem anmutigen Kampfstil, oder deiner ungewohnten Stärke, die du ausstrahlst, wenn du in den Kreis gehst.«

Sandre musste sich abwenden und unbedingt mit etwas anderem beschäftigen, sonst lief sie Gefahr sich selbst zu vergessen. Sie erhob sich und ließ Dhiri einfach stehen. Ziellos wanderte sie durch die Zeltstadt, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich gehen sollte. Und wieder gelang es ihr, durch die Erinnerung an den Tod ihres Vaters, zu Fassung zu gelangen. Was bildete sich Dhiri eigentlich ein, so etwas von ihr zu behaupten? Außerdem glaubte Sandre nicht, dass Dhiri so selbstlos handelte. Schließlich war sie eine Nebenbuhlerin im Kampf um Sirjhana.

Nein, schrie sie lautlos. Sie konnte diesen arroganten Kerl nicht ausstehen. Mit jemandem, der den Frauen das Recht auf freie Entscheidung, wann und mit wem sie sprachen, vorenthielt, wollte sie nichts zu tun haben. Sie verkrümelte sich in eine ruhigere Ecke und hatte für den Rest des Tages Ruhe. Erst gab sie sich ihren wirren Gedanken hin, dann versuchte sie die aufkeimende Langeweile mit ihren gewohnten Aufwärmübungen zu vertreiben.

 

Der Mond stand hoch über der Zeltstadt und leuchtete durch das Sawwa-Zeichen, als wollte der Gott der Kemeerer persönlich die Lichtquelle für die Nacht sein. Durch den Einbruch der Dunkelheit nahm die ausgelassene Stimmung des Festes keinen Schaden. Ohne Unterbrechung feierten die Kemeerer ihr Freudenfest weiter und schienen selbst in der Nacht keine Ruhe geben zu wollen. Müdigkeit und Erschöpfung schienen sie mit dem Überschreiten der steinernen Linie hinter sich gelassen zu haben. Erst in den Morgenstunden wurde es etwas ruhiger. Viele legten sich irgendwo hin zum Schlafen, einige waren in die Zelte verschwunden, nur noch wenige feierten unermüdlich weiter. Von den Musikanten fiedelte nur einer irgendwo zwischen den Zelten herum und auch er schien bald vom Schlaf übermannt zu werden. Müde trennten sich die Töne aus seinem Instrument.

Sandre war eingeschlafen, bevor der Mond die Mitte des Nachthimmels erreichen konnte und deswegen früh wieder wach geworden. Sie spazierte über den Platz, musste über volltrunkene Festgäste steigen und wäre beinahe auf einen Schlafenden getreten, als sie ein, im Schlaf eng umschlungenes Paar entdeckte. Sirjhana und Dhiri, nahe zusammengerückt, eingebettet in einer weichen Lage Stroh, und so unzertrennlich, wie ein seit langem verheiratetes Ehepaar.

Ein schmerzhafter Stich in ihrem Herz veranlasste sie zur Umkehr und sie ließ sich den ganzen Vormittag nicht wieder blicken, bis der Hunger sie aus ihrem Versteck heraustrieb. Beinahe reumütig kehrte sie zu der Bank zurück und hoffte, dass Dhiri nicht auf ihr saß. Doch sie war da und schien nur auf sie gewartet zu haben. Als sie Sandre entdeckte, lächelte sie freudig und winkte sie zu sich. Sie bot ihr etwas von ihrem Essen an und teilte es gerne, als Sandre zugriff.

»Es tut mir leid, wenn ich dich irgendwie verletzt habe«, entschuldigte sich Dhiri aufrichtig.

»Das Dumme ist, dass du Recht hast«, gab Sandre von sich und wusste plötzlich nicht, wie dieses Geständnis über ihre Lippen kommen konnte. Sie erschrak über sich selbst und stopfte sich schnell den Mund voll, bevor sie weitere Dummheiten von sich geben konnte.

»Sirjhana tat so viel für mich«, lächelte Dhiri. »Daher möchte ich ihn gerne ebenso glücklich sehen. Ich würde mich freuen, wenn ihr euch finden könntet«, gestand sie unter einem schüchternen Augenaufschlag.

»Warum?«, wollte Sandre mit vollem Mund wissen. Sie schluckte schnell hinunter. »Ich seid doch das ideale Paar. Warum willst du dir das denn zerstören?«

»Ideales Paar?«, lachte sie. »Nein, wirklich nicht. Für Sirjhana bin ich nicht mehr, als ich wirklich bin, ein Mündel, ein Kind, um das er sich zu kümmern hat.« Sie schüttelte kichernd den Kopf. »Ohne mich würde er zwar wahrscheinlich längst verhungert sein, oder in den letzten Lumpen herumlaufen. Ich bezweifle, dass Raolo kochen und nähen kann.« Sie kicherte erneut, als sie sich Sirjhanas besten Freund bei den Arbeiten einer Frau vorstellte. »Aber mehr bin ich für ihn wirklich nicht.«

»Ich hatte heute morgen einen anderen Eindruck, als ich euch sah, wie ihr eng umschlungen im Stroh lagt«, verriet Sandre ihre Gedanken.

»Ach das«, wehte Dhiri ab. »Mir war kalt.« Dann musste sie lachen. »Du bist eifersüchtig. Ein weiterer Beweiß dafür, dass meine Vermutung richtig ist.« Verschmitzt blinzelte sie Sandre zu. »Ich habe eine Idee. Es gibt einen heimlichen Brauch hier, die Sehnsucht mancher unerfüllten Liebe. Jeder Mann hofft, dass ihn seine heimliche Liebe entführt, sobald die Nacht über das Sawwa-Fest hereinbricht. Es wäre zwar nicht die entgültige Lösung, doch immerhin ein Anfang. Ich könnte für dich etwas arrangieren. Was meinst du?«

»Was willst du arrangieren?«, fragte Sandre und versuchte nicht allzu neugierig zu wirken.

Dhiri lächelte nur schelmisch, verriet jedoch nichts und verschwand, ohne weiteres Wort. Sandre blickte ihr fragend nach und stopfte, um sich abzulenken, noch etwas in den Mund. Ihr umherschweifender Blick entdeckte Sirjhana, der irgendwie gelangweilt, auf einem Stück Brot herumkauend, die heitere Menge betrachtete und sich nicht so Recht anstecken lassen wollte. Sandre nahm all ihren Mut zusammen und ging zu ihm.

Sobald er sie erblickte, wand er sich abrupt um und sah demonstrativ in eine andere Richtung. Sandre ließ sich von seiner Reaktion nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

»Ich möchte mit dir reden«, sprach Sandre ihn an.

Sirjhana gab keine Antwort und biss statt dessen noch ein Stück Brot ab.

»Ich möchte in deinem Team mitmachen«, begann sie. »Ich bin gut genug. Mindestens so gut, wie ein Mann.«

Sirjhana gab immer noch keine Antwort. Er kaute missmutig auf seinem Brotstückchen herum, als schmeckte es ihm nicht besonders.

»Du weißt, dass ich gut bin«, versuchte es Sandre weiter. »Und nur, weil ich eine Frau bin, nimmst du mich nicht auf?«

Er wand sich ab, als Sandre sich vor ihm aufbaute.

»Du weißt besser als ich, dass du hier mit mir reden darfst«, rief sie ärgerlich. »Sag irgend etwas, aber behandle mich bitte nicht, als wäre ich Luft.«

Langsam drehte er seinen Kopf zurück. Er schluckte den Bissen hinunter. »Ich kann nicht«, erwiderte er leise.

»Was kannst du nicht?«, hakte Sandre nach. »Mit mir reden, oder mich ins Team aufnehmen?«

»Du weißt genau, warum ich dich nicht aufnehmen kann«, erinnerte er sie daran. »Du hast es eben selbst erwähnt. Du bist eine Frau. Wenn ich es täte, würde ich schneller aus der Gemeinschaft fliegen, als mir lieb ist. Die Kreisväter warten doch nur auf eine solche Gelegenheit. Diese Schande kann ich meiner Familie nicht antun. Deshalb wird meine Antwort immer Nein lauten.« Damit drehte er sich wieder um.

Sandre schluckte. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Sie wusste selbst, dass er es nicht konnte. Resigniert setzte sie sich auf eine nahestehende Bank.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell aufgibst«, gab Sirjhana trotz seiner Einstellung, etwas enttäuscht von sich.

Sandre blickte ihn kurz an, dann musste sie die Augen von ihm nehmen. »Ich weiß ja selbst, dass es unmöglich ist«, maulte sie, verärgert über sich selbst. »Aber ich will unbedingt bei den Profis mitspielen. Ich weiß, ich bin gut genug, um nicht gleich beim ersten Schlag hinaus katapultiert zu werden.«

»Du bist besser, als du vorgibst«, erwiderte er. »Warum bleibst du nicht in den Kreidekreisen? Das wäre für dich das Idealste.«

»Du meinst wohl für eine Frau«, gab sie bissig dagegen.

»Ich wollte damit sagen, dass du mit deinen Fähigkeiten noch ziemlich weit kommen kannst. Wenn du noch etwas an dir arbeitest, wird dein Name sicherlich bald in aller Munde sein.«

»So wie Menahem?«

»Ich bin für viele das Vorbild«, gab er leichtfertig von sich. »Doch nur die Wenigsten bringen mich ins Schwitzen.«

»Du bist dir deiner Sache wohl sehr sicher, was?«

»Wäre ich sonst der Menahem?«, fragte er dagegen.

»Hattest du niemals vor einem Gegner Angst?«, wollte sie wissen.

Sirjhana lächelte milde. »Du weißt selbst gut genug, dass Angst innerhalb des Kreises völlig Fehl am Platze ist. Du kannst Respekt vor ihm haben, doch niemals Angst. Das lähmt nur die Gedanken.«

Sandre starrte ihn entgeistert an. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Ein Mädchen kam plötzlich angerannt, zerrte an Menahem und brachte vor Aufregung nur einzelne Wortfetzen hervor. Streit, Ärger, Prügel und einige Namen. Aber es genügte, um ihn hellwach werden zu lassen. Er ließ sich von ihr fortziehen.

Sandre folgte ihnen neugierig.

 

Zwei Kemeerer standen sich mit zornrotem Gesicht gegenüber, bewarfen sich mit wüsten Beschimpfungen und drohten jeden Moment mit Fäusten aufeinander loszugehen. Der eine war Jamosta, Dhiris Schwarm, den anderen glaubte Sandre ab und zu in Sirjhanas Lager gesehen zu haben. Um was ihr Streit ging, konnte sie nicht ausmachen, doch der Anlaß musste gewichtig genug sein, dass sie schließlich doch aufeinander einprügelten. Sirjhana fuhr augenblicklich dazwischen, zerrte die Streithähne auseinander und versuchte einen genügenden Abstand zwischen sie zu bringen. Die Wut der beiden jungen Männer war so groß, dass sie sich nicht aufhalten ließen. Sie rissen sich los, schubsten den Schlichter von sich und gingen wieder aufeinander los. Sirjhana ließ nicht locker. Er ging erneut dazwischen. Jamosta holte aus und beabsichtigte eigentlich seinem Gegner einen Haken zu verpassen, doch dieser duckte sich schnell und er verfehlte Sirjhana nur knapp. Dieser schien weit fernab eines professionellen Kampfplatzes sämtliches Können und Reaktionsvermögen verloren zu haben. Er hatte sich nicht sonderlich viel Mühe gemacht, dem Schlag auszuweichen. Doch selbst in Rage versetzt, holte prompt aus und versetzte Jamosta eine Ohrfeige, dass er rückwärts stolperte und auf seinem Hintern landete.

Sofort brachte sich der andere der Streithähne in Sicherheit und stand nun mit einem breiten Grinsen in der Reihe der Zuschauer. Einige der Zuschauer, ebenfalls junge Männer, sprangen herbei, packten Sirjhana und zerrten ihn mit vereinten Kräften weg. Sie zwangen ihn auf den Boden zu knien, bis Jamosta sich von dem Schlag erholt und vor ihn getreten war. Plötzlich waren die Zwei, die sich zuvor Spinnefeind waren, die besten Freunde. Sie legten sich mit breiten Grinsen die Hand auf die Schulter und freuten sich über etwas, von dem nur sie etwas wussten.

»Du hast mich ohne Grund geschlagen«, rief Jamosta laut in die Runde der Zuschauer, dass es selbst der Letzte in der Reihe hören musste.

Der mürrische Ausdruck in seinem Gesicht wich einem breiten Grinsen, als er die Hinterlist erkannt hatte. Der Streich schien zu gelingen.

»Dafür verlange ich Entschädigung«, forderte Jamosta lautstark und gab seinen Freunden ein Zeichen, ihr Opfer loszulassen.

Sirjhana erhob sich und konnte sich nur schwerlich zurückhalten, ihm die Entschädigung nicht freiwillig zu überlassen. Ein gewissen Grinsen lag in seinen Augen. Er wusste, was der junge Mann von ihm verlangte.

»Es muss ja eine harte Beleidigung für dich gewesen sein, dass du Entschädigung verlangst«, zog Sirjhana mit. »Was verlangst du?«

»Dhiri«, forderte er und sah sich triumphierend um. Die geforderte Entschädigung kam eben angelaufen und konnte nur noch ihren Namen vernehmen.

»Das ist ein hoher Preis«, feilschte Sirjhana.

»Wenn du nicht einwilligst, wird es nur noch teurer für dich«, konnte sich auch Jamosta beinahe nicht mehr zurückhalten. Formalitäten, die die eigentliche Sache nur aufhielten.

»Ich habe wohl keine andere Wahl«, zuckte Sirjhana hilflos mit den Schultern. »Sie gehört dir.« Damit war die Schau vollzogen, die eigentlich nur die Alten und Gewissenhaftesten überzeugen sollte. Allen voran Jamostas Vater.

Dhiris Freudeschrei war mit Sicherheit über der ganzen Zeltstadt zu hören. Sie sprang ihrer lang ersehnten Liebe entgegen und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Schmunzelnd wand sich Sirjhana ab. Wenigstens Zwei konnten das Sawwa-Fest glücklich verlassen, schien er zu denken, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte.

Er prallte beinahe mit Raolo zusammen, der ein Gesicht zog, als hätte man ihm eine Essiggurke statt einem süßen Bonbon in den Mund gesteckt. Als sich ihre Blicke trafen, riss sich Raolo von ihm los, drehte sich auf dem Absatz um und tauchte wortlos in der sich auseinander laufenden Zuschauermenge unter. Verdutzt blickte ihm Sirjhana hinterher und konnte sein Verhalten nicht begreifen. Er tat es mit einem Kopfschütteln ab und überlegte kurz, wobei er unterbrochen worden war. Als es ihm wieder einfiel, ging er geradewegs in die andere Richtung. Er wollte sich nicht noch einmal mit Sandre unterhalten müssen.

 

Die zweite Nacht brach langsam über die Zeltstadt herein. Dugan hatte es sich eben auf einem Strohballen bequem gemacht, als er Sirjhana entdeckte. Er rief nach ihm und winkte ihn zu sich.

»Wie gefällt es dir bisher?«, wollte Sirjhana wissen.

»Ganz gut«, rief Dugan begeistert. »Könnte öfter sein.«

»Ist leider nur einmal im Jahr«, erwiderte Sirjhana schmunzelnd und setzte sich einfach auf den Boden. Der Abend war von der Tagessonne noch ziemlich aufgeheizt und selbst an der untergehenden Sonne wollte sich die Temperatur kein Beispiel nehmen und ebenfalls sinken. Vielleicht aber kam die Hitze auch von der Ausgelassenheit, vom Alkohol oder der hitzigen Gedanken, die kein Ende zu nehmen schienen.

Müde von zwei durchgefeierten Tagen, ließ er sich rücklings auf den Boden fallen und sprang gleich wieder auf, als er einige Mädchen mit farbigen Stofffetzen in der Hand entdeckte. Er ließ sich neben Dugan auf den Strohballen nieder und konnte so eine Attacke der Mädchen schneller erkennen. Als Mann musste man auf diesem Fest vieles über sich ergehen lassen. Auch Sirjhana war einige Male nicht schnell genug gewesen und trug nun die Folgen im Gesicht. Er unterließ es jedoch sich zu waschen. Es hatte ohnehin keinen Sinn. Ein sauberes Gesicht, lud geradezu ein.

»Ich sah dich heute mit Sandre reden«, ergriff Dugan das Wort. »Was gab es denn zu besprechen?«

»Kannst du dir das nicht denken?«, fragte Sirjhana zurück. »Sie will ins Team.«

»Das ist unmöglich«, wusste Dugan sofort.

»Das weiß sie«, gab Sirjhana ernst von sich.

»Gibt es da keine Möglichkeit?«, fragte Dugan. »Sie wäre eine Bereicherung für unser Team.«

»Ich weiß«, erwiderte Sirjhana knapp. Er überlegte kurz. »Es gibt leider keine Möglichkeit. In jedem anderen Team, vielleicht. Aber nicht bei uns. Wenn ich sie mit rein nehme, muss ich gehen ... .«

Dugan hatte irgendwie das Gefühl, dass Sirjhana noch etwas hinzufügen wollte, es aber lieber doch sein ließ. Er betrachtete ihn eingehend.

»Du kennst eine Möglichkeit«, schlussfolgerte er.

Sirjhana blickte zu Boden. Nachdenklich wischte er den Sand unter seinen Füssen beiseite.

»Raus mit der Sprache«, forderte Dugan.

Sirjhana schüttelte den Kopf. Er holte tief Luft, bevor er den Mut fand, es auszusprechen. Doch im letzten Moment, überlegte er es sich erneut anders.

»Es geht nicht«, schüttelte er den Kopf. »Ich habe jetzt schon Schwierigkeiten genug. Ich kann mir keine weitere Dummheit erlauben. Irgendwann sind auch meinem Vater Grenzen gesetzt. Er konnte mir die Kreisväter bis jetzt ganz gut vom Hals halten.«

»Was meinst damit?«, hakte Dugan nach und hatte gewisse Vermutungen. »Du willst Sandre doch nicht etwa heiraten?«

»Hättest du denn etwas dagegen?«, wollte Sirjhana sofort wissen und sah Dugan geradewegs in die Augen. Er meinte es ernst.

Dugan konnte nicht gleich antworten. Er musste das erst noch verdauen und starrte Menahem eine Weile wortlos an.

»Ich ...«, stammelte er hilflos. »Wieso ... Das ... das müsst ihr unter euch ausmachen.«

»Du bist ihr nächster Verwandter«, bemerkte Sirjhana mit einem Schulterzucken. »Du hast dich bisher immer um sie gekümmert. Es ist nur gerecht, wenn ich zuerst dich frage.«

Erneut brannte die Lüge auf Dugans Zunge, wie reinster Essig. Er brauchte nur den Mund aufzumachen und sie sprudelte von selbst hervor. Doch bevor er dies tun konnte, schossen mehrere Hände von hinten hervor, legten sich um Sirjhana und rissen ihn mit sich. Sie pressten ihm etwas Feuchtes auf Mund und Nase und als der beißende Geruch des Betäubungsmittels tief in seine Lungen zog, ebbte seine Gegenwehr langsam ab. Dugan sah ihnen verwirrt hinterher und war nicht fähig einzugreifen. Als Dhiri aus der Richtung auftauchte, in die Sirjhana entführt worden war und einen Zeigefinger auf ihren Mund legte, musste er schmunzeln. Dhiris verschmitzter Blick verriet ihm, dass sie etwas eingefädelt hatte. Dann verschwand sie in der Dunkelheit und suchte Sandre.

Noch bevor Dhiri ein Wort sagen konnte, begann Sandres Puls schneller durch die Adern zu rasen. Allein der triumphierende Blick und das Leuchten in ihren Augen genügte, um Sandre davon in Kenntnis zu setzen, dass etwas passiert war. Etwas, was sie und - Sandre wagte nicht daran zu denken - Sirjhana betraf. Dhiri forderte sie auf mitzukommen. Nur zögerlich bewegte sich Sandre vorwärts. Die Kemeererin musste sie mit sich ziehen, denn innerlich weigerte sich Sandre.

Vor einem Zelt weit außerhalb des großen Trubels blieb sie stehen und deutete erwartungsvoll auf den mit Tüchern verhängten Eingang. Sandre schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht«, sagte sie leise.

»Wenn du jetzt nicht hineingehst, werde ich böse«, drohte Dhiri.

Wieder schüttelte Sandre den Kopf. Sie zitterte am ganzen Leib. Jeder Nervenstrang sträubte sich.

Dhiri zog die Vorhänge beiseite und schubste Sandre hinein. Nach nur einem weiteren Vorhang, befanden sie sich im Innenraum. In der Mitte des Raumes, war ein provisorisches, aber durchaus brauchbares Bett aufgebaut. Darauf lag Sirjhana, noch immer im Reich des Betäubungsmittels und an den Händen an die Begrenzungspfosten gefesselt.

»Das muss so sein«, erklärte Dhiri, als sie Sandres entsetztem Blick folgte. »So kann niemand behaupten, dass er es freiwillig mit sich machen ließ. Du darfst ihn nicht befreien.«

Dhiri schob sie näher an das Bett und nickte auffordernd.

»Du hast eine Stunde Zeit«, flüsterte sie. Dann entfernte sie sich langsam und leise. Die gute Fee hatte ihr möglichstes getan. Jetzt war Sandre an der Reihe.

Sandre zögerte und blieb stehen, wo Dhiri aufgehört hatte, sie vorwärts zu schieben. Nur allmählich fasste sie Mut und trat näher. Sirjhana war ihr hilflos ausgeliefert. Was auch immer sie mit ihm anzustellen vermochte, er musste es über sich ergehen lassen.

Ihr Herz pochte wild. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihre Finger wurden kalt und klamm, obwohl im Inneren des Zeltes noch immer die Schwüle des vorangegangenen Tages herrschte. Sie zitterte am ganzen Leib und fragte sich immer wieder, ob es nicht besser wäre, einfach wieder zu gehen. Immerhin war er der Mörder ...

 

Als er sich leicht bewegte, erschrak sie und blieb stehen. Sirjhana erwachte aus seinem unfreiwilligen Schlaf. Er öffnete die Augen und blickte zur Decke. Dann bewegte er sich und stellte fest, dass er gefesselt war. Sein Kopf fuhr herum, als er die Anwesenheit einer weiteren Person bemerkte. Er staunte nicht schlecht, als er Sandre entdeckte, wusste aber ebensodass es niemand anderer hätte sein können.

Zögerlich kam sie näher und kniet sich zu ihm. Sie biss sich auf die Lippen, weil sie ihm soviel zu sagen hatte, aber nichts zu sagen wusste. Sirjhana beobachtete sie stumm und wartete auf ihren ersten Schritt. Er wusste selbst gut genug, was dies zu bedeuten hatte.

»Das war Dhiris Idee«, gab Sandre endlich leise von sich.

Um seine Lippen huschte ein kleines Schmunzeln. Seine Augen begannen zu glänzen und Sandre glaubte denselben Glanz zu erkennen, den Dhiri zuvor so klar beschrieb.

»Ich wollte nicht, aber sie ließ nicht locker«, brach Sandre erneut das Schweigen zwischen ihnen. Irgendwie glaubte sie, sich für die Umstände rechtfertigen zu müssen.

Seine Lippen formten lautlose Worte. Sie verstand und gehorchte mehr ihrer inneren Stimme, denn seiner Aufforderung. Langsam näherte sie sich ihm, beugte sich über ihn und berührte mit ihren Lippen die seinen. Ein herrlich prickelndes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus, als sie ihn küsste. Jeder Nervenstrang, jeder Muskel zog sich zusammen bei dieser Berührung. Und mit dieser kleinen Berührung schwappte eine Welle über Sandre, die ihre Gedanken lähmte, ihre Handlungen blockierte und nur noch Eines zuließ. Ihre innere Stimme leitete sie durch ihre Willenlosigkeit. Sirjhana zerrte an den Fesseln, bis sich seine Handgelenke daran wund scheuerten. Aber er ließ es nicht zu, dass Sandre ein Messer besorgte. Er brauchte Beweise zum Vorzeigen.

Sandres Finger machten sich selbständig. Sie verirrten sich in den Falten und Lagen seiner Kleidung und fanden schweißnasse Haut. Ihr Atem ging heftig, wie nach einem anstrengenden Kampf. Auch Sirjhana kämpfte mit sich, den Fesseln und seinen Gefühlen. Die Stricke an seinen Gelenken hinderten ihn daran, seiner Leidenschaft freien Lauf zu lassen. Er zog so fest daran, bis die Pfosten nachgaben und er die Schlaufen abziehen konnte. Nun ließ er sich durch nichts mehr aufhalten.

Eine Stunde blieb ihnen für ihre Leidenschaft.

 

Vorsichtig nahm Dhiri den zweiten Vorhang zur Seite und warf einen Blick in den Innenraum. Sie lächelte glücklich, als sie das engumschlungene Paar entdeckte. Ihre Vermutungen, die sie aus ihren Beobachtungen geschlossen hatte, waren nicht falsch gewesen. Leise räusperte sie, bis Sandre endlich den Kopf hob und in ihre Richtung sah. Sie winkte sie zu sich, denn ihre Zeit war um. Länger konnte es niemand verantworten. Sandre weigerte sich innerlich, doch diesmal wollte sie nicht weg. Sie sank auf Sirjhanas Brust zurück und atmete ein letztes Mal seinen Duft ein. Er genoss den Augenblick mit geschlossenen Augen, doch als sich Sandre bewegte und sich erheben wollte, schnellten seine Arme hoch und hielten sie fest. Auf Dhiris erneutes Winken, machte sich Sandre mit sanfter Bestimmtheit frei, zog sich an und verschwand mit einem letzten Kuss und einem letzten sehnsüchtigen und glücklichen Blick hinter dem Vorhang.

Sobald das Tuch den Boden berührt hat, gab Dhiri Sandre einen Kuss auf die Wange und half ihr in ihre letzten Kleidungsstücke.

»Wofür war der?«, wollte Sandre leise wissen.

»Dafür«, lächelte Dhiri, zog Sandre aus dem Zelt heraus und verschwand mit ihr im Dunkel der Nacht.

Sandre war müde und erschöpft, aber glücklich und voller Hoffnung. In ihr kribbelte noch immer der Schauer der Erregung. Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen. Worte waren überflüssig gewesen. Mit jeder Faser spürte sie, dass Sirjhana ebenso fühlte, wie sie. Dies gab ihr Hoffnung für die Zukunft.

Dhiri riet ihr, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen, um sich nicht zu verraten. Denn niemand durfte etwas von ihrem nächtlichen Treffen erfahren. Derartige Treffen waren trotz allem, für das Sawwa-Fest aufgelockerten Regeln, strikt verboten. Die jungen Leute, die es trotzdem wagten, mussten äußerst vorsichtig vorgehen. So konnte Sandre ihn nur aus der Ferne beobachten und hoffen, dass er aus ihren Blicken ihre Sehnsucht nach einem weiteren Treffen herauslesen konnte.

Sirjhana verbrachte den weiteren Verlauf des Festes bei seinem Vater, in tiefe Gespräche vertieft und die Festivitäten nebenher unberührt ablaufen lassend. Mit jeder Bewegung seiner Lippen, wünschte sich Sandre mehr, dass er genau das mit ihm aushandelte, was sie sich sehnlichst wünschte. All ihre Rachegefühle, all ihre Pläne, für den Tod ihres Vaters Vergeltung zu üben, waren vergessen.

Als zum dritten und letzten Mal für dieses Sawwa-Fest, kurz vor Einbruch der dritten Nacht, die Musiker das hektische, mitreisende Lied anspielten, stand plötzlich Sirjhana vor ihr und zog sie, ohne auf ihre Weigerungen einzugehen, in die Mitte des großen Platzes. Er wirbelte sie herum, wie er zuvor Dhiri herumgewirbelt hatte und trug plötzlich ein seltsames Strahlen im Gesicht. Da wusste sie, dass ihr Wunsch bald in Erfüllung gehen würde.

Sie ließ sich von Rhythmus und der Heiterkeit hemmungslos mitreisen.

 

Nach dem Tanz führte er sie an der Hand zu Dugan. Schon allein Sirjhanas glückliches Lächeln, verriet diesem, was die Beiden ihm zu sagen hatten. Mit gemischten Gefühlen erwartete er die Neuigkeit.

»Ich machte mir umsonst Sorgen«, sprudelte Sirjhana glücklich hervor. »Mein Vater meinte, es sei meine Angelegenheit und ich wäre alt genug, für mich zu entscheiden.« Er lachte über diese Bemerkung. »Er meinte, es wäre endlich an der Zeit, dass ich damit anfange.« Mit diesem seltsamen Glanz in seinen Augen betrachtete er Sandre und hielt ihre Hand fest. »Für wen ich mich auch immer entscheide, er gibt mir seinen Segen.« Dann blickte er Dugan erwartungsvoll an. »Und wie sieht es mit dir aus?«, wollte er wissen.

Dugan zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht Sandres Vater. Sie muss für sich selbst sprechen. Aber meinetwegen könnt ihr miteinander glücklich werden und viele Kinder groß ziehen.« Er machte eine kleine Pause und Sandres Puls ging schneller. Noch bevor er weiterreden konnte, zupfte sie ihm am Ärmel und wies ihn mit einem Blick an nichts zu verraten.

»Wir müssen es ihm sagen«, antwortete Dugan laut. »Er wird es irgendwann selbst erfahren und außerdem kann ich ... .«

»Bitte nicht«, fuhr ihm Sandre flehend ins Wort.

»Sandre. Er muss es erfahren«, versuchte er sie von der Richtigkeit zu überzeugen. »Besser jetzt, als zu spät. Und ich kann auch nicht mehr länger mit dieser Lüge leben.«

»Was muss ich erfahren?«, war Sirjhana neugierig gemacht worden. »Welche Lüge?«

»Sie ist ... .«

»Bitte, Dugan«, schnitt sie ihm beinahe um ihr Leben bettelnd das Wort ab.

»Sie ist was?«, wollte Sirjhana den Satz vollendet haben.

»Nicht meine Schwester«, brachte Dugan schnell hervor, bevor Sandre ihn erneut daran hindern konnte.

Sirjhana starrte Dugan wortlos an. Dann wand er sich langsam Sandre zu. »Nicht deine Schwester?«, wiederholte er ungläubig.

Sandre senkte den Blick und riss sich von Sirjhana los. Sie überlegte krampfhaft, welche Ausrede sie ihm statt der Wahrheit servieren konnte.

»Nicht meine Schwester«, bestätigte Dugan nickend. »Ich traf sie auf einem Wettbewerb und fragte sie, ob sie nicht mit mir zusammen weiterziehen möchte. Wegen den Straßenräubern und all dem Gesindel, das einen so über den Weg läuft. Ich bin schon einige Male überfallen worden und ich dachte mir, ein Weggenosse wäre nicht schlecht.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Sie war allein. Ich war allein und so taten wir uns zusammen. Als du mir dieses Angebot machtest, wollte ich sie nicht allein weiterziehen lassen und half mir mit einer Notlüge aus. Ich dachte nicht, dass es gleich so etwas wird. Ich meine, ... na, ja.« Dugan fand keine Worte mehr.

Sirjhana starrte ihn fassungslos an. Er schluckte trocken und versuchte, diese Lüge zu verarbeiten. Wenn Dugan sie nicht als seine Schwester angegeben hätte, wäre er niemals damit einverstanden gewesen, sie im Lager zu behalten. Mehrmals musste er tief einatmen und das eben vernommene verdauen. Andererseits hatte diese Lüge dazu beigetragen, dass Sandre in sein Lager kam und er sie kennen und lieben lernen durfte. Dieser Umstand ließ ihnen die Notlüge verzeihen.

»Und wer ist sie dann?«, wollte er wissen.

Dugan schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht viel mehr von ihr, als du.«

Sirjhana wand sich an Sandre. Diese drehte ihren Kopf augenblicklich zur Seite. Er nahm ihr Kinn in seine Finger und zwang sie ihn anzusehen.

»Wer bist du dann, wenn du nicht Dugans Schwester bist?«, fragte er.

Sandres Lippen öffneten und schlossen sich wieder. Sie weigerte sich, ihren richtigen Namen preiszugeben. Sie wollte Schuldgefühle und Mitleid verhindern. Sein Griff wurde härter. Sandre versuchte sich zu befreien, doch Sirjhana gab nicht nach. Sie schüttelte, so gut es ging, den Kopf. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Der rettende Ausweg wollte ihr nicht einfallen.

»Ich bin froh, wenn ich nicht mehr daran erinnert werde«, wich sie aus. »Ich hatte es schwer genug, hochzukommen und im Kreidekreis etwas zu werden.«

»Ich möchte gerne deinen richtigen Namen wissen«, forderte Sirjhana sanft und lockerte seinen Griff.

Sie versuchte ein Lächeln. »Tramec«, log sie. »Sandre Tramec.« Dem Himmel sein Dank fiel ihr der Mädchenname ihrer Mutter noch rechtzeitig ein.

Sirjhana lächelte und küsste sie in aller Öffentlichkeit auf den Mund.

»Ist dein Vater zu sprechen?«, wollte er wissen.

Sandre schluckte das aufkeimende Gefühl gewaltsam hinunter. »Nein«, schüttelte sie den Kopf. »Er lebt nicht mehr.« Sie bewunderte sich selbst, dass sie es ohne verräterischem Beiton herausbringen konnte.

»Sonst noch jemand aus deiner Familie?«, fragte er weiter. »Mutter, Bruder, Onkel? Mein Vater besteht darauf, jemanden aus deiner Familie kennen zu lernen, der für dich sprechen kann.«

Sandre schüttelte den Kopf.

»Dann belassen wir es besser bei Bruder und Schwester«, gab er schließlich von sich, nahm Sandre in den Arm und legte Dugan freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Das gäbe sonst nur lästige Schwierigkeiten.«

»Es tut mir leid, wegen der Lüge«, entschuldigte sich Dugan noch einmal. »Ich meinte es nur gut.«

»Ist schon in Ordnung«, beruhigte Sirjhana. »Behalten wir dieses Geheimnis besser für uns.« Dann lächelte er milde und zog beide in den Trubel des Festes zurück.

 

In der dritten Nacht schien bereits bei vielen das Durchhaltevermögen zu versagen. Denn wesentlich mehr, als in der ersten und in der zweiten Nacht verschwanden in den Zelten, oder schliefen irgendwo dazwischen. Des öfteren stolperten die nächtlichen Spaziergänger über leblose Körper oder fanden die Schlafquartiere besetzt vor. Sirjhana, Sandre und Dugan fanden noch lange keinen Schlaf. Schließlich gab es etwas zu feiern. Sirjhanas Suche nach seinem Freund Raolo, der ebenfalls an dieser Feier teilhaben sollte, blieb erfolglos. Er war nirgends aufzufinden. Je tiefer die Nacht wurde, desto weniger wurden die Gäste und desto mehr verteilten sich die noch wenigen Grüppchen in der Zeltstadt. Dann und wand trug der seichte Wind Stimmen zu ihnen, doch es wurde immer ruhiger.

Bis plötzlich laute Schreie über den Platz gellten und manche der Schlafenden aus ihren Träumen rissen. Vermutlich waren zwei Gäste wegen eines Schlafplatzes aneinander geraten. Die Drei hätten sich nicht darum gekümmert, wenn Menahem nicht eine der beiden Stimmen bekannt vorgekommen wäre. Bevor er jedoch den Tatort ausfindig machen konnte, hatten sich die Streithähne bereits wieder getrennt. Er spazierte um einige Zelte herum, blieb stehen, lauschte und vernahm die bekannte Stimme, aber wesentlich leiser, als würde sie Jemanden trösten. Sirjhana folgte ihr.

Hinter einem Zelt entdeckte er Raolo und Dhiri. Das Mädchen saß zusammengekauert auf dem Boden, Raolo über sie gebeugt und redete beruhigend auf sie ein.

»Was ist hier los?«, wollte er wissen.

Die Köpfe der beiden flogen herum. Erschrockene Gesichter blickten ihm entgegen. Sirjhana trat näher und musste entsetzt den Atem anhalten. Dhiris Gesicht war aufgeschwollen, ihre linke Wange rot und aufgeschürft, ihre Lippen dick und blutig. Er beugte sich zu ihr nieder und strich ihr behutsam über den Kopf.

»Was ist mit dir geschehen?«, fragte er und betrachtete auch Raolo.

»Das war Jamosta«, erklärte Raolo scharf und fuhr herum, als auch noch Sandre und Dugan auftauchten.

»Warum hat er das getan?«, wollte Sirjhana wissen und musste seinen Zorn unter Kontrolle halten.

»Weil sie etwas für dich und Sandre arrangierte, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen«, erklärte Raolo, nicht ohne gewissen Groll.

Sirjhana starrte ihn fassungslos an. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Ich werde wohl mit ihm reden müssen«, knurrte Sirjhana ärgerlich und betrachtete das aufgelöste Mädchen zu seinen Füssen.

»Das kannst du dir sparen«, gab Raolo knapp von sich. »Ich nahm sie in deinen Namen zurück.«

Sirjhana starrte ihn erneut an. »Du hast was?«, rief er entsetzt.

»Er hätte sie umgebracht, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre«, verteidigte sich Raolo.

»Das berechtigt dich noch lange nicht, ohne mein Wissen in meinem Namen zu handeln«, war Sirjhana aufgebracht.

»Du hattest ebenso nicht das Recht, sie einfach so zu verschenken«, hielt Raolo dagegen.

»Was heißt, einfach so zu verschenken. Das war eine ausgemachte Sache.«

»Nichts war ausgemacht«, rief Raolo entrüstet. »Du erkanntest doch nur die günstige Gelegenheit, sie loswerden, um dich um anderes zu kümmern.« Bei diesen Worten warf er Sandre einen äußerst missmutigen Blick zu. »Dir war dazu doch jedes Mittel recht. Ich finde es nur äußerst unfair, es auf Kosten von Unschuldigen auszutragen.«

»Was soll das?«, maulte Sirjhana. »Seit wann fällst du mir in den Rücken?«

»Seit du dich nicht anders benimmst, als deine Kreisverwandten«, schrie Raolo. Er war beinahe außer sich vor Wut. Niemand vermochte zu wissen, was den sonst so gefassten jungen Mann, derart in Rage versetzt haben könnte. »Eine solche Behandlung hat Dhiri nicht verdient. Und schon gar nicht von dir.« Er beugte sich wieder zu dem Mädchen hinunter, doch Sirjhana packte ihn an der Schulter und zog ihn unsanft wieder hoch.

»Was ist eigentlich los mit dir?«, rief Sirjhana zornig. »Seit wann geht es dich etwas an, was ich mit meinem Mündel mache?«

Raolo riss sich los. »Ich kann es nun mal nicht ausstehen, wenn man ein hilfloses Wesen, wie ein Stück Vieh verschachert«, zischte Raolo wütend.

»Ich wollte sie nie haben und ich will sie auch jetzt nicht«, maulte Sirjhana lautstark. »Warum sollte ich sie dann nicht hergeben, wenn mir die Möglichkeit dazu gegeben wird?«

»Was würdest du sagen, wenn ich dasselbe mit Sandre mache?«, rief Raolo und sah ihn herausfordernd an.

Sirjhana öffnete den Mund, um ihm die Antwort ins Gesicht zu schmettern. Doch plötzlich schloss er ihn wieder. Er starrte seinen Freund stumm an, dann holte er aus und versetzte ihm einen harten Kinnhaken. Bevor dieser jedoch das Gleichgewicht gänzlich verlieren konnte, hatten sich Menahems Hände in den Stoff seiner Kleidung gekrallt und ihn wieder zurückgezogen.

Sandre und Dugan sprangen schnell herbei, aber nur um Dhiri in Sicherheit zu bringen. Wenn sich die Zwei tatsächlich prügeln sollten, musste sie unwillkürlich in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie hüteten sich jedoch davor, die beiden Freunde zu trennen.

»Was soll das?«, brüllte Sirjhana und packte ihn fester, sodass Raolos Gesicht nahe vor dem seinen war. »Ich dachte, du wärst mein Freund. Wie lange hattest du gedacht, kannst du dieses Spiel mit mir spielen?« Er schüttelte ihn vor und zurück.

Raolo versuchte sich zu befreien.

»Hatten wir nicht ausgemacht, immer ehrlich zueinander zu sein?«, brüllte Sirjhana, beinahe außer sich vor Zorn. »Warum kannst du nicht den Mund aufmachen und mich darum bitten? Du hast doch sonst immer eine so große Klappe.« Er stieß Raolo verächtlich von sich. »Du hast sie zurückgenommen. Also wirst du dich auch in Zukunft um sie kümmern. Sie gehört dir«, betonte er noch zusätzlich. Nach einem tiefen Atemzug, fuhr er um einiges leiser fort. »Du hättest das wesentlich einfacher haben können. Mussten wir uns denn erst an die Kehle gehen?« Er zog Raolo zu sich heran und plötzlich schienen sie wieder die besten Freunde zu sein. Sie umarmten sich. Als sie sich trennten, hielt Sirjhana ihn fest. »Warum sagst du denn nichts?«, rief er vorwurfsvoll. »Ich kann meine Augen doch nicht überall haben. Ein Wort hätte genügt.« Dann zog er Raolo wieder zu sich und legte seinen Arm um ihn.

Raolos Blick war skeptisch. Er schien dem Frieden nicht so Recht zu trauen.

»Ich machte mir tatsächlich schon ernsthafte Sorgen um dich«, lachte Sirjhana kurz auf. »Weil du dich für gar nichts interessieren konntest.«

»Warum hast du mich nicht nach dem Grund gefragt?«, gab Raolo verärgert zurück.

Sirjhana nahm einen tiefen Atemzug. Er suchte kurz nach Sandre und warf ihr ein Lächeln zu.

»Verpass mir einen Ohrfeige, oder verprügele mich«, rief Sirjhana. »Ich werde mich nicht wehren.« Er breitete seine Arme aus, zum Zeichen, dass er sein Versprechen hielt. »Das Herzeleid seines besten Freundes nicht zu erkennen und ihn derart zu verletzen, verdient eine harte Strafe.«

Raolo musste schmunzeln, holte aber aus und gab den Kinnhaken zurück. »Damit wären wir quitt«, grinste er und half seinem Freund wieder auf die Beine.

Sie umarmten sich erneut und damit waren alle Zwistigkeiten beiseite gelegt.

»Bitte entschuldige, Dhiri«, meinte es Sirjhana aufrichtig und strich sanft über ihr geschundenes Gesicht. Er küsste sie auf die Stirn und wischte ihre Tränen fort. Sie schluckte und warf sich ihm entgegen. Zitternd krallten sich ihre Finger in den Stoff seiner Kleidung. »Tut mir leid«, sagte er leise und hielt sie im Arm, solange sie wollte. »Ich hoffe, ich kann das irgendwie wieder gutmachen. Ich hätte wissen müssen, dass es Ärger gibt. Du bist es eben nicht gewohnt, für jeden Schritt um Erlaubnis zu fragen.« Er strich liebevoll über ihren Kopf. Dann hob er sanft ihr Kinn hoch. »Bist du damit einverstanden, wenn sich ab sofort Raolo um dich kümmert?«, fragte er vorsichtig.

Dhiri nickte und schluckte den Rest ihrer Tränen tapfer hinunter.

»Soll er sich mit dir herumärgern«, grinste Sirjhana. »Und deine erdrückende Fürsorge ertragen.«

Dhiri versuchte zu lachen, doch ihre aufgeschlagenen Lippen bestraften sie augenblicklich mit Schmerz. Sie verstummte und musste erneut gegen Tränen ankämpfen. Sirjhana zog sie vom Boden hoch und übergab sie Raolo. Von nun an, musste er sich um sie sorgen.

»Mach es besser als ich, mein Freund«, riet er. »Und ich warne dich, wenn ich sie nicht bald wieder lachen höre, bekommst du mit mir Ärger.«

Damit ließ er die Beiden allein, hakte sich bei Sandre und Dugan ein und verschwand zwischen den Zelten.

Er stellte sie seinem Vater vor, den Sandre auf dem ersten Eindruck und trotz aller Gerüchte, irgendwie sympathisch aber streng und gerecht fand. Bereits nach einigen Minuten war deutlich zu erkennen, dass er sich nicht ganz mit dem jetzigen Leben seines Sohnes einverstanden erklärte, dessen Willen jedoch billigte. Dass Sandre noch einen Bruder aufweisen konnte, schien ihm sehr wichtig zu sein.

 

Sandre durfte von nun an im Team mitspielen. Zwar nur als Ersatz, falls einer der Sieben den Kreis unfreiwillig verlassen musste, aber sie war dabei.

Sie hatte ihre eigentlichen Pläne, was die Rache am Mord ihres Vaters anbelangte, bereits aufgegeben und vergessen, als sie einmal für einen ausgeschiedenen Teamkollegen in den Kreis gehen musste. In einer passenden Gelegenheit, führte sie eine Kombination von Schritten, Hieben, Bewegungen und Tritten aus, die ihr Vater erfunden und ihr beigebracht hatte. Diese Kombination ließ dem Gegner beinahe keine Chance mehr zu handeln und bedeutete für ihn das Aus. Nur ein Einziger hatte es bisher geschafft, diese Kombination zu durchbrechen und umzuwandeln, was ihrem Vater das Leben gekostet hatte - Sirjhana Menahem.

Als Sandre diese Schritt- und Hiebfolge ausführte, stutzte Menahem, der sie aus Sorge stets im Auge behalten hatte. Er hielt inne und beobachtete sie. Sein Gesichtsausdruck gefror mit jedem Schlag, den Sandre ausführte. Und als sie ihren Gegner mit dem letzten gekonnten Schlag, dieser ihm merkwürdig bekannt vorkommenden Kombination, hinter die Linie beförderte, fiel es ihm wieder ein. Entsetzt beobachtete er die junge Frau, die nun schwer atmend und mit einem triumphierenden Lächeln ihrem Gegner hinterher blickte. Sirjhana musste sich mit Gewalt von ihr losreisen und dem Kampf widmen.

Doch bereits, als der letzte des gegnerischen Teams den Kreis verlassen musste und sie eigentlich in Siegestaumel verfallen sollen, kam er energisch und mit mürrischem Gesicht auf sie zu.

»Woher hast du das?«, fragte er fordernd.

»Was?«, lächelte sie und wusste nicht, wovon er sprach. Sein starrer Gesichtsausdruck, ließ ihr Lächeln verschwinden.

»Diese Kombination«, rief er ihr in Erinnerung und machte die ersten Hiebe nach.

Sandre fühlte sich ertappt und drehte sich abrupt um.

»Woher hast du das?«, wiederholte er erneut.

»Weiß nicht«, zuckte sie mit den Schultern. »Irgendwo abgeschaut.«

»Das war zu perfekt, um von irgendwo abgeschaut zu sein«, ließ sich Sirjhana nicht irreführen und drehte sie an den Schultern wieder herum. »Für mich sah es eher aus, wie lang eingeübt. Jemand brachte dir das bei.«

»Und wenn schon«, wich sie aus. Doch plötzlich fand sie es für richtiger, es ihm endlich zu sagen. »Mein Vater«, gestand sie.

»Und woher hatte es dein Vater?«, wollte er wissen.

»Von niemandem«, erwiderte sie und musste noch etwas Mut aufbringen, um weiterreden zu können. »Er erfand es. Diese Kombination beherrschten nur er und ich.«

Sirjhana starrte sie wortlos an.

»Du bist Korporades‹ Tochter«, wollte er bestätigt haben, als er sich endlich wieder gefasst hatte.

Sie nickte und war überrascht, dass er sich noch an den Namen erinnern konnte. »Ich wollte es dir eigentlich niemals sagen«, begann sie vorsichtig. »Ich wollte keine Schuldgefühle hervorrufen und auch kein Mitleid haben.«

»Schuldgefühle? Mitleid?«, rief Sirjhana aufgebracht. »Du schleichst dich unter falschem Namen bei mir ein und bringst andere dazu, für dich zu lügen. Womöglich hattest du auch noch vor, dich bei günstiger Gelegenheit zu rächen, wenn ich dir den Rücken zu kehre, oder eingeschlafen bin?«

»Ich hatte vor mich zu rächen«, gestand sie. »Aber im Kreidekreis und bei einem fairen Kampf. Ich hatte vor, es mit dir ebenso zu machen, wie du damals mit meinem Vater. Aber ich ... .«

»Du meinst, du wolltest mich umbringen?«, schlussfolgerte er und machte einen Schritt rückwärts, als hätte er durch diese Schlussfolgerung plötzlich Angst vor ihr bekommen.

»Ich will ... .« begann sie, kam jedoch nicht weit.

»Du brauchst nichts weiter zu sagen«, unterbrach er sofort und machte einen weiteren Schritt rückwärts. »Es geschah in einem fairen Kampf, Mann gegen Mann. Eigentlich war er selbst schuld daran. Mir blieb keine andere Möglichkeit mehr.« Wieso er sich plötzlich dafür rechtfertigte, wusste er selbst nicht. Er räusperte, als er es bemerkte. »Ich habe weder Mitleid, noch fühle ich mich schuldig«, rief er aufgebracht. Dass ihn die Schuldgefühle, all die Zeit verfolgt und gequält hatten, war er nicht bereit zu gestehen.

»Sirjhana«, rief Sandre beinahe panisch, da er sie nicht ausreden lassen wollte. Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Es ist nicht so ... .«

»Nein«, wehrte er sofort wieder ab und wich weiter zurück. »Ich weiß, was du willst. Ich habe deine Absicht erkannt. Es wäre besser, wenn du jetzt verschwindest.«

»Was?«, rief Sandre entsetzt. »Aber ... Ich ... .« Ihr fielen keine Worte mehr ein, so konnte sie nur noch den Kopf schütteln. Sie konnte Sirjhanas plötzliche Abneigung nicht verstehen und wedelte hilflos mit den Händen.

»Ich kann dich nicht mehr in meine Nähe lassen, ohne damit zu rechnen, irgendwann ein Messer zwischen den Rippen zu spüren.« Er wich weiter zurück. »Das war äußert hinterhältig von dir, Sandre. Ich dachte, du würdest mich lieben. Dabei hattest du nur vor, mein Vertrauen zu erschleichen, um besser an dein Ziel zu kommen.«

»Aber, nein«, schrie Sandre hysterisch.

»Leugnen hilft nicht mehr.« Er ging rückwärts, als sie sich ihm näherte. »Verschwinde«, forderte er barsch, drehte sich um und flüchtete beinahe aus dem Stadion.

»Du widerlicher Bastard«, schrie Sandre, mit Tränen in den Augen und stampfte wütend mit dem Fuß auf. Seine strikte Weigerung, sie auch nur anzuhören, ärgerte sie mehr, als der Rauswurf aus seinem Team und seinem Leben.

Dugan kam mit einem besorgten Gesicht auf sie zu. Doch bevor sie auch ihm Rede und Antwort stehen musste, rannte sie davon.

 

Der Schmerz war größer, als sich Sandre vorgestellt hatte. Ihr fehlte Sirjhana, doch eine Rückkehr würde es nicht mehr geben. Sie kehrte zurück zum Kreidekreis und zwang sich, ihre Ohren vor allem zu verschließen, was sie an die Profispiele, das Team, oder an Menahem selbst erinnerte. Natürlich gelang es ihr nicht. Der Schmerz bohrte sich in ihr Herz und ließ sie nächtelang nicht einschlafen. Es war zu spät für die Erkenntnis, dass sie es ihm früher hätte sagen müssen.

Sandre überlegte lange, als ihre Wege sie einmal zufällig in die Nähe einer Arena führten, in der Menahems Team einen Kampf auszufechten hatte. Sie mischte sich unter die Zuschauer und hoffte unerkannt zu bleiben. Jede Faser in ihrem Körper sehnte sich nach ihm und sie hoffte, wenigstens etwas Erlösung zu bekommen, wenn sie ihn nur ansah.

Als er in die Arena einlief, klopfte Sandres Herz so laut, dass sie glaubte, er würde es dort unten hören. Sie machte sich auf ihrem Sitz ganz klein, behielt ihn aber dennoch im Auge.

Die Luft war kühl, von einem Regenguss aufgefrischt. Sandre fröstelte leicht. Der viele Regen hatte den Boden in einem schwammigen, schmierigen Untergrund verwandelt. Die Kämpfer mussten nicht nur auf ihre Gegner achten, sondern auch noch auf den schlüpfrigen Boden. Die Zuschauer würden heute eher eine Schlammschlacht, als einen harten Kampf sehen. Die Kämpfer hatten erwartungsgemäß gegen zwei Gegner gleichzeitig zu bestehen.

Der Boden erlaubte keine schnellen Reaktionen, Schritte, oder Ausweichmanöver. Sie schlitterten durch den Matsch wie auf Eis. Mit der Zeit waren die Kämpfer nur noch schwerlich auseinander zu halten.

Sandre sprang entsetzt von ihrem Sitz auf, als Einer von ihnen einem Schlag ausweichen wollte, ausrutschte und es ihn dadurch voll im Gesicht traf. Er ging zu Boden, wälzte sich vor Schmerzen im Dreck und war nicht mehr fähig, sich gegen irgend etwas zu wehren. Obwohl, er wie die anderen Kämpfer über und über mit Matsch bedeckt war, wusste Sandre, wen es getroffen hatte. Sie hatte ihn die ganze Zeit niemals aus den Augen gelassen. Außerdem verriet es der schmerzhafte Stich in ihrem Herz.

Als sich Menahem nach einigen Minuten immer noch nicht erhob, rannte Sandre hastig die Stufen der Zuschauertribüne hinunter, sprang über die Absperrung und eilte ihrem ehemaligem Team zu Hilfe. Sie hatte das Spiel aufmerksam mitverfolgt, um zu wissen, dass es schlecht um sie stand, wenn Menahem ausfiele. Es waren bereits zwei Kämpfer ausgeschieden und sie hatten niemanden mehr zum Auswechseln. Sandre überlegte nicht lange, sie handelte.

Ihr Auftauchen hatte bei den Zuschauern und den Aufpassern für Aufregung gesorgt. Einige der Aufpasser eilten ihr nach und versuchten sie daran zu hindern, einzugreifen. Mit wenigen gekonnten Hieben, entledigte sich Sandre den Widerständen. Die Zuschauer buhten laut, klatschten Beifall oder begannen das Für und Wider auszudiskutieren. Sandre kümmerte sich nicht darum. Sie hatte in der kurzen Zeit, in der sie Profispieler war, gelernt, sich nicht an den Zuschauern zu orientieren.

»Zieh ihn raus«, rief sie einem der ausgeschiedenen Teamkollegen zu, der am Rand stand und Menahems Fall mit besorgtem Blick beobachtete. Er war zu beschäftigt, um sich um ihn kümmern zu können. Sandre sprang über die steinerne Linie und warf sich Menahems Gegner entgegen, der den Gefallenen unentwegt mit Hieben und Tritten traktierte. Sie versetzte ihm einen harten Stoß in die Nieren, dass er aufheulte und wütend herum fuhr. Sie musste ihn zumindest solange beschäftigen, bis Menahem in Sicherheit war. Endlich wagte sich jemand in den Kreis und zog Menahem heraus. Eine Blutspur zeigte den Weg an und eine kleine Lache, den Platz wo er gelegen hatte. Sandre zwang sich, nicht hinzusehen und sich nur auf den zwei Kopf größeren Mann zu konzentrieren, der sie erst wütend, dann hämisch grinsend anstarrte. Seine Schläge waren hart und Sandre fand es nach dem ersten Beinahtreffer für besser, ihnen in Zukunft weiter auszuweichen. Die Größten und Stärksten, das waren immer Menahems Gegner gewesen. Während er sich den Favoriten des gegnerischen Teams annahm, sollten die anderen sich um den Rest kümmern. Für Sandre waren stets die Schwächsten übrig geblieben, sofern sie als Ersatzmann überhaupt noch zum Zuge gekommen war. Doch diesmal hatte sie den Stärksten vor sich. Zudem musste sie noch mit bloßen Fäusten kämpfen. Sie besaß keine genieteten Handschuhe. Ihre einzige Waffe, war sie selbst. Und plötzlich wusste sie, wie sie sie einzusetzen hatte.

Sie war eine Frau, und ihr Gegner ein Mann.

Sandre kämpfte wie ein Mann und benahm sich wie eine Frau.

Den Schlägen wich sie mit der geschmeidigen Grazie einer Frau aus und schlug zurück, mit der Wut und Unbarmherzigkeit eines Mannes. Der Riese stutzte bald und schien nicht mehr zu wissen, was er von der Frau vor ihm halten sollte. Ihre Verbissenheit reichte aus, um ihn für einen Moment unsicher zu machen.

Doch lange konnte Sandre dies nicht durchhalten. Dafür genügten ihre Kraftreserven nicht. Raolo stand plötzlich neben ihr und schubste sie beiseite.

»Überlass den mir«, rief er und hieb dem gewaltigen Gegner seine Faust in die Brust, dass diesem die Luft aus dem Körper gedrückt wurde. »Übernimm du den anderen.« Er wies mit dem Kopf, auf seinen bisherigen Gegner, der sich, da Raolo nun zwei Angriffen bestehen musste, auch gleich auf ihn stürzte. Sandre brachte ihn mit gekonnten Schlägen von seinem Vorhaben ab. Mit zwei weiteren Schlägen beförderte sie den überraschten Mann hinter die Linie und stürzte sich auf Dugans Gegner. Auch dieser war, mit gemeinsamer Anstrengung bald außerhalb des Kreises wiederzufinden.

Gemeinsam eilten sie Raolo zu Hilfe, der dieselben Probleme wie Sandre hatte. Die Schläge des Riesen wirkten wie Schmiedehämmer. Von Dreien gleichzeitig angegriffen zu werden, fühlte er sich jedoch in die Enge getrieben und konnte nicht mehr logisch nachdenken, schlug wild um sich und konnte es nicht verhindern, dass ihn ein schneller Schlag von Sandre die Nase brach. Knochen splitterten. Er schrie auf, erwischte gerade noch Raolo, bevor Dugan sein ganzes Körpergewicht einsetzte und ihm in die Knie sprang. Damit war er erledigt.

Zufrieden blickten die Drei auf den vor Schmerz wimmernden Koloss, konnten sich aber noch keine Pause gönnen. Noch war der Kampf nicht gewonnen. Mit dem Ausscheiden des Kolosses und Dugans Gegner, kamen zwei weitere, frisch ausgeruhte Kämpfer in den Kreis.

Sandre und Dugan nahmen sich den Einen vor, Raolo den Anderen und bald gehörte der Sieg ihnen.

 

Keiner aus Menahems Team verspürte das Bedürfnis sich in der Begeisterungswoge der Zuschauer zu suhlen. Sie alle sorgten sich um ihren Teamleiter und Lagerherrn. Sandre war nicht aufzuhalten und selbst Raolo wollte sie nicht daran hindern, obwohl er sie mit kritischem Blick betrachtete.

In einem, dem Team zur Verfügung gestellten Raum, umringt von den bereits Ausgeschiedenen, einigen Heilkundigen und Neugierigen, lag Menahem auf dem Tisch in der Mitte des Raumes. Der Tisch war von vornherein nicht dazu gedacht, Geschirr oder Nahrungsmittel zu tragen. Auf ihm wurden Verletzte versorgt, Notoperationen durchgeführt oder Tote aufgebahrt. Sandre bahnte sich einen Weg durch die Gaffenden und verschaffte sich mit ihren Ellbogen einen Platz am Tisch. Sie erschauderte, als sie vor lauter Blut und Schlamm beinahe nichts mehr von Sirjhana erkennen konnte.

»Was ist mit ihm?«, fragte sie einen der Ärzte.

Mit Schweißperlen auf der Stirn schüttelte dieser den Kopf. Er hatte noch genug damit zu tun, den Blutstrom zu stoppen.

»Er hatte Glück im Unglück«, antwortete einer von Sandres ehemaligen Teamkollegen statt des Arztes. »Das Nasenbein ist gebrochen. Der Knochen ging nur haarscharf am Auge vorbei.«

Sandre erschauderte erneut. Als plötzlich eine Hand nach ihr griff und sie fest packte, überkam sie wieder das gewohnte Gefühl. Sie nahm die Hand, küsste sie und hielt sie fest.

»Du schaffst es«, munterte sie ihn auf. Tränen vermischten die Farben ihres Blickes. »Wir schaffen es.«

 

 

 

 

 

 

E N D E

Impressum

Texte: Ashan Delon
Lektorat: myself
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2016

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