Cover

..

 

Glühwürmchen ...

Ein Schwarm leuchtender Punkte war das Einzige, was in dieser mondlosen Nacht auszumachen war. Kein Baum, kein Strauch. Kein Erdloch, kein Hügel. Keine Sterne, kein Himmel. Nur Schwarz und Tausende von leuchtenden Punkten.

Eine Gruppe von fünfzehn Personen schlich im Schutze dieser stockfinsteren Nacht durch den Wald. Sie stolperten über Steine, Hügel, abgebrochenes Geäst, umgestürzte Bäume, Maulwurfshügel und über ihre eigenen Füße. In Schweigen versunken, stumm vor sich hin betend gingen sie beinahe im Gänsemarsch durch das Gewirr von Baumstämmen und unsichtbaren Hindernissen. Seit Stunden waren sie gelaufen. Müde, gereizt, überspannt und dennoch voller Hoffnung. Sie waren auf dem Weg zu einer den letzten Rettungsanker, einem Sammellager für Flüchtlinge. Jemand hatte sie für teures Geld bis beinahe an den Rand des Waldes geführt und ihnen für einen Aufpreis den weiteren Weg zu diesem versteckten Lager verkauft. Sie hofften, dass die Information richtig war, sonst waren sie verloren.

Auch wenn sie das Lager nicht finden würden, wären sie verloren. Ihrer Existenz beraubt, erniedrigt und gedemütigt, waren sie wie Aussätzige behandelt worden. Ohne Zukunft und ohne Recht auf Leben. Sie waren Ausgestoßene, Seelen auf denen legal herumgetrampelt werden durfte. Vogelfrei und verfolgt.

 

Die Mütter hatten ihren Kindern alkoholisierte Milch zum trinken gegeben, damit sie ruhig schliefen und nicht durch einen Schrei oder einem Laut auf die Flüchtlinge aufmerksam machten. Sie pressten die kleinen Leiber an ihre Brust. Wenn sie es nicht schafften, würde es für ihre kleinen Leben keine Hoffnung mehr geben.

 

Glühwürmchen tanzten um sie herum, als wollten sie eventuellen Wachen auf die Gruppe aufmerksam machen. Selbst die Natur war gegen sie.

Jemand stolperte über einen Ast und stürzte. Es gab einen leisen Knacks. Die Gruppe erstarrte in Bewegungslosigkeit. Die Mütter zitterten und pressten ihre Kinder fester an sich. Die Männer lauschten aufmerksam in alle Richtungen. Als lange nur die gewohnten Geräusche des Waldes zu hören waren, erhob sich der Gestürzte wieder und der Marsch ging weiter. Schweigend und in mehr oder weniger hoffnungsvolle Gedanken vertieft.

 

Stunden um Stunden ging es durch den stockfinsteren Wald. Die Glühwürmchen hatten es längst aufgegeben, die Flüchtlinge zu umtanzen. Es schien keine Polizei in der Nähe zu sein, die die Flucht der fünfzehn Leute aufhalten konnten.

 

Da - ein vollkommen anderes Geräusch. Die Gruppe erstarrte erneut in Bewegungslosigkeit. Das Geräusch kam langsam näher. Es klang wie das hektische Flattern eines kleinen Vogels. Es wurde plötzlich schnell lauter, bis es schließlich in den Ohren der Flüchtlinge wie das flatternde Schwinden aller Hoffnung klang. Ein Suchhubschrauber der Grenzpolizei. Ein greller Lichtstrahl durchbohrte das Blätterdach. Die Flüchtlinge hielten den Atem an und drückten sich zu Boden. Ein Kleinkind begann zu quengeln. Seine Mutter legte ihren Mantel über das Kind und wiegte es sanft hin und her. Sie konnte die ängstlichen Blicke ihrer Familie auf ihr lasten spüren. Wenn sie erwischt würden, drohte ihnen ein entsetzlicher und grausamer Tod. Von welcher Art, vermochte niemand zu sagen. Die gestrengen Polizeibeamten ließen sich immer fantasievollere Todesarten einfallen.

Naome, die Mutter des Kindes, hatte mit ansehen müssen, wie ihr kleiner Bruder zu Tode gequält wurde. Er war erst Sieben gewesen, als Uniformierte das Haus gestürmt, ihre Eltern an den Dachbalken des Hauses erhängt und sich gütlich an den beiden Kindern ausgelassen hatten. Naome schloss die Augen, als die Erinnerung in ihr aufkeimte. Tränen schossen in ihre Augen. Sie presste ihr Kind an sich. Sie war damals selbst erst Zwölf gewesen.

 

Der Hubschrauber entfernte sich allmählich. Nur zögerlich wagten die Flüchtlinge ein erleichtertes Aufatmen und erst als das flatternde Geräusch längst verklungen war, wagten sie es, weiter zu gehen.

 

Rast gab es keine. Sie mussten das Lager erreichen, ehe der Morgen graute. Sie stachelten sich selbst zu immer größerer Eile an. Durch das Auftauchen des Hubschraubers hatten sie ohnehin schon zu viel Zeit verloren. Eine Rast würde ihr sicherer Tod bedeuten.

Der Anführer der Gruppe hielt an. Sie waren an den Rand des Waldes angelangt. Vor ihnen breitete sich ein zackiger Horizont vor einem schwarz-lila Himmel aus. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne die Oberfläche erhellte. Nun kam der gefährlichste Teil der Strecke. Sie mussten die letzten Kilometer über freies Land gehen. Er winkte seinen Begleitern. Es war keine Zeit zu verlieren. Sie mussten sich beeilen.

 

Der Himmel verfärbte sich immer mehr. Das dunkle Schwarz-violett ging langsam in Schwarz-rot über. Im Zentrum entwickelte sich allmählich das helle Rot der beginnenden Tagesglut. Noch ehe es seine Leuchtkraft auch nur annähernd entfalten konnte, erreichten sie den Fuß des Gebirges. Hinter dem ersten Berg befand sich das Lager, gut versteckt in einer uneinsehbaren Schlucht. Diesen Teil der Strecke würden sie heute nicht mehr schaffen. Sie suchten sich ein Versteck in den zerfurchten und zersplitterten Klüften im Tal vor dem Bergland. Sie harrten aus, schweigend und mit betretenen Gesichtern; hielten sich krampfhaft geduldig im Beobachten der wandernden Sonne. Hunger, Durst und Angst quälten sie. Auf ihrer Reise konnten sie nicht allzu viel Proviant mitnehmen. Einige hatten in der Eile des Aufbruchs noch einige Utensilien einpacken können. Doch das Gepäck der Meisten, bestand aus dem nacktem Leben, die wenigen Kleider auf ihrem Leib und ihre Kinder. Restbestände von Wasser und Lebensmittel wurde kameradschaftlich geteilt. Nur der Blick, ein kurzes Zucken der Augenlider musste als Dank an die Bessergestellten genügen.

 

In der zweiten Nacht zog langsam ein dünner Leuchtbogen über das Gebirge hinweg. Sein Licht war nicht stark genug, um die Welt unter ihm zu erhellen. Die steinige Gegend ließ die Flüchtlinge ein manches Mal stolpern. Es knirschte unter ihren Füssen und sie beeilten sich um so mehr, ihr Ziel zu erreichen.

Endlich tat sich vor ihnen ein schmaler, dunkler Spalt auf. Breit genug um eine Person hindurch schlüpfen zu lassen, nicht jedoch ohne dass die Schultern an den Felswänden streiften. Den Flüchtlingen war von diesem Eingang erzählt worden. Sie schoben sich quer durch und tasteten sich durch die Dunkelheit der engen Schlucht, bis hin zu einer weiteren Öffnung.

 

Eine Gestalt stellte sich ihnen in den Weg. Sie wären auf ihn aufgelaufen, hätte er sich nicht auf sich aufmerksam gemacht.

"Seid willkommen, Freunde", sagte er leise. "Eure Reise ist hier zu Ende."

Die Gruppe hielt ehrfürchtig an und vergaß vor Schreck zu atmen.

"Woher kommt ihr?", wollte die Stimme aus dem Dunkeln wissen.

"Aus Port Manjues", antwortete der Erste. "Wir sind gekommen, um den Zug in das Land des Lebens anzutreten."

Die Stimme schwieg für einen Moment. Dann kamen knirschende Schritte näher.

"Ihr seid hier in Sicherheit", entgegnete der Schatten. Das Losungswort war gefallen. Er wusste nun, wer die Ruhe der versteckten Schlucht störte. Dem Ersten legte er eine besänftigende Hand auf die Schultern. "Kommt nur näher, ruht euch aus und erholt euch für den letzten Teil eurer Reise." Er zog den Mann sanft mit sich und führte ihn tiefer in die schwarze Schlucht. Sie kamen schließlich in eine große Halle, in der bereits Flüchtlinge auf den rettenden Zug warteten. In großen Gruppen saßen sie um kümmerliche Lagerfeuer herum, unterhielten sich gedämpft, schliefen in der Nähe des Feuers, oder saßen nur stumm vor sich ins Leere starrend auf dem Boden. Als sich die Neuankömmlinge umsahen, erkannten sie, dass in den dunklen Nischen entlang der Wände der Halle noch weitere Flüchtlinge aufhielten, in Gruppen zusammengerottet, eng aneinander gekuschelt, in Decken und dicke Mäntel gehüllt oder einfach an den nackten Stein gelehnt.

"Hier ist noch ein kleines Plätzchen", sagte der Mann und deutete auf eine freie Stelle, zwischen all den neugierig aufblickenden Menschen. "Ich bin Norman", stellte er sich vor und setzte ein freundliches Lächeln auf, das im flackernden Licht der Lagerfeuer bedrohlicher aussah, als es wirken sollte. "Ruht euch erst einmal aus. Wenn ihr etwas brauchen sollt, ruft nach mir." Damit nickte er ihnen zu und ging davon. Er hatte nicht danach gefragt, was die Neuankömmlinge bewogen hatte, den gefährlichen Weg auf sich zu nehmen. Vermutlich würde ihre Geschichte dieselbe sein, die auch all die anderen Reisenden zu erzählen hatten. Politflüchtlinge, die wegen ihrer Abstammung verfolgt, gejagt und wie Beutevieh rücksichtslos dahin gemetzelt wurden.

 

Die Gruppe setzte sich ebenfalls eng aneinander gekuschelt in die Nische und versank bald in einen unruhigen, aber erholsamen Schlaf.

 

Norman spazierte langsam durch die Halle, stieg vorsichtig über Schlafende hinweg, nickte einigen beruhigend zu und gesellte sich bald zu einer Gruppe von Männern, die ebenfalls halb schlafend, halb vor sich hin sinnierend, nahe am Eingang saßen und von ihm nur wenig Notiz nahmen.

"Fünfzehn weitere", schnaufte Norman und ließ sich auf einen mit einer zusammengefalteten Decke gepolsterten Stein nieder.

"Carry wird das nicht gefallen", kam die müde Antwort.

"Kann ich etwas daran ändern?", maulte Norman und warf ihm einen gereizten Blick zu. "Ich weiß selbst, dass es längst zu viele sind. Aber der Grund liegt nicht bei mir, sondern bei der derzeitig verdammten politischen Lage."

"Bleib cool", ermahnte ihn eine Stimme an seiner Schulter. "Vielleicht fällt uns noch etwas ein. Solange noch genügend Proviant da ist, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen."

"Apropos Proviant", rief Norman leise. "Schon ein Zeichen von Carry?"

Jemand schüttelte den Kopf.

"Er lässt sich diesmal verdammt viel Zeit", knurrte Norman und lehnte sich an die kalte Felswand.

"Es kann auf dem Weg soviel passieren", bemerkte eine Stimme aus dem Schatten einer Nische. "Der Weg ist nicht ungefährlich."

"Das ist es, was ich befürchte", schnaufte Norman. "Drei Monate. Solange hat er noch nie gebraucht."

"Er weiß, dass wir hier sicher sind", antwortete es aus dem Schatten. "Sein Part ist wesentlich gefährlicher. Wenn er vorsichtiger sein oder sich verstecken muss und deswegen länger braucht, dürfen wir nicht in Panik ausbrechen."

"Was würdest du sagen, wenn es ihn erwischt hat?", fragte Norman und suchte das Gesicht im Schatten. "Er redet vielleicht. Und ..."

"Heutzutage ist nichts mehr ohne Risiko", gab die Stimme unbeeindruckt von sich. "Carry weiß das ebenfalls, wie wir, oder die Leute da." Es kam Regung in den Schatten. Ein Gesicht zeigte sich dem schwachen Licht eines nahen Lagerfeuers. Es war Merix, ein schwer zu beunruhigender Muskelprotz, dessen Lieblingsbeschäftigung es war, unentwegt seine mitgebrachten Handeln zu stemmen. Auch jetzt hatte er einer dieser Dinger in der Hand. Norman hatte ihn aber nicht nur seiner Unerschrockenheit wegen hierher mitgenommen, sondern weil er zudem auch noch ein ausgezeichneter Schütze war. "Soll deine Panik vielleicht bedeuten, dass du dir um den Kerl Sorgen machst?"

"Nein", sagte Norman schnell. "Nicht um ihn. Carry kommt selbst klar. Ich mache mir um die Leute Sorgen. Es kommen beinahe täglich weitere Flüchtlinge. Es wird immer schlimmer. Und wenn das so weiter geht, müssen wir uns bald etwas einfallen lassen."

"Wie meinst du das?" Mehrere Gesichter blickten ihn fragend an.

"Der rege Zustrom von neuen Flüchtlingen könnte die Grenzpolizei auf uns aufmerksam machen. Es braucht nur einer von ihnen unvorsichtig zu sein und unser kleines Unternehmen platzt."

Schweigen kehrte in die Runde ein.

"Es ging jahrelang gut", sagte endlich einer. "Warum sollte jetzt auf einmal etwas passieren?"

"Ich weiß nicht. Ich habe irgend wie ein ungutes Gefühl. Vielleicht ging es zu lange zu gut." Es betrachtete seine treuen Mitarbeiter, dann lehnte er sich wieder zurück, schloss die Augen und versuchte nicht mehr daran zu denken. Er durfte sich nicht so viele Sorgen machen. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Flüchtlinge außer Landes, in Sicherheit zu bringen. Wenn er nun begann, sich über irgend etwas Sorgen zu machen, brauchte er gar nicht erst weiter zu machen.

 

"He, Norman", riss ihn eine bekannte Stimme aus seinem Dämmerschlaf. "Er ist da."

"Wer?", fragte Norman müde und unterdrückte ein Gähnen.

"Carry", kam die Antwort.

Sofort war Norman hellwach, sprang auf die Beine und eilte quer durch die Halle, zu einem schmalen Spalt am anderen Ende der Höhle, an dessen Ende eine weitere Höhle war, die ein Ungetüm von Großlaster, mit mannshohen wulstigen Reifen und einem Aufbau, der beinahe ein halbes Haus beherbergte, aufnehmen konnte. Der Ausgang, durch den der Laster kam, war bereits wieder mit einer künstlichen Mauer aus Holz und gemörtelten Steinen verschlossen.

"Hi, Carry!", rief Norman und trat einen Mann entgegen, der eben im Begriff war, von diesem Ungetüm zu klettern. "Was ist geschehen? Du hast ziemlich lange gebraucht?"

"Es wird immer schwieriger geeignete Behälter zu finden", kam die Antwort. Den letzten Meter sprang er einfach zu Boden. Er wischte sich über das Gesicht und hielt Norman die Hand hin. Von der langen Fahrt staubig, verschwitzt und übermüdet, lächelte er ihn an.

"Ich dachte schon, Grenzpolizisten haben dich aufgehalten", lachte Norman, sichtlich erleichtert, dass der Zug in das Land des Lebens endlich angekommen war.

"Hat nicht viel gefehlt", erwiderte Carry. "An einigen Stellen haben sie bereits begonnen stählerne Mauern zu errichten. Ich musste mir eine andere Route aussuchen."

"Sollte uns das Sorgen bereiten?"

"Irgend wie schon", nickte Carry. "Wenn die Stahlmauer fertig ist, wird nicht einmal meine Karre durch sie hindurch brechen können. Dann kann uns nur noch ein Flieger helfen." Er machte eine Bewegung, die auf ein gleitendes Flugzeug hindeutete.

Norman betrachtete das Ungetüm von Transportgerät. Der Motorblock war durch ein grobes Netz von dicken Stahlrohren weitgehend sicher untergebracht. Doch würde das Gitter auch den Aufprall auf eine sture Stahlwand aushalten können? Norman seufzte. Irgendwie hatte sein ungutes Gefühl Recht gehabt. Es kam etwas Übles auf sie zu. Wenn die Grenzen unpassierbar waren, starb sein kleines Unternehmen, oder er musste einen anderen Weg suchen, die Leute außer Landes zu bringen. Vielleicht musste Carrys Vorschlag ernster genommen werden, als es gedacht war.

 

Carry klopfte ihm auf die Schulter.

"Noch gibt es noch genügend Schleichwege", beruhigte er ihn. "Man kann nicht auf alles eine Stahlmauer stellen." Er zog ihn mit sich, durch den schmalen Spalt in die andere Höhle. Nur kurz stutzte er, als er die Flüchtlinge sah. "Wie viele sind das?", wollte er wissen.

"Dreiundsiebzig", erwiderte Norman und hielt die Luft an.

Carry sah sich kurz um und seufzte traurig.

"Suche dir die hübschesten Fünfzig aus", sagte er schließlich und wand sich um.

"Das geht nicht", rief ihm Norman hinterher. Er beeilte sich, den kleinen Abstand aufzuholen und sich an dessen Seite zu gesellen. "Wir können nicht einen zurücklassen."

"He, was soll das", rief Carry leicht gereizt. "Gibt es nicht eine klare Abmachung zwischen uns; nicht mehr als Fünfzig?"

"Das schon, aber ..." Norman zuckte mit den Schultern. "Kannst du diesmal nicht eine Ausnahme machen?"

"Kann ich nicht", blieb Carry hartnäckig.

"Sieh dir die Leute an. Ich kann keine Auswahl unter ihnen treffen."

"Fünfzig, und keine Nase mehr", sagte Carry streng.

"Aber ... Carry", rief Norman verzweifelt. "Wenn du wiederkommst, werden es vielleicht wieder so viele sein."

"Das ist nicht mein Problem."

"Was bist du nur für ein kaltes Stück Herz", schnauzte Norman wütend.

"Hör mir gut zu", schnauzte Carry zurück und tippte ihn hart auf die Brust. "Ich bin seit über dreißig Stunden auf den Beinen, halte mich nur mit Aufputschmitteln und literweise Kaffee wach, damit ich überhaupt hierher kommen kann. Alles was ich jetzt noch will, ist eine Mütze voll Schlaf, dann eine kalte Dusche und eine anständige Mahlzeit. Bis dahin haben deine Leute gefälligst meine Karre abgeladen und bis dahin hast du hoffentlich deine fünfzig Glückspilze ausgesucht." Er tippte ihm noch einmal hart auf die Brust, wirbelte herum und spazierte davon.

"Carry", rief Norman ihm hinterher.

Der Fahrer hob die Arme. "Diskussion auf später vertagt", kam es zurück. Damit tauchte er in den Schatten einer Nische und verschwand für die nächsten Stunden darin.

 

Norman zuckte ratlos mit den Schultern und dachte tatsächlich darüber nach, wie er seine Auswahl am Günstigsten traf. Als er auf einen halb mannshohen Felsen in der Mitte der Höhle kletterte und durch die Zähne pfiff, um die Aufmerksamkeit seiner Gäste auf sich zu lenken, hatte er bereits einen Entschluss gefasst.

 

Nach über zehn Stunden tauchte der Fahrer des Lasterungetüms wieder aus seiner Nische auf. Inzwischen war die Sonne wieder allmählich am Untergehen.

Was in der Dunkelheit nicht zu sehen gewesen war, offenbarte das Tageslicht. Die Höhle entpuppte sich als gewaltiger Felsüberhang, die in einer Höhe von ungefähr zwanzig Meter, nur knapp einen Meter von der nächsten Schluchtwand entfernt, steil in die Höhe ragte. Die verbliebene Öffnung war mit einem großporigen Geflecht aus trockenen Blättern, Ästen und Stroh überspannt und mit Zement, Sand und Gesteinsbrocken getarnt worden, so dass es von außen wie ein massiver Fels erscheinen musste. Die Öffnung diente als Abzug. Das Geflecht sorgte dafür, dass der Rauch nur gefiltert und unsichtbar nach außen drang.

Carry blieb unter der Öffnung stehen und hob den Kopf. Nur vereinzelt konnte die Sonne durch das Geflecht dringen und die Höhle mit ihrem Licht erhellen. Es herrschte ein dämmriges Lichtverhältnis. Am Tage war es verboten, ein Feuer anzuzünden. Das würde für ihn bedeuten, dass er nichts mehr Warmes zu Essen bekäme. Er schnaufte und ließ seinen Blick über die Leute schweifen. Die Blicke und die Gesichter der Menschen ließen ihm eine Vermutung aufkommen.

 

Norman kam eben aus dem Spalt zu seiner Parkgarage und stieg über zwei mit Steinen spielende Kinder.

"Du hast es ihnen bereits erzählt?", empfing ihn Carry.

Norman zögerte zu nicken.

"Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?", fragte er vorsichtig.

"Nein", blieb der Andere hartnäckig. "Jede Person mehr, die Kleinkinder nicht mitgerechnet, würde einen Verlust der Leistung meiner Karre bedeuten. Fünfzig sind ohnehin schon hart an der Grenze. Ich muss über das Mon-Gebirge fahren. Mit einer größeren Last wäre ich vor allem Bergauf zu langsam und könnte den Patrouillen dann vielleicht nicht mehr entkommen."

Norman schnaufte traurig.

"Der Motor ist bereits auf maximale Leistung hochgetunt. Mehr geht nicht." Carry zuckte mit den Schultern. "Es tut mir leid. Auch wenn ich könnte. Es wäre nur ein unnötiges Risiko mir, dir und den Leuten gegenüber. Wenn ich es schon auf mich nehme, dann will ich die Leute auch heil drüben wieder absetzen."

Mit einem betroffenen Blick beobachtete er die beiden Kinder. Das Schicksal seiner Schützlinge ging ihm wie nie zuvor, so sehr ans Herz. Es schmerzte ihm, einigen erzählen zu müssen, dass sie bis zum nächsten Mal warten mussten.

"Was ist, wenn du wieder solange brauchst, um zurückzukehren?", wollte er wissen. "Es kommen beinahe täglich mehr Flüchtlinge. Es sind bis zu deiner Rückkehr sicherlich genauso viele."

"Hör zu. Ich mache dir einen Vorschlag", begann Carry und setzte sich auf ein Wasserfass. "Ich habe bei den letzten Fuhren genügend Proviant für die nächste Zeit mitgebracht. Wenn du willst, komme ich diesmal leer zurück. Das bedeutet, dass ich in drei oder vier Wochen wieder hier sein kann. Die Leerfahrt kostet dich aber genauso viel wie eine Normale, damit das klargestellt ist."

Norman blickte ihn hoffnungsvoll an.

"Abgemacht", ließ er sich vielleicht viel zu schnell darauf ein. Die Flüchtlinge mussten für ihren Aufenthalt und den Transport bezahlen. Proviant, Kleidung, Decken, Brennholz und Benzin mussten schließlich finanziert werden. Sonst könnte er die ganze Aktion gar nicht erst stattfinden lassen. Die betuchteren Flüchtlinge gaben freiwillig mehr, als sie geben müssten, nur um in das versprochene Land des Lebens gebracht zu werden. Bei den vollkommen Mittellosen, die nur das was sie auf dem Leib trugen - meist Lumpen - mitbrachten, drückte Norman gerne schon beide Augen zu und lud sie ohne Tickets auf den Laster. "Abgemacht", wiederholte er, diesmal entschlossener.

"Okay", nickte Carry. "Ist die Karre abgeladen?"

Norman nickte.

"Dann kann der Zug heute Nacht wieder abfahren." Carry setzte ein unbekümmertes Lächeln auf. "Gibt es hier vielleicht etwas zu Essen?"

Norman führte ihn in die Ecke, die dem Personal des kleinen Unternehmens vorgehalten war. Auf einer abgedeckten Feuerstelle kokelte eine langsam sterbende Glut vor sich hin und hielt den Topf mit seiner Restwärme, in seiner Mitte, noch annähernd heiß.

 

Die zuletzt eingetroffene Gruppe aus fünfzehn Mitglieder einer zersplitterten Familie hatte die Unterhaltung der beiden Männer und die Gespräche der Anderen längst mitbekommen. Sie blieben in ihrer Nische sitzen, als sich eine Traube von fünfzig Menschen durch das felsige Nadelöhr zwängte. Auf der anderen Seite lockte der Geruch von Freiheit und Weiterleben. Er lockte auch sie, doch sie blieben sitzen. Denn sie wussten, dass sie zurückgeschickt wurden und der Zug ohne sie abfahren würde. Bald dröhnten die starken Motoren der Zugmaschine durch die Spalte. Der Boden bebte ehrfürchtig auf. Mit dem Verklingen des Dröhnens schwanden auch die Sehnsüchte der Zurückgebliebenen. Sie mussten auf den nächsten Zug warten und ihre Träume noch einige Zeit warten lassen.

 

Nachdem es wieder still geworden und Normans Personal wieder auf ihre Plätze zurückgekehrt war, öffnete Naome ihre Bluse und gab ihrem Baby zu trinken. Sie lehnte ihren Kopf an das kalte Gestein, schloss die Augen und spürte das gierige Saugen ihres Sohnes im Inneren ihrer Brust. Lange hatte sie sich einzureden versucht, dass der Kleine nicht ihr Kind war. Er war kein Kind der Liebe, sondern das Ergebnis einer Vergewaltigung. Doch Naome hatte gelernt, den Jungen als Ersatz für ihren Bruder anzusehen. Und mit der Zeit konnte sie sogar ein Verhältnis zarter geschwisterlicher Liebe zwischen ihnen beiden aufbauen. Als Mutter fühlte sie sich trotz allem nicht.

An ihrer Seite hustete ihre Tante Mae. Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre die unter Schock stehende Zwölfjährige vielleicht qualvoll verhungert.

Dankbar bewegte sie sich und streichelte mit ihrem Unterarm über die Schulter der Frau. Sie verdankte ihr soviel. Auch, dass sie ihren kleinen Bruder nach zehn Jahren endlich wieder in die Arme schließen konnte. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte Naome ihn sofort nach der Geburt umgebracht.

 

Das Dröhnen des PS-starken Motors riss alle aus dem Schlaf. Die lange Wartezeit war vorbei; der Zug zurückgekehrt, um die Nächsten abzuholen.

Norman freute sich, dass Carry Wort gehalten und nach dreieinhalb Wochen zurückkam. Sein Laster war nur mit drei Fässern beladen. Ansonsten war die große Ladefläche leer. Doch seine Freude wurde schnell getrübt. Das Ungetüm erweckte den Anschein, als hätte es eine Schlacht mit einem riesigen Drachen ausgefochten. Die Frontscheibe war bis auf ein kleines Guckloch rußgeschwärzt; die Stahlverstrebung an der Vorderseite stark eingedrückt. Kratzer, Schrammen, tiefer Beulen und Brandschäden waren am ganzen Gefährt auszumachen.

 

"Was ist passiert?", wollte Norman besorgt wissen.

Carry kletterte aus dem Führerhaus und sprang entgegen der gewohnten Weise, diesmal nicht den letzten Meter zu Boden. Mühsam stieg er auch die letzten Stufen hinunter. Er wirkte müde und überspannt.

"Was ist passiert? wiederholte Norman und betrachtete den Fahrer und seinen demolierten Wagen.

"Wie gut sind deine Mechaniker?", fragte Carry, statt eine Antwort auf Normans Frage zu geben.

"Warum?"

"Ich hatte eine unglückliche Auseinandersetzung mit einer neuen Art von Schlagbaum", erklärte Carry und fuhr sich übermüdet über das Gesicht. Dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet.

"Neuen Art von Schlagbaum?"

"Dieses Mistding lässt Querstreben in die Fahrbahn schnellen, sobald es gewaltsam durchbrochen wird. Die Streben bohrten sich wie ein Dolch durch den Motor."

"Hast du das denn nicht vorher gesehen?"

"Als Leitplankenschikane getarnt, hatte es keinen Verdacht erregt." Carry gähnte unterdrückt. Er fuhr sich erneut über das Gesicht. "Beim nächsten Mal, weiß ich, worauf ich achten muss." Er ließ sich neben dem Metallkoloss auf die Knie sinken und krabbelte unter den Bauch. "Ich schätze, dass hier unten auch etwas daran glauben musste. Die Lenkung fühlte sich jedenfalls ziemlich schwammig an. Kannst du dafür sorgen, dass deine Leute das überprüfen?"

"Aber natürlich", rief Norman und ging in die Knie. Eine kleine Pfütze bildete sich neben einem der mannshohen Wulstreifen. "Was ist das?", fragte er.

Carry kam unter dem Wagen hervor.

"Was?" Er folgte dem Fingerzeig. Zähe Flüssigkeit tropfte von der Ladefläche auf den Boden. Carry sprang auf die Beine, kletterte über die Radmuttern auf die Ladefläche und stieß alsbald einen lauten Fluch aus.

"Was ist los?", rief Norman besorgt.

Statt einer Antwort kam ein Fass über die Kante gerollt. Es zerschellte auf dem Boden und offenbarte den schleimigen Inhalt, der durch die nun stärker geborstene Bruchstelle langsam in den Boden sickerte. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Es roch nach faul und brackig gewordenem Wasser. Angewidert machte Norman einige Schritte rückwärts.

"Was ist das?", wollte er wissen und betrachtete es eingehend. "Wolltest du nicht leer zurückkommen?"

Carry tauchte an der Kante auf.

"Das war die Restlieferung", erklärte er. "Die anderen Fässer sind okay."

"Restlieferung von was?"

"Von Trinkwasser", rief Carry und setzte sich an die Kante. Seine Beine baumelten lose, während er sich mit dem Handrücken über die Stirn fuhr. Sein Gesicht sah irgend wie gequält aus. "Kurz nach Redonkta gibt es einen Passierposten. Die Aussichtstürme sind nicht mit Wachposten besetzt, sondern mit starken Taststrahlern, der die Nebenwirkung besitzt, alles organische in Schlacke zu verwandeln, sofern es sich nicht in einem druckfesten Metallbehälter befindet. Das Fass muss bei der Kollision an der Grenze zu Bruch gegangen sein." Er sah kurz hinter sich und wischte seine schmutzigen Hände an seiner Hose ab. "Deine Leute sollen hier sauber machen, bevor die Passagiere an Bord kommen."

 

Norman nickte und betrachtete das ungenießbare Wasser, das ungewöhnlich langsam und äußerst zähflüssig in den mit Ritzen durchsetzten Boden sickerte. Er bemerkte noch wie Carry vom Wagen stieg, dann sah er in seinen Augenwinkeln nur noch einen Schatten und der Fahrer war verschwunden. Norman fuhr hoch und entdeckte Carry am Boden liegen und sich mühsam wieder hochstemmen. Schnell begab er sich zu ihm und drehte ihn auf den Rücken. Dessen gequältes Gesicht bereitete ihm große Sorgen.

"Was ist los mit dir?", fragte er und wischte den Schweiß von Carrys Stirn. "Bist du krank?"

"Ich habe versprochen so schnell wie möglich wieder hier zu sein", schnaufte der Fahrer erschöpft und versuchte sich wieder auf die Beine zu stellen. Doch er hatte sein Kontingent an Durchhaltevermögen gehörig überzogen. Er war mit seiner Kraft am Ende. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen. "Ich habe mein Versprechen hiermit eingehalten, denn ich bin kein kaltes Stück Herz", maulte er gereizt und stieß den Freund von sich.

Norman betrachtete ihn betroffen. Sein Ausspruch musste ihn arg gekränkt haben. Und in seiner Erschöpfung brachte es der hartgesottene Mann in Carry nicht fertig, dieses Gefühl zu unterdrücken.

"Okay", sagte er und winkte einige Helfer herbei. "Du legst dich erst einmal aufs Ohr. Um den Rest kümmere ich mich schon." Er sah ihnen hinterher und betrachtete Carry gedankenverloren. Er hatte seinen Freund damit stärker getroffen, als es beabsichtigt war. Hinter dessen harter Fassade, schlug ein weiches Herz. Um sich zu rechtfertigen, schien er lange auf den erholsamen Schlaf verzichtet zu haben. Norman seufzte und befahl die Fässer abzuladen und die Ladefläche zu säubern. Er hatte sich hier ein mehr oder weniger lukratives, eher ein sozial engagiertes Unternehmen aufgebaut. Doch der wichtigste Aspekt, wovon letztendlich alles abhing, war der Fahrer. Norman hatte einmal daran gedacht, einen Ersatzfahrer anzuwerben. Doch es würde niemanden geben, der gegen die Regierung arbeitete und für einen verhältnismäßigen Hungerlohn sein Leben in äußerst gefährlichen und waghalsigen Manövern riskierte.

Dass er von Carry abhängig war, wurde ihm erst in diesem Moment vollends bewusst.

Was Carry überhaupt dazu bewog, seinen Kopf für Staatsfeinde hinzuhalten, vermochte er nicht zu sagen. Vielleicht sollte er ihn eines Tages fragen.

 

Norman beobachtete den Fahrer, von dem sein Fluchtunternehmen abhing, während dieser noch tief in seinem Erholungsschlaf schwelgte. Er überlegte sich, ob er ihn besser bezahlen sollte. Doch schließlich kam er auf den Schluss, dass ihm das Geld vollkommen gleichgültig war. Carry hatte sich in seiner Ehre angegriffen gefühlt. Es war ihm wichtig gewesen, seinen Ruf wiederherzustellen. Nicht, einen zusätzlichen Gewinn, durch eine Leerfahrt herauszuschlagen. Er war sich sicher, dass er die Aufbesserung nicht annehmen würde.

Langsam kam Regung in dessen Körper. Er öffnete die Augen, blinzelte in das spärliche Tageslicht und drehte sich zur Seite.

"Guten Morgen", grüßte Norman und verzog seine Mundwinkel.

"Morgen", murmelte Carry zurück und stemmte sich mühsam hoch.

"Wie schlimm ist die Lage an der Grenze wirklich?", wollte Norman wissen und reichte eine Tasse Kaffee rüber, die der Fahrer dankend annahm.

"In der kurzen Zeit sind sie ziemlich vorangekommen", begann Carry, nachdem er die Tasse mit einen Schluck in sich hineingekippt hatte. "Vielleicht sollte ich in Zukunft wirklich den Weg über den Katcho-Pass wählen."

"So schlimm?", sagte Norman und betrachtete ihn.

"Die Stahlmauern reichen inzwischen fast über das ganze Weitland. Sie haben tiefe Schneisen in die Wälder geschlagen, um ihre unüberwindbaren Mauer aufzustellen. Die wenigen Übergänge sind mit hinterlistigen Schlagbäumen bestückt. Grenzübertretungen sind noch über den Katcho-Pass, den Mangoo-Sümpfen und der Grünen See möglich. Du kannst dir denken, dass sie ihre Wachposten von den gut gesicherten Stellen zu den wenigen zu sichernden Plätzen abkommandieren."

"Wie sieht es mit Raketenwerfern aus? Sind die Mauern damit zu zerstören?"

"Ich habe welche gesehen, denen sind ihre Geschosse wieder um die Ohren geflogen", berichtete Carry und fuhr sich über das Gesicht. Er spreizte die Finger und kämmte durch das wirre Haar. Währenddessen ließ er seinen Blick umherschweifen und fing den einer jungen Mutter mit ihrem Säugling ein, die ihn aufmerksam beobachtete. Ihr Gesicht war beinahe teilnahmslos. Es erschreckte ihn ein wenig. Doch er hatte in den letzten Jahren viele solcher Gesichter gesehen, die es nicht einmal glauben konnten, wenn sie leibhaftig auf dem Boden des Landes des Lebens standen. Er schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln und rückte näher an Norman heran.

"Hör mal zu", fuhr er fort. "Mir kamen Gerüchte zu Ohren, dass Patrouillen verstärkt die Gegenden der Mon-Gebirge absuchen. Meine Karre ist zwar nicht groß genug, um ihn auf irgendeinem Scanner erscheinen zu lassen, er hinterlässt aber selbst auf steinigem Boden tiefe Abdrücke. Sie werden irgendwann auf dieses Versteck kommen und ich denke, sie sind dir bereits dicht auf den Versen."

Norman betrachtete ihn ernst.

"Ich meine damit, dass du dich verdrücken solltest, bevor es zu spät ist."

"Was ist mit den Flüchtlingen, die noch kommen werden. Ich kann nicht einfach verschwinden und sie im Stich lassen."

"Du fügst ihnen einen größeren Schaden zu, wenn du dich erwischen lässt. Du bist gegen die Grenzpolizei nur eine kleine Gruppe spielender Kinder. Sie könnten dich mit einem Fingerschnippen auslöschen, wenn sie wüssten, wo dein Unterschlupf ist."

"Es darf ihnen nur niemand verraten."

"Der Zug in das Land des Lebens ist bereits allgemein bekannt. Warum glaubst du wohl, hast du einen so regen Zulauf? Es gibt zu viele, die sich damit eine goldene Nase verdienen. Irgend jemand wird dich verpfeifen und wenn es nur einer saftigen Belohnung wegen ist. Denke darüber nach."

"Glaubst du wirklich, ich habe damit angefangen, ohne mir über die Konsequenzen klar zu werden?", gab Norman ihm zu Bedenken. "Vom Staat erklärte Fremdkörper außer Landes zu schaffen, ohne dass er ein Exempel an ihnen statuieren konnte, ist das größte Verbrechen, dass ich diesem Land antun kann. Wenn sie mich nur an die Wand stellen und fünfzig Schützen auf mich anlegen lassen, ist das noch gnädig geurteilt."

"Du unterschätzt die Angelegenheit etwas", entgegnete Carry und verzog sein Gesicht. "Sie werden die Hunde auf dich hetzen und dich von ihnen bei lebendigem Leib zerreißen lassen."

"Auch das ist mir Recht, wenn ich auch nur ein Leben dadurch retten konnte."

"Du bist unglaublich", rief Carry. "Wie wäre es, wenn du den Standort deines Imperiums lediglich etwas verlagern würdest?"

"Wer würde dann schon erfahren, wo ich zu finden bin?"

"Wenigstens würde es die Grenzpolizei nicht erfahren. Außerdem wird es sich sicherlich ebenso schnell verbreiten, wie der jetzige Standort."

Norman schüttelte den Kopf.

"Ich bleibe hier, solange es möglich ist. Wenn Patrouillen mich entdecken, werde ich versuchen solange wie möglich durchzuhalten."

"Und was ist mit den Flüchtlingen, die noch kommen werden?", gab ihm Carry zu Bedenken. Er erhob sich und ging ein paar Schritte fort. Dann drehte er sich um und kehrte zurück. Er blieb stehen, blickte ihn von oben herab an und presste seine Lippen zu einem schmalen Spalt. "Ich mache ja beinahe jeden Unsinn mit. Aber dies ist reinster Selbstmord. Nicht nur das. Du setzt auch das Leben deiner Freunde und das der Menschen, die hoffnungsvoll auf dich zählen, aufs Spiel. Wenn du und deine Kumpel nicht augenblicklich ihre Sachen packen und die Abfahrt des Zuges heute Nacht verpassen, werde ich dich eigenhändig, in ein handliches Paket verschnürt in eines der Fässer stecken und es auf die Ladefläche schnallen."

"Es ist dir Ernst", bemerkte Norman feststellend und betrachtete ihn eingehend.

"Darauf kannst du einen lassen", schnauzte Carry und setzte sich wieder in sein Nachtlager. "Ich habe Typen gesehen, Typen wie du, die anderen geholfen haben, das Land zu verlassen. Sie sind bis zuletzt geblieben und mussten mit ihrem Leben dafür bezahlen. Okay, es ist gegen das Gesetz. Dieses verdammte Gesetz, das menschliche Wesen zu Abschaum abstempelt. Aber das ist noch lange kein Grund, Fluchthelfer wie dich bei lebendigem Leib mit Benzin zu übergießen und anzuzünden, oder sie in kochendes Wasser zu werfen, nur um einige Beispiele zu nennen. Du sitzt hier in deiner Höhle und hast nicht gesehen, was ich gesehen habe."

"Ist es so schlimm da draußen?", fragte Norman unschuldig.

Carry gab einen verzweifelt ungeduldigen Laut von sich.

"He, Mann. Wo zum Teufel lebst du eigentlich?", rief er. "Da draußen herrschen brutalste Verhältnisse. Frag deine Schützlinge. Du hast sie sicherlich noch nie nach ihren Erfahrungen gefragt. Das ist längst kein Krieg mehr. Das ist grausamste Ausrottung eines Menschenschlages, womit es noch ziemlich milde bezeichnet wäre."

Norman betrachtete ihn eingehend. Er schwieg lange, saß lange nachdenklich dort, betrachtete Carry und zeigte für lange Zeit keine Regung.

"Sag deinen Leuten, sie sollen ihre Habseligkeiten zusammenpacken", befahl Carry streng. "Wie sieht es mit den Reparaturen aus?" Er riss Norman damit aus seinen Gedanken. Sein Kopf fuhr hoch und betrachtete ihn verwirrt.

"Der Motor ist wieder in Ordnung", berichtete er. "Die angeknackste Umlenkstange konnte nur mit Schweißen repariert werden."

"Es muss nur bis über die Grenze reichen", gab Carry von sich. "Nun komm schon. Beweg deinen Hintern." Er stieß Norman, der bereits wieder in seine Gedanken zu versinken drohte, hart an die Schulter. "Du kannst ihnen eher helfen, wenn du am Leben bleibst. Stell dir vor, eine Mutter, wie die hier ..." Er deutete auf die junge Frau mit dem Neugeborenen. "Legt die Zukunft ihres Kindes in deine Hände. Was würde sie denken, wenn du dich opferst. Die Zukunft des Kleinen würde ebenfalls den Bach hinunter gehen."

"Ich wusste nicht, dass du so melancholisch werden kannst", bemerkte Norman und betrachtete die junge Mutter. Ihr Blick war immer noch derselbe. Nichts konnte sie mehr erschrecken und aus ihrem umnachteten Zustand herausholen.

"He", rief Carry. "Wenn dir klar geworden wäre, warum sie Wasser statt Öl verwenden, würdest du ebenfalls versuchen, dich nicht erwischen zu lassen."

"Warum verwenden sie Wasser statt Öl?", wollte Norman unschuldig wissen. Vielleicht wusste er die Antwort selbst. Doch er wollte im Moment nicht darüber nachdenken.

"Öl wird heißer. Dadurch tritt der Tod schneller ein", erklärte Carry mit einem sarkastischen Unterton. "Wasser lässt einem noch genügend Zeit, zu spüren, wie einem die Haut in Schichten abfällt, das Blut gerinnt, das Fleisch langsam taub wird und die Gedärme allmählich aufquellen. Wenn du so etwas gesehen hättest ... !?" Carry schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an dieses Bild ließ ihn manches Mal stundenlang nicht einschlafen oder schreiend aus dem Schlaf schrecken. Er wagte einen kurzen Seitenblick und fing erneut den der Mutter ein. Zum ersten Mal glaubte er in ihrem Gesicht eine Regung zu erkennen. Auch wenn es nur der Schreck über das Mitgehörte war. Er lächelte ihr besänftigend zu. Doch da war es bereits wieder verschwunden. Eine Frau neben ihr, beugte sich über sie und strich ihr sanft über das Gesicht.

"Dieses verdammte Gesetz gehört in einen Kessel mit Öl geworfen", fluchte Carry, erhob sich und marschierte in Richtung seiner Parkgarage.

 

Norman erhob sich ebenfalls und folgte ihm.

"Bei welcher Gelegenheit hast du derartiges gesehen?", wollte er wissen und hielt ihn noch im Felsspalt auf.

Carry betrachtete ihn fragend.

"Ein Kumpel von mir", begann er bereitwillig zu erzählen und lehnte sich gegen eine Wand. "Er wollte unbedingt mit eigenen Augen sehen und erleben, wie mit diesem dreckigen Pack umgesprungen wird. Er überredete mich zu einem Ausflug nach Kenkover. Ich wünschte, wir wären damals an der Grenze abgewiesen worden. Doch damals ließen sie noch jeden rein. Der verdammte Trottel konnte seinen Mund nicht halten und machte sich über einen Polizisten lustig, der sich von einer mutigen Flaemin ins Gesicht spucken ließ. Ich hätte ihm damals die Schnauze polieren sollen, nur damit er aufhört, doch er fand dies derart witzig, dass er einfach kein Ende finden wollte. Der Bulle verprügelte ihn mit seiner Gummistange. Mein Kumpel revanchierte sich mit beleidigenden Bemerkungen. Ich konnte ihm nicht helfen, oder ihn dazu bewegen endlich den Mund zu halten. Die anderen Bullen haben mir die Arme gebrochen, als ich versuchte ihm zu helfen, als sie ihn in einen Tank mit Kühlwasser warfen. Das Wasser war siedend heiß Es dauerte über eine halbe Stunde, bis er endlich tot war. Dann hackten sie ihn in mundgerechte Stücke und warfen ihn den Schweinen zum Fraß vor. Ich sage dir, so etwas zeichnet dich fürs Leben."

Norman blickte betroffen zu Boden. Er hatte vielleicht endlich den Grund erfahren, warum sich Carry für diesen gefährlichen Job bereit erklärt hatte. Sein Erlebnis, welches ihn dazu bewogen hatte, Fluchthelfer zu spielen, war dagegen verhältnismäßig harmlos gewesen. Er hatte der Vergewaltigung an einer Frau zusehen müssen, die zufällig in denselben Laden, in dem er sich Frühstückbrötchen zu holen pflegte, getreten war. Der Soldat hatte sie auf den Ladentisch geworfen und an sich an ihr vergangen, während der normale Geschäftsablauf beinahe reibungslos weiterging. Ein Erlebnis, das ihn erst im Nachhinein prägte. Ihn hatte die Gleichgültigkeit, mit der die anderen Käufer dieser Angelegenheit beiwohnten, gewundert und erst Wochen danach reagierte er, währenddessen er noch beinahe jeden Morgen in den Laden ging, um Brötchen zu kaufen und jeden Morgen an den Ladentisch trat, als wäre nichts geschehen.

Und er hatte endlich begriffen, dass er mehr tun musste, als Flüchtlinge in Empfang zu nehmen, sie zu beruhigen und in einen Laster zu setzen.

"Okay", rief er aufraffend. "Räumen wir das Feld."

"Bist du dir sicher?", fragte Carry sarkastisch.

"Würde ich das hier alles freiwillig aufgeben?", fragte Norman zurück und hieb ihm sanft mit der Faust an die Schulter. "Neues Spiel, neues Glück."

"He", rief Carry überrascht und mit künstlicher Sorgenmiene. "Ich erzähle dir nie wieder Gruselgeschichten, wenn dich das derart mitnimmt."

"Das war keine Gruselgeschichte. Du hast mir nur die Augen geöffnet."

"Großartig. Wenn das so ist, habe ich noch ein paar mehr auf Lager."

"Nein, danke. Das reicht fürs Erste." Norman hob abwehrend die Hände. "Glaubst du, deine Karre schafft es über das Gebirge?"

"Ich weiß nicht. Ich wollte eben nachsehen, was von der Umlenkstange noch übrig geblieben ist."

"Ich glaube, wir sollten die Flaemen bitten, ein paar von ihren Bittgesängen anzustimmen."

Carry verzog sein Gesicht. Er schien die jammervollen Notenfolgen zu kennen. Nichts gegen seine Schützlinge, sagte sich Norman im Stillen. Manches ihrer Kultur sollten sie lieber erst wieder ans Tageslicht kommen lassen, wenn sie sich im Land des Lebens befanden.

 

"Norman!", schrie jemand durch die Spalte. "Patrouillen mit schwerem Geschütz."

Norman fuhr herum.

"Starte deine Karre. Der Zug fährt in einer Minute ab."

Dies brauche man Carry kein zweites Mal sagen. Er war noch während Normans Anweisung herumgewirbelt und in die Parkgarage gelaufen. Wenig später vernahm er die verängstigen Schreie und Rufe der Flüchtlinge, die nur wenige Augenblicke später von der Spalte ausgespien wurden und hektisch angelaufen kamen und in größter Eile auf die Ladefläche des Lasters kletterten. Carry entsicherte inzwischen die Panzerklappen, die seine Fahrgäste vor dem Zugriff und der Sicht Unbefugter schützen sollten und ließ sie lose herunterbaumeln, bis endlich alle auf der Ladefläche waren. Er entdeckte die junge Mutter, mit ihrem Kind wieder, die von der Menge vorwärts geschoben wurde und nur mit Unterstützung eines älteren Mannes überhaupt auf die Ladefläche kam. Für die Trittleiter war keine Zeit mehr geblieben. So halfen die Kräftigeren, den Alten und Schwachen auf die mannshohe Empore zu gelangen. Auch Carry packte mit an, hob Kinder und Gepäck hoch, stemmte sich gegen die Hinterteile kraftloser Frauen und hängte schließlich die Panzerklappen ein.

 

"Mit uns sind es jetzt aber mehr als Fünfzig", rief eine Stimme neben ihm.

Carry verzog seine Mundwinkel. Dies war ihm jetzt vollkommen gleichgültig. Wichtig war nur, dass sie verschwanden; und das so schnell wie möglich.

"Hilf mir die Klappen hochzuziehen", rief er und drückte die nächste Klappe, entgegen dem Druck der Leiber, die dagegen pressten in die Verankerung, um sie mit einem Riegel zu sichern. Es würde noch fehlen, dass er seine lebendige Ladung noch auf halbem Wege verlor. "Wie nahe sind sie eigentlich?", wollte er wissen. Bei helllichtem Tage loszufahren, bedeutete beinahe Selbstmord. Aber zu warten, bis es dunkel wurde, vielleicht ebenso.

"Garvin sagte, sie kämen ungefähr in zwanzig Minuten ins Tal", berichtete Norman, während er sich gegen eine Platte stemmte, um sie in die Verankerung rasten zu lassen.

"Dann müssen wir in fünf Minuten draußen sein", entschied Carry und riss die nächste Platte in aller Eile hoch, warf sie gegen den Rücken eines Passagiers und drückte fest dagegen. "Ich lasse die oberen Klappen auf", rief er und kletterte auf den Laster. "Jemand soll sich mit einem weitreichenden Geschütz auf dem Dach postieren."

Norman nickte und winkte einem Mann mit einem tragbaren Raketenwerfer zu, worauf dieser ebenfalls auf den Laster kletterte und auf dem Dach, wo Carry die Deckklappen offen ließ, Posten einnahm. Der Rest von Normans Mannschaft kletterte zu den Passagieren, öffnete Luftluken um ihre Waffen hindurch zu stecken, oder gesellte sich zu Norman und dem Fahrer nach vorn, ins Führerhaus.

Ein Dröhnen und Beben ging durch die Höhle, als Carry den Motor startete. Er trat einige Male auf das Gaspedal um den Motor schneller aufzuheizen. Dann löste er die Bremse und raste geradewegs auf eine Felsmauer zu. Sie zersplitterte. Holz, Steine und Sand flogen ihnen um die Ohren. Grelles Tageslicht blendete sie für einen Moment.

 

Carry fuhr einen Blendschutz herunter und trat das Pedal voll durch. Der Motor heulte auf. Ein brünstiges Röhren ging durch das Gefährt. Es raste in hohem Tempo über den mit engen Spalten durchsetzten Boden, über Felsbrocken, Löcher und niederes Gestrüpp, als bemerkte er nichts davon. Normalerweise achtete Carry darauf, keine Pflanzen zu beschädigen. Spuren zu hinterlassen, war der größte Fehler, der einem Fluchthelfer passieren konnte. Doch diesmal war es ihm gleichgültig. Entdeckt waren sie ohnehin bereits, und wenn tatsächlich noch nicht; dann spätestens jetzt. Er trat voll auf das Gaspedal, schaltete schnell in höhere Gänge und ließ den Motor hoch aufheulen. Sie mussten wie der Wind durch die Enge hindurch rasen, ohne dass überhaupt jemand eine Chance bekam, ein Gewehr zu laden oder eine Rakete abschussbereit zu machen. Gewehrkugeln würden ihm nicht viel anhaben können. Aber die Raketen. Durch die gute Panzerung des Lasterungetüms kamen sie zwar nur schwerlich, aber wer wusste schon, welche Geschütze sie auffuhren, um die Flüchtlinge zu stoppen.

 

Kaum schoss der Panzer aus der Enge auf die Weitebene hinaus, wurden sie auch schon von Gewehrsalven belästigt. Carry schaltete einen Gang hinunter und trat das Pedal bis zum Bodenblech durch. Neben ihnen schlugen zwei Raketengeschosse in den Boden. Scheinbar waren sie bereits erwartet worden. Carry sah in den Rückspiegel und entdeckte eine ganze Bataillon von Panzerwagen, Jeeps und kleineren geländegängigen Dreiradflitzern. Er stieß Norman in die Seite und deutete auf den Rückspiegel. Den schwerfälligen Panzerwagen und den mit großem Geschütz beladenen Jeeps konnte er mit großer Geschwindigkeit entkommen. Doch nicht den Geländeflitzern. Für gab es beinahe kein Hindernis.

 

"Nehmt sie euch vor", schrie Norman nach hinten und klopfte gegen das Dach des Führerhauses.

"Ladies und Gentleman", rief Carry mit einem verschmitztem Lächeln. "Bitte das Rauchen einstellen und den Sicherheitsgurt anlegen." Er drehte das Lenkrad hart herum, als ein Flitzer neben seiner Tür auftauchte. Er rammte ihn und brachte ihn zum Umkippen. Für einen Freudenschrei war es noch zu früh. Mindestens zehn dieser wendigen Motorräder hatten sich an seine Versen geheftet. Über ihm gab es einen Knall, als eine Rakete abgefeuert wurde. Doch sie verfehlte ihr Ziel. Carry riss im letzten Moment das Steuer herum, um einem Felsbrocken auszuweichen. Ein seitlich in Stellung gegangener Flitzer reagierte zu langsam und prallte frontal dagegen, dass der Fahrer im hohen Bogen darüber hinwegflog.

"Du bist eine Verkehrsgefährdung", rief Norman und krallte sich am Armaturenbrett fest. "Dir müsste der Führerschein entzogen werden."

"Geht nicht", rief Carry zurück. "Das haben sie schon." Er drehte kurz den Kopf und warf ihm ein freches Lächeln zu. "Sieh zu, dass sich deine Freunde dieser lästigen Hummeln annehmen."

Der Motor des Lasters heulte auf, als Carry einen Gang tiefer schaltete und das Pedal voll durchtrat, um mit Schwung einen kleinen Berg hinaufzukommen. Er kannte inzwischen den Weg und machte gleich hinter der Kuppe eine scharfe Kursänderung nach links, um dem Lauf der Straße folgen zu können. Ein Trampelpfad mit nur spärlichem Felsbestand. Mit nur einem flüchtigen Blick in den rechten Außenspiegel entdeckte er den Fahrer eines Geländeflitzers, die Böschung hinunterfahren, sich überschlagen und schließlich in die Schlucht hinabzustürzen.

Diese Gegend hier war durchzogen mit Schluchten, Ritzen und heimtückischen Furchen. Für einen Unkundigen war es sicherlich gefährlich, im Höchsttempo über die Schotterpiste zu jagen. Carry musste sich schnell ducken, als ein Flitzer auf gleiche Höhe kam, ein gekürztes Gewehr aus einem Hohlster zog und auf ihn feuerte. Die Fenster bestanden aus Panzerglas. Doch er wusste nicht, wie sie auf einen Schuss aus nächster Nähe reagierten. Zum Glück fuhr der Schütze auf einen Felsen auf und war verschwunden, ehe Carry seinen Hals wieder strecken konnte. Wieder tauchte ein Flitzer am Fenster auf. Er überholte, drehte sich halb zu ihm um und zielte auf die Frontscheibe. Carry riss das Steuer herum. Das Geschoss hinterließ lediglich einen Kratzer im Glas. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass er in einem sicheren Käfig saß. Obwohl er bereits schon so oft die Gelegenheit gehabt hatte, es auszuprobieren. Der Nächste versuchte sein Glück. Er brachte sich nahe an das Ungetüm heran, stellte sich auf seinen Sitz und sprang auf den Laster auf. Carry stieß Norman an und deutete in den linken Rückspiegel.

"Horres", rief Norman nach hinten. Der Muskelprotz mit den Handeln im Handgepäck. Norman drehte seinen Oberkörper und blickte durch die Luke auf den Laderaum. Horres war bereits auf das Dach geklettert und dem blinden Passagier entgegen getreten.

 

Ein Panzer kam von vorne. Carry fluchte und warf einen kurzen Seitenblick zu Norman, der ihn noch nicht bemerkt haben konnte. Norman fluchte ebenfalls.

"Bring diesen Bastard von Geisterfahrer von der Autobahn", schrie Carry und musste das Steuerrad nach links reißen, um einen Flitzer von der Bahn zu drängen. Dieser reagierte schnell genug und schlug einen Haken. Über ihm knallte es und eine Leuchtkugel näherte sich dem Panzer bedrohlich schnell. Sie traf zwar exakt, konnte dem Gefährt jedoch nicht allzu viel anhaben. Das Feuer erlosch bald und die Rauchwolke verflüchtigte sich im Fahrtwind. Der Panzer erwiderte das Feuer. Das Geschoss traf etwas zu früh in den Boden. Für einen Moment konnten die Insassen des Lasters nur gleißendes Licht und Rauch sehen. Dann waren sie auch schon durch.

Carry krallte sich am Lenkrad fest und verkrampfte seinen Fuß über dem Gaspedal. Als er es für richtig hielt, schwenkte er schnell nach rechts und verschwand in eine Seitennische des Tales. Er kannte den Weg. Ab und zu nahm er diese Abzweigung. Sie führte zwar über unwegsame und holprige Schotterpisten, doch sie war zu eng, um einen Panzer aufzunehmen, oder einen Flitzer überholen zu lassen. Der Panzer feuerte Geschosse an die Wände der Seitenstraße, um den Flüchtlingstransport mit Schotter und Geröll zu überhäufen. Carry zählte die Sekunden, krallte sich am Steuer fest und raste über die Felsbrocken. Er hatte sich nicht umsonst einen Laster mit großen wulstigen Reifen ausgesucht. Sie ließen sich selbst von halbhohen Felsbrocken und entsprechenden Schluchtbreiten nicht abhalten. Eine ausgefeilte Federung fing jede Unebenheit ab.

 

"Ist das nicht eine Sackgasse?", rief Norman und sah skeptisch zum Fenster hinaus.

"Seit dem großen Regen letztes Jahr nicht mehr", kam es zurück.

Wie lange war Norman schon nicht mehr draußen gewesen.

"Wo sind sie?", wollte Carry wissen.

Norman sah nach hinten.

"Nur etwa drei Meter hinter uns", antwortete er und musste sich festhalten, als ein großer Felsbrocken beinahe das ausgeklügelte Gleichgewicht des Lasters zum rotieren brachte. Carry machte einen Schlenker nach rechts und streifte dabei die Felswände. Funken stoben hinter ihnen her, wie ein Kometenschweif. Ein Motorradfahrer ließ sich dadurch irritieren, überdrehte seine Lenkung und stürzte kopfüber auf den Schotter.

Der letzte Teil der Seitenstraße mündete in einem mit Schotter übersäten Platz. Ein Blitzschlag letztes Jahr hatte das Hindernis fortgeräumt. Die starken Regenfälle und die heftigen Stürme taten ihr übriges. Für den Laster bildeten die felsigen Untergründe kein allzu großes Hindernis. Carry musste lediglich etwas auf die Bremse drücken, um nicht allzu stark abgebremst und durchgeschaukelt zu werden. Für die Motorradflitzer bedeuteten die großen Gesteinsbrocken jedoch ein Aus der Verfolgungsjagd.

Norman tat einen Jubelschrei.

"Freu dich nicht zu früh", rief Carry. "Wenn sie unsere Absicht durchschaut haben, werden sie uns am Ende des Tales erwarten." Er schaltete wieder die Gänge hoch, bis sie schließlich beinahe mit Höchstgeschwindigkeit über die Ebene preschten.

 

Und tatsächlich, am Zugang des Tales zur nächsten Gebirgskette hatten sich mehrere Reihen Artilleriejeeps aufgebaut und ließen die Mündungen ihrer Raketenwerfern in die Richtung der Ankömmlinge sehen.

Der Mann auf dem Dach reagierte sofort und feuerte eine Rakete mitten ins Herz der Jeepbarrikade, ehe sie den Hahn durchdrücken konnten. Er feuerte unermüdlich, schob eine handgroße Patrone nach dem anderen in das Projektionsrohr und drückte seinen Oberkörper flach auf das Dach, als der erste Kanonier endlich den Mut fand zurückzufeuern.

"Ich hasse Mautstellen", maulte Carry und ließ den Sichtschutz wieder nach oben fahren. Seine Augen hatten mittlerweile genügend Zeit gehabt, sich an die Helligkeit zu gewöhnen. "Was ist?", rief er Norman zu. "Können deine Leute nicht dafür sorgen, dass wir ohne anzuhalten passieren können?"

"Nur Geduld", rief Norman zurück.

"Für viel Geduld bleibt nicht mehr die Zeit. Es darf kein Jeep mehr stehen, wenn ich komme. Ich bin zu schnell, um einfach über sie hinweg fahren zu können."

"Nur Geduld", rief Norman und hämmerte gegen das Dach des Führerhauses.

 

Plötzlich kam etwas über das Dach auf die Windschutzscheibe geflogen und verfing sich kurz an den Luftstreben des Kühlers. Carry konnte gerade noch das entsetzte Gesicht des Motorradfahrers sehen und fluchte erschrocken. Er hatte schon einen Fuß auf der Bremse liegen, da verlor der blinde Passagier durch einen Holperer den Halt und fiel über den Kühlergrill direkt vor die Räder. Für den Laster bedeutete dieser kleine Hügel kein Hindernis.

"Noch etwas in dieser Art und ich kündige", schnaufte Carry und verzog sein Gesicht.

"Schwaches Herz, was?", scherzte Norman und handelte sich dafür einen Rempler ein.

Ganz in der Nähe, beinahe vor den Rädern explodierte eine Granate. Carry musste den Laster, der durch die Druckwelle ins Schlenkern gekommen war, mit Gegenlenkungen abfangen. Die Rauchwolke der explodierten Granate raubte ihm für einen Moment die Sicht. Da krachte es auch schon und er prallte frontal mit einem Jeep zusammen. Für die Insassen des Lasters wurde dies nur durch einen kleinen Ruck spürbar. Der Jeep bäumte sich auf, stellte sich quer und bremste die Fahrt des stählernen Ungetüms. Carry riss das Steuer herum, um den Bremsklotz loszuwerden. Doch nur eines würde ihm die ersehnte Lösung des Problems verschaffen.

"Festhalten!", schrie er und stand auch schon mit beiden Beinen auf der Bremse, bis er stand. Die Insassen des Führerhauses, sowie die Fahrgäste auf der Ladefläche wurden nach vorn geschleudert und der Jeep fuhr einige Meter allein weiter. Dann riss Carry das Steuer herum, legte den ersten Gang ein und trat wieder voll durch.

"Besser als jede Achterbahnfahrt", rief Norman und schluckte seinen rebellierenden Magen hinunter. Er rieb sich das am Armaturenbrett angeschlagene Kinn und stemmte sich nun mit den Füßen dagegen ab.

"Was glaubst du, wie sich die da hinten fühlen müssen?", rief Carry und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Dann zuckte er plötzlich zusammen. Er wusste selbst nicht, was geschehen war. Überrascht blickte er zum Seitenfenster hinaus und entdeckte noch im Augenwinkel einen Motorradfahrer, der eben zum zweiten Schuss ansetzte. Carry riss das Lenkrad herum und rammte den Flitzer, der schließlich in einem hohen Bogen auf dem harten Felsenpflaster landete.

"Was ist mit den unfreundlichen Herren der Mautstelle?", rief Carry und hatte ein Auge auf den Rückspiegel und ein anderes zur Frontscheibe hinaus. Irgendetwas in seiner Brust begann zu zwicken. Er hatte keine Hand frei, um sich um Seitenstechen zu kümmern. Als es bald siedend heiß über seine Rippen lief, wusste er Bescheid.

Der Schütze auf dem Dach gab sein Bestes und wenig später raste der Laster durch eine enge Schneise aus Schrotthaufen und gesprengten Gesteinsbrocken, in das andere Tal hinein. Carry schaltete einen Gang hoch und jagte den Motor mit Höchstgeschwindigkeit über die beinahe ebene Felsenpiste.

 

Das brünstige Röhren der Auspuffenden blieb weit hinter ihnen.

"Wahnsinn!", rief Norman und drehte sich nach hinten, um durch die Luke im Laderaum auf den zurückgelegten Weg blicken zu können. "Jeder Jahrmarkt ist ein Kinderspiel dagegen."

"Kinderspiel?", fragte Carry äußerst skeptisch, ließ seine Hand unter die Jacke gleiten und präsentierte Norman schließlich blutverschmierte Finger.

"Ach, du Scheiße", rief dieser aus, als er die Bescherung bemerkte. "Wann ist das passiert?"

"Ist doch jetzt unwichtig. Scheint nichts Schlimmeres zu sein. Anhalten können wir nicht."

"Bei der nächsten Gelegenheit, wirst du anhalten", befahl Norman. "Das muss versorgt werden, gleich wie schlimm es ist."

"Ich gedenke, nicht anzuhalten, bis wir den Mon-Pass erreicht haben."

"Bis dahin bist du verblutet." Er gab einen Sitznachbarn ein Zeichen, worauf dieser aus dem Fenster kletterte, über das Dach in den Laderaum und bald mit Streifen Verbandszeug zurückkehrte. Eine abenteuerliche Kletterpartie bei rasanter Fahrt. Nichts Ungewöhnliches mehr für die Männer der Fluchthelfertruppe.

"Okay, fahr immer gerade aus. Ich werde versuchen, dich notdürftig zu verbinden." Norman riss Carrys Hemd aus der Hose und zum ersten Mal versetzte ihm die Schussverletzung eine Schmerzwelle. Carry biss die Zähne zusammen und verkrampfte den Fuß über dem Gaspedal, als Norman sich zwischen Arme und Beine drängte und die Wunde begutachtete.

Ein belustigtes Schmunzeln überkam ihn.

"Nicht doch, Süße", sagte Carry frech grinsend. "Warte doch wenigstens, bis wir im Motel sind."

"Quatschkopf", schimpfte Norman und legte den Zellstoffverband vorsichtig auf die Wunde. Er gab sich Mühe, ihn nicht allzu sehr zu stören. Es war jedoch eine äußerst unbequeme Lage und mehr als einmal zog er ihm eine Hand vom Lenkrad oder stemmte sich auf das rechte Bein.

"Die Kugel scheint noch drin zu sein", gab Norman fachmännisch von sich, als er den Verband mehr als notdürftig um Carrys Brustkorb gebunden hatte. "Also bewege dich nicht zu heftig."

"Es gibt Schlimmeres als das", bemerkte Carry und warf einen prüfenden Blick auf die beiden Außenspiegel. Ihre Verfolger waren außer Sichtweite. Sie schienen für diesmal entkommen zu sein.

 

Carry war es eigentlich gewohnt, Stundenlang zu fahren, den Fuß auf dem Gaspedal zu drücken und die langen Strecken mit monotoner Gelassenheit zu überwinden. Doch diesmal hatte er einen Faktor mehr zu bewältigen. Außer dem drohenden Einschlafen, dem er stets mit Aufputschmitteln entgegen wirkte, kam noch seine Verletzung und mit andauernder Fahrt, begann sie immer mehr zu brennen. Scheinbar hatte sie sich entzündet oder Wundbrand war im entstehen. Es konnte aber auch die normale Reaktion seinen Körpers sein. Er hatte schon immer Schmerzen leichter ertragen können, als andere. Vielleicht waren seine Nerven abgestumpfter, oder sein Gehirn reagierte langsamer. Aber was zu viel war, war einfach zu viel Selbst für einen Carry Trains.

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sein Kopf begann zu dröhnen. Eine Nebenwirkung des monotonen Geräusches des Motors vielleicht. Aber vielleicht auch eine Nebenwirkung der Schussverletzung. Man durfte derartige Verletzungen nicht auf die leichte Schulter nehmen und er dachte über einen möglichen Schlupfwinkel nach. Irgendwo auf dem Weg den Mon-Pass hoch, gab es eine große Höhle, die den Laster mühelos aufnehmen und von der Bildfläche verschwinden lassen konnte. Da bog er auch schon vom Weg ab und fuhr langsam der untergehenden Sonne entgegen, in eine kleine Schlucht hinein und fand die Höhle auch schon. Vorsichtig ließ er die gewaltigen Reifen über das hohe Geröll rollen und stellte den Motor ab, als es einigermaßen sicheren Stand hatte.

"Feierabend", rief er und versuchte sich zu strecken. Die Verletzung meldete sich schmerzhafter denn je in Erinnerung. Er öffnete die Tür und sah sich überrascht um, als seine Beine ihren Dienst verweigerten. Mit einem entschuldigenden Lächeln machte er auf sein Problem aufmerksam und ließ sich aus dem Führerhaus ziehen. Er hoffte, dass dieser Zustand nicht für immer andauerte und fühlte bereits erleichtert das elektrisierende Pritzeln in den Zehenspitzen.

Eine der Flaemischen Frauen nahm sich seiner Verletzung an und ehe er frisch verbunden werden konnte, war er in einen erholsamen Schlaf geglitten.

 

Hunger plagte beinahe jeden der Flüchtlinge. Bei ihrem überstürzten Aufbrechen hatten sie nur eine Notration an Proviant und Wasser mitnehmen können. Um sich von ihrem knurrenden Magen abzulenken, wurden die blauen Flecken und etwaigen Verletzungen gepflegt. Die Kinder stillender Mütter hatten einen großen Vorteil, anderen gegenüber. Milch gab es für sie im Überfluss.

Naome schlug ihre Arme um den zarten Leib des kleinen Jungen. Sie fühlte den kräftigen Zug an ihren Brustwarzen und fühlte, wie er die Muttermilch aus ihrem Busen saugte. Es war für sie ein herrliches Gefühl, auf diese Art ihrem Bruder helfen zu können. Sie strich ihm liebevoll über das kleine Köpfchen und streichelte seine kleinen Finger, die sich immer wieder leicht in ihren Busen verkrallten. Sie scheute sich nicht, vor all den Anderen ihre Bluse zu öffnen und den Jungen zu stillen. Bei ihnen war dies ein vollkommen natürlicher Vorgang. Ihre Mutter hatte sich ebenfalls niemals geschämt, ihre Bluse zu öffnen und ihrem Bruder die Brust zu geben. Selbst wenn Gäste oder Fremde im Zimmer waren.

Sie lehnte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Brüste. Sie liebte dieses Gefühl.

 

Doch bald schweiften ihre Gedanken ab und sie öffnete ihre Augen wieder. Ihr erster Blick galt dem schlafenden Verletzten in ihrer unmittelbaren Nähe. Er hatte heute Beachtliches geleistet, um sie alle heil aus den Fängen der Grenzpolizei zu bringen. Das erzählte zumindest ihre Tante Mae, die ihm die Kugel mit notdürftigem Gerät herausoperiert hatte. Mae war wie ihr Vater, Arzt gewesen. Sie beobachtete seine ruhigen Atemzüge und den gleichmäßigen Auf- und Ab-Bewegungen seines Brustkorbes. Sein Gesicht schien entspannt und doch zuckten dann und wann seine Mundwinkel, rasten die Augäpfel hektisch hin und her oder bewegte leicht seine Finger. Es hatte sie schon immer fasziniert, Menschen beim Schlafen zu beobachten. Dabei überkam sie jedes Mal ein Gefühl der vollkommenen Gelassenheit. Mit ihnen ruhig und gleichmäßig zu atmen, die Gelassenheit auf sich einwirken zu lassen und Funktion von Augen und Ohren abzustellen. Naome schloss die Augen und stellte sich den Schlafenden vor. Sein Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigen Abständen. Sein Herzschlag verlangsamte sich. Der Blutstrom raste gemächlicher durch die Adern.

 

Ein unsanfter Tritt in ihren Bauch riss sie aus ihren wundervollen Gedanken. Ihr kleiner Bruder begann quengelig zu werden. Das tat er immer, wenn sein kleines Bäuchlein so voller Luft war, dass es ihm schmerzte. Sie legte seinen Kopf über ihre Schulter und streichelte ihm sanft über den Rücken, bis das erleichternde leise Bäucherchen kam. Sie war ihrem Bruder keineswegs böse dafür. Er war noch zu klein, um seine Schwester verstehen zu können.

Und dennoch fühlte sie Leere in sich, als dieses wundervolle Gefühl verschwunden war. Sie legte sich auf den Boden, bettete den Säugling auf ihren zusammengefalteten Mantel und schloss die Augen.

 

 

"Na? Wie fühlst du dich?", drang ihm ins Ohr, als er wieder zu sich kam. Carry blinzelte und brachte nur schwerlich ein klares Bild zustande. Er dachte für einen Moment über eine Antwort nach, dann verzog er seine Mundwinkel.

"Wie gerädert", sagte er und versuchte sich aufzurichten.

"Wenn du das versuchst, bekommst du einen flaemischen Flucht zu spüren", gab Norman streng von sich und drückte ihn zurück.

Carry betrachtete ihn fragend. Er konnte nicht wissen, wer ihm die Kugel herausoperiert hatte.

"Wir haben eine Ärztin unter den Flaemen", erklärte Norman und ließ sich neben Carrys Kopf nieder. "Sie sagte, dass du zu viel Blut verloren hast, um die nächsten zwei Tage wieder aktiv zu werden."

"Wir können hier keine zwei Tage darauf warten, dass sich mein Blutvorrat aufgefrischt hat."

"Nein, können wir nicht", stimmte ihm Norman zu. "Wenn du nichts dagegen hast, wird ein anderer den Laster fahren. Stimmt es, dass dies ein Umbau des Speedster 5000 ist?"

Carry sah ihn überrascht an.

"Einer der Flaemen ist ein ziemlicher Autonarr. Er zählte mir beinahe jede Einzelheit des Lasters auf, die du verbessert, oder umgebaut hast. Er meinte, er könne das Monster fahren. Was meinst du?"

"Ich gebe nur ungern den Schlüssel aus der Hand."

"Wenn du es nicht tust, wirst du den Löffel auf gleich dazulegen dürfen", gab ihm Norman zu Bedenken. "Niemand hat behauptet, dass wir dir dein Riesenbaby wegnehmen wollen. Wir dürfen nur keine Zeit vergeuden und wenn der Junge das Ding wirklich fahren kann, dann ..."

"Okay, ist ja schon in Ordnung", gab sich Carry geschlagen. "Lass ihn fahren."

"Wenn er mich nicht darauf angesprochen hätte, hätte ich mich hinter das Steuer geklemmt", bemerkte Norman.

"Was ist mit der Umlenkstange?" wollte Carry wissen.

"Bis jetzt halten die Schweißnähte noch. Und wenn sie das gestrige ausgehalten haben, dann werden sie auch weitere Strapazen aushalten."

"Sei dir da mal nicht so sicher."

"Du traust deinem Wagen nichts zu."

"Ich kenne ihn dafür zu gut. Es ist das Beste, was es dafür gibt. Doch wenn er angeschlagen ist, können notdürftige Schweißnähte verheerend sein. Die Gewalt bei ihm ist wesentlich größer. Unterschätze das nicht."

Norman nickte nur.

"Sobald es dunkel wird, brechen wir wieder auf", entschied er. "Sieh zu, dass du wenigstens in der Lage bist, auf deinen Laster zu klettern."

"Ha, ha", machte Carry und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Felsendecke. Er fühlte die Wunde kaum noch. Doch sobald er sich leicht bewegte, rief sie sich wieder in Erinnerung. Norman stand auf und spazierte gemächlich durch die Reihen seiner Schützlinge, sprach ein paar Worte mit dem Einen oder dem Anderen, strich Kinder über den Kopf oder ließ sich zu ihnen auf den Boden nieder. Carry beobachtete ihn eine Weile dabei, dann glaubte er, selbst beobachtet zu werden. Er ließ seinen Blick schweifen und fing das versteinerte Gesicht einer jungen Mutter ein. Dieselbe, die ihm schon ein paar Mal aufgefallen war und die er in einer Unterredung mit Norman als Beispiel hergenommen hatte. Sie betrachtete ihn mit einer ausdruckslosen Miene, dass er sich beinahe gekränkt vorkam, wenn ihm an ihr nicht etwas Merkwürdiges aufgefallen wäre. Ihr phlegmatisches Verhalten war nicht des eines besonders ruhigen oder schüchternen Menschen, sondern eines, dessen Gedanken in einer anderen Welt kreisten. Sie besaß ein hübsches Gesicht, umrahmt von den zwei bei flaemischen Mädchen typischen dicken Zöpfen, doch irgendwie uninteressant. Ihre Gesichtszüge und Körperformen deuteten sich, versteckt unter dem geradlinigen Schnitt ihrer Bluse mit dem hochgeschlossenen Kragen, wohlgeformt und fraulich an, doch ohne jeden Pepp. Das Einzige, das an ihr Aufsehen erregen konnte, waren ihre prallen Milchbrüste. Er betrachtete sie lange Zeit, ohne dass sie auch nur einmal schüchtern den Blick senkte oder sich um das Kind in ihren Armen kümmerte. Es schien ohnehin zu schlafen.

Carry blinzelte und drehte seinen Kopf zurück. Die Decke war vielleicht aufregender, als dieses Mädchen. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass zum Aufbruch gerufen wurde. Solange blieb ihm noch Zeit, seinen Vorrat an Lebensflüssigkeit aufzufüllen.

 

Zwei von Normans Schutzpersonal halfen ihm auf die Beine und musste ihm sogar noch auf die Ladefläche des Lasters helfen. Carry hatte heftig protestiert, wie Ladegut nach hinten verfrachtet zu werden. Doch Norman hörte nicht auf ihn und ließ ihn nach oben hieven und in ein Lager von Decken und geborgten Kleidungsstücken betten. Als es endlich losging, gab Carry seine Proteste auf und fügte sich in sein Schicksal. Es war stickig zwischen den hochgeklappten Panzerplatten. Die wenigen offenstehenden Luken, die Blick auf einen wolkenverhangenen Himmel boten, sorgten nur spärlich für Luftzirkulation. Doch Carry schloss die Augen und hoffte, dass er trotz Gerüttel und Geschüttel einschlafen würde. Ihm war es mittlerweile vollkommen gleichgültig, was mit seinem Wagen passierte.

Oder vielleicht doch nicht?!

Er konnte einfach nicht einschlafen. Die Hitze im Inneren des Ausbaues, das ständige Wanken und Holpern, hielt ihn hellwach. Sie richtete sich mühevoll auf. Mit Kugel im Leib hatte er sich wesentlich leichter bewegen können.

"Geht es ihnen gut?", fragte eine Frauenstimme aus dem Pulk neugieriger Gesichter.

Carry drehte den Kopf und suchte die Ursache der Stimme. Er fand ein Lächeln in jenem Gesicht, das sich über das phlegmatische Mädchen gebeugt hatte.

"Den Umständen entsprechend", erwiderte er.

"Bei zwei oder drei Tagen konsequenter Ruhe, können sie bald wieder Berge versetzen", versuchte sie ihn aufzurichten.

"Mir würde es schon genügen, wenn ich meine Karre wieder selbst fahren könnte", gab er mit einem entschuldigenden Lächeln zurück. Er bewegte sich leicht. Die Kleidung klebte ihm Schweißnass am Körper. "Kann einer von euch ein paar Klappen dort oben öffnen?", fragte er und suchte nach bereitwilligen Gesichtern. Tatsächlich fanden sich einige Freiwillige, die für bessere Frischluftzufuhr sorgen. Bald war die verbrauchte Atemlust durch die Luken entwichen und staubige, aber frische Luft drang in die Lungen.

"Übrigens", fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein. "Vielen Dank für ihre Mühen."

"Die eine Hand muss die andere waschen", antwortete sie. "Sie versuchen unser Leben zu retten. Da ist es nur gerecht, wenn ich versuchte, das ihre zu retten."

Carry erwiderte ihr gütiges Lächeln. Eine Frau, die ihn irgendwie an seine Mutter erinnerte. Stets ein gutes Wort auf den Lippen und ständig ein liebevolles Lächeln zwischen den ergrauten Strähnen.

"Trotzdem danke", sagte er nickend.

"Gern geschehen", nickte sie zurück. "Sie haben viel für unser Volk getan", fuhr sie fort. "Es ist nur eine kleine Entschädigung für ihre Mühen."

Carry fühlte sich irgendwie geehrt. Plötzlich glaubte er ein Held zu sein. Ein angeschlagener Held, als ihn ein Holperer kräftig durchschüttelte und die Wunde die unbedarfte Bewegung mit einem stechenden Schmerz beantwortete. Er verzog das Gesicht und stemmte sich stärker gegen die vibrierenden Stahlplatten. Was für ein trauriger Held!

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und fand sich plötzlich im Reich der Träume wieder. Vielleicht war es einfach zu viel an Anstrengung, die ihn einschlafen ließen. Oder die Frischluft hatte ihm endlich genügend Sauerstoff geliefert, um das Geschüttel erträglicher werden zu lassen. Er war stets vorn im Führerhaus gewesen und dessen nie bewusst geworden, was sich hinten auf der Ladefläche abspielte. In Zukunft würde er etwas eine etwas sanftere Fahrweise an den Tag legen müssen.

 

Norman gestattete ihm auch am folgenden Tag nicht, nach vorn ins Führerhaus zu kommen. Er ließ ihn wieder auf die Ladefläche heben und beachtete keiner seiner Proteste, bis Carry es schließlich aufgab. Es war wichtig, dass er wieder vollkommen gesund wurde. Ein angeschlagener Held, war gar kein Held. Deswegen ließ er sich auch am dritten Tag bzw. Nacht in den Laderaum verfrachten.

 

Dann plötzlich, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, der Laster wurde seitwärts geschleudert, überschlug sich und schlidderte mit dem Restschwung seiner rasanten Fahrt seitlich liegend über den mit kleinen Felsbrocken übersäten Boden. Ein Kreischen, Schreien und Jammern ging durch Besatzung und Maschine. Fontainen von Funken, Gras- und Wiesenfetzen, Dreck, Sand und Steine drangen durch die Ritzen der Panzerplatten ins Innere des Laderaumes. Die Passagiere wurden durcheinander geworfen wie Spielwürfel. Carry verlor das Bewusstsein, als das Gewicht von einigen Leibern auf ihn fiel.

Dann kehrte Ruhe ein.

 

Stöhnend und jammernd, die angeschlagenen Stellen reibend, kletterte Norman aus dem Führerhaus. Er wusste selbst nicht, was passiert war. Doch als er im Nachhinein darüber nachdachte, konnte er es sich denken. Sie waren seit Stunden durch die Nacht gefahren und er musste zugeben, ein wenig eingenickt zu sein. Der Junge, der den Wagen gefahren hatte, war ganz auf sich allein gestellt gewesen.

Unter dem Stöhnen der Anderen vernahm Norman noch andere Geräusche. Solche, die Alarmsirenen in ihm aufheulen ließen. Wenn sie schon von einer Rakete getroffen wurden, durften die Patrouillen nicht lange auf sich warten lassen. Er rief seine Leute zusammen, ließ sie Stellung in alle Richtungen einnehmen und wartete auf das Eintreffen der Polizisten nur mit ungutem Gefühl. Sie saßen auf offener Flur so gefangen, wie ein Kaninchen im Käfig. Mit dem umgekippten Laster war nicht mehr viel anzufangen und ehe sie ihn wieder auf die Räder gestellt haben, wären die Patrouillen herangekommen.

Grell leuchtende Scheinwerferpaare kamen schnell näher. Hinter dem einen oder anderen knallte es und die Geschosse platzten nur nahe am Wagen in den Boden. Norman ging in Deckung und sah sich hektisch um. Sie kamen nur von einer Seite. Aber was half es ihnen. Zu Fuß waren sie ihnen unterlegen.

Bald umringten Artilleriejeeps mit kreischender Hupe den Laster, feuerten aus allen Kanonen und metzelten alles nieder, was unvorsichtigerweise vor ihr Visier lief. Norman und seine Leute konnten ihre Ziele nur annehmen. Sie schossen zurück und nur selten gellte ein Aufschrei durch die Nacht. Im Schutze ihres Geländewagens kamen Polizisten näher und pirschten sich nahe genug heran, um die Panzerplatten aus ihrer Verankerung zu reißen und mit glühenden Feuerrohren ins Innere zu schießen. Immer mehr kamen auf diese Art näher, zerrten die Flüchtlinge aus dem Wagen und exekutierten sie eiskalt. Sie schlachteten die Männer wie Mastvieh, zerrten die Frauen an den Haaren aus dem Wagen und vergingen sich unter Feuerschutz der Kumpel an ihnen oder verprügelten die Kinder, bis ihnen kleine rote Rinnsale aus den Ohren tropften.

 

Carry kam nur zögerlich wieder zu sich. Er bekam beinahe keine Luft. Eine große Last lag auf seinem Körper. Er versuchte sich zu befreien, arbeitete sich mühevoll unter den leblosen Körpern hervor und registrierte erst jetzt den Lärm und das Massaker, das an seinen Begleitern ausgeführt wurde. Er kämpfte sich zu einer herausgerissenen Luke vor, nahm einen von Normans Männern, der blutüberströmt halb hinausgebeugt lag, das Maschinengewehr ab und robbte sich langsam bäuchlings nahe am Dach vorbei, das nun eine stählerne Wand bildete. Nur kurz erlaubte er sich einen Blick auf das Geschehen. Das was er sah, hätte ihn beinahe wütend aufschreien lassen.

 

Naome hielt ihr Kind krampfhaft vor die Brust presste, während sie versuchte sich den Angriffen eines Soldaten zu erwehren. Er entriss ihr den Jungen brutal und warf ihn achtlos, wie ein Bündel Lumpen von sich, stieß die Frau zu Boden und warf sich mit seinem Gewicht auf sie. Inzwischen kannte Naome das Gefühl vergewaltigt zu werden. Sie strampelte, biss, kratzte und wand sich. Dafür handelte sie sich eine harte Ohrfeige ein, die sie für einen Moment benommen machte. Ihre Beine wurden brutal auseinander gerissen und ehe sie wieder gänzlich zu sich finden konnte, war er gefühllos in ihren Unterleib gefahren. Der Schmerzensschrei blieb in ihrer Kehle stecken. Sie öffnete den Mund, doch nichts kam über ihre Lippen. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr wehren. Sie war vollkommen gelähmt. Kein Muskel reagierte mehr.

Zum wiederholten Male zog Carry den Abzug durch und entließ eine Salve tödlicher Kugeln aus dem langen Eisenrohr. Ihm blieb nicht viel Zeit zum Zielen, doch irgendwann hatte er gelernt, einfach den Finger zu krümmen und dennoch zu treffen. Da entdeckte er das Mädchen. Sie lag vollkommen apathisch, mit weit aufgerissenen Augen, unter einem Soldaten, der seinen Hintern immer wieder mit kräftigen Stößen zwischen ihre Beine rammte. Er schoss ihm kurzerhand in den Kopf, war mit wenigen Schritten bei ihr und zog ihn am Kragen von ihr herunter. Seine Aufmerksamkeit wurde bald abgelenkt. Es gab noch viele Soldaten zu erlegen. Carry kam sich beinahe vor, wie auf einer Safari, die auf ein Rudel Löwen getroffen war. Sein Gewehr lief heiß. Die Hitze des Rohres brannte sich in sein Handfläche, als er es herumriss, um zwei Polizisten zu töten, die sich auf Horres geworfen hatten. Wütend entließ er ein Dutzend Bleikugeln und sie fielen tödlich getroffen zu Boden.

Es dauerte viel zu lange, bis endlich wieder Ruhe herrschte. Kreischen, Schreie, Schüsse, Jammern, Stöhnen. Dazwischen das Röhren der Jeepmotoren und die grellen Leuchten ihrer Scheinwerfer, die ihr kaltes Licht, einem Todesboten gleich über das Geschehen warfen. Trügerische Schatten huschten über das blutgetränkte Feld.

Carry sank auf die Knie. Vor ihm saß Norman. Er hielt ein kleines Mädchen in den Armen. Es zitterte heftig. Seine Arme und Beine schlenkerten in unkontrollierten Muskelzuckungen hin und her. Norman presste ein zusammengefaltetes Tuch auf ihren Kopf. Es war längst blutdurchtränkt. Er hielt es fest, streichelte es sanft und wartete geduldig, bis es sich langsam beruhigte und allmählich in die erlösende Ewigkeit hinüberglitt.

Er atmete heftig, als das Bündel in seinen Armen langsam erschlaffte. Sein Blick wanderte zum nächtlichen Himmel, wo eine dünne Mondsichel und kleine strahlende Sternchen ihr unschuldiges Licht über die Ebene warfen. Ein kleines Sternchen glitzerte auf seiner Wange.

"Das ist glatter Wahnsinn", flüsterte er leise.

Carry ließ seinen Blick über das Schlachtfeld schweifen. Nur wenige erhoben sich, mehr oder weniger mühsam. Ein erschreckender Großteil blieb stöhnend, leise jammernd und zitternd liegen, oder gab nicht einmal mehr ein Lebenszeichen von sich. Er warf das Gewehr von sich. Seine eigene Verletzung spürte er längst nicht mehr. Der kühle Nachtwind strich ihm besänftigend über die schweißnasse Stirn. Warum gab es niemanden, der dieses blutige Massaker verhindern konnte, fragte er sich. Er entdeckte die flaemische Ärztin. Sie blutete am Kopf, sorgte sich aber mehr um einen blutüberströmten Verletzten, der sich vor Schmerzen hin und her warf.

Ein Soldat in seiner Nähe stöhnte leise und versuchte sich mühsam zu erheben. Carry zuckte nicht einmal mit der Wimper, als seine Hand nach dem Gewehr fischte und den Überlebenden mit einem gezielten Kopfschuss das Lebenslicht auspustete. Norman zuckte bei dem ratternden Geräusch des Maschinengewehres zusammen und wurde dadurch wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt.

"Das werden sie büßen", zischte er böse und bettete das tote Kind vorsichtig auf die Erde. "Dieser Wahnsinn muss aufhören."

"Wie wäre es mit einer Atombombe in das Ministerium", schlug Carry vor und stellte sich wieder auf die Beine. Er sah sich kurz um, ließ das Gewehr fallen und half der Ärztin, einen Schwerverletzten ruhig zu stellen, damit sie den pulsierenden Blutstrom aus dessen Brust stoppen konnte. Doch ehe er einen richtigen Griff ansetzen konnte, verstarb die Gegenwehr des Mannes von allein. Mae konnte nur noch ein blutgetränktes Tuch über dessen Gesicht legen.

Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, widmete sie sich dem Nächsten. Carry versuchte gar nicht erst an die Schicksale der angeschlagenen Truppe zu denken. Wenn er begann darüber nachzudenken, würde er vermutlich die Fassung verlieren. Einfach nur handeln, sagte er sich. Gar nicht darüber nachdenken.

 

Die Morgensonne brach zaghaft über einen Gebirgskamm herein, als endlich die letzten Verwundeten versorgt, die Toten bestattet und der klägliche Rest mit Schaudern über das immer klarer werdende Bild blickte. Carry wickelte einen wimmernden Säugling in eine Decke und marschierte über den Platz, bis hin zu seinem Laster. Eine junge Frau, saß vor sich ins Leere starrend vor einem leblosen Baby und streichelte immer wieder über seinen Bauch. Es bewegte sich nicht mehr. Aus dessen Nase und Mund liefen kleine rote Rinnsale. Es war ihr aus den Händen gerissen und gegen die Panzerplatten geworfen worden. Immer wieder streichelte sie sanft über den Bauch des Babys. Sie bemerkte die Gestalt nicht, die sich vor ihr niederließ. Sie hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihre Bluse wieder zurechtzurücken, oder ihren hochgeschobenen Rock runterzuziehen.

"He", sagte Carry sanft. "Ich habe hier etwas, das deine Hilfe braucht."

Naome reagierte nicht. Sie trauerte ein weiteres Mal um ihren Bruder.

"Seine Mutter ist tot", fuhr Carry fort. "Du bist die Einzige, die dieses kleine Würmchen vor dem Hungertod retten kann."

Naome hob langsam ihren Kopf und betrachtete den Mann mit ausdruckslosen Augen. In ihren Gedanken war sie zuhause und spielte mit ihrem Bruder im Sandkasten hinter dem Haus. Sie bauten eine Burg. Es hatte lange nicht mehr geregnet. Der trockene Sand ließ die Burg immer wieder einstürzen.

"He! Hallo!", rief Carry leise und fuhr mit der Handfläche nahe an ihren Augen vorbei.

Naomes Augenlider zuckten nicht einmal.

Mae war an seiner Seite. Sie öffnete die Decke etwas, um das Gesicht des Säuglings zu betrachten. Als sie den Kopf wieder hob, stand ein entschuldigendes Lächeln auf ihrem Gesicht.

"Seit dem Tod ihrer Eltern, ist sie vollkommen verstört", erklärte sie. "Ich werde mich darum kümmern." Sie nahm ihm das Kind ab, öffnete die Decke, um einen prüfenden Blick über dessen kleinen Körper schweifen zu lassen und beugte sich zu ihrer Nichte vor.

"Naome", rief sie leise. Sie strich dem Mädchen über das Gesicht. Erst jetzt reagierte es. Ihre Augen wanderten langsam in Richtung der Stimme. "Du kannst nichts mehr für den Kleinen tun. Aber sieh her." Sie legte das kleine Bündel ungefragt in die Arme des Mädchens. Nur zögerlich schloss Naome die Arme um das Baby und drückte es an ihre Brust. Das Baby wusste genau, was es an der Brust einer Mutter zu holen gab und saugte an seiner Zunge. Als Naome nicht sofort reagierte, begann es zu quengeln. Das war das Zeichen für die junge Mutter ihre Bluse zu öffnen und es an ihren Busen zu halten. Damit lächelte Mae glücklich und zwinkerte Carry zu. Wenigstens ein Leben war gerettet.

"Ist es nicht etwas unverantwortlich, das Kind in ihrer Obhut zu lassen?", wollte Carry wissen.

"Überhaupt nicht", entgegnete Mae kopfschüttelnd und beobachtete stolz, wie ihre Nichte über den Kopf des Kindes streichelte. Ihr eigenes totes Kind hatte sie längst vergessen. Mae nahm den kleinen Leichnam hoch und bettete es sorgsam in Tücher gewickelt in eine kleine Grube. "Sie ist eine liebevolle Mutter", fuhr sie fort, während sie mit bloßen Händen Erde auf das kleine Grab schaufelte. "Ich habe noch keine Frau gesehen, die ihr Kind derart umsorgt. Sie gibt es keine Sekunde aus den Händen. Seit dem Tod ihrer Eltern, lebt sie in einer Welt, fern der unseren."

"Habe ich gemerkt", meinte Carry feststellend. "Wo ist eigentlich der Vater?"

"Ich hoffe, er ist an seinem Trieb erstickt", schimpfte Mae wütend. "Wir gerieten in eine Straßenkontrolle. Als die Polizisten bemerkten, dass wir Flaemen waren, sind sie über uns hergefallen, wie brünstige Wildschweine. Sie ist dabei schwanger geworden."

Carry nickte nur und befestigte das Grab mit Steinen.

 

"Bevor die Sonne gänzlich aufgegangen ist, sollten wir uns von hier verdrückt haben", sagte Normans Stimme. Carry drehte sich zu ihm um. "Wir müssen den Koloss wieder auf die Räder stellen. Alle, die sich noch auf den Beinen halten können, antreten." Er winkte einigen Männern, die nur Kratzer und leichte Verwundungen davongetragen haben. Mit vereinten Kräften, jede Menge Schweiß und einer verstauchten Hand gelang es ihnen, den Laster wieder auf die wulstigen Räder zu stellen. Die Panzerplatten auf der einen Seite, waren beinahe miteinander verschweißt. Dreck und Grasfetzen schmückten die stählerne Wand. Carry rüttelte an Achsgestänge, Reifen und Lenkung. Der Aufbau war etwas verbogen, doch im Großen und Ganzen hatte der Laster es gut überstanden. Er setzte sich wieder selbst hinter das Steuer. Nicht nur, weil der Junge auf der Ebene zurückbleiben musste, sondern auch, um während der Fahrt selbst feststellen, ob sich nicht doch mehr ereignet hatte.

 

Die Stimmung im Laster war bedrückend. Die Unterhaltungen von vorher waren in leise Trauergesänge übergegangen. Die jammervollen flaemischen Tonfolgen, die Norman so fürchtete, schienen ihm nun nichts mehr anzuhaben. Er verzog keine Miene, als klagender Gesang nach vorn drang. Er war gedankenverloren zusammengesunken und schien an sich selbst und seiner Aufgabe zu zweifeln. Dass weder er, noch irgend jemand anderer seiner Truppe etwas dafür konnte, wusste er. Doch irgendwie konnte er nicht so Recht an seine Unschuld glauben. Er hätte besser aufpassen sollen. Er hätte den Jungen nicht fahren lassen sollen. Aber es war nun mal passiert.

Carry lenkte das Gefährt geschickt den engen Mon-Pass hinunter. Die rutschigen Schotterstraßen machten selbst dem stählernen Ungetüm arg zu schaffen. Doch Carry besaß genügend Übung, kleine Ausrutscher und Schwächen abzufangen. Die Passabfahrt hätte er ohnehin am Tag wagen müssen. Denn Nachts hätte er die verhängnisvollen Makeln der Straße nicht rechtzeitig sehen können. Er hätte dazu die Scheinwerfer anschalten müssen und wäre eher entdeckt worden, als ihm lieb war.

Carry fuhr in altgewohnter Weise, in Höchstgeschwindigkeit die Asphaltstraße in Richtung Kenkover entlang. Seit dem Zwischenfall damals mochte er diese Stadt nicht sonderlich. Doch die schnellste Verbindung zum Mon-Gebirge zur Grenze bedeutete die Schnellstraße, die knapp an Kenkover vorbei führte. Er hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet. Nur das matte Mondlicht leuchtete ihm den Weg. Carry kannte den Weg beinahe auswendig. Er wusste genau, wo er die Straße verlassen und wenige Kilometer über das Land fahren musste, um einer festen Straßenkontrolle zu entkommen. Die Schnellstraße war eine Asphaltspur quer über das Weitland. Links und rechts von ihnen erstreckte sich ebenes Gelände, ohne Busch, ohne Wald, ohne einen einzigen Hügel. Vor ihnen lag ein weiteres Gebirge; das Grenzgebirge, mit dem ersehnten Katcho-Pass. Carry kannte einen Weg um Kenkover herum, der ebenfalls zum Fuß des Passweges führte. Er fuhr von der Straße ab und raste, eine Staubwolke hinter sich herziehend, über die sandige Gegend.

Wieder eine altgewohnte Fahrt für ihn. Nachts, ohne Scheinwerfer, eine Ladung Flüchtlinge im Rücken. Doch diesmal einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge. Norman saß noch immer zusammengesunken neben ihm, die Füße auf das Armaturenbrett gelegt, das Kinn auf der Brust. Ob er schlief, oder nur nachdachte, vermochte Carry nicht zu sagen. Er stieß ihm seicht den Ellbogen in die Seite.

 

"He, aufwachen. In zwei Stunden erreichen wir den Katcho-Pass." Carry drehte kurz den Kopf zur Seite. Norman war hochgeschrocken.

"Ich habe mir überlegt", begann Norman und richtete sich auf. "Es wäre unvorteilhaft, wenn ich über die Grenze gehe. Von dieser Seite der Mauer aus, kann ich viel besser für die Flüchtlinge sorgen."

"Wie du willst", gab Carry von sich. "Aber sage es rechtzeitig. Sobald wir oben sind, haben wir die Grenze überschritten."

"Setz uns in der Nähe von Kenkover ab", entschied Norman.

"Dort sind drei Stellungen postiert", berichtete Carry.

"Der beste Ort für den Aufbau eines neuen Imperiums", grinste Norman. "Wenn sie in der Nähe sind, kann ich sie besser kontrollieren."

Carry drehte am Lenkrad und machte einen weiten Bogen, zurück auf die Straße, Richtung Kenkover.

"Ich hätte einen dieser Geländejeeps mitnehmen sollen. Dann hättest du direkt zum Katcho-Pass fahren können."

"Damit wärst du aufgefallen wie ein bunter Hund", wusste Carry. "Deine Tarnung muss wirklich perfekt sein, um nicht aufzufallen. Außerdem steht dir dieses kalte Glitzern nicht."

"Welches kaltes Glitzern?"

"Das diese Typen in den Augen haben, wenn sie jemanden töten."

Norman verzog seine Mundwinkel und strich sich über das Gesicht.

"Kennst du das Wasserwerk in Kenkover?", wollte Norman wissen.

"Willst du die Wassertemperatur des Kühltanks wissen?", fragte Carry mürrisch zurück. Die Erinnerung keimte wieder in ihm auf.

"Eigentlich nicht", erwiderte Norman schnell. "Hinter dem Wasserwerk gibt es eine alte Fabrik. Ich hoffe, dass sie noch existiert."

"Sie existiert noch", nickte Carry wissend. "Wenn du bei halb zerfallenem Mauerwerk und zerschlagenen Fenstern von Existenz sprechen kannst. Die alte Konservenfabrik ist nur noch Hotel für Ratten und anderes Getier."

"Und unser neuer Unterschlupf. Bevor ich in die Mon-Berge ging, habe ich mich dort versteckt gehalten und alles vorbereitet. Hoffentlich sind die alten Stollen noch intakt."

"Das letzte Mal, als ich daran vorbeifuhr, standen jede Menge Bagger und Baufahrzeuge auf dem Gelände. Vielleicht haben sie inzwischen schon eine Wohnsiedlung darauf gebaut. Wusstest du, dass die Konservenfabrik einem Flaemen gehört hatte?"

Norman schüttelte den Kopf.

"Deswegen wird sie nicht mehr in Betrieb genommen", erklärte Carry. "Obwohl die Region es gut gebrauchen könnte. Aber der verdammte Stolz lässt sie lieber auf einiges verzichten."

"Weißt du, dass ich nie danach gefragt habe, warum sie die Flaemen ausrotten wollen? Ich weiß es bis heute nicht genau."

"Es gibt mehrere Gründe. Einer davon ist ihr Glaube. Sie akzeptieren keinen anderen Herrn und Führer, als den Allmächtigen. Sie sind so beherrscht in vielen Dingen, doch darin sind sie stur. Ich glaube aber, dass der wahre Grund ihre Art an sich ist. Sie passen einfach nicht in das Bild der neuen Regierung. Sie sind gegen Gewalt und einseitige Ansichten."

Norman blickte zum Fenster hinaus und beobachtete die vorbei streichende Landschaft. Weit vor ihnen, am Horizont schien eine kleine Sonne zu erwachen. In Wirklichkeit war es die Nachtbeleuchtung von Kenkover.

"Wie wäre es mit einem Anschlag auf die gesamte Präsidentschaft?", schlug Norman gedankenversunken vor.

"Das war meine Idee", protestierte Carry und zwinkerte mit einem Auge. "Ich hatte sie zuerst. Doch dafür fahren wir in die falsche Richtung."

"Liefere du erst deine Ladung ab und triff mich in Kenkover wieder", befahl Norman. "Auch wenn die Fabrik nicht mehr existiert. Dann werden wir schon weitersehen."

"Irgendwelche Sonderwünsche?", wollte Carry wissen. "Phosphor- oder Atombomben? Plastiksprengstoff? Zeitzünder?"

"Nein."

"Klingt nach einer Idee."

"Ein wager Gedanke."

"Du wirst doch nicht im ernst zum Attentäter?",

"Vielleicht", entgegnete Norman achselzuckend. "Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich muss erst sehen, wie die Lage ist."

"Rechne aber nicht so bald mit meiner Rückkehr. Wenn überhaupt. Die Grenzen sind beinahe alle dicht. Es gibt nur noch wenige mögliche Übergänge. Außerdem muss ich erst dafür sorgen, dass die Karre wieder in Ordnung ist."

"Ich brauche nur einen guten Fahrer."

"Also doch", sah Carry seine Vermutung bestätigt. "Es gibt welche, die das bereits versucht haben. Ihre Gesichter kannst du jetzt als Heiligenbilder in einer flaemischen Kirche betrachten. Mach bloß keine Dummheiten."

"Wenn ich diesen Rat tatsächlich beherzigen sollte, müsste ich mit dir über die Grenze gehen", gab Norman von sich. "Ich weiß noch nicht, was ich tu. Es kommt ganz darauf an, was mich erwartet. Vielleicht gehe ich sogar nach Mon zurück, sobald sich die Wogen geglättet haben."

"Dann bist du noch verrückter, als ich dachte", bemerkte Carry, fuhr an den Straßenrand und hielt an. "Endstation. Weiter geht es nicht." In der Ferne waren bereits die ersten Häuser von Kenkover zu sehen. "Viel Glück, Kumpel."

"Dasselbe gilt für dich. Lass dich nicht aufhalten."

"Du kennst mich doch", grinste Carry frech und hatte den ersten Gang eingelegt, bevor Norman das Führerhaus verlassen konnte. Und als die Tür hinter ihm zuknallte, trat er auch schon auf das Gas und hinterließ nur noch eine Staubwolke.

Norman blickte ihm hinterher. Sein verdammter Männerstolz verbot ihm, hinterher zu winken. So nickte er dem kläglichen Rest seiner treuen Gefolgsleute zu und sie schlichen sich im Schutze der Nacht nach Kenkover.

 

Nachts ohne Licht zu fahren, strengte Carrys Augen mehr an, als ihm lieb war. Er wünschte sich, er könne sich endlich daran gewöhnen. Doch je länger er über die Piste raste, Hügel, Steinbrocken und Erdlöcher übersah, desto müder wurden seine Augen, als er versuchte sie dennoch zu sehen, bevor er hineinfuhr. Plötzlich klopfte es an die Rückwand in seinem Rücken.

"Entschuldigung", rief Maes Stimme durch die zwei Lagen Stahl und den Motorlärm übertönend. Er konnte sie kaum verstehen. "Ich weiß, es ist nicht die rechte Zeit dafür. Aber könnten wir eine vielleicht kleine Pause machen?",

Carry sah lange in beide Rückspiegel. Weit und breit war kein Licht, keine Patrouille und auch sonst nichts Verdächtiges zu sehen. Er zögerte dennoch, den Wagen anzuhalten. Sie befanden sich noch auf offener Flur. Erst in etwa zwei Stunden würden sie die Katcho-Berge erreicht haben.

"Kann das noch ein paar Stunden warten?", schrie er zurück.

"Ich glaube kaum. Den Verletzten wird das Geschaukel zu viel Bitte eine kleine Pause. Nur ein paar Minuten."

Carry bremste den Wagen ab und kam schließlich zum Halten. Er sprang aus dem Führerhaus und lief nach hinten, wo er eine Klappe öffnete, halb hinaufkletterte und den Kopf in die Luke steckte. Er suchte das Gesicht von Mae.

"In knapp vier Stunden geht die Sonne auf", begann er und hebelte sich ganz auf die Plattform. "Bis dahin möchte ich wenigstens im Gebirge sein. Ich möchte nicht als Unmensch wirken. Aber zwei oder drei Stunden vielleicht noch. Dann können wir eine längere Pause machen. Es ist zu gefährlich hier stehen zu bleiben."

"Wir verstehen das", erwiderte Mae und kam aus dem Dunkel zu ihm. "Doch ich bitte sie, wenigstens eine halbe Stunde zu warten. Mein Mann ist eben seinen Verletzungen erlegen. Er möchte unbedingt noch hier in seinem Heimatland beerdigt werden."

Carry schnaufte tief durch. Den letzten Willen eines Verstorbenen musste auch er respektieren. Und den Bitten einer frischgebackenen Witwe durfte auch er nicht widerstehen.

"Okay", gab er sich geschlagen. "Aber nicht hier. Trotz allem ist es zu gefährlich ihn hier zu beerdigen. Man könnte unseren Weg verfolgen. Am Fuße von Katcho ist immer noch Weitland. Wie wäre es damit?"

"Einverstanden", nickte sie traurig. "Gibt es noch etwas Wasser für die Verletzten?"

Carry überlegte kurz. Sie hatten bei ihrem Aufbruch die Wasserfässer nicht wieder aufgeladen. Aber vielleicht hatte er vorne im Führerhaus noch eine Flasche? Er fand tatsächlich noch eine und reichte sie auf die Ladefläche.

"Gehen sie sparsam damit um. Es ist die letzte."

Mae nickte nur und verschwand wieder im Dunkeln der Ladefläche. Carry drehte sich um und ließ seinen Blick über den Horizont schweifen. Da traf ihn etwas am Kopf und er sank bewusstlos nieder.

 

"Es ist ein Fehler", sagte Mae und betrachtete den Fahrer. "Es rettete unser Leben und wir verschwenden nun das seine."

"Wir waren uns doch einig", schimpfte ihr Mann, während er Carry verschnürte, wie ein Paket. Er nahm dazu die Striche, mit denen normalerweise die Fässer an die Frontwand geschnallt wurden. "Um unsere Leute zu retten, brauchen wir den Wagen."

"Vielleicht hätte er uns geholfen, wenn wir ihn nur gefragt hätten", bedachte sie.

"Er und seine Leute verlangen Bezahlung dafür. Wir haben nichts mehr. Das weißt du genau. Das Letzte, das wir auftreiben konnten, haben wir diesen Kerlen bereits in den Rachen geworfen, um überhaupt soweit kommen zu können." Er zerrte den letzten Knoten fest. "Ich dachte schon, sie würden den Laster niemals verlassen. Ohne Waffen wäre es uns niemals gelungen, sie zu überwältigen."

"Ich halte es trotzdem für einen Fehler. Er ist ein guter Mensch."

"Er und die anderen sind nichts anderes als Söldner", schimpfte Garth. "Sie knöpfen Notleidenden den letzten Groschen ab. Ihnen gehört es nicht anders."

"Aber sie haben so vielen von uns geholfen."

"Damit sie im Land des Lebens ohne einen Penny dastehen? Nennst du das Hilfe?"

"Du bist wie ein richtiger Weitländer. Nur auf dich selbst bedacht", schimpfte sie.

"Ganz im Gegenteil", rief Garth und erhob sich. Er stellte sich breitbeinig vor seine Frau und bedachte sie mit einem wütenden Blick. "Mit Hilfe dieses Wagens werden wir unsere Leute ohne eine Bezahlung über die Grenze bringen."

Mae betrachtete den Fahrer traurig. Es tat ihr leid um ihn.

"Jetzt ist ein für alle mal Schluss damit", entschied er energisch. "Wir fahren zurück nach Phasanker und holen unsere Freunde."

"Ich werde nicht mitkommen", rief Mae und reckte ihr Kinn.

"Nun werde nicht störrisch, wie ein alter Esel. Mach, dass du in den Wagen kommst, damit wir endlich von hier verschwinden können. Eines muss ich sagen, Recht hatte er. Hier stehen zu bleiben ist gefährlich, auch wenn es Nacht ist. Nun komm schon."

"Nein", blieb Mae hartnäckig.

"Soll ich dir erst den Hintern vertrimmen?", drohte Garth böse.

"Es ist sein Wagen und damit wird er noch Vielen das Leben retten", hielt sie tapfer dagegen.

"Mag sein. Vielleicht wird dieser Wagen noch Vielen das Leben retten, jedoch ohne dafür bezahlen zu müssen."

"Wie sonst hätte er Benzin und die ganze Versorgung in der Höhle bezahlen sollen", gab sie zu Bedenken.

"Noch ein Wort und lege dich wirklich übers Knie", drohte er diesmal ernster.

Mae gab endlich nach. Wohl war ihr dabei wirklich nicht. Sie hoffte, dass sie ihm eines Tages nicht wieder gegenüber treten müsse. Sie würde ihm nicht mehr in die Augen sehen können. Die Hände auf der Brust gefaltet und in ein stilles Gebet versunken, das dem betrogenem Fahrer gelten sollte, saß sie neben ihrem Mann im Führerhaus des Lasters und ließ sich von ihm zurück in Richtung Mon-Berge fahren.

 

Carry hatte nur noch Flüche übrig. Erst Recht, als sich die verdammten Fesseln nicht lösen wollten. Er wand und drehte seine Gelenke, doch die Stricke, die für stärkste Ansprüche gedacht waren, wollten ihn nicht freigeben. Als er zu sich gekommen war, fehlte von seinem Laster und seinen hinterhältigen Passagieren jede Spur. Er fluchte erneut ungehemmt vor sich hin, dann verstummte er. Ein Geräusch hatte ihn stutzig gemacht. Er drehte sich in die Richtung und sah einen Artilleriejeep auf sich zukommen. Jetzt musste er sich eine plausible Erklärung einfallen lassen. Er legte den Kopf zurück und dachte angestrengt nach.

 

"Was bist denn du für einer?", rief der Polizist und tippte mit seinem Hartgummischlagstock auf Carrys Brust.

"Mach mich los", forderte dieser.

"Wo sind deine Papiere?"

"Im Handschuhfach von meinem Wagen", rief Carry und versuchte erneut sich zu befreien.

"Was machst du hier, soweit draußen?", wollte ein anderer Polizist wissen.

"Zum Spaß bin ich sicherlich nicht hier", maulte Carry. "Ich war auf dem Rückweg von Chikoro nach Kenkover, einen neuen Tuner in meinem Wagen testen. Da standen zwei Leute am Straßenrand. Ich dachte mir nichts dabei und nahm sie mit. Sie standen ziemlich weit draußen. Doch irgendwann bekam ich eines übergezogen und als ich wieder zu mir kam, lag ihr hier irgendwo in der Prärie. Bitte macht mich endlich los."

"Alles schön und gut", rief der Erste und beugte sich nieder. "Woher weiß ich, dass du kein Verräter bist?"

"Sehe ich etwa flaemisch aus?", fuhr ihn Carry beleidigt an. "Mach mich endlich los!"

"Nun mal langsam." Er erhob sich wieder und flüsterte einige Worte mit seinem Partner. Carry ließ sich zurücksinken und starrte in den Himmel. Er hoffte, dass sie ihm seine Geschichte abnahmen. Er sah wirklich nicht flaemisch aus. Dafür hatte er stets gesorgt. Ein Fluchthelfer mit Kochtopfhaarschnitt, ledernen Kniebundhosen und ... würde nicht allzu weit kommen. Er hatte seinen schwarzen Schopf stets pflegeleicht kurz gehalten, lief in schwarzledernen Hosen mit Zierverschnürung an den Seiten und Motorradstiefel herum. Im Winter trug er eine Motorradjacke aus Jugendzeiten und im Sommer leichte Hemden oder T-Shirts. So präsentierte sich ein Flaeme wirklich nicht. Ihm fiel noch die Tätowierung ein, die er sich in fernen Jugendzeiten im betrunkenen Zustand hatte machen lassen. Ein Flaeme tat derartiges nicht.

"Nun macht schon", jammerte Carry und wand sich wie ein Fisch an der Angel. Die Fesseln begannen allmählich, sich ins Fleisch zu schneiden.

Einer der Polizisten kam zurück, kniete sich neben ihn nieder und drückte den Knüppel wieder in die Rippen des Gefesselten, dass dieser zusammenzuckte.

"Weißt du, was einen dreckigen Flaemen noch auszeichnet?", fragte er mit breitem Grinsen.

"Keine Ahnung. Verrate es mir."

Der Zweite kniete sich ebenfalls nieder, vergriff sich in Carrys Haare und zog den Kopf hart zurück.

"Die Kerle sind beschnitten", lachte er und spuckte ihm dabei die feuchte Aussprache ins Gesicht.

"Tu dir keinen Zwang an", keuchte Carry und freute sich bereits jetzt darauf, die verdammten Polizisten zu enttäuschen.

Der Andere begann bereits die Hose zu öffnen, zog den Reißverschluss herunter und zerrte wenig gefühlvoll den Penis hervor. Sein Gesicht hätte Carry nur zu gerne sehen wollen. Doch die Hand in seinem Haar verhinderte es.

"Mist", fluchte der Polizist und hievte sich auf die Beine.

"Muss dich leider enttäuschen", rief Carry und konnte sein erfreutes Lachen nur schwer unterdrücken. "Würde ihr bitte endlich so gnädig sein und mich ..." Weiter kam er nicht, denn die Hand riss ihn härter in den Nacken.

"Wer hat deinen Wagen geklaut?", zischte er wütend.

"Keine Ahnung", keuchte Carry. Es gelang ihm nicht einmal die Zähne zusammenzubeißen. "Waren jedenfalls keine Kerle in kurzen Hosen und merkwürdigem Haarschnitt. Sonst hätte ich sie gar nicht erst mitgenommen."

"Nur Autodiebe, was?"

"Woher soll ich das wissen?"

"Du hättest dich vergewissern sollen, wer die Typen waren. Hast du sie nach Namen oder Herkunft gefragt."

"Sehe ich so blöd aus?" Die Hand zog ihn noch tiefer in den Nacken. "Der Eine hieß Wilker Madisen, der Andere Hank Irgendwas, habe ich mir nicht gemerkt. Sie erzählten sie wären mit einem Kumpel von Chikoro gekommen. Dann hätte es einen Streit gegeben und er hätte sie aus seinem Wagen geworfen."

"Was für ein Streit?"

"Ging mich nichts an." Carry keuchte vor Schmerzen. "He. Ich bin ein loyaler Bürger. Ihr dürft mich nicht foltern."

"Wir foltern dich?", fragte der stehende Polizist überrascht.

"Wie nennt ihr das hier?"

Die Hand löste sich endlich aus dem Haar. Carry atmete erleichtert aus und drehte und wendete seinen Nacken. Und endlich zog jemand ein Messer aus der Tasche und zerschnitt die Fesseln. Prüfend wog er sie in der Hand.

"Das sind ziemlich starke Stricke", sagte er feststellend. "Diese Sorte hier, wird eigentlich nur für Transport benutzt. Sind das deine?"

"Nein. Was sollte ich damit? Keine Ahnung woher die kommen." Carry rieb die Gelenke. "Nehmt ihr mich mit in die Stadt?", fragte er vorsichtig, während er seine Hose wieder schloss.

"Wie ist dein Name?"

"Martin Bould", antwortete Carry und stellte sich auf seine Beine. Ein Name, der ihm schon manches Mal hatte dienen müssen. Er gefiel ihm irgendwie. Die Idee dazu hatte er in einer Straßensperre bekommen. Ein Radiomoderator hatte sich mit diesem Namen vorgestellt.

"Wir werden das überprüfen", warnte der Polizist und verzog seine Oberlippe.

"Nur zu", gab Carry von sich. "Was ist? Nehmt ihr mich mit? Ist ein langer Fußmarsch bis nach Kenkover."

Die Polizisten lachten amüsiert und spazierten zu ihrem Wagen. Carry war schneller und sprang hinten auf, bevor sie etwas entgegnen konnten. Ein Fußmarsch war das Letzte, was er im Moment gebrauchen könnte. Zu Fuß würde er vielleicht erst Mitternacht ankommen. Mit dem Wagen, waren es nur knapp zwei Stunden, bis zur Straße zurück und eine halbe bis nach Kenkover. Carry hütete sich davor, in die Gespräche der beiden Polizisten einzufallen. So derb sie auch über die Flaemen herzogen. Er hätte am Liebsten mitgemacht, erst Recht nachdem sie ihm seine Karre gestohlen hatten. Doch er hielt den Mund. Allzu auffallend war nicht sonderlich gut.

 

Kenkover war eine Stadt, wie beinahe jede in Weitland. Es gab jede Menge brave, loyale Bürger, viel Streifenpolizisten und keinen einzigen Menschen in knielangen Lederhosen. Überall standen die Propagandatafeln herum, klebten Hetz-Plakate selbst an halb zerfallenen Häuserwänden und beinahe hinter jeder Gardine stand jemand mit einem Fotoapparat. Carry steckte die Hände in die Hosentasche und schlenderte die Straße entlang. Der eindeutige Beweis seiner unbeschnittenen Männlichkeit hatte selbst die Polizisten auf der Wache von seiner nichtflaemischen Herkunft überzeugt und nach einem kurzen Protokoll und einer Beschreibung der Täter durfte er wieder gehen. Er marschierte ins nächste Hotel, duschte sich und wartete geduldig auf die hereinbrechende Nacht, um Norman einen Besuch abzustatten.

Dieser war sichtlich überrascht ihn sobald wieder zu sehen. Er hatte in den alten Stollen unter der Fabrik einen neuen Stützpunkt eingerichtet.

"Deine sauberen Schützlinge haben meine Karre geklaut", schimpfte Carry und kickte gegen eine Kiste mit neuen Maschinengewehren. Die Aufschrift auf der Kiste bewies, dass sie aus dem Bestand der Grenzpolizei stammte. "Kaum dass ihr fort wart, zogen sie mir eins über und verdrückten sich."

"Wohin?", wollte Norman wissen.

"Woher soll ich das wissen?", rief Carry ärgerlich. "Bekomme du erst einmal eine Wasserflasche über den Scheitel gezogen."

"Sie versuchen doch nicht etwa allein über die Grenze zu kommen."

"Nein, ich denke, sie haben das von Anfang an geplant. Vermutlich warten noch irgendwelche Kumpels in irgendeinem Schlupfwinkel auf sie."

"Das wäre doch kein Problem gewesen. Sie hätten nur etwas zu sagen brauchen und sie wären beim nächsten Mal dran gewesen."

"Vielleicht haben sie nicht an ein nächstes Mal gehofft. Ich meine, sie waren dabei, als du deine Stellung in Mon aufgeben musstest."

Norman sah nachdenklich zur Seite. Dann wand er sich um und ließ seinen Blick über den im trüben Gaslicht erhellten Raum schweifen.

"Meran", rief er leise und winkte einen Mann zu sich, der seinen Namen gehört und daraufhin den Kopf gehoben hatte. "Hast du etwas von den Leuten gehört? Haben sie über einen derartigen Plan gesprochen?"

Meran schüttelte den Kopf.

"Er ist Flaeme", erklärte Norman.

Carry blickte ihn verwundert an.

"Ich weiß, er sieht nicht so aus", wusste Carry sofort Bescheid. "Aber ihn so auffällig herumlaufen zu lassen, war zu gefährlich." Er wand sich wieder an den Mann, mit dem Bürstenhaarschnitt, den abgetragenen Jeans und den Armeestiefeln. "Hat niemand irgend etwas über einen geplanten Raub des Lasters gesprochen? Oder vielleicht über Freunde, die irgendwo auf sie warten?"

"Nein. Nichts."

"Sie vertrauen es sicherlich nicht jemanden, wie ihm an", wusste Carry. "Wenn er es ihnen nicht beweist ..." Dabei zeigte er auf seinen Schritt. "Dann werden sie es niemals glauben."

Meran wusste, worauf Carry hinaus wollte.

"Wir sehen es Einem an, ob er zu unserem Volk gehört", erklärte er.

"Woran?", wollte Carry wissen.

"Es ist die Ausstrahlung. Eine besondere Art, auf einen Fremden zuzugehen. Man beobachtete ihn und weiß Bescheid."

"Und sie akzeptieren dein neues Outfit?"

"Nicht alle", lächelte Meran und sah verlegen zu Boden. "Aber sie respektieren meinen Entschluss."

"Okay, aber deswegen haben sie dir noch lange nicht verraten, was sie mit meiner Karre vorhaben."

"Ich konnte nicht mit allen sprechen. Und woher sollte ich wissen, dass sie derartiges planen."

"Das war kein persönlicher Angriff", besänftigte Carry den Flaemen, in dessen Gesicht Verärgerung aufzukeimen schien. "Ich bin einfach nur sauer. Einen Laster wie diesen gibt es kein zweites Mal. Erst machen sie einem das Herz weich, von wegen Gatte will noch in Weitland bestattet werden, dann befördern sie einen auch gleich mit der freundlich überlassenen letzten Wasserflasche ins Reich der Träume. Von wegen gutmütig. Das war eiskalt geplant und durchgezogen. Und ich sitze jetzt hier fest. Ich habe keine Einreisegenehmigung und meine sämtlichen Papiere sind mit meinem Laster auf Reisen gegangen. Nur gut, dass sich die vertrottelten Bullen bereits von einer heruntergelassenen Hose überzeugen lassen."

Norman betrachtete ihn fragend.

Meran verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln.

"Ein Transporter dieser Größe kann nicht einfach untertauchen", wusste Norman und atmete tief ein. "Er wird irgendwo wieder auftauchen. Du bekommst ihn bestimmt wieder zurück."

"Ich fürchte nur, nicht mehr in einem Stück. Die Karre hat mich viel Geld gekostet."

"Willst du damit etwa andeuten, ich soll dir deinen Schrotthaufen ersetzen?"

"Bisher war der Schrotthaufen stets gut genug gewesen", maulte Carry zurück. "Deine Schützlinge haben ihn geklaut, also wäre es nur gerecht, wenn du entweder die Karre oder Ersatz wiederbeschaffst."

"Du hast sie wohl nicht mehr alle", protestierte Norman und baute sich breitbeinig vor Carry auf. "Du bist doch selbst schuld. Dir die Karre unter dem Hintern fort klauen zu lassen. Das passiert so einem Kerl wie dir."

"Okay, Großmaul", rief Carry verärgert. "Dann kannst du dir für die Zukunft einen anderen Fahrer suchen." Er wand sich um und marschierte davon.

 

"Ich würde ihn nicht gehen lassen", wand Horres ein und legte die Handel aus der Hand. Er erhob sich und folgte ihm einige Schritte, bis Norman die Hand hob und ihn daran hinderte.

"Lass ihn. Er kommt schon wieder", wusste er. "Er kann ohne uns das Land nicht verlassen."

"Da wäre ich mir mal nicht so sicher", hatte Horres Bedenken. "Der Kerl besitzt mehr lukrative Beziehungen, als du Unterhosen."

"Ich kenne Carry besser, als jeden anderen von euch", entgegnete Norman ruhig und winkte einem seiner Männer. "Geh ihm nach, Garvin. Aber lass dich nicht erwischen."

"Aber klar doch", nickte dieser und rannte aus dem Stollen hinaus.

"Und du, Meran", wand er sich wieder an den Flaemen. "Denke scharf darüber nach, ob nicht vielleicht doch jemand etwas erwähnt hat. Wir brauchen den Laster ebenfalls dringend. Sonst bekommen wir das Geschütz nicht aus der Stadt heraus."

Meran zuckte mit den Schultern und dachte tatsächlich noch einmal darüber nach.

 

Carry spazierte gedankenverloren durch die leeren Hallen der alten Konservenfabrik. Am Wassertank blieb er stehen und sah hoch. Hier war sein Freund gestorben. Er selbst war ebenfalls hoch oben auf der Plattform gestanden und hatte mitansehen müssen, wie sein Freund Marc langsam starb. Damals war die Fabrik noch in Betrieb gewesen. Er sah sich um. Seit damals ist sie ganz schön heruntergekommen. Dann ließ ihn ein Geräusch zusammenfahren. Er blieb ruhig stehen und lauschte in die Nacht.

Er wollte es nicht glauben. Norman ließ ihn verfolgen. Kopfschüttelnd spazierte er weiter. Das war das Ende, schwor er sich. Norman tat dies nicht umsonst.

 

Carry kam sich von allen Seiten ausgebootet vor; und das in einem Land, in dem er eigentlich nichts zu suchen hatte. Ohne Papiere und ohne Geld. Er konnte nicht einmal das Hotelzimmer bezahlen, in welchem er die ersehnte Dusche genommen hatte. Er musste versuchen so unauffällig wie möglich zu sein und nicht in eine Kontrolle zu geraten. Es gab schließlich noch andere. Er war auf Norman nicht angewiesen. Zudem war er in Kenkover nicht zum ersten Mal gewesen.

Seit seinem ersten Besuch hatte die Stadt vieles an Schmuck verloren. Er schlenderte durch eine menschenleere Straße, die am Tage mit Kauffreudigen überfüllt war. Doch in der Nacht gab es nur Wenige, die sich die Mühe machten, vor die Tür zu geben. Carry musste nur darauf Acht geben, keiner Streife in die Hände zu fallen. Er sah sich kurz um. Irgendwo hier musste doch eine Kneipe sein. Von irgendwo her kam das Johlen betrunkener Männer. Sie musste ganz in der Nähe sein. Carry entdeckte das Lokal, warf die Tür auf und trat ein. Er wäre am liebsten sofort wieder umgekehrt. Doch mit seinem Eintreten, hatten sich einige der Gäste zur Tür umgedreht und den Neuankömmling begutachtet. Carry setzte sich nahe am Fenster an einen leeren Tisch und versuchte gar nicht erst hinzusehen. Das Vergewaltigen von flaemischen Frauen schien sich in Weitland zum allgemeinen Breitensport entwickelt zu haben. Zwei Männer beugten sich über zwei Frauen, die das Alter von Naome haben könnten. Der Großteil der Gäste stand johlend herum und feuerten die beiden Helden an. Carry fragte sich, wo sie nur den Nachschub an flaemischen Frauen auftrieben.

Der Wirt kam mit einem feuchten Tuch und einem leeren Glas an, wischte über den Tisch und blickte den neuen Gast erwartungsvoll an.

Carry schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Penny in der Tasche. Vielleicht hätte er Norman anpumpen sollen.

"Wenn du hier bleiben willst, dann musst du auch etwas bestellen", maulte der Wirt und streckte seinen Wohlstandsbauch heraus.

"Ich hatte eben eine Menge Ärger. Ich will einfach nur hier sitzen bleiben und nachdenken", versuchte sich Carry herauszureden. Es war ein Fehler, in dieses Lokal zu gehen. Eigentlich wollte er nur seinen Verfolger abhängen. Er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit des Wirtes gerechnet.

"Nachdenken kannst du auch draußen", motzte der Dickbäuchige und deutete zur Tür.

"Ich könnte es nicht bezahlen", sagte er aufrichtig. Die Wahrheit war oft der bessere Schlüssel. "Ich wurde eben bestohlen."

"Von dreckigen Flaemen?", versuchte der Wirt zu erraten und erwartete gierig ein bestätigendes Nicken.

"Ich weiß nicht", erwiderte Carry. "Vielleicht. Ich habe sie nicht gesehen." Er rieb sich den Kopf, was andeuten sollte, dass er niedergeschlagen wurde. Tatsächlich schmerzte die Beule noch immer. Er blickte kurz zum Fenster hinaus, wo ein Schatten vorbeigehuscht war.

Der Wirt lachte lauthals und stellte endlich das Glas auf den Tisch.

"Bestimmt war es dieses verlauste Pack. Denen ist nicht zu trauen", bellte der Wirt und drehte sich kurz zu dem Wettbewerb um. Die nächsten Teilnehmer waren an den Start gegangen und wurden ebenfalls mit johlenden Rufen und gellenden Pfiffen angefeuert. "Willst du dir deinen Drink verdienen?", fragte er und deutete auf die fröhliche Runde.

"Nein, danke", winkte Carry angewidert ab. Er erschauderte bei dem Gedanken, einer Frau Gewalt antun zu müssen. Außerdem ekelte er sich davor, dort hineinfahren zu müssen, wo bereits zwanzig andere ihre Initialen hinterlassen hatten.

"Entweder das, oder du verziehst dich wieder", stellte ihm der Wirt das Ultimatum.

Carry erhob sich. Lieber rannte er seinem Begleitschutz in die Arme, als das er gezwungen war ...

Der bauchige Kerl hielt ihn auf.

"Was bist du denn für einer?", spuckte er ihm ins Gesicht. "Trägst Leder wie ein Rocker und kneifst den Schwanz ein, wie ein Mamasöhnchen."

"Weißt du, ich bin in dieser Beziehung etwas wählerisch", erklärte Carry mit einem lässigen Lächeln und deutete mit dem Kopf auf den laufenden Wettbewerb. "Außerdem ziehe ich es vor, eine Frau für mich allein und genügend Zeit dafür zu haben."

"Ach so einer bist du", rief der Dicke und kicherte höhnisch. "Lässt dich von so'nem verdammten Pack ausrauben und kneifst davor, es ihnen zu richtig zu zeigen."

"Ich ziehe es vor, sauber zu bleiben", gab Carry von sich und machte ein paar Schritte rückwärts. "Hast du vorhin nicht gesagt, ich hätte die Wahl, zwischen das und gehen. Ich gehe. Gute Nacht."

"Dreckiger Schlappschwanz", spuckte der Dicke hinter ihm her.

Unter anderen Umständen hätte er es ihm gezeigt. Ob er an Gewicht überlegen war, oder nicht. Doch er wollte sich nicht dazu zwingen lassen, sich in ein völlig durchnässtes Loch zu begeben. Carry atmete tief durch, um sein angewidertes Schaudern zu unterdrücken. Er hasste Huren. Die beiden Mädchen konnten zwar nichts dafür. Aber trotzdem würde er sich nicht zu ihnen gesellen.

Mit einem weiteren tiefen Atemzug hörte er die Tür hinter sich ins Schloss einschnappen, drehte sich um und marschierte die Straße weiter hinauf. Ihm war es inzwischen vollkommen gleichgültig wer oder was ihm noch über den Weg lief. Durch ein leises Geräusch machte sein Schatten auf sich aufmerksam. Carry räusperte sich und schlenderte weiter, als wäre nichts geschehen.

 

"Hast du Lust ewig hinter mir herzulaufen?", rief er in die Nacht hinein. "Du kannst Norman ausrichten, dass er mich mal kreuzweise kann."

"Hast du Lust, die ganze Nacht spazieren zu gehen?", kam es zurück.

Carry blieb stehen, lauschte einen Moment in die Nacht und drehte sich langsam um.

"Kann es sein, dass ein gewisser Cedric den Weg aus seinem Rattenloch gefunden hat?", rief er leise.

"Ich dachte schon, du kommst niemals drauf." Eine Gestalt kam hinter einem geparkten Wagen hervor. "Wen hast du eigentlich mit Norman gemeint?", wollte dieser wissen.

"Was machst du denn hier?", fragte Carry stattdessen und ging ihm langsam entgegen. Er hatte ihn während einer Schlägerei in einer ebenso miesen Bar, wie der aus der er eben gekommen war, getroffen. Zwei Männer, die sich für eine entsprechende Bezahlung zu beinahe allem überreden ließen.

"Das gleiche könnte ich dich fragen", gab der Andere zurück. "Aber sollten wir unsere Unterhaltung nicht in einem anderen Separee fortführen? Hier sind zu viele Ohren."

"Okay", nickte Carry und spazierte mit ihm die Straße zurück. Er sah sich mehrmals um, doch weder ein Geräusch, noch ein Schatten ließ auf seinen Begleitschutz hindeuten.

"Suchst du jemanden?", wollte der blonde Kerl, namens Cedric wissen.

"Ja, jemanden, den mir Norman auf den Hals gehetzt hatte."

"Meinst du den Kerl, der dich seit dem Wasserwerk verfolgte?"

"Genau den. Wo ist er?"

"Er schläft irgendwo in einem Müllcontainer den Schlaf der Gerechten."

"Woher wusstest du, dass ich in Kenkover bin?"

"Das wusste ich nicht", gestand Cedric. "Ich sah dich, als du das Hotel verlassen hast. Ich folgte dir bis zum Wasserwerk und wieder zurück. Dieser Norman, wer ist das eigentlich."

"Ach, irgend so ein Kerl, für den ich arbeite", antwortete Carry. "Und was machst du hier?"

"Vermutlich dasselbe wie du. Ich streune durch die Straßen und versuche mir die Nacht um die Ohren zu schlagen." Er grinste frech und betrachtete den Mann neben sich. "Du siehst noch immer so verlottert aus, wie damals in dieser Bar."

"Und du scheinst inzwischen große Geschäfte zu machen, was?", mutmaßte Carry und betrachtete den feinen Anzug des Anderen. "Das große Geld, was?"

"Ach, was", winkte Cedric ab. "Ich hatte nur Glück und im entscheidenden Moment den richtigen Riecher."

"Womit verdienst du deine Brötchen?"

"Ich bin jetzt sozusagen im öffentlichen Dienst tätig. Ich setze meine Beziehungen auf beiden Seiten der Grenze im richtigen Moment ein und tätige Geschäfte über die Grenzen hinaus. Mit allem, was Geld bringt. Und was hat dich nach Kenkover verschlagen?"

"Ein geklautes Fahrzeug", erwiderte Carry ausweichend. Er traute dem Kerl nicht ganz über den Weg. Irgendwie war er seit dem letzten Zusammentreffen etwas zu schmierig geworden. "Das heißt notgedrungen bin ich hier. Ich wäre schon längst wieder zuhause, wenn mir ein paar Typen nicht den Wagen geklaut hätten."

"Norman?", versuchte Cedric zu erraten.

"Nein." Carrys Alarmglocken begannen zu läuten. Irgend etwas stimmte nicht an diesem Kerl. Er fragte zu viel nach Norman.

"Wie wäre es damit?", fragte Cedric und deutete auf die Leuchtreklame eines gediegenen Lokals.

"Nein. Ich bin pleite", lehnte Carry ab. Die Preise dieses Restaurants hätte er auch mit einem Bündel Scheinen in der Tasche nicht bezahlen wollen. Für ein Steak, das er hier drin aß, hätte er anderswo einen ganzen Imbissstand kaufen können.

"Komm. Ich lade dich ein."

"Angebot angenommen." Carry nahm es nur allzu gerne an. Seit er wieder zu sich gekommen war, hatte er nichts mehr in den Magen bekommen.

Cedric öffnete die Tür und ging voran. Leise Klaviermusik drang nach draußen. Carry verzog das Gesicht und folgte ihm trotzdem. Er hasste Unterhalter am Klavier. Aber was tat man nicht alles, für ein saftiges Steak und einen Berg gebratener Kartoffeln.

 

Carry hütete sich davor, sich durch einen Blick in die Speisekarte den Appetit verderben zu lassen. Er verdrückte seine Portion mit gehörigem Heißhunger und ließ sich selbst von dem langweiligen Pianospieler nicht davon abhalten, eine zweite Portion Bratkartoffeln zu bestellen.

Cedric hatte dafür nur ein mildes Lächeln übrig.

"Nun verrate mir endlich, was du hier in Kenkover zu tun hast, und was oder wer dieser Norman ist", griff er das Thema wieder auf, als Carry die letzte Kartoffel verdrückt und den leeren Teller von sich geschoben hatte.

"Warum willst du das wissen?", fragte Carry zurück.

"Das ist mein Job. Ich muss über alles informiert sein. Wenn du hier auftauchst, muss es etwas besonderes geben."

"Nichts besonderes", schüttelte Carry den Kopf und tupfte sich vornehm den Mund mit einer Serviette ab. "Nur ein dummer Zufall."

"Ist es wirklich ein Zufall, wenn du deinen Chef triffst?"

"Wen soll ich treffen?", fragte Carry unschuldig.

"Diesen Norman?"

"Der ist nicht hier."

"Aber ich dachte ..." Er lehnte sich zurück und ließ seinen Blick durch das Lokal wandern.

"Was dachtest du? Wegen dem Kerl, den er mir auf den Hals gehetzt hat?" Carry grinste lässig. "Der soll nur aufpassen, dass ich in der Zwischenzeit in keine Dummheiten gerate."

"Ist dein Chef denn so besorgt um dich?"

"Das nicht gerade. Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit. Er wollte mir keinen Ersatzwagen geben, damit ich zurückfahren kann."

"Also ist er doch hier."

"Warum interessiert es dich, wo er ist?"

"Ich weiß nicht. Ich habe die wenigen Male, in denen wir uns begegnet sind, stets festgestellt, dass dort, wo du auftauchst, immer eine große Sache am Laufen ist. Ich hänge mich gerne an Aktivitäten, die eventuell Profit bringen."

Carry schmunzelte.

"Diesmal ist es nicht so. Freiwillig bin ich nicht nach Weitland gekommen. Normans Frau wollte unbedingt ein Wochenende hier verbringen. Siehst du, es ist nichts, was dir auch nur einen Penny einbringen könnte."

"Jetzt erzähle mir nicht, du bist einfacher Chauffeur. So siehst du wahrlich nicht aus." Er betrachtete ihn eingehend.

"Ich wäre froh, auch nur einmal die Luxuslimousine kutschieren zu dürfen", grinste Carry. "Ich bin LKW-Fahrer, in der Flotte von Norman Redken. Ich habe meinen Chef in seinen Urlaub begleitet, weil seine Frau unbedingt das halbe Mobiliar mitnehmen musste."

"Urlaub in Weitland?" Cedric betrachtete ihn argwöhnisch.

"Nein, an der Küste von Siralien. Aber wegen des Gepäcks mussten wir den Landweg wählen. Ich weiß. Das war nicht meine Idee, sondern die von ihr. Und ich muss mir nun auch noch anhören, dass ich zum Lasterfahren zu blöde bin. Deswegen der Schutzengel. Norman glaubt, ich wäre zu betrunken gewesen, um zu wissen, wo ich meinen Laster abgestellt habe. Aber jetzt ist Schluss damit. Ich musste diese Geschichte heute schon so oft erzählen. Ich bin es leid." Er nahm einen großen Schluck aus dem Glas mit dem gefrästen Zierrand. Das Bier schmeckte leicht abgestanden. Aber das war ihm als eingefleischter Asphaltcowboy vollkommen gleichgültig. Er hatte schon schlimmeres getrunken. "Was tust du hier?"

"Ich bin hinter einem Auftrag her", berichtete Cedric und nippte an seinem Glas. "Wenn alles klappt, habe ich einen großen Fisch an Land gezogen und mir damit eine ordentliche Prämie verdient."

"Für wen arbeitest du?"

"Für mich selbst. Ich kann es mir nicht leisten, Mitarbeiter zu unterhalten. Ich bin für mich selbst verantwortlich. Damit habe ich schon genug zu tun." Er warf ihm einen verschmitzten Blick zu. "Die Geschäfte laufen auf mein eigenes Risiko. Wenn es nicht klappt, bin ich meinen Verdienst los. Wenn es klappt, um einiges reicher." Er prostete ihm zu und nahm diesmal einen tieferen Schluck.

"Um was für Geschäfte handelt es sich dabei?"

"Willst du etwa umsatteln?"

"Ich muss mir das Geld für einen neuen Laster verdienen, oder wenigstens für eine Rückfahrkarte."

"Da bist du bei mir an der richtigen Adresse", rief Cedric und beugte sich leicht vor. "Wenn mein Auftrag klappt, hätte ich vielleicht etwas für dich. Ich meine, für einen Mann, der mit starken Motoren umzugehen weiß."

"Um was handelt es sich?", zeigte sich Carry neugierig geworden.

"Um eine Lieferung?"

"Welcher Art?"

"Komm mit, ich zeige es dir." Er schob das Glas von sich, griff in seine Tasche, warf einige Scheine auf den Tisch und erhob sich. Die Anzahl der Scheine, ließ Carry das Steak im Magen madig werden. Er schluckte es hinunter und folgte ihm aus dem Lokal.

 

Sie schlenderten die Straße hinunter. Cedric schwieg lange und räusperte sich, als er sich endlich wieder zu Wort meldete.

"Darf ich dich etwas fragen?", begann er.

"Nur zu."

"Was wolltest du bei den Wasserwerken?"

Carry zögerte mit der Antwort. Er schien ihn nicht bis zur dahinter liegenden Konservenfabrik gefolgt zu sein. Oder er verschwieg es.

"Ein Freund von mir kam dort um", antwortete er leise. "Ich weiß. Dies klingt jetzt furchtbar melancholisch und es passt nicht zu mir. Aber es ist die Wahrheit. Wir waren Kumpel, noch aus der Schulzeit. Er überredete mich zu einem Trip nach Weitland. Er legte sich mit der hiesigen Polizei an. Dabei passierte das Unglück." Diese Variante war selbst ihm neu. Doch er wollte Cedric nicht zu viel von sich verraten. "Ich dachte mir, ich sehe mir das Ganze noch einmal an. Keine gute Idee, was?"

"Bei Tageslicht wäre die Aussicht besser gewesen", entgegnete Cedric trocken.

"Du bist mir doch nicht gefolgt, um einen alten Kumpel zum Essen einzuladen", bemerkte Carry und blieb kurz stehen. "Was willst du von mir?"

"Als ich dich aus dem Hotel gehen sah, dachte ich mir, du bist genau der richtige Mann für diesen Job."

"Für welchen Job?"

"Komm weiter. Ich zeige es dir."

"Ich möchte es jetzt wissen."

"Im Gegensatz zu dir, liebe ich Überraschungen. Ich liebe es die Gesichter der Anderen zu studieren, wenn sie damit konfrontiert werden." Cedric hatte ein gewisses Glitzern in den Augen. Carry kannte dieses Glitzern. Er wusste, dass es Vorfreude signalisierte. "Verdirb es mir nicht", bat Cedric.

"Okay", gab sich Carry geschlagen. "Aber beeile dich. Ich bin müde und würde mich gern bald aufs Ohr hauen."

"Noch etwas Geduld."

"Können wir das nicht auf morgen verschieben?"

"Bis dahin wäre ich geplatzt. Weißt du, falls du dich entscheiden solltest, mit einzusteigen, wirst du eine große Rolle darin spielen. Alles hängt von dir ab."

Carry blieb stehen und betrachtete ihn fragend.

"Was soll das heißen?"

"Es hängt von dir ab, ob du die Lieferung heil über die Grenze bringst, oder nicht. Damit steht oder fällt das Geschäft", kam er endlich mit der Sprache heraus.

"Um was für eine Lieferung handelt es sich?", wollte Carry wissen.

"Ich möchte dich nicht erschrecken. Also, bitte komm erst einmal mit und sieh es dir an."

"Ist das irgendetwas illegales?"

"Wäre das ein Problem für dich?"

"Kommt auf die Bezahlung an", ging Carry plötzlich darauf ein.

"Ich wusste es", rief Cedric und konnte sich gerade noch davon abhalten, einen Freudensprung zu machen. "Wie ich bereits erwähnte. Ich setze meine Beziehungen immer im richtigen Moment ein. Dass du mir über den Weg gelaufen bist, ist reine Glücksache."

Carry verzog sein Gesicht und folgte ihm, tiefer in die Nacht hinein.

 

Cedric hielt vor einem Haus, mit einem großen hölzernen Flügeltor an. Über dem Tor war eine grelle Lampe angebracht worden. Sie blendete die Besucher. Carry musste seine Augen abschirmen, da sie der Helligkeit nicht gewachsen waren. Cedric sah sich sorgsam nach allen Seiten suchend um und klopfte dreimal an das Tor, als er sich genau vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war.

"Also doch etwas Illegales", flüsterte Carry und blinzelte in die grelle Beleuchtung. "Das wird teuer."

"Mach dir darüber keine Sorgen", besänftigte ihn Cedric und schob Carry durch den schmalen Spalt, der sich kurz nach dem Klopfen aufgetan hatte.

 

Carry stand im Dunkeln. Er strengte seine Augen an, doch er konnte nicht einmal die Hand vor Augen erkennen. Seine Augen hatten sich an die Helligkeit draußen vor der Tür gewöhnt. Im Inneren des Hauses herrschte totale Finsternis. Er spürte jemanden an seine Seite treten und ehe er reagieren konnte, hatte sich etwas über seinen Kopf gestülpt und ihn zu Boden gezerrt. Er wehrte sich verbissen, doch die Hände, die ihn nun wieder hochzerrten und fortschleppten, waren einfach zu viele. Sie banden ihn auf einen Stuhl, fesselten ihn noch im Dunkeln, zogen die Kapuze von Kopf und leuchteten ihm mit einem grellen Strahler ins Gesicht.

"So, mein Freund", rief eine bekannte Stimme. Der Ton hatte sich gewaltig verändert. "Und nun möchte ich, dass du mir etwas über Norman erzählst."

Carry brauchte eine Weile, bis er die Sachlage vollends registrierte. Cedric war eine falsche Nummer. Sein erster Eindruck war richtig gewesen.

"Was soll das?", rief Carry wütend und zerrte an seinen Fesseln.

Cedric trat ins Licht. Sein Gesicht war merkwürdig verzerrt. Es erschien wesentlich härter und unbarmherziger.

"Du bist hier im Hauptquartier der weitländischen Geheimpolizei", verriet ihm das Gesicht, mit einem kalten Grinsen. "Wir haben dich seit geraumer Zeit beobachtet und wissen, dass du inferiore Subjekte außer Landes schaffst."

"Ist dies das Geschäft, in das du mich einbinden willst?"

"Ich sagte dir doch. Ich war einem großen Fisch auf den Versen. Er ist mir in Mon leider durch die Lappen gegangen. Aber in unerwartet seichtem Gewässer ging er mir schließlich wie von selbst ins Netz."

Carry biss sich auf die Lippen. Beinahe hätte er sich verraten. Dieser Bastard war demnach für das Massaker an den Flaemen verantwortlich.

"Wo ist dieser Norman? Und wo ist deine Ladung?"

"Norman treibt sich irgendwo in Chikoro herum und meine Ladung ist auf dem LKW, den mir ein paar miese Typen gestohlen haben. Interessierst du dich neuerdings für antike Möbel?"

Eine Ohrfeige knallte durch einen großen Innenraum. Carry konnte nur beinahe soweit sehen, wie Cedric von ihm entfernt war. Die Lampe verhinderte, dass er tiefer ins Dunkel blicken konnte. Dort saßen sicherlich all die Soldaten, Polizisten und Offiziere, die ihnen auf Mon so schwer zu schaffen gemacht hatten.

"Wo ist Norman?", wiederholte Cedric eingehender.

"Sagte ich bereits", gab Carry zurück und leckte über die Innenseiten seiner Backen. Cedrics Ohrfeige war hart gewesen. "Suche ihn in den Vergnügungslokalen von Chikoro."

"Zwinge mich nicht, härtere Maßnahmen anzuwenden", drohte Cedric. "Es wäre schade um einen solch versierten Fahrer, wie dich."

"Wenn du damit meinst, dass ich mich gerne ausbeuten lasse, kannst du sogar Recht haben. He, Cedric! Was soll das Ganze eigentlich?"

"Du weißt genau was das soll", sagte er es ihm auf die Nasenspitze zu. Cedrics Augen funkelten böse. Das Glitzern von vorhin, war nur ein kleiner Vorbote gewesen. "Du und Norman, ihr habt Landesverräter zur Flucht verholfen. Leugne es nicht. Wir können es beweisen.

"Gehörst du etwa auch zu diesen engstirnigen Bastarden?", rief Carry und handelte sich damit eine weitere Ohrfeige ein.

"Achte auf deine Worte", warnte ihn das böse Gesicht vor seinen Augen. Cedric beugte sich tiefer zu ihm nieder. Er griff in die Tasche und brachte ein kleines Taschenmesser zum Vorschein. Mit einem Druck auf einen Knopf und einem kleinen Klick, sauste die Klinge aus der Hülle. Er hielt es Carry unter das Kinn. Die Spitze bohrte sich bereits in die Haut und kratzte am Kinnknochen. "Ich kann aus dir einen Flaemen machen", fuhr Cedric fort. "Und dich auf die Straße werfen. Vielleicht zu den Typen in der Bar. Es wird ihnen ein Vergnügen sein, ihre Männlichkeit an dir auszuprobieren."

"Verdammt sollst du sein, du Schweinepriester", zischte Carry und hob den Kopf.

"Nicht doch", ermahnte Cedric und schnalzte mit der Zunge. "Wer wird denn gleich so derbe Worte benutzen. Außerdem liegt es bei dir. Du brauchst mir nur zu erzählen, wo ich diesen Norman finden kann. Dann bleibst du auch noch länger Jungfrau."

"Ich sagte doch ..." Die Klinge fuhr ruckartig nach unten, hakte sich in den Gürtel ein und zerschnitt ihn mit einem Ruck. Wenn seine Beine nicht ebenfalls an den Stuhl gefesselt gewesen wären, hätte er ausgetreten. So konnte er nur zusammenzucken. Zu seiner Erleichterung hielt die Klinge an, bevor sie wichtige Teile zerschnitt.

"Halte mich nicht hin", ermahnte Cedric. "Ich kann sehr schnell ungeduldig werden. Wo ist dieser Norman? Und ich warne dich. Ich werde es tun."

"Wie könnte ich es verhindern", maulte Carry. Er musste seinen Bauch krampfhaft ruhig halten. Nur ein leichtes Einziehen hätte schon signalisiert, dass er Angst hatte. Es fiel ihm dank seines gut gefüllten Magens leichter.

"Du bist bei den Wasserwerken gewesen, nicht nur um in Erinnerungen zu schwelgen", mutmaßte Cedric mit einem kalten Lächeln. "Norman versteckte sich dort irgendwo, um sich mit dir zu treffen."

"Norman lässt sich vermutlich irgendwo volllaufen, während seine Alte nach den Möbeln jammert", verbesserte ihn Carry.

"Leider habe ich dich in der Dunkelheit verloren", berichtete Cedric weiter. "Wo bist du gewesen? Was hast du im Wasserwerk gesucht?"

"Das habe ich dir doch bereits erzählt."

"Ich weiß", nickte Cedric. "Ich bin aber überzeugt davon, dass es nicht die Wahrheit war. Kein normaler Mensch sieht sich nachts ein Wasserwerk an. Zudem eines, das nicht mehr in Betrieb ist." Er pickte die Spitze des Messers unter den Hosenrand. Mit einem kräftigen Ruck wäre er jederzeit in der Lage gewesen, den Hosenbund zu zerschneiden. "Langsam werde ich ungeduldig."

"Ich habe nichts anderes zu erzählen."

"Das kann ich mir denken", grinste Cedric und stak das Messer noch etwas tiefer.

Carry spürte, wie die scharfe Klinge über seine Bauchdecke fuhr und einen kleinen Schnitt verursachte. Er konnte das Blut spüren, das aus der kleinen Wunde lief. Diesmal fand er es für richtiger, den Mund zu halten. Er presste die Lippen zusammen und blickte Cedric entschlossen ins Gesicht. Dann gab es tatsächlich einen kleinen Ruck und sein voller Magen hatte plötzlich Platz. Das Messer umspielte den Gummibund der Unterhose und mit einem weiteren Ruck, verlor auch sie ihren Halt.

"Weißt du, wie es die Flaemen normalerweise machen?", fragte Cedric plötzlich und sah hoch.

"Interessiert mich nicht die Bohne."

"Mit einem Rasiermesser und kurz nach der Geburt. Es soll angeblich nicht wehtun, denn die Säuglinge spüren noch nichts."

"Kann ich mir nicht vorstellen." Carry gab sich bewusst uninteressiert. Er hatte keine Lust, bei der nächsten Kontrolle, wie etwa die beiden Polizisten am Morgen, als Flaeme angesehen zu werden

"Es ist aber sehr interessant." Cedric drückte die Spitze noch etwas tiefer, so dass Carry nun nicht anders konnte, als zusammenzucken.

"Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du pervers bist?", maulte Carry.

"Das gehört zu den Standartverhörmethoden", gab Cedric gelassen von sich. "Man muss Unerwartetes tun, um unerwartete Antworten zu bekommen." Er drehte das Messer leicht und schabte über die Schamhaare.

Carry rückte sich etwas aufrechter.

"Wenn du nicht willst, in Zukunft mit einem Flaemen verwechselt zu werden, brauchst du mir nur zu erzählen, wo Norman zu finden ist."

"Tu, was du nicht lassen kannst", entgegnete Carry ruhig. Bevor er auch nur ein Wort verriet, ließ er sich lieber beschneiden. "Etwas anderes erfährst du sowieso nicht."

Cedrics Hand fuhr blitzschnell hoch und verpasste seinem Gefangenen einen Kinnhaken, dass ihm die Zähne aufeinander klappten. Carry brachte gerade noch rechtzeitig die Zunge in Sicherheit.

"Du bist ein harter Bursche, was?", rief Cedric etwas ungeduldig. "Aber ich bringe dich schon noch zum Singen." Er richtete sich wieder auf und drehte sich halb um. Eine Hand gab ihm aus dem Dunkeln eine gefüllte Spritze. "Ich wollte eigentlich darauf verzichten, weil sie einem den ganzen Spaß verdirbt", begann er und drückte die Luftblasen heraus. Eine kleine Fontaine spritzte in die Luft. "Aber du willst es nicht anders."

"Du bist ein widerlicher Bastard", rief Carry und rückte sich noch aufrechter. Was auch immer in der Spritze war, er hasste es bereits jetzt.

Jemand griff von hinten in sein Haar und riss den Kopf hart in den Nacken. Währenddessen jagte Cedric die Nadel unter die Haut in Carrys Oberarm. Sobald er den Einstich spürte, verstarb seine Gegenwehr. Mit einem breiten Grinsen, zog Cedric die Spritze wieder zurück. Er benutzte nicht einmal einen Wattebausch mit Desinfektionsmittel. Die leere Spritze reichte er wieder der Hand, die für kurz aus dem Vorhang der Dunkelheit hervorlugte.

Ein brennendes Gefühl rann bald Carrys Arm hinunter. Die Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Es dauerte nicht lange, da glaubte er, zu viele Biere getrunken zu haben. Der Raum begann sich um ihn zu drehen. Nebelschleier bildeten sich vor seinen Augen. Ihm wurde heiß und kalt und Cedrics Stimme wanderte immer weiter fort.

 

"Noch ein paar Minuten und er ist soweit", rief Cedric und drehte sich nach seinem Vorgesetzten um.

"Sind sie sicher, dass er derjenige ist, der die Transporte über die Grenze bringt?", wollte ein Mann in einer rot-schwarzen Uniform wissen. An seiner Brust glitzerten zahlreiche Abzeichen. Viele von ihnen hatten vielen Flaemen das Leben gekostet.

"Ich beobachte ihn bereits seit geraumer Zeit", erklärte Cedric und betrachtete das Gesicht seines Gefangenen prüfend. "Der Laster, den er für die Transporte benutzt, ist bei einer Holdinggesellschaft gemeldet. Diese gab ihn vor knapp drei Jahren als gestohlen an."

"Das muss noch lange nicht heißen, dass er Flüchtlinge über die Grenze bringt."

"Oh, doch", nickte Cedric und blickte dem Uniformierten entschlossen ins Gesicht. "Muss es eindeutig. Grenzpatrouillen hatten vermehrt Kontakt mit einem umgebauten Speedster 5000. Ab und zu kommt er mit legalen Transferpapieren, ausgestellt von eben genannter Holdingfirma nach Weitland. Doch meistens, bricht er unerwartet oder in nicht kontrolliertes Gebiet durch."

Der Offizier betrachtete den Gefangenen kurz, dann blähte er seine Brust auf und widmete sich wieder seinem Geheimmann.

"Wer sind seine Hintermänner?", wollte er wissen.

"Das werden wir bald herausbekommen." Cedric beugte sich über die zusammengesunkene Gestalt. Er hob dessen Kopf und klopfte leicht auf die Wangen.

"He, alter Kumpel Carry. Kannst du mich hören?"

Carry reagierte nicht.

"Ich habe gehört, du hast große Deals am Laufen", fuhr Cedric fort. "Carry, hörst du mich?"

Eine Stimme drang von weit her in sein Unterbewusstsein. Carry hatte versucht, je mehr die Droge von ihm Besitz nahm, immer intensiver an das Erlebnis im Wasserwerk zu denken, um sein Unterbewusstsein von den Fragen abzulenken, die er beantworten würde, ohne dass er es wollte. Er sah das Gesicht seines Freundes vor Augen, als er in den kochenden Tank geworfen wurde. Er hörte dessen Schreie. Er hörte das Wasser spritzen, als er um sich schlug. Er hörte das Lachen der Polizisten, die ihn mit Stangen vom Beckenrand fern hielten. Und er hörte seine eigenen Schreie, bis jemand kam und ihn derart verprügelte, dass er nicht mehr schreien konnte. Er spürte, wie seine Armknochen mit einem dumpfen Knacks nachgaben. Er spürte die Schmerzen, die bald seinen ganzen Körper beseelt hatten.

"Carry", rief Cedric und klopfte leicht auf die Wangen. "Komm erzählt mir von deinem Deal? Was ist mit den Flaemen? Wo bringst du sie hin?"

Der Gefangene reagierte nicht.

Blut vermischte sich mit Sand. Todesschreie mit hämischem Lachen.

"Carry. Wo ist Norman?"

Jemand trat ihm in die Seite. Sein Arm sandte eine weitere Welle gleißenden Schmerz durch seinen Körper. Er biss auf die Zähne.

"Carry. Wo bist du im Moment?"

"Es hat keinen Zweck", rief der rot-schwarz Uniformierte neben ihm. "Er ist gegen die Droge immun."

"Niemand ist dagegen immun", wusste es Cedric besser.

Ein leisen Klopfen ließ ihn aufhorchen. Es kam von dem großen Flügeltor. Mit einem kurzen Kopfwink deutete er einem Untergebenen an, dem Klopfen auf dem Grund zu gehen. Der Mann hatte eben die Hand an die Klinke gelegt, da explodierte das Tor nach innen. Holzsplitter flogen ihnen um die Ohren. Kurz darauf ertönte das tödliche Geratter von Maschinengewehrsalven. Cedric hatte sich auf den Boden fallen lassen und kroch nun bäuchlings in eine Deckung. Währenddessen zog er seine Waffe und feuerte auf die Angreifer, obwohl er keinen einzigen von ihnen sehen konnte. Jemand hatte die Lampe draußen ausgeknipst. Auf der Straße war es stockdunkel. Der einzige Lichtpunkt war der Strahler im Innenraum des Hauses, der von der Explosion umgeworfen, den Raum erhellte und den Schützen von der Straße die nötige Sicht auf ihre Ziele bot.

Carry wurde vom Boden hochgezerrt. Er sah die Gesichter der beiden Polizisten nahe vor dem seinen. Ihr breites Grinsen, noch die Gier nach Tod und Mord in den Augen. Marc hatte längst aufgehört zu schreien. Im Hintergrund zog jemand ein lebloses Etwas aus dem Wasser, zerhackte es mit einem Beil und warf die Einzelteile in einen Kübel. Carry begriff erst Tage danach, dass dieses Etwas sein Freund gewesen war.

Schatten huschten im Schutze der Dunkelheit und im Feuerschutz ihrer Kameraden durch den Torbogen und verschanzten sich hinter Tische und Kisten. Den Männern vom Geheimdienst war es nicht möglich, sie aufzuhalten. Das Dauerfeuer von der Straße zerfetzte die Einrichtung, riss den Putz von den Wänden, zersplitterte die Fenster und würde auch ihr Leben nehmen, wenn sie es nur gewagt hätten, ihre Köpfe aus der sicheren Deckung zu heben. Cedric drückte sich flach auf den Boden. Im Augenwinkel erkannte er einen Schatten, der sich auf den Gefangenen zu bewegte. Er reagierte, riss seine Waffe hoch und feuerte auf den Schatten. Die Gestalt wich ein paar Schritte zurück, zog die Mündung seiner Waffe herum und ließ eine Feuersalve über den Bereich entladen, aus dem die Schüsse gekommen waren. Dann schnappte er sich den Gefangenen, samt Stuhl und schleppte ihn mit sich fort. Die Stuhlbeine schabten über den Fliesenboden. Cedric kroch hinterher. Er war getroffen worden; und er wunderte sich, dass er die Gestalt nicht getroffen hatte. Er hätte sie auf diese Entfernung auf jeden Fall treffen müssen.

Zudem durfte er seinen Gefangenen und wichtigsten Zeugen nicht entkommen lassen, sonst würde er ziemliche Schwierigkeiten bekommen.

Das Schaben der Stuhlbeine hörte auf und bald stolperte Cedric über den leeren Stuhl. Der Gefangene war losgeschnitten worden. Er fluchte und wünschte sich nur etwas Licht. Da traf ihn etwas am Kopf und er fiel mit dem Kinn hart auf den Boden. Der nächste Schlag beförderte ihn ins Nichts.

 

"Wie geht es ihm?", wollte Norman wissen und zählte seine Männer durch. Einige Verwundungen, aber keine Toten, wofür er ein erleichtertes Lächeln erübrigen konnte.

"Ziemlich weggetreten", antwortete Horres und hievte den Bewusstlosen auf die Schulter. "Lass uns von hier verschwinden, bevor sie Luft geschnappt haben und zum Nachdenken kommen."

Norman winkte seinen Männern und bald war die Straße wieder menschenleer.

 

Erst in ihrem Unterschlupf fanden sie sich wieder zusammen. Horres bettete seine Last auf einen Tisch und rieb sich seine Schulter. Ein Streifschuss hatte seinen ganzen Arm betäubt. Er untersuchte die Wunde kurz und als er feststellte, dass es nur ein paar Stiche und eines Pflasters bedarf, widmete er sich wieder Carry. Mit einem flüchtigen Lächeln, bedankte er sich bei seiner blitzschnellen Reaktion.

"Was zum Teufel hat er mit Vandellen zu schaffen?", schimpfte er und rollte die Schulter, bis wieder Blut in seinen Arm floss und seine Finger zu kribbeln begannen.

"Das werden wir ihn fragen, sobald er wieder zu sich kommt", antwortete Norman.

Das Krankenhaus bestand aus einer schmutzigen Baracke. Die Ärzte steckten in blutverschmierten grünen Kitteln. Irgendwo schrie ein Mann aus Leibeskräften. Weder die Ärzte, noch die Krankenschwestern, oder die schwarz-rot uniformierten Wachen kümmerten sich um den Patienten. Erst als er abrupt aufhörte zu schreien, erlaubte sich jemand einen kurzen Seitenblick. Carry glaubte in dem Gemurmel etwas wie dreckiger Flaeme zu verstehen, dann musste auch er aufschreien, als jemand seinen Arm packte und den gebrochenen Knochen wieder in die richtige Position bog.

 

"He, alles in Ordnung", rief Norman und hielt Carry fest. "Du bist zuhause. Beruhige dich doch." Es hatte über einen Tag gedauert, bis Carry überhaupt reagierte. Dass seine Reaktion derart heftig sein würde, darauf war er nicht gefasst.

Horres eilte ihm zu Hilfe, bevor Carry vom Tisch fallen konnte.

"Haben wir so etwas wie Riechsalz hier?", rief Norman, während er Carry immer wieder von der Tischkante zurückziehen musste.

"Glaubst du, das hilft?"

"Ein Versuch wäre es wert."

Jemand reichte ihm ein kleines Fläschchen, bevor auch nur einer der beiden gehen und danach suchen konnte. Norman hielt es Carry unter die Nase. Es dauerte lange, bis Carry auf den betörenden Duftes des Riechsalzes reagierte. Doch dann wurde er immer ruhiger und versuchte dem Duft zu entfliehen.

"Komm schon zu dir", rief Norman und hielt den Kopf fest. "Nun mach schon."

Carry blinzelte in das Gesicht vor dem seinen.

"Na, wieder okay?", fragte Norman.

"Hallo, Mami", antwortete Carry heißer. "Was gibt es zum Essen?"

Horres und Norman betrachteten sich fragend, dann erkannten sie Carrys freches Grinsen.

"Bevor du auch nur eine Bewegung machst", rief Norman und drückte ihn auf den Tisch zurück. "Ich will wissen, was du mit Cedric Vandellen zu schaffen hast."

Carry blinzelte benommen und räusperte. Er war noch nicht ganz in die Wirklichkeit zurückgekehrt.

"Dieser Bastard nannte sich einmal mein Kumpel", erwiderte Carry und fuhr sich über das Gesicht.

"Was hast du ihm erzählt?", wollte Norman wissen.

Carry blinzelte einige Male und versuchte ein klares Bild zu bekommen.

"Wusstest du, dass er hier ist?", fragte er.

"Ich habe zuerst gefragt."

"Solange ich bei klarem Verstand war, hat er nichts aus mir herausbekommen", erzählte Carry. "Ich weiß nicht, was passierte, nachdem ich weggetreten bin. Ich hoffe nicht viel. Und jetzt meine Frage."

"Ja, wusste ich. Aber ich wusste nicht, dass du ihn kennst. Man hat mir erzählt, du seist mit ihm Essen gegangen. Vandellen ist der Topagent der weitländischen Geheimpolizei. Wie kommst du an ihn?" Normans Gesicht unterstrich den strengen Ton in seiner Stimme.

"Ich war mit ihm Essen", gab Carry zu. "Weil ich dachte, er wäre noch mein Kumpel. Dass er eine falsche Nummer ist, hat sich erst später herausgestellt, als er mich zu diesem Haus brachte."

"Du bist freiwillig mitgegangen?"

"Ja, sicher. Er sprach von einem Geschäft."

"Was für ein Geschäft?"

"Du."

Norman betrachtete ihn eindringlich. Dann ließ er ihn endlich aufstehen.

"Wirklich. So blöde sehe ich doch nicht aus, dass ich mich selbst ans Messer liefere, oder?" Carry richtete sich auf und kämpfte gegen die Sternenflut in seinem Blickfeld an. Sein Kreislauf spielte die Aufregung noch nicht gänzlich mit. "Habt ihr mich rausgeholt?"

"Sehen wir so blöde aus, es nicht zu tun?", fragte Norman zurück.

Carry verzog sein Gesicht. Er war wohl der wichtigste Aspekt in Normans kleinem Unternehmen.

"Habt ihr etwas von meinem Laster gehört?"

Norman konnte nur mit dem Kopf schütteln.

"Ich hoffe nur, dass sie es schaffen, was auch immer sie vorhaben", bemerkte er leise und schwang seine Beine über die Tischkante. Irgendwie fühlte er sich, als hätte er zu viel Bier getrunken. Sein ganzer Körper schwankte und war irgendwie taub. Ihm fehlte gänzlich die Koordination seiner sämtlichen Körperteile. Sein Kopf dröhnte und der Geschmack bitterer Erfahrung lag auf seiner Zunge. Brennender Magensaft stieg langsam die Speiseröhre hoch. Er atmete tief durch, um der drohende Übelkeit entgegenzuwirken. Doch es schien wenig zu helfen.

Wankend, mit beiden Händen an den Stollenwänden abstützend, ging er hinaus ins Freie. Ihm war es im Moment vollkommen gleichgültig, ob ihn jemand beobachtete und dabei das Versteck entdeckte. Zu seiner Erleichterung folgte ihm jemand.

Kaum war er vor die Tür getreten, musste er sich übergeben. Sein ganzer Unterleib verkrampfte sich. Carry fluchte im Stillen. Dass er auf Cedric hereingefallen war; und dass er dadurch das Vertrauen zu Norman aufs Spiel gesetzt hatte. Er konnte es ihm nicht verübeln, wenn er sich für die Zukunft einen anderen Fahrer suchte. Carry hielt sich auch für zu blöde. Er hätte sich von seiner Vermutung warnen lassen sollen.

 

"Alles okay?", fragte eine Stimme neben ihm.

Carry wischte über den Mund. Nichts war okay. Ihm ging es so dreckig wie zuvor.

"Eine ehrliche Antwort." Norman sah kurz nach draußen, um irgendwelche Beobachter zu entdecken. "Was hast du Vandellen erzählt?"

"Ich hoffe nichts", antwortete Carry. "Ich habe ihm eine Story erzählt, aber geglaubt hat er sie nicht ganz. Er sagte, dass er mich bereits geraumer Zeit beobachtet. Ich sollte mich besser zurückziehen."

Norman lehnte sich gegen eine baufällig Wand. Sie gab etwas nach, doch es störte ihn nicht sonderlich.

"Wir stehen mit einigen Organisationen wegen deines Lasters in Verbindung", begann Norman. "Aber bisher ohne Erfolg."

"Hast du dein kleines Unternehmen etwas ausgebaut?" Carry zog die Hose hoch. Sie rutschte, da jetzt der Halt des Gürtels fehlte.

"Mein kleines Unternehmen ist lange nicht so klein, wie du denkst. In ganz Weitland gibt es Zweigstellen." Norman grinste frech, wurde aber bald wieder ernst. "Garvin meinte, sie hätten einen Dialekt gesprochen, der aus dem Raum Phasanker stammen könnte. Falls sie wirklich vorhaben, ihre Freunde zu holen, um dann die Grenze zu überschreiten, müssen sie irgendwann dort auftauchen. Ich habe bereits veranlasst, dass die Augen aufgehalten werden sollen."

"Phasanker?" Carry überlegte. Er hatte diesen Namen schon einmal gehört. Vor längerer Zeit und nicht im Zusammenhang mit Flaemen. "Sie müssen auf jeden Fall über den Katcho", fuhr er fort. Ihm wollte es nicht einfallen. "Im Grunde habe ich nichts dagegen, wenn sie versuchen ihr Leben zu retten." Er musste erneut aufatmen, als sein Magen wieder zusammenzuckte. "Ich denke nicht, dass sie mit meinem Laster durch die Grüne See schwimmen, oder durch die Mangoo-Sümpfe fahren wollen. Also müssen sie den Katcho benutzen. Es gibt keine andere Möglichkeit mehr."

"Gibt es doch", wusste es Norman besser. "Aber dazu müssen wir zuerst den Laster finden."

Carry legte fragend seinen Kopf schief.

"Das erkläre ich dir später." Norman legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Sieh zu, dass du bald wieder fit bist."

"Darf ich erfahren, was du mit meiner Karre vorhast?", wollte Carry wissen. Eine wage Vermutung keimte auf.

"Nichts anderes als sonst", entgegnete Norman. "Ich habe lediglich ein Hilfsmittel organisiert."

"Hilfsmittel? Was für ein Hilfsmittel?"

"Das erkläre ich dir später. Wenn wir deinen Laster gefunden haben."

"Nein, jetzt."

"Später", blieb Norman hartnäckig.

"Der Laster gehört immer noch mir und wenn du damit irgendwelche Pläne ausheckst, sollte ich gefälligst vorher gefragt werden. Oder bist du schon, wie diese verbohrten Weitländer?"

"Ich bin ein Weitländer", erinnerte Norman. "Aber ich bin nicht verbohrt. Ich möchte nur nichts auf den Tisch bringen, was noch nicht ausgegoren ist."

Carry blickte ihn erneut schief an. Er wurde das Gefühl nicht mehr los, nur eine kleine Spielfigur in diesem Krieg zu sein.

"Soll das heißen, dass es davon abhängt, ob wir die Karre finden, oder nicht?", schlussfolgerte er.

"Ohne deinen Laster ist das Hilfsmittel nutzlos."

"Was ist es denn?"

"Das wirst du schon noch sehen."

"Du bist unfair", schimpfte Carry. "Willst du mich heiß machen, damit ich dabei bin, was auch immer du vorhast?"

"Ich kann es mir nicht leisten, einen solchen versierten Fahrer zu verlieren", gab Norman von sich.

"Das habe ich schon mal irgendwo gehört", brummelte Carry und folgte ihm in den Stollen zurück. Nur weil er mit seinem Laster umzugehen weiß und bei den Aktionen manches riskierte, um die Flüchtlinge über die Grenze zu bringen, wurde er von allen als versiert gehalten. Er selbst hielt sich höchstens für wagemutig und vollkommen verrückt. Kein Anderer würde diesen Job übernehmen.

 

"Es grenzt schon beinahe an Wahnsinn über den Katcho entkommen zu wollen", gab Norman von sich und spähte durch das Fernglas. Er hatte auf einem nahegelegenen Gipfel Stellung genommen, um die Aktivitäten auf dem Pass beobachten zu können. Zuverlässige Informationen lauteten, dass auf dem Katcho-Gebirge ein verstärktes Aufkommen von Grenzpatrouillen erfolgte. "Es ist schon mehr als ein Wunder nötig, um dort durchzukommen." Er reichte das Fernglas an Carry weiter.

"Wunder?" wiederholte er skeptisch, als er einen Blick durch das Fernglas genommen hatte. Eine Kleinstadt an Panzerwagen, Artilleriefahrzeugen und mehrere Geschwader von Überwachungshubschraubern säumten den Hang landeinwärts des Gebirges. "Ich denke, mein Vorschlag mit dem Flieger wird endlich in Erwägung gezogen werden müssen. Ich meine ..." Er nahm das Glas ab und bedachte Norman mit einem kurzen Seitenblick. "Wenn dein Hilfsmittel nicht das ist, was du versprichst."

"Mit einem Flugzeug wären wir wesentlich anfälliger", wusste Norman. "Mit ihren Überwachungssystemen hätten sie uns bereits vor dem Start auf dem Radar. Außerdem kann keiner den schnellen Libellen entkommen."

"Mit einer Jester vielleicht", gab Carry wissend von sich. "Aber an die ist schwer heranzukommen." Er überflog mit dem Fernglas das ganze Gebiet. "Sie sind überall. Alle Zufahrtswege sind blockiert. Da ist kein Durchkommen möglich."

"Wie viel Zuladung kann so eine Jester verkraften?", wollte Norman wissen.

Carry nahm das Fernglas ab und sah ihn fragend an.

"Du denkst doch nicht etwa daran ... ?"

"Man muss alle Möglichkeit abwägen", bemerkte Norman und erhob sich. "Wenn wir deinen Laster nicht mehr auftreiben können, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Also, wie viel Zuladung?"

"Die Jester ist ein Leichtflugzeug. Wenn du mit Zuladung, Passagiere meinst, würde ich sagen, höchstens Fünf, samt Gepäck."

"Das ist zu wenig. Dafür müsste man zu oft fliegen." Er klopfte sich den Staub aus den Kleidern. "Dann müssen wir eben zusehen, dass wir ein anderes Transportmittel auftreiben."

"Soll das heißen, dass du aufgehört hast, nach meiner Karre zu suchen?" Carry baute sich breitbeinig vor ihm auf.

"Im Moment ja", gab Norman zu. "Ich habe Wichtigeres zu tun. Aber keine Angst. Sie können sich ja nicht ewig verstecken. Wenn wir sie nicht finden, dann wird es die Grenzpolizei tun. Und spätestens da draußen." Er zeigte auf den Zufahrtshang des Katcho-Gebirges. "Es liegt an uns, sie vorher abzupassen." Norman hielt dem strengen Blick seines Fahrers stand. "Ich habe vielleicht erkannt, dass es vergeudete Zeit ist, nach den Flaemen zu suchen. Sie werden früher oder später hier vorbei kommen."

"Wenn sie nicht vorher erwischt werden", knurrte Carry und warf einen flüchtigen Blick über die Ebene vor dem Gebirge. Phasanker, fiel ihm plötzlich wieder ein. An was sollte ihn dies nur erinnern? An ein vergangenes Erlebnis? Angenehm oder Unangenehm? Ihm wollte es einfach nicht einfallen. Aber irgendetwas war damit. Er schnaufte tief durch, warf noch einen kurzen Blick durch das Fernglas, dann folgte er Norman, der sich bereits angeschickt hatte, ihre Aussichtsstellung zu verlassen.

Plötzlich traf es ihn wie ein Blitzschlag.

"Maryle", rief Carry und blieb überrascht stehen. Wie konnte er die blonde, langbeinige Schönheit aus Phasanker nur vergessen.

Norman drehte sich nach ihm um und betrachtete Carry eingehend.

Es war zwar schon einige Jahre her, doch sie würde einen hervorragenden Vorwand abgeben, um in Phasanker die Augen und Ohren offen halten zu können.

"Wer oder was ist Maryle?", wollte Norman wissen.

"Eine Klassefrau aus Phasanker", erklärte Carry. "Die Zeit ist gekommen, ihre Einladung anzunehmen." Carry grinste über das ganze Gesicht. Irgendwie freute er sich darauf. An Maryle besaß er mehr als angenehme Erinnerungen. Wie konnte er sie nur vergessen? Wie konnte er die aufregende Nacht mit ihr nur vergessen? Er hätte sie längst schon besuchen sollen.

"Nachdem was vor Kurzem passiert ist, solltest du besser in der Versenkung bleiben", ermahnte Norman. "Vandellen hat seine Fühler überall."

"Soll ich mich nun etwa für immer in einem Loch verkriechen?" Carry blickte ihn scharf an. "Das ist nicht meine Art."

"Genau das befürchte ich", gab Norman seufzend von sich und machte sich weiter auf den Abstieg.

"Die Flaemenbande kann von mir aus direkt in die Falle laufen", schimpfte Carry und folgte Norman. "Aber ohne meine Karre."

"Seit wann bist du rassistisch?", wollte Norman wissen, ohne sich jedoch nach seinem Gesprächspartner umzudrehen. Er wusste genau, dass dem nicht so war.

"Seit mir einer von ihnen eines über die Birne gezogen hat", knurrte Carry. "Sie konnten einiges mit mir anstellen, doch mich hinterhältig k.o. schlagen und meinen Wagen klauen, ist etwas zu viel"

Norman kicherte leise und ging nicht weiter darauf ein. Er kannte Carry gut genug, um zu wissen, dass er ihn nicht aufhalten konnte, war auch immer er vorhatte.

 

Bei den wartenden Wagen angekommen, griff Norman das Thema wieder auf.

"Wie hast du dir das in Phasanker vorgestellt?", wollte er wissen. "Die Flaemen werden sich dir nicht auf dem Präsentierteller servieren. Vielleicht sind sie auch schon längst wieder unterwegs."

"Ich weiß selbst, dass es kein Kinderspiel sein wird", maulte Carry. "Ich bin alt genug, um zu wissen, dass man in diesem verdammten Land nicht mehr spazieren gehen kann, ohne ständig die Hosen runter lassen zu müssen. Kümmere du dich nur um deine Wunderwaffe und lass mich meinen Wagen besorgen."

"Ich wäre der Letzte, der dir irgendwelche Vorschriften macht", gab Norman schulterzuckend zurück.

"Dann behalte deine Bemerkungen für dich", schimpfte Carry. "Das Einzige, was ich von dir möchte, ist eine Fahrgelegenheit, um nach Phasanker zu kommen."

"Allein?"

"Eine Armee von schwerbewaffneten Rebellen würde wohl nicht sehr weit kommen. Und solange ich meine Haare nicht mit einem Kochtopf schneide, gibt es keinen Grund, mir an die Wäsche zu wollen."

"Der Grund sind über fünfzig erfolgreiche Grenzübertritte mit jeweils einer Ladung Flüchtlinge."

"Steht das auf meiner Stirn geschrieben?", wollte Carry wissen.

Norman konnte nur mit dem Kopf schütteln.

"Ich hoffe nur, dass du Vandellen nicht die Arme läufst", sagte Norman besorgt, als sie endlich losgefahren waren. "Er kennt dein Gesicht genau."

"Dieser verdammte Cedric ist damit beschäftigt, seine Zinnsoldaten entlang des Passes aufzustellen", knurrte Carry missmutig. "Mach nur weiter so. Dann fange ich bald an, mich zu fragen, wie ein solcher Angsthase es schaffen kann, vielen tausend Leuten das Leben zu retten."

Norman biss sich auf die Lippen und schwieg für den Rest des Weges. Ihm war nicht wohl bei dieser Sache. Zu viele Fehlschläge in letzter Zeit hatten ihn übervorsichtig gemacht. Dennoch ließ er Carry nach Phasanker fahren. Er hätte ihn ohnehin nicht aufhalten können.

 

Phasanker war eine Stadt wie jede andere. Misstrauische Augen und Ohren verfolgten ihn in jeder Ecke des Landes. Besonders als Fremder musste man sich vorsehen. Carry war es inzwischen gewohnt, die höchst selbstbewusste Maske aufzusetzen und gutgelaunt durch die Straßen zu spazieren. Kurz nach seiner Ankunft hatte er sich einer Reisegesellschaft angeschlossen und ließ sich nun die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt erklären. Phasanker war wie alle Städte. Düster und Trist. In versteckten Gassen wurden in dunklen Bars billige Drinks und Mädchen angeboten. Davor, in den wenig belebten Straßen, patrouillierten schwer bewaffnete Polizisten.

Carry versuchte sich an den Namen seiner alten Bekannten zu erinnern. Sie musste ihm auch die Adresse gegeben haben, doch diese hatte er inzwischen verlegt. Vielleicht fiel es ihm wieder ein, wenn er im Reisebus durch die Stadt fuhr, dachte er und schalt sich für sein lückenhaftes Gedächtnis. Er musste eben in der letzten Zeit anderes im Kopf behalten. Um rassige Frauen konnte er sich nur noch selten kümmern.

 

Dann kam der Bus an einem großen Brunnen vorbei und Carry wusste es wieder. Sie hatte ihm den Weg zu ihrer Wohnung erklärt und der Brunnen, mit den antiken Figuren bildete dabei einen wesentlichen Anhaltspunkt. Beim nächsten Halt des Busses seilte er sich von der Gesellschaft ab und ging zu Fuß weiter. Bald fand er ein Haus, das der Beschreibung entsprach. Von der leuchtend gelben Farbe war allerdings nicht mehr viel übrig geblieben. Doch auf der Klingeltafel entdeckte er den bekannten Namen und fand sich schließlich am Ziel. Um den Flaemen auf die Spur zu kommen, musste er sich erst besser in der Stadt auskennen. Maryle könnte ihm dabei helfen. Er sollte sich von ihr durch das nächtliche Treiben führen lassen und dabei Augen und Ohren weit offen lassen.

Vorausgesetzt, sie erinnerte sich noch an ihn.

 

"Carry?", rief eine überraschte Stimme aus dem Lautsprecher, als er sich gemeldet hatte. "Carry Trains? Leibhaftig? Ist das die Möglichkeit?"

"Leibhaftig", nickte er und sah sich kurz um.

Der Türöffner summte und er trat ein. Er erinnerte sich wieder daran, dass sie vierter Stock sagte und kletterte die Stufen hoch. Im vierten Stock erwartete ihn bereits eine offene Wohnungstür und eine überaus gutaussehende junge Frau in einem dünnen Hausmantel.

"Tatsächlich, Carry", rief sie erfreut und schwang die Tür weiter auf, damit er eintreten konnte.

"Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen", begann er und gab ihr einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wange. "Ich bin zufällig in der Stadt und dachte mir, ich könnte die Gelegenheit nutzen und eine alte Freundin besuchen."

"Du kommst niemals ungelegen", lächelte sie und warf die Tür wieder zu. Ihr enttäuschter Blick verriet, dass sie sich zur Begrüßung etwas anderes vorgestellt hatte. Aber was erwartete sie, nach beinahe fünf Jahren?! "Es freut mich, dich wiederzusehen", fuhr sie fort. Ihr Lächeln war aufrichtig. Ihre blauen Augen strahlten. Sie fuhr sich hektisch durch das offene Haar. Sie war heute noch nicht dazugekommen, sich für den Tag schön zu machen. "Was führt dich in die Stadt?" Sie machte eine einladende Bewegung. "Kann ich dir eine Tasse Kaffee anbieten?"

"Gern", nickte Carry und nahm beide Einladungen ein. Ihre Wohnung sah beinahe genauso perfekt aus, wie die Bewohnerin. Maryle verschwand kurz in der Küche und kam bald mit einem Tablett zurück. Gekonnt kokett setzte sie sich gegenüber, schlug die Beine übereinander und mit derselben koketten Art ignorierte sie, dass der Morgenmantel zur Seite rutschte und ihre Schenkel bis beinahe zur Hüfte freigab. Ihr Spitzenhöschen blitzte hervor. Sie schien vor Carry keinerlei Schamgefühl entwickeln zu wollen.

"Ich hatte eine Lieferung nach Phasanker", begann Carry und nahm den Kaffee dankend an. Es hätte ihn gewundert, wenn Maryle nach diesem freudigen Empfang plötzlich Schamgefühl entwickelt hätte. "Jetzt habe ich ein paar Tage Zeit, bis die Fracht für den Rückweg zusammen ist."

"Du gehörst noch immer zu den Königen der Landstraßen", sagte sie wissend.

"Als ich Phasanker hörte, dachte ich sofort an dich." Ein wenig Süßholz würde nicht schaden, dachte er sich und warf ihr ein Augenzwinkern zu.

"Warum hast du solange gewartet?"

"Ich kann mir meine Aufträge nicht aussuchen." Er betrachtete sie aufmerksam. "Hast du etwa die ganze Zeit auf mich gewartet?"

"Das nicht gerade", lachte sie und warf ihre blonden Haare mit einer Kopfbewegung nach hinten. "Aber ich habe oft an dich gedacht."

"Was ist mit Freund, Mann, Familie? Ich möchte nicht ungelegen kommen."

"Das ist vor ein paar Tagen in die Brüche gegangen", gestand sie. "Der Himmel konnte mir nichts Besseres bescheren als dich." Dabei warf sie ihm einen vielsagenden Blick zu.

Carry fühlte sich plötzlich unwohl in seiner Haut. Er hatte eigentlich gedacht, ein paar nette Tage mit einer alten Freundin verbringen zu können. Wenn er nun nicht aufpasste, würde sie ihn mit Haut und Haaren vernaschen. Im Grund hatte er nichts dagegen. Doch bereits damals hatte sie ernste Absichten angemeldet. Und derartiges konnte er in diesen Zeiten beileibe nicht gebrauchen. Erst Recht nicht, bei seinem ungewöhnlichen Job.

"In zwei oder drei Tagen bin ich wieder fort", versuchte er ihre Leidenschaft etwas zu bremsen.

"Dann haben wir nicht viel Zeit."

"Was hast du vor?"

Sie wechselte die Stellung ihrer Beine, wobei nun auch der Knoten des Gürtels aufging und mehr von ihr entblößte, als Carry im Moment lieb war. Er musste klaren Kopf behalten. Diese Frau ging ihm etwas zu schnell vor. Warum er jetzt plötzlich an Naome, das flaemische Mädchen, dachte, wusste er nicht. Es half ihm aber, sich etwas abzukühlen.

"Wie wäre es, wenn wir für drei Tage alte Zeiten aufleben lassen?", gab sie lächelnd von sich.

Wenn er jetzt nicht die Bremse zog, würde es zu spät sein, dachte er und grinste frech zurück. Maryle erhob sich und ließ dabei den Morgenmantel sanft über ihre Schultern gleiten. Sie war schön wie denn je, stellte Carry fest. Und es war bereits zu spät. Wirkungsvoll auf ihren langen Beinen stolzierend, kam sie näher, nahm ihn bei der Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer.

 

Es war schon ziemlich lange her, als er das letzte Mal Gelegenheit dazu hatte. Abgeneigt war Carry beileibe nicht. Er musste sich nur immer wieder an seine ursprüngliche Aufgabe erinnern. Er musste die Flaemen und vor allem seinen Laster wiederfinden.

 

Er musste den Kontakt zu untergetauchten Flaemen suchen, oder von Fluchthelfern, Zwischenhändler und Sonstigem, was von der weitländischen Regierung als Landesverräter angesehen wurde. Eine liebestolle Frau konnte er dabei überhaupt nicht gebrauchen. Daher verließ er die Wohnung, als Maryle am nächsten Morgen Frühstück holen ging. Sicherlich war es nicht die feine Art, aber ihm war keine andere Wahl geblieben. Er hoffte, dass er wenigstens eine winzige Spur von den Flaemen oder seinem Laster finden konnte und nicht mehr zu ihr zurückgehen musste. Er war kein Mann von Entschuldigungen. Er war aber auch kein Mann von Enttäuschungen.

Eine Nachricht auf einem kleinen Zettel, sollte sie fürs Erste beruhigen.

 

Wenn Phasanker eine Stadt wie jede andere war, dann musste sie auch über gewisse Adressen verfügen, an die sich ein Flaeme wenden kann. Carry spazierte stundenlang durch die Stadt, ehe er den ersten Hinweis auf eine solche Adresse entdeckte. Ein Gemischtwarenladen, aus dem nicht nur Kunden mit Einkaufstüten herauskamen. Carry hatte in der Laufbahn als Fluchthelfer ein Auge dafür entwickelt. Er betrat den Laden und wusste sich sofort an der richtigen Stelle. Jetzt musste er nur noch das Kennwort erfahren, das den Besitzer, oder irgend jemandem dazu veranlasste, Vertrauen ihm gegenüber zu entwickeln.

Finster dreinblickende Gesichter beobachteten ihn aufmerksam. Carry ließ sich nicht verunsichern. Fluchthelfer gaben sich stets gefährlich, geheimnisumwoben und überlegen. Er durfte sich davon nicht beirren lassen.

Zielstrebig ging er auf den Ersten zu.

"Wo kann man hier die Stimme eines Priesters aus dem Land des Lebens hören?", fragte er und betrachtete ihn auffordernd. Ein Versuch war es immerhin wert.

"Hier ist keine Kirche", antwortete dieser und erwiderte den Blick. "Du kannst eingelegte Gurken haben."

"Nein, danke", gab Carry von sich. Vielleicht hatte er sich doch geirrt. Irgendwie überkam ihn plötzlich das Gefühl, dass er in das falsche Wespennest gestochert hatte. Er sah sich kurz um. "Verzeiht die Störung", sagte er schnell und verließ den Laden. Hoffentlich wurde seine Unvorsichtigkeit nicht umgehend bestraft, dachte er im Stillen.

 

Bevor er um die nächste Ecke bog, blickte er kurz über seine Schulter und sah seine Vermutung bestätigt. Entweder hatte er in der Zeit, in der er lediglich Flüchtlinge über die Grenze fuhr, den Blick für die richtigen Adressen verloren, oder er hatte sich von seiner Ungeduld verleiten lassen. Jemand aus dem Laden war ihm gefolgt. Carry beschleunigte seinen Schritt. Er musste einen Schlupfwinkel finden, ehe sein Verfolger um die Ecke biegen konnte. Doch er landete in einer Sackgasse.

Fluchend wirbelte er wieder herum, doch da standen bereits vier Männer und blickten ihn äußerst unwirsch an.

"Wer bist du?", wollte ein schwarzgelockter Hüne wissen. Sein Gesicht verriet, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Die dicken Augenbrauen standen hoch aufgewölbt nahe bei der Nasenwurzel.

"Ich habe mich verlaufen", antwortete Carry unschuldig und zuckte mit den Schultern. Dass die Parole mit dem Land des Lebens auch landestreuen Weitländern bekannt sein könnte, daran hätte er vorher denken müssen.

Der einzige Ausweg wurde von vier Schlägertypen versperrt. Ihm schien keine andere Möglichkeit geblieben zu sein, als sich auf einen Boxkampf einzulassen. Zumindest solange, bis er ihnen in einem günstigen Augenblick entwischen konnte. Doch Carry wusste selbst gut genug, dass er, als ungeübter Nahkämpfer, keine Chance besaß. Er musste es einfach versuchen. Zumindest waren ihm die Kerle und ein paar deftige Hiebe auf die Nase wesentlich lieber, als ein Rendezvous auf einem Polizeirevier, irgendwo in einem ablegenden Hinterzimmerchen, wo niemand seine Schreie hören konnte.

"Hast deinen Stadtplan wohl verloren, was?", höhnte ein Anderer mit blondem, schütteren Haar und offenem Hosenladen.

"Der Kerl sieht nicht aus, wie ein dreckiger Flaeme", bemerkte der Rechtsaußen und verzog angewidert sein Gesicht.

"Eher wie ein stinkender Verräter", grölte der Kerl auf der anderen Flankenseite.

"Ihr wollt mich wohl beleidigen", tat Carry etwas entrüstet. Ihm waren die Prügel so gut wie sicher. Wenn nicht augenblicklich ein rettender Engel erschien, würde er sich einige Blutergüsse und womöglich auch noch Knochenbrüche zuziehen - im allerbesten Falle -.

"Sei froh, wenn sich überhaupt noch ein Priester um dein Seelenheil kümmern kann", grinste der Schwarze breit.

"Das hört sich nach einer Drohung an", gab Carry selbstsicher von sich. Innerlich war er jedoch nicht mehr so locker. Er konnte die bevorstehende Prügelei so aufdringlich riechen, wie einen frischen Hundehaufen. Er allein gegen vier wütende Kerle. Das würde in einer Katastrophe für ihn enden. "Ihr werdet noch wohl nicht. Leute, hört mal. Ich habe nichts getan, was ..."

"Schnauze", bellte der Kerl mit der offenen Hosentür. Er ballte seine Hände zu Fäusten und hielt sie ihm unter die Nase. "Wer bist du? Und was willst du hier?"

"Ich glaube nicht ..." Weiter kam Carry nicht. Ein harter Schlag in die Hüfte brachte ihn zum Schweigen. Jemand packte seine Arme, fesselte sie auf den Rücken. Eine andere Hand vergriff sich in seinem Haar und riss den Kopf ruckartig in den Nacken. Verflucht, schimpfte Carry, wo zum Teufel war seine Aufmerksamkeit.

"Mal sehen, wer du wirklich bist", grinste eine hässliche Fratze nahe vor ihm und spuckte ihm kleine Partikel ekligen Speichel ins Gesicht. Irgendjemand machte sich auch schon an seiner Hose zu schaffen. Ehe es Carry verhindern konnte, hatten sie den Gürtel zerschnitten, mit einem weiteren flinken Schnitt den Bund durchtrennt und brachten sein edelstes Körperteil mit wenig Gefühl an die Oberfläche. Carry verzog vor Schreck und Schmerz das Gesicht.

"Kein Flaeme", rief eine enttäuschte Stimme.

"Dann machen wir eben einen draus", grölte ein Anderer.

Carry wand und drehte sich in den starken Armen, um die bevorstehende Beschneidung zu verhindern. Wer wusste schon, was sie noch alles beschnitten hätten. Dabei glitt das Messer ab und bohrte sich statt dessen tief in seine Hüfte. Er fühlte den Stahl der Klinge an seinem Knochen entlang gleiten und konnte sich nun eines Schmerzensschreis nicht mehr erwehren.

Die Kerle lachten und grölten vor Vergnügen, zogen das Messer aus ihm heraus und versuchten es ein weiteres Mal. Carry wand und drehte sich, verteilte Tritte und versuchte verzweifelt, sich aus der Umklammerung zu befreien. Doch gegen vier starke Arme besaß er keine Chance. Das Messer glitt diesmal etwas höher in seinen Unterleib. Carry schrie auf vor Schmerz. Kochendes Blut floss tränkte seine Jeans. Jemand verpasste ihm eine harte Rechte an die Schläfe und er sank in ein Reich dumpfer Töne und Empfindungen.

 

Drei Schatten warteten in einiger Entfernung, bis sich die Nacht gänzlich über die Stadt gelegt hatte und wagten sich erst aus ihrem Versteck, als sich eine dicke Wolke über die dünne Mondsichel geschoben hatte. Sie hatten den Zwischenfall in dem Innenhof einer verlassenen Wohnsiedlung beobachtet und hofften, dass das Opfer der vier lachend davonziehenden Männer noch wenigstens solange leben würde, bis sie zu ihnen gelangen konnten. Eine zuverlässige Quelle hatte ihnen von dem Mann erzählt, der in einem Gemischtwarenladen nach einem bestimmten Priester fragte. Sie waren sofort aufgebrochen, doch da hatten sie schon mit ansehen müssen, wie vier kräftig gebaute Kerle hinter ihm den Laden verließen und ihn in diese Sackgasse verfolgten.

 

"Glaubst du, er lebt noch?", flüsterte einer von ihnen, als sie vorsichtig in den Innenhof schlichen. "Ich kenne die Kerle. Sie haben Daale, meinen Vetter getötet."

"Wollen wir es für ihn hoffen", flüsterte der Schatten vor ihm zurück. "Und wenn nicht, ist es ein Pech für uns alle."

"Wer ist der Kerl überhaupt?", wollte der Dritte im Bunde wissen.

"Woher soll ich das wissen", kam es schnauzend zurück. Sanom, der Älteste der Drei, wagte sich nur mit äußerster Behutsamkeit in die Dunkelheit hinein. Er blieb kurz stehen, lauschte in alle Richtungen und konnte nur das aufgeregte Schnaufen seiner Freunde vernehmen. Irgendwo hier musste er liegen, sagte er sich und drehte den Kopf nach allen Seiten. Eine Maus raschelte im Müll, doch weder ein Stöhnen, noch ein viertes Atmen. Seine Ohren waren im Laufe der vielen nächtlichen Aktivitäten, zu denen sie in den letzten Jahren verdammt worden waren, so hellhörig, wie die einer Nachteule geworden. Doch den Tod konnte selbst er nicht hören.

"Hier ist er", rief Parros stark gedämpfte Stimme. Der Innenhof warf sie tausendmal zurück und drohte ihren Aufenthaltsort zu verraten.

"Lebt er noch?", wollte Sanom wissen und tastete sich zu der Stimme durch.

"Ich weiß nicht." Parro suchte eine Schlagader, befühlte den leblosen Körper zu seinen Füssen und tauchte seine Finger in heiße Flüssigkeit. "Er blutet stark", bemerkte er besorgt und auch etwas erleichtert. "Aber ich denke, er lebt noch."

"Wir müssen ihn schnell zu Mae bringen", beschloss Sanom. "Fasst mit an."

 

Sie hievten den Mann, der nicht einmal mehr aufstöhnte, als sie ihn aufnahmen, hoch und trugen ihn im Schutze der wolkenreichen Nacht in ihr geheimes Quartier. Wenigstens das Wetter war ihnen dann und wann hold. Die Wolken hielten den Mond noch solange versteckt, bis sie in den Kellerräumen eines alten, verlassenen und halb verfallenen Begegnungszentrum für Flaemische Kultur verschwunden waren. Ein gewagtes Versteck, doch außer von gelegentlichen Überfällen betrunkener oder wütender Fanatikern, blieben sie weitgehend störungsfrei. Scheinbar vermutete niemand, dass die Flaemen dumm genug waren, sich unter ihren eigenen Gebäuden zu verstecken.

"Mae", rief Sanom sogleich, als er in den großen Kellerraum unter der Versammlungshalle angelangt war. Parro wischte mit einer Handbewegung sämtliche Utensilien von einem Tisch und sie betteten ihr Mitbringsel vorsichtig darauf. "Du musst ihm helfen. Er ist schwer verletzt."

Mae wischte sich die Hände an einem Tuch ab und kam herangeeilt. Als sie das Gesicht erkannte, blieb sie kurz stehen.

"Das ist der Mann, der in Forets Laden nach einem Priester gefragt hat", erklärte Sanom und betrachtete die leblose Gestalt. Ein eiskalter Schauer lief über seinen Rücken, als er das viele Blut sah. Welch ein Massaker hatten Forets Freunde an diesem Mann angerichtet.

"Verflucht", schimpfte Garth, der ebenfalls angelaufen kam und das blutüberströmte Opfer selbstverständlich erkannte. "Seid ihr von Sinnen, ihn hierher zu bringen?"

Mae überprüfte den Puls, blickte tief in Carrys Augen und machte sich sogleich an der Behandlung der schweren Wunden zu schaffen.

"Er kannte die Parole", verteidigte sich Sanom.

"Die kennen inzwischen auch einige Andere. Das ist noch lange kein Grund."

"Sei still, Garth", fuhr Mae dazwischen, ohne von ihrer Arbeit zu lassen. "Vielleicht ist es gut, dass er hier ist."

"Gut?", wiederholte ihr Mann fassungslos. Sein Gesicht lief vor Aufregung knallrot an. "Gut, nach all dem? Er wird uns sofort den Hals umdrehen, sobald er sieht, wo er gelandet ist."

"Ist das ein Agent?", wollte Parro vorsichtig wissen.

"Nein. Ihm gehört der Laster, den wir gestohlen haben", erklärte Mae und schnitt die blutdurchtränkte Jeans gänzlich auf. "Bringt mir heißes Wasser und saubere Tücher", befahl sie, eilte zu einem Schrank, in welchem sie den spärlichen Bestand ihrer medizinischen Gerätschaften und Versorgungsbedarf untergebracht hatte und riss beinahe in verschwenderischem Ausmaß Wattebausche, Zellstoffkompressen, Verbände, Nadeln, Fäden und Desinfektionsmittel heraus, um sie um den bewusstlosen Carry herum, auf dem Tisch aufzustellen.

"Er wird uns verraten. Allein schon aus Rache", wusste es Garth, während er noch darüber nachdachte, ob er seine Frau an ihrer Rettungsaktion hindern sollte, oder nicht.

"Er wird wütend sein, richtig", entgegnete Mae nickend und tauchte ein weißes Tuch in einen Blutstrom. Sie drückte auf die Wunde, bis der Stoff durchgetränkt war. "Aber er wird uns nicht verraten."

"Woher kannst du dir da so sicher sein?"

"Er riskierte wer weiß wie viele Male sein Leben, als er Leute wie uns über die Grenze brachte", erklärte sie, während sie in gewohnter, rascher Arbeitsweise einen Druckverband anlegte. "Ich habe gesehen, wie er kämpfte, als wir auf dem Pass aufgegriffen wurden. Er lässt sich von ein paar verzweifelten Flaemen nicht von seiner Einstellung abbringen. Er wird wütend sein, dass wir seinen Laster gestohlen haben. Wer kann ihm das verübeln. Schließlich haben wir dafür gesorgt, dass er keine Flüchtlinge mehr über die Grenze bringen kann."

"Musst du immer wieder davon anfangen", stöhnte Garth und warf die Arme in die Luft.

"Ich bin mir ziemlich sicher, dass er darauf eingegangen wäre, hätten wir ihn nur gefragt", rief sie leicht erregt. Ihre Stirn rötete sich. Ein Zeichen dafür, dass sie wütend wurde. "Wie weit haben wir es denn gebracht? Gut. Wir waren große Helden, als wir ihn hinterhältig niederschlugen und den Lastwagen stahlen. Mächtige Helden. Aber wie stehen wir nun da? Viel weiter hat es uns auch nicht gebracht."

"Woher sollte ich denn wissen, ..."

"Ach, hör auf", rief sie und warf das blutdurchtränkte Tuch fort. "Du solltest nicht weiter darüber nachdenken und es den Leuten überlassen, die mehr davon verstehen."

"Für noch mehr Geld", rief er aufgebracht. "Die Kerle verdienen ein Vermögen an uns. Ich bin nicht bereit, diesen gierigen Raffhälsen noch mehr Geld in den Rachen zu werfen. Zumal wir sowieso nichts mehr besitzen, außer unserem nackten Leben."

"Das Leute wie er noch zu retten wissen", schimpfte sie, während sie einen weiteren Blutstrom mit einem Druckverband zum Versiegen brachte. "Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie all diese Fluchtaktionen zu finanzieren sind? Hunderte von Flüchtlingen bedürfen nun einmal Unmengen von Nahrung, Kleidung und sogar auch Medikamenten. Als wir in ihrem Lager waren, haben wir alles bekommen, ohne noch mehr dafür bezahlen zu müssen. Grenzbeamten müssen bestochen werden. Transporter brauchen Sprit. Hast du schon einmal darüber nachgedacht?"

"Das haben wir schon zur Genüge ausdiskutiert", stöhnte Garth genervt, wirbelte herum und stolzierte davon. Für ihn war die Unterhaltung zu Ende. Seit sie in Phasanker zurück waren, hatten sie beide sich nur noch gestritten.

"Dieser Mann - sollte er den großen Blutverlust überleben - ist vielleicht der Einzige, der uns noch helfen kann", rief sie ihm wütend hinterher und schnappte sich Nadel und Faden, um die Stichwunden zu nähen. "Betet darum", fügte sie leiser hinzu und erlaubte sich einen kurzen Blick zu den Umstehenden. "Betet darum, dass er es überlebt. Er ist vielleicht unsere einzige Hoffnung."

 

Tag und Nacht hatte Mae an dem notdürftigen Lager gewacht, das hohe Fieber mit kalten Umschlägen zu mindern versucht und immer wieder im Stillen Gebete aufgezählt. Sie wusste selbst gut genug, dass es um den jungen, wagemutigen Fahrer nicht sonderlich zum Besten stand. Er hatte eine große Menge Blut verloren. Dürfte sie noch im städtischen Krankenhaus praktizieren, hätte er wesentlich mehr Chancen gehabt, zu überleben. In ihrem Versteck verfügte sie weder über Blutkonserven, noch über einen Operationssaal, um die tiefen Schnittwunden besser behandeln zu können. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Bemühungen ausreichend waren, um ihn zu retten. Sie konnte nur beten.

 

Naome setzte sich mit dem Kleinkind in ihren Armen neben ihre Tante und legte ihr aufmunternd eine Hand auf den Arm. In ihren Augen spiegelte sich wiedergewonnene Lebenslust wieder. Seit sie ihrer Rückkehr nach Phasanker ging eine merkwürdige Wandlung in dem Mädchen vor. Mae wurde immer wieder von Handlungen und Bemerkungen des Mädchens überrascht, die sie Hoffnung aufkommen ließen, dass sie jemals wieder so normal und lebenslustig, wie eine normale junge Frau werden könnte.

Mae schenkte ihr ein dankbares Lächeln und überließ den Platz ihrer Nichte. Sie brauchte dringend einige Stunden Schlaf. Die lange Sorge und die Unwissenheit zehrten arg an ihrer Konstellation.

 

Das Reich der dumpfen Töne und Empfindungen, in welchem Schmerz nur als wage Ahnung wahr genommen werden konnte, wich langsam von ihm und je mehr sich dieser trübe Nebel lichtete, desto tiefer und gieriger fraß sich der Schmerz in seinen Körper. Die Zunge war dick angeschwollen und klebte wie verwachsen am Gaumen. Er konnte kaum einer seiner Gliedmaßen bewegen. Doch sein Gehör war hellwach. In seiner unmittelbaren Nähe sprach eine sanfte Mädchenstimme mit einer anderen Person. Er versuchte den Kopf zu drehen, doch selbst dies vermochte er nicht zustande zu bringen. Seine Lippen fühlten sich an, wie zwei aufgedunsene Würstchen, ohne jeglichem Bezug zu ihm und als er versuchte, wenigstens einen Ton von sich zu geben, um auf sein Erwachen aufmerksam zu machen, zeigte sich weder seine Kehle imstande einen Laut zu formen, geschweige denn sein Brustkorb konnte genügend Atemluft sammeln, um selbst einen leisen Hauch hervorzubringen. Doch irgendwie schien das Mädchen die Veränderung zu bemerken. Ihre Stimme versiegte und bald darauf spürte er eine zarte Hand auf seiner Stirn.

Irgendwo, in etwas weiterer Entfernung, stimmte eine Gruppe mehrerer Stimmen jenen klagenden Bittgesang mit beinahe leiernden Tonfolgen an, die ihm stets Zahnschmerzen verursacht hatten. Er schien inmitten von Flaemen zu sein, begriff er sofort. Er wollte die Augen öffnen, doch dies stellte sich als schwieriger heraus, als er gedacht hatte.

Die Hand strich vorsichtig über sein Gesicht, berührte Nasenrücken, Lippen und Kinn. Von dieser Berührung ging eine merkwürdige Wärme aus, die ebenso wohlig durch ihn hindurchströmte, wie die aufsteigende Hitze nach einem starken Grog in einer kalten Winternacht. Er holte tief Atem, und ungewöhnlicherweise reagierte sein Brustkorb endlich. Doch es schmerzte. Jeder Atemzug schmerzte. Und endlich konnte er die Augen öffnen.

Er starrte an eine rohe Decke aus Beton und in seinen Augenwinkel erkannte er das Gesicht von Naome.

Er erstarrte.

Wo Naome war, musste auch ihre teuflische Familie sein, schoss es urplötzlich durch seinen Kopf. Ein Ruck ging durch seinen Körper.

Naome beugte sich tiefer über ihn und lächelte ihn besänftigend an. Ihre Hand, ihre zarte Berührung beruhigte ihn und seine Aufregung legte sich allmählich. Dieses Mädchen war so unschuldig, wie frisch gefallener Schnee. Sie konnte ihm nichts zuleide tun. Eher ihre hinterhältige Familie, die seinen Laster geklaut hatte.

Carry versuchte Worte zu formen, doch seine Zunge versagte ihren Dienst. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt. Es war noch zu früh. Was zum Teufel war nur mit ihm geschehen?

 

In Naomes Armen gluckste ein Kleinkind. Es streckte seine kleinen Ärmchen nach den offenen Haaren der Mutter aus, umklammerte es fest und zog im Greifreflex daran. Sie lächelte und befreite die Strähne aus den kleinen Fingern, öffnete ihre Bluse und gab dem Kind zu trinken.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Naome ihre Brust entblößte, beschämte Carry etwas. Im Gegensatz zu anderen Müttern, die gerade soviel ihrer weiblichen Brust erkennen ließen, damit das Kind trinken konnte, scheute sich Naome nicht, ihre Bluse vollends aufzuknöpfen und auch die zweite volle Milchbrust zu zeigen. Die Natürlichkeit ihres kindlichen Gemütes und die Unvollständigkeit ihres geschädigten Verstandes sahen kein Unrecht in ihrer Handlung. Carry bot sich ein Bild beinahe vollkommener Unschuld. Er beobachtete sie gerne - das Einzige, wozu er im Moment imstande war.

Außerdem war sie trotz ihres minder geistigen Zustandes eine ausgereifte junge Frau, mit durchaus ansehnlich fraulichen Formen. Welcher Mann würde bei einem solchen Anblick schon seine Augen abwenden? Carry jedenfalls nicht.

 

Der flaemische Gesang verstummte irgendwann. Carry bemerkte es erst, als jemand in den Raum trat.

"Wo ist Mae?", wollte der Mann wissen und beugte sich zu der stillenden Naome nieder. Er strich sanft über das kleine Köpfchen des Kindes, berührte kurz die Stirn der Mutter und richtete sich wieder auf.

"Schlafen", antwortete Naome leise und blickte den Mann mit großen Augen an. "Eure Gebete wurden erhört, ehrenwerter Pashra. Er ist erwacht."

Die knielange Soutane knisterte, als sich der Mann umdrehte und den Patienten musterte.

"Dem Allmächten sei bedankt", rief er an die Betondecke. Dann kniete er sich an Carrys Seite nieder, legte eine Hand auf dessen Stirn und murmelte einige unverständliche Worte vor sich hin.

Carry kannte sich nur wenig in der flaemischen Kultur aus. Doch er wusste es genau, wenn ihn ein Hohepriester segnete. Er hatte dies schon einige Male gesehen. Es war ihm unangenehm. Schließlich war er kein Flaeme und einen Segen hatte er sicherlich auch nicht verdient. Dennoch hielt er geduldig still.

Er war im Moment ohnehin zu nichts anderes fähig.

Während der Geistliche seinen Segen über ihn aussprach, dachte Carry über dessen Reaktion nach, als von seinem Erwachen erfuhr. Dass sich manche Flaemen freuten, wenn er als Fluchthelfer auftauchte, war er mittlerweile gewohnt. Doch hier bildete er weder den Fluchthelfer, noch eine andere wohl gesinnte Person. Sie müssten sich eigentlich denken können, dass er auf Mae und ihre Familie nicht gut zu sprechen war. Schließlich verdankte er ihnen eine gewisse Zeit in einem Polizeipräsidium und auch seinen derzeitigen Zustand. Noch in Gedanken versunken, bemerkte er, dass sich eine zweite Person zu ihm niedergelassen hatte. Carry blinzelte sich in die Wirklichkeit zurück und erkannte das Gesicht der Ärztin.

Ein freundliches Lächeln erschien um ihre Lippen, als sie seiner Aufmerksamkeit bewusst wurde.

Der Hohepriester hatte seine Segnung beendet, nickte Mae kurz zu, erhob sich und verließ den Kellerraum wieder.

"Der Pashra betete Tag und Nacht für ihre Genesung", erzählte sie und strich sanft über Carrys Stirn. Zufrieden stellte sie fest, dass das Fieber etwas gesunken war. "Wir alle beteten dafür."

Carrys Frage kam nur als heißeres Krächzen über seine Lippen. Er bezweifelte, dass sie etwas verstanden hatte.

"Ich habe getan was ich konnte", fuhr sie fort. "Mit einer besseren Ausrüstung, hätte ich mehr tun können. Ich rate ihnen daher, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, sobald sie in ihrem Land zurück sind. Aufgrund fehlender Instrumente musste ich mich auf die Versorgung des Notwendigsten beschränken."

"Haben sie es geschafft?", brachte er mühsam hervor. Das Sprechen strengte ihn ungewöhnlich an.

"Ich habe keine Ahnung, was man mit ihnen vorhatte", sagte sie lächelnd. "Aber unter einer Beschneidung verstehe ich etwas anderes, falls sie danach gefragt haben." Ihr Lächeln sollte aufmunternd sein. "Trotzdem würde ich an ihrer Stelle, in nächster Zeit zweideutige Angebote an attraktive Frauen unterlassen." Sie strich ihm noch einmal über die Stirn und setzte sich schließlich neben ihn auf den Boden nieder. "Ich kann mir denken, dass sie wütend auf uns sind", begann sie entschuldigend mit den Achseln zuckend. "Doch uns blieb keine andere Wahl. Das heißt, uns ist nichts besseres eingefallen. Wir haben sie sicherlich in große Schwierigkeiten gebracht." Sie sah betreten zu Boden.

Carry nickte nur. Nachtragend war er nur in wenigen Dingen. Die Entführung seines Lasters gehörte dazu.

"Wir hätten besser überlegen sollen", fuhr sie fort. "Ich bin mir sicher, dass sie oder ihre Freunde uns geholfen hätten, wenn wir nur gefragt hätten." Sie wartete eine Antwort ab; es kam jedoch keine. Daher seufzte sie kurz und setzte ihre Rede fort. "Unser ursprünglicher Plan war, sobald wir über die Grenze gelangen konnten, eine Möglichkeit zu finden, auch unsere Freunde zu retten, oder für sie eine Ausreisegenehmigung zu erwirken. Wir besaßen nicht genügend Geld, alle mit ihrer Organisation über die Grenze zu schaffen. Es sind viele ältere Leute und Kinder, aber auch Verwundete und Kranke unter ihnen. Alles was wir brauchten, war ein Transportmittel. Da kamen sie uns mit ihrem Lastwagen gerade Recht. Doch wir haben eines nicht bedacht." Sie verstummte zu einem tiefen Seufzer. "Dass für uns nicht so einfach an Sprit heranzukommen ist."

Carry verzog seine Lippen zu einem amüsierten Schmunzeln.

"Etwa hundertfünfzig Kilometer vor Phasanker ging der Treibstoff aus", berichtete sie. "Es gelang uns bis heute nicht, Nachschub zu beschaffen. Ich denke, sie schickt uns der Himmel. Denn sie sind der Einzige, der dies kann." Sie betrachtete ihn beinahe flehentlich. "Sie sind wütend. Sie sind uns gefolgt, um ihren Wagen zurückzubekommen. Niemand wird es ihnen übel nehmen, wenn sie uns nicht helfen wollen. Aber ich bitte sie inständig darum: Helfen sie uns."

Carry hielt ihrem flehenden Blick stand. Er hatte in seiner Laufbahn als Fluchthelfer schon so viele bittende Gesichter gesehen, dass ihm dies nichts mehr ausmachte. Er spürte jedoch, dass es ihr Ernst war und dass sie niemals darum bitten würde, wenn es nicht wirklich nötig wäre.

"Wir werden diesmal ehrlich sein", versprach sie. "Und sie nicht mehr zu hintergehen versuchen."

Wieder verzog Carry seine Lippen zu einem schmalen Grinsen.

"Für uns wird allmählich die Zeit knapp", erzählte sie weiter. "Es grenzt schon an ein Wunder, dass sie uns hier noch nicht gefunden haben. Es wird aber sicherlich nicht mehr lange dauern. Wir haben erfahren, dass alle flaemische Einrichtungen dem Erdboden gleichgemacht werden sollen. Dann gibt es für uns kein einziges Versteck mehr."

Carry zuckte nur müde mit dem Mundwinkel. Einerseits war er froh, dass ihm das Reden schwer fiel. So konnte er für seine Antwort einen Aufschub erwirken. Andererseits hätte er der Frau gerne gehörig die Meinung gesagt. Er schloss kurz die Augen. Ein Unmensch war er sicherlich nicht. Aber ungestraft durften sie auf keinen Fall davonkommen.

"Was auch immer die Regierung gegen uns Flaemen hat", begann Mae traurig. "Die Kinder können jedenfalls nicht der Anlass dafür sein. Wenigstens sie sollten gerettet werden." Sie betrachtete ihn bedrückt. "Was muss ich tun, damit sie wenigstens die Kinder über die Grenze schaffen?"

Carry öffnete die Augen und erwiderte den Blick.

"Kinder sind die Zukunft", gab er heißer von sich. "Das ist ihr einziger Fehler." Seine Kehle schmerzte. Seine Zunge war schwer und wollte nur widerwillig gehorchen. Ihm war Mae trotz allem ans Herz gewachsen. Vielleicht, weil sie offen und ehrlich mit ihm sprach. Vielleicht, weil sie sich für andere einsetzte und sich auch nicht für eine demütige Entschuldigung und eine hoffnungsvolle Bitte zu schade war.

"Helfen sie uns?" In ihren Augen stand ihr Flehen deutlich geschrieben. Carry konnte nicht mehr anders.

"Wenn ich kann", gab er müde von sich. Das Fieber zehrte an seinen Kräften. Seine Augen wurden schwer. "Wo ist der Laster?"

"In einem Waldstück in der Nähe von Vieres versteckt", berichtete Mae um ein Vieles erleichtert. "Der Tank ist leer. Aber sonst ist noch alles in Ordnung." Sie nahm seine Hand und drückte sie kurz. "Der Himmel sei ihnen bedankt", sagte sie mit einem freudigen Lächeln.

"Ein Segen reicht mir", gab er krächzend von sich und entzog ihr die Hand sanft. Es war ihm unangenehm. Er war kein Held. Beileibe nicht. Er hatte tatsächlich mit den Gedanken gespielt, seine Hilfe nur vorzugaukeln, den Laster zu schnappen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Jetzt war er nicht einmal mehr dazu in der Lage. Außerdem musste er sowieso erst Sprit besorgen, wenn er zu Norman zurückfahren wollte. "Wie viel Zeit bleibt uns noch?", wollte er wissen.

"Ich weiß es nicht. Unsere Informationsquellen sind unzureichend. Wir rechnen jede Stunde damit und beten jeden Tag für einen weiteren Tag Aufschub."

"Fangt schon einmal an zu packen", bemerkte er und streckte sich ein wenig. Seine Beine waren kaum zu bewegen. Hoffentlich hatten ihn die Kerle nicht zu einem Krüppel gemacht. Doch seine Zehen ließen sich leicht bewegen.

"Das ist schon seit langem geschehen", gestand Mae und wand sich kurz nach Naome um. Das Kind in den Armen des Mädchens hatte sich mit einem zufriedenen Glucksen bemerkbar gemacht. "Wir warten nur noch auf den Aufbruchsbefehl. Glauben sie, wir schaffen es diesmal über den Katcho-Pass?"

"Der Katcho ist dicht", berichtete Carry. "Nach unserem spektakulärem Auftritt dort, ist er abgeriegelt worden. Ich hoffe, Norman ist inzwischen etwas anderes eingefallen."

"Wir wären direkt in eine Falle gelaufen, richtig?", schlussfolgerte Mae. Ihr Gesicht verriet ihre Sorge.

"Vermutlich", nickte er und versuchte ein schadenfrohes Grinsen. Seine Hilfe durfte jedenfalls nicht als selbstverständlich angesehen werden. Die Flaemen besaßen nur den einzigen Pluspunkt - Dem Laster fehlte außer Sprit nichts anderes. Für große Reparaturen besaß er weder die Zeit, noch die Lust.

 

Es war auch für Carry nicht einfach an Sprit für seinen Laster heranzukommen. Den Tank hatte er stets jenseits der Grenze füllen lassen und für den Notfall Reservekanister unter die Ladefläche geschnallt. Von seiner letzten Fahrt wusste er, dass diese Kanister bereits leer waren. Außerdem musste er sich auch noch nach einer Transportgelegenheit für den Treibstoff umsehen. Ein Tankwagen wäre vielleicht das Beste, doch dieser würde ebenso auffallen, wie ein buntbemalter Clown inmitten von Weitländern.

Er setzte sich auf eine Parkbank und musste für einen Moment verschnaufen. Mae hatte ihn davor gewarnt, allzu früh aufzustehen. Als seine Beine schwer wurden und die nur langsam verheilenden Wunden in seinem Unterleib schmerzhafte Stiche aussandten, wurde er an ihren Rat erinnert. Er durfte sich auf keinen Fall übernehmen. Sonst würde die Operation zum Scheitern verurteilt werden und die Hoffnungen der Kinder in Rauch aufgehen.

Als eine Frau mit offenem langen, blonden Haar an ihm vorüberstolzierte, kam ihm Maryle wieder in den Sinn. Hatte sie ihm nicht irgendwann erzählt, dass einer ihrer Freunde Sachbearbeiter im Verteilungsamt war? Er versuchte sich an Einzelheiten zu erinnern, doch es war schon zulange her. Vor fünf Jahren, als er noch Schweine und Versandwaren herumkarrte, sich beinahe jeden Abend volllaufen ließ und mit seinen Kumpels leichte Bekanntschaften suchte. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte er Maryle kennen gelernt. Ein Mädchen, das sich gerne ansprechen und nach Hause oder in ein Hotel begleiten ließ. Er hatte sich noch einige Male mit ihr getroffen, bis er schließlich von Norman angesprochen wurde.

Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, sich wieder bei Maryle blicken zu lassen. Seine kurze Nachricht auf dem Tisch musste sie nur unzureichend zufriedengestellt haben. Doch unter diesen Umständen musste er zu ihr zurückkehren.

Er biss auf die Zähne, hievte sich wieder auf die Beine und begab sich auf den Weg zu ihrer Wohnung.

 

Erwartungsgemäß empfing ihn ein etwas verärgertes Gesicht, als die Tür geöffnet wurde. Dass sie ihn überhaupt ins Treppenhaus ließ, zeugte davon, dass sie ihn wiedersehen wollte, um mit ihm ein Hühnchen zu rupfen.

"Du hast Mut, hier wieder aufzukreuzen", schimpfte sie, ohne ihre Wohnungstür für ihn gänzlich zu öffnen. "Ich habe für uns ein großartiges Frühstück besorgt und als ich nach Hause kam, war von dir nur ein Zettel übrig geblieben."

"Es tut mir leid", gab sich Carry reumütig. "Ich hätte nicht in der Firma anrufen sollen."

Maryle betrachtete ihn musternd. "Du siehst irgendwie nicht gut aus", stellte sie schließlich fest. "Ist etwas passiert?"

"Das kann man wohl sagen", nickte Carry und musste sein Gesicht nicht absichtlich verziehen. Der Fußmarsch hatte den Schnittwunden nicht sonderlich gut getan. "Ich habe große Scheiße gebaut und gehofft, dass du mir helfen kannst."

"Ist deine Fracht doch noch nicht fertig?", versuchte sie zu erraten. "Oder hat ein Anderer deine Fahrt bekommen?"

"Viel schlimmer." Carry versuchte ein mühsames Lächeln. Im Lügen war er mittlerweile geübt. Er versuchte stets ein wenig der Wahrheit in seine Geschichten einzubauen, um sich bei Fangfragen nicht allzu sehr zu verzetteln. "Ich hatte etwas Ärger und bin in eine Schlägerei geraten, bei der ich auch etwas abbekam. Aber das ist nicht der Grund, weswegen ich angekrochen komme."

"Weswegen dann?" Maryle war in der Tür stehen geblieben und hatte sich bisher nicht bereit gezeigt, ihn in ihre Wohnung zu lassen.

"Kann ich mit dir unter vier Augen reden?"

Erst jetzt öffnete sie die Tür und gestattete ihm den Eintritt.

Carry setzte eine Mitleidsmiene auf, biss sich gequält auf die Lippen und trat ein. Er hoffte, dass sie sich davon überreden ließ, ihm den Namen des Freundes zu nennen, der beim Verteilungsamt arbeitete. Seine rührende Geschichte würde zudem dazu beitragen.

"Ich denke nicht, dass von deinem großartigen Frühstück noch etwas übrig ist", begann er und sah sie erwartungsvoll an. "Ich hatte heute morgen nur eine Tasse dünnen Kaffee."

"Wenn deine Geschichte glaubwürdig ist, könnte ich mich dazu überreden lassen, dir ein Frühstück zu kreieren", erwiderte sie schnippisch. Sein plötzlicher und unerwarteter Aufbruch schien sie mehr als etwas missgestimmt zu haben.

"Ich rief an, weil ich wissen wollte, wie weit sie sind", begann Carry zu erzählen. "Ich wollte ihnen sagen, dass sie sich ruhig etwas Zeit lassen können. Dabei erfuhr ich, dass die Ladung bereits fertig war und ich sollte sofort kommen. Ich hatte eigentlich vor, bald wieder zurückzukommen, denn das Frühstück wollte ich nicht unbedingt versäumen. Doch dann tauchte so ein Arschloch von Konkurrenzfahrer auf, ein Wort gab das andere, wir gerieten in Streit, prügelten uns schließlich, er zog irgendwann ein Messer und ehe ich mich versah, hatte ich ein Loch im Bauch."

Maryle betrachtete ihn für einen Moment, dann setzte sie sich in einen Sessel und deutete ihm an, sich ebenfalls zu setzen.

"Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Lagerbüro", fuhr Carry fort. "Irgendjemand hat mich notdürftig zusammengeflickt und ich erfuhr, dass der Kerl sich einen Spaß daraus gemacht hat, die Tanks meines Lasters auszulassen. Mein Boss ist wegen dieses Vorfalls stinksauer. Er weigert sich, mir eine weitere Tankfüllung zu zahlen."

"Ohne Sprit kannst du doch nicht fahren", sagte sie wissend.

"Ich habe drei Tage Zeit eine Füllung zu besorgen. Danach bekommt ein anderer die Fuhre und ich bin draußen."

"Und?", wollte sie wissen. "Wo liegt dein Problem? Benzin gibt es doch an allen Zapfstellen."

"Das ist ein Schwerlastzug", erklärte Carry. "Dafür benötigt man Spezialtreibstoff. Und der ist nur an wenigen Stellen zu bekommen." Er schnaufte kurz durch. "Ich habe bereits alle abgeklappert, aber ohne Erfolg. Der Kerl scheint sich hier bestens auszukennen und alle Zuständigen informiert zu haben. Niemand will mir auch nur einen Tropfen geben."

Maryle betrachtete ihn mit wechselndem Ausdruck. Sie wusste nicht, ob sie Mitleid aufbringen, oder den bedauernswerten Kerl vor die Tür setzen sollte.

"Wobei soll ich dir helfen?", fragte sie.

"Du hast mir einmal von einem Freund erzählt, der beim Verteilungsamt arbeitet", erwiderte Carry. "Ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich nicht wirklich in Schwierigkeiten stecken würde."

"Ich soll diesen Freund für dich fragen, ob er einen Tank voll Spezialtreibstoff organisieren kann?", schlussfolgerte sie und hob argwöhnisch eine Augenbraue. "Wie stellst du dir das eigentlich vor? Nicht nur, dass ich seit Monaten keinen Kontakt mehr zu ihm hatte. Er wird dumme Fragen stellen."

"Ich habe nichts zu verbergen", sagte Carry achselzuckend und in der Hoffnung, dass die dummen Fragen etwas auf sich warten lassen oder gar nicht erst auftauchen. In der Zwischenzeit musste er herausgefunden haben, wo sich ein lukratives Depot befindet. "Du kannst ihm ruhig erzählen, was passiert ist."

Maryle betrachtete ihn abschätzend. Sie schien erwartet zu haben, dass Carry in Anbetracht der drohenden Nachfragen einen Rückzieher machte. Als er ihr jedoch zunickte, schnaufte sie kurz und schielte nach dem Telefon.

"Ich kann es zumindest versuchen", bemerkte sie. "Eigentlich ist es nicht deine Art, Streit zu suchen", fügte sie feststellend hinzu, während sie in ihrem Adressenbüchlein die richtige Nummer suchte.

"Habe ich auch nicht, sondern vielmehr gefunden. Der Kerl kam auf mich zu, machte sich über den Schriftzug an meinem Laster lustig und dann kam eines zum anderen." Er seufzte, hievte sich mühselig aus dem Sessel und verzog kurz das Gesicht, als sich die Stichwunden dabei schmerzhaft in Erinnerung meldeten. "Jetzt stecke ich in ernsthaften Schwierigkeiten, dieser Scheißtyp lacht sich eines ins Fäustchen und ich kann mich wegen der Stichverletzungen kaum bewegen."

Maryle ließ das Büchlein sinken und betrachtete ihn besorgt.

"Bist du deswegen im Krankenhaus gewesen?", wollte sie wissen.

"Solange ich nicht auf dem Zahnfleisch angekrochen komme, unternehmen die nichts für mich", erwiderte er nickend. "Da war so 'ne blöde Schwester am Empfang. Sie sah mich nur kurz an, stellte scheinbar fest, dass ich kein Weitländer bin, registrierte gerade noch, dass ich noch lebe und wimmelte mich mit der Bemerkung ab, kein Bett frei. Versuchen sie es woanders."

"Hast du es woanders versucht?"

"In zwei weiteren Kliniken, jedoch mit demselben Erfolg. Dann noch bei einem Arzt, der eine horrende Summe als Vorkasse verlangte", berichtete Carry missmutig. "Schließlich hatte ich genug. Als Ausländer kann man hier echt krepieren. Außerdem musste ich noch bis morgen früh Sprit für meinen Laster auftreiben."

Maryle lächelte ihn entschuldigend an.

"Kann ich mal dein Badezimmer benutzen?", fragte Carry vorsichtig. "Ich muss mal für kleine Jungs." Ein gewisser Druck in seinem Unterleib, riet ihm zu dieser Notwendigkeit. Als Maryle zustimmend nickte, verschwand er ins Badezimmer, jedoch nicht ohne sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich mit einem alten Freund sprach. Zu seinem Bedauern nannte sie keinen Namen. Scheinbar kannten sich die beiden doch besser, als sie zunächst vorgab.

"In Ordnung", rief sie und stürmte ins Zimmer, als Carry eben die Toilettenspülung betätigte. "Wenn du das nötige Kleingeld hast, kannst du sogar einen ganzen Tankzug bekommen."

"Tausend Liter würden mir schon reichen", gab er großzügig von sich. Den erleichterten Seufzer verkniff er sich. Ein Tankzug hörte sich großartig an. Das würde sein Transportproblem wie von selbst lösen.

"Du sollst um zwei heute Nacht am alten Verladebahnhof sein", berichtete sie. "An Pier Zehn. Und das Geld nicht vergessen." Sie lächelte adrett.

"Dieser Spaß kostet mich ein Vermögen", schimpfte er, während er den Reißverschluss hochzog. "Beinahe meine ganzen Ersparnisse. Wenn mir der Kerl noch einmal über den Weg laufen sollte, kann er froh sein, mit einem blauen Auge davonzukommen."

"Sei froh, dass an dir noch alles dran ist", bemerkte sie abschätzend. Ihr konnte der Blick auf den Verband nicht verborgen geblieben sein. "Vielleicht gibt er einen Preisnachlass, wenn ich mit ihm rede."

"Es würde mich wundern, wenn es auf dem Schwarzmarkt Rabatt gibt", gab er sarkastisch von sich und wollte an ihr vorbeigleiten. Sie stellte sich jedoch in den Weg. "Ich denke, du findest eine Möglichkeit, einen Minderung rauszuschlagen", bemerkte er und musterte sie mit einem Augenzwinkern.

Maryle grinste schelmisch und kaute für einen Moment auf ihrer Zunge.

"Er wäre dazu bereit, wenn ich mit ihm zu Abend esse", erzählte sie.

"Und? Tust du es?"

"Es kommt darauf an, was ich von dir als Vermittlungsprovision erhalte."

"An was hast du denn gedacht?" Carry betrachtete sie argwöhnisch.

Mit einem flüchtigen, musternden Blick, zog sie ihn an sich. "Mir fällt da bereits etwas ein", schnurrte sie verführerisch und küsste ihn auf das Kinn.

"Ich muss dich leider enttäuschen. Darauf muss ich die nächste Zeit leider verzichten."

"Lass mich nur machen", flötete sie, packte ihn am Hemdkragen und zog ihn mit sich ins Schlafzimmer.

 

Der alte Verladebahnhof sah am Tage schon nicht sonderlich einladend aus. In der Nacht war es eine nur mäßig beleuchtete Geisterstadt aus riesigen Wellblechhallen, in denen Fledermäuse, Nachtvögel, Ratten und bizarre Efeugewächse ihr Unwesen trieben. Bewacht wurde diese wirtliche Gegend normalerweise von drei Sicherheitsbeamten, von denen zwei in regelmäßigen Abständen durch den Bahnhof patrouillierten, wie die Flaemen ihm erzählt hatten. Die Holzbaracke, in welcher sich der Dritte des Wachpersonals aufhielt, diente auch als Pforte und versperrte mit einem dicken Schlagbaum, flankiert von tückischen Leitplanken, wie Carry inzwischen wusste, den Weg in den Bahnhof. Links und rechts davon zogen sich vier Meter hohe Metallzäune in die Nacht hinein. Im Schatten einer Häuserwand schlich sich Carry näher an die Pforte heran. Grelles Licht fiel durch ein Fenster. Stimmen drangen nach draußen. Es schien ein Fest gefeiert zu werden und ihm fiel auf, dass mehr als eine Stimme zu hören war.

Hinter ihm hörte er die Schritte seiner Begleiter. Allein zu dieser Verabredung zu gehen, war ihm zu gefährlich. Er kannte den Verteilungsbeamten nicht und wer ließ sich in diesen Zeiten schon gern auf Risiken ein. Carry legte den Rücken vorsichtig an die Wand der Pforte und spähte durch das Fenster. Einen kurzen Moment sah er sich suchend im Inneren der Hütte um, dann versteinerte sich sein Gesicht. Er konnte gerade noch Garth am Kragen packen und zurückreißen, bevor dieser durch die Tür stürmte.

"Bleib hier, verdammt noch mal", schimpfte er halblaut und stieß den Mann von der Tür weg.

"Wir müssen dem Mädchen helfen", rief er viel zu laut und riss sich los.

"Bleib hier", befahl Carry eindringlicher und hinderte ihn noch einmal, dem blutjungen flaemischen Mädchen zu helfen, über das sich die drei Sicherheitsbeamten hermachten. "Wenn auch nur einer von uns da rein geht, können wir unsere Sache gleich ganz vergessen."

"Aber sie werden sie umbringen", rief er entsetzt darüber, dass er daran gehindert wurde, eine Vergewaltigung zu unterbrechen.

"Wir können doch nicht zulassen, dass sie das Kind schänden", schaltete sich ein Zweiter ein.

"Bleibt hier, verdammt noch mal!", rief Carry und senkte seine Stimme sofort wieder. "Natürlich ist das dumm. Aber seht das doch aus einem anderen Gesichtspunkt. Die Kleine verhilft uns dazu, unbemerkt an den Wachen vorbeizukommen. Wenn ihr da jetzt rein geht und versucht sie vor ihrem Schicksal zu bewahren, werden sie Alarm schlagen und wir finden uns in der Gaskammer wieder." Er sah die beiden Männer, die schon ihre Hände auf der Türklinke hatten, eindringlich an. Nach kurzem Überlegen, gaben sie nach, jedoch nicht ohne mürrisch mit den Zähnen zu knirschen und einen mitleidigen und entschuldigenden Blick durch das Fenster zu werfen.

"Kommt weiter", rief Carry halblaut und unterschritt den Schlagbaum. "Ihr könnt ja für sie beten, wenn wir die Angelegenheit überstanden haben." Seine Sympathie für die flaemischen Jammergesänge war mit jedem Wort deutlich gemacht. Er handelte sich dafür von Garth einen strafenden Blick ein. Carry störte sich wenig daran. Er akzeptierte ihre Kultur, mit allen ihren Eigenheiten. So mussten sie seine freie Meinungsäußerung ebenso tolerieren.

Pier Zehn befand sich ungefähr in der Mitte des Bahnhofes. Ein gut überlegter Ort, dachte sich Carry und sah sich nach allen Seiten um, bevor er über den Verladeplatz ging, um seine Verabredung zu treffen. Sie waren durch die großen Hallen von jeder Seite vor Blicken geschützt. Zwei Männer, die einen verbotenen Handel tätigten, tauchten in den tiefen Wellblechtälern ebenso tief unter wie ein großer Tankzug. Man musste ihn nur noch unbemerkt an der Pforte und den Aufspieß-Leitplanken vorbei bugsieren. Aber vielleicht hatte sich der Beamte schon etwas dafür einfallen lassen. Nicht umsonst hatte er diesen Ort gewählt.

Carry blickte noch ein letztes Mal nach allen Seiten und trat aus dem Schatten einer Halle in die ungeschützte Fläche vor Pier Zehn. Eine leicht im Nachtwind dümpelnde Straßenlaterne hüllte den Platz in ein mystisches Wanderlicht. Er strengte seine Augen an, konnte jedoch noch niemanden ausmachen. Vielleicht war er zu früh. Er sah auf die Uhr. Eine Minute und fünfzig Sekunden nach zwei Uhr morgens. Eigentlich pünktlich genug. Er entschied sich, noch etwas zu warten und begab sich in den Schatten der Halle Zehn. Ihm gegenüber, an der Seitenwand von Halle Neun warteten seine Begleiter. Die andere Seite der Halle flankierten einige leere Ladecontainer, zwei herrenlose Sattelschlepper und ein kleinerer Lieferwagen mit dem Firmenaufdruck einer Reinigungsfirma.

Carry schob fröstelnd die Hände in die Hosentaschen. Durch den leichten Stoff der Hose, die ihm Mae für seine zerschnittene und blutgetränkte Jeans besorgt hatte, blies selbst dieses laue Abendlüftchen hindurch. Da es in Weitland keine Jeans zu kaufen, geschweige denn zu organisieren gab, musste er sich notgedrungen damit zufrieden geben. Er fühlte sich mehr als unbehaglich darin.

Eigentlich war es ziemlich riskant, sich frei und ohne Deckung vor dem Treffpunkt zu platzieren, dachte er, als er sich erneut umsah. Man konnte ihn sofort von jeder Seite aus sehen. Eben, als er sich schalt, unvorsichtig zu sein, hörte er ein Geräusch hinter ihm. Er zuckte nur unmerklich zusammen und spürte bereits den kalten Lauf eines Revolvers in seinem Nacken.

"Sieh an", sagte eine Stimme. "Trains höchstpersönlich. Ich bin überrascht."

"Ich habe das dumpfe Gefühl, dass hier jemand mit falschen Karten spielt", gab Carry ebenso überrascht zurück und drehte sich langsam um. Er hatte die Stimme wohl erkannt.

"Es sind die richtigen Asse im Spiel", grinste Cedric Vandellen. "Demnach bist du der unglückliche Kerl, der unbedingt einen Tank voll Brennstoff braucht."

Leugnen half nun nicht mehr.

"Hast du etwas anzubieten?", gab sich Carry geschäftsmäßig. Er hoffte, dass er an Vandellens Profitgier appellieren konnte. Sonst wüsste er sich keinen anderen Ausweg aus dieser Misere. In Kenkover hätte es ihn beinahe erwischt. Doch hier war Norman nicht zur Stelle, um seinen Hintern ein weiteres Mal zu retten. Seine Asse bildeten lediglich die Handvoll Flaemen, die gegenüber das Gespräch beobachteten und darauf warteten, dass ein Tanklaster auf der Bildfläche erschien. Aber was konnte er von einem Menschenschlag erwarten, die im Grunde gegen Gewalt und Unrecht waren. Sie würden niemals eingreifen, ohne dass ein triftiger Grund bestand. Carry seufzte kurz und verbarg seine Besorgnis hinter einem lässigen Grinsen.

"Ich denke, dass du mir etwas anzubieten hast", gab Vandellen zurück. "Dein Abgang in Kenkover war wirklich beeindruckend. Ich wüsste gerne, wer dir so glorreich aus der Patsche geholfen hat. War das dieser Norman?"

"An dem hast du wohl wirklich einen Narren gefressen, was?", gab sich Carry gelassen. "Dieser Norman ist nichts weiter, als ein fetter Schreibtischhengst und kommt allein schon bei dem Gedanken ins Schwitzen, jemand könnte ihm seinen heißgeliebten Schweinebraten klauen."

"Wer könnte es sonst gewesen sein?", wollte Vandellen wissen. "Das war beinahe Profiarbeit."

"Woher soll ich das wissen? Alles an was ich mich erinnern kann, ist, dass ich blind in eine Falle gelaufen bin und du dich als falscher Fuffziger herausgestellt hast. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich am Stadtrand von Kenkover in einem dreckigen Müllcontainer wieder." Carry gab sich wütend und schnaubte dementsprechend. "Ich hatte Glück, dass die Müllabfuhr bei euch nicht unbedingt gewissenhaft arbeitet, sonst wäre ich womöglich noch auf der Kippe gelandet."

"Was tust du hier? Hast du deinen Laster gefunden?" Vandellen ließ sich nicht beirren.

"Ja, habe ich. Er ist hier in Phasanker. Der Bastard von Dieb hat den Tank leer gefahren."

"Ich kenne die Geschichte in einer etwas anderen Version."

"Hätte ich Maryle erzählen sollen, dass ich sie nur aufgesucht habe, weil ich ihren Kontakt zum Verteilungsamt brauchte?"

"Es gibt legale Einrichtungen, bei denen man offiziell Brennstoff, auch Spezialbrennstoff erhalten kann."

"Zu einem Preis, den ich beim besten Willen nicht zahlen kann", gab Carry wissend von sich.

Vandellen musterte ihn kritisch. Er schien die Antworten abzuwägen und sich eine Meinung zu bilden.

Das gab auch Carry Gelegenheit, den Gegenüber eingehender zu betrachten. Vandellen schien sich extra für die Rolle als Beamter verkleidet zu haben und schaffte sich einen strengen Mittelscheitel, einen abgetragenen Leinenmantel und eine Nickelbrille an. Beinahe zum kichern, stellte Carry fest, wenn die Lage nicht so brisant gewesen wäre. Vandellen musste mehr über ihn wissen, als er offen legte. Scheinbar hatte er ihn schon länger beobachtet und die Gelegenheit in Kenkover zu nutzen gewusste. Nur gut, dass ihm Norman dazwischen gekommen war. Doch nun war er auf sich allein gestellt. Es gab keinen Norman. Er musste es erst mit Worten versuchen. Dann konnte er mit Taten beginnen. Er konnte sich aber auch denken, dass Vandellen nicht allein gekommen war.

 

"Es ist irgendwie witzig", begann Vandellen und schob endlich die Waffe wieder in den Halfter unter seinem linken Arm. Eine Bestätigung für Carry, dass er tatsächlich nicht allein gekommen war. Er hoffte nur, dass seine eigene Begleitung klug genug war, sich nicht erwischen zu lassen und sich zu verstecken. "Aber aus einem seltsamen Grund kann ich dir nicht so Recht Glauben schenken. Was könnte es sein, dass mich so skeptisch macht?" Er sah Carry auffordernd an.

"Du hast dich in etwas verrannt, aus dem du nicht mehr so leicht herauskommst", antwortete Carry und hielt dem Blick stand. "Ich weiß nicht, wie du auf die Idee kommst, ich würde Flaemen außer Landes schaffen. Ich bin doch nicht so blöde, mir die Wut einer ganzen Regierung aufzuhalsen."

"Ich denke aber irgendwie schon", wusste es Cedric besser. "Erst gestern erhielt ich eine interessante Video-Aufnahme von einem umfrisierten Speedster, der gewaltsam den Grenzposten in Kier durchbrach. Als Fahrer bist eindeutig du zu erkennen."

"Ach ja?", machte Carry überrascht und zog eine Augenbraue hoch. Er musste sich schleunigst eine passende Geschichte einfallen lassen. "Okay! Du hast mich. Meine Ladung damals war nicht ganz legal." Ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass auf Schmuggel von Handelsgut lediglich eine Geldstrafe fiel; auf die von Flaemen allerdings das Todesurteil.

"Merkwürdig, dass auf dem Mon eben jener Speedster auftauchte, der allerdings eine Ladung flüchtiger Flaemen an Bord hatte", überlegte Vandellen laut. "Ich denke, dass dein Lügenspiel endlich ein Ende haben sollte", wurde er etwas ärgerlich. "Es war dumm von dir, allein herzukommen, Trains. Niemand wird dir nun aus der Patsche helfen."

"Wirklich dumm, nicht wahr?", entgegnete Carry sarkastisch. Der Worte waren es nun genug. Jetzt mussten Taten folgen. Ein großer Vorteil für ihn war, dass Vandellen seine Waffe weggesteckt hatte. Carry drehte sich kurz um; und als er herumwirbelte, um Vandellen einen saftigen Haken zu verpassen, bemerkte er gerade noch im Augenwinkel, dass dieser seine Waffe wieder gezogen hatte und eben im Begriff war, sie auf Carry zu richten und ihn hinterrücks zu erschießen.

Carry reagierte schnell und schlug nach Vandellens rechten Arm. Ein Schuss löste sich. Ein Feuerschweif versenkte Carrys Schulter. Er ignorierte den Schmerz, biss die Zähne zusammen und noch ehe Vandellen sein Ziel neu anvisieren konnte, schlug ihm Carry die Waffe aus der Hand. Ein weiterer Schuss löste sich, als sie auf den Asphalt fiel und über den Boden schlidderte. Das Geschoss fing sich im Wellblech der Halle Zehn. Carry hakte sofort nach und verpasste dem enttäuschenden Freund einen deftigen Schlag ins Gesicht. Er durfte ihn nicht zu Atem kommen lassen. Obwohl seine Verletzungen im Unterleib anderer Meinung waren, führte er einen Schlag nach dem anderen aus. Die schnellen Bewegungen verursachten bald stechende Schmerzen. Doch Carry ließ ohne Unterbrechung Schläge, Tritte und Hiebe auf Vandellen niedersausen. Nur wenn er ihn förmlich überrumpelte, besaß eine Chance. Aus gemeinsamen Prügelorgien wusste er, dass Vandellen ein guter Schläger war.

Allerdings war er besser, als es Carry in Erinnerung hatte. Es gelang ihm, sich aus dem Dauerhagel zu befreien und seinen Gegner mit einem gezielten Schlag in die Magengegend für einen Moment abzulenken, um schließlich selbst eine Sintflut von gekonnten Schlägen auf Carry niederkommen zu lassen. Und ehe sich dieser versah, hing er im Schwitzkasten kräftiger Arme, die ihm die Luft raubten, bis Sternchen vor seinen Augen erschienen.

Es wurde allmählich Zeit, dass Carrys Pluspunkte auf der Bildfläche erschienen. Noch während er gegen die Umklammerung ankämpfte, wunderte er sich darüber, dass Vandellens Begleiter nicht auftauchten und ihm zur Hilfe kamen. Er bezweifelte, dass Cedric allein gekommen war. Und wenn sich seine flaemischen Freunde nicht bald entschließen könnten, ihm zu helfen, würde er in die Hände des weitländischen Geheimdienstes fallen. Seine Sinne schwanden zunehmend unter dem kraftvollen Druck um seinem Hals.

"Ich will dich nicht umbringen", keuchte Vandellen nahe an seinem Ohr. "Du bist mir lebendig wertvoller."

Carrys Gegenwehr wurde allmählich schwächer. Seine Glieder wurden schwer. Die Lunge drohte zu platzen.

"Wer sind deine Hintermänner?", forderte Vandellen und lockerte den Griff soweit, dass Carry antworten konnte. "Wer hat dich nach Phasanker geschickt?"

Auch wenn ihm der Tod durch Erdrosseln drohte, Carry weigerte sich zu antworten.

"Ich wende ungern härtere Maßnahmen an. Ich weiß, dass du für diesen Norman arbeitest. Wenn du für mich ein Treffen mit ihm arrangieren kannst, lasse ich dich laufen."

Carry konnte nur missbilligend knurren. Seine Kehle schien zerquetscht zu sein.

"Es ist deine einzige Chance, Trains. Ein einziger Ruck und du bist ein toter Mann. Du brauchst nur Ja zu sagen und dein Weiterleben ist gesichert."

"Lass ihn los und ich überlege es mir noch einmal, ob dein Weiterleben gesichert ist", ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Wenn Carry vermocht hätte erleichtert durchzuatmen, er hätte es liebend gern getan. Aber es ging nicht.

"Lass ihn los", forderte Garth eindringlicher.

Vandellen sah kurz über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass der Unbekannte keine leere Drohung ausstieß. Als er seine eigene Waffe in den Händen eines Flaemen entdeckte, fluchte er unterdrückt und ließ ihn endlich los.

"Das wird dir teuer zu stehen kommen", zischte Vandellen wütend. Für den nach Luft keuchenden Carry Trains hatte er nur einen flüchtigen Seitenblick übrig. Seine Augen verrieten, dass er nach einer Lösung suchte, die Waffe zurückzuerlangen und seinen Gefangenen nicht davonkommen zu lassen. "Wer glaubst du, wer du bist?"

"Gestatten: Norman", stellte sich Garth vor und machte dabei eine äußerst steife Verbeugung.

"Das glaube ich nicht", rief Vandellen kopfschüttelnd.

"Glaube was du willst", stieß Garth streng aus. "Hände in den Nacken und auf die Knie."

Vandellen gehorchte. Allerdings nur widerwillig. Als aus dem Schatten der Halle Zehn noch zwei weitere Flaemen auftauchten, zischte er wütend durch die Zähne.

"Verdammt", hustete Carry und funkelte ihn wütend an. Tränen standen in seinen Augen. "Wo zum Teufel bist du gewesen? Hast wohl ein Nickerchen gemacht, was?"

"Glaubst du es ist so einfach, an einer Armee Geheimdienstleute vorbeizukommen, um dir aus deiner misslichen Lage zu helfen?", schimpfte Garth. "Du hältst dich für einen superklugen Helden und läufst wie ein törichter Tölpel geradewegs in eine Falle. Ich sagte schon immer, dass wir uns nicht auf dich verlassen können."

"Wer hat uns denn erst in diese Situation gebracht?", keuchte Carry, noch immer gegen den Hustenreiz ankämpfend. "Wenn du und deine verdammte Idee nicht gewesen wären, säßen wir nicht hier und müssten zusehen, wie wir zu Sprit kommen."

Vandellen lauschte mit aufmerksamen Ohren, während die beiden Flaemen ihn fesselten.

"Was machen wir mit ihm?", wollte Sanom wissen.

"Was ist mit der Armee Geheimdienstler?", fragte Carry dazwischen, bevor Garth eine Antwort geben konnte.

"Wenn sie Glück haben, findet sie jemand in ihrem Container, bevor ihnen die Luft ausgeht", antwortete Parro breit grinsend. "Es war Sanoms Idee, sie zusammen mit den Wachposten aus dem Pförtnerhaus einzusperren. Deswegen hat es auch solange gedauert."

Jetzt tauchte auch der Rest der flaemischen Mannschaft auf. In ihrer Mitte führten sie ein völlig verstörtes und vor Aufregung zitterndes Mädchen. Über ihrem zerrissenem Kleid trug sie Garths Jacke.

Carry konnte das Schmunzeln nicht verkneifen. Er hatte die Flaemen unterschätzt. Offenbar waren sie über ihre Grundsätze gesprungen, um die Situation doch noch für sich zu retten.

"Okay", sagte er laut, klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen, vergriff sich in Vandellens Haar und riss dessen Kopf hart in den Nacken. "Okay, du Schweinepriester", zischte er ihm wütend ins Gesicht. "Du hast Maryle einen Tankzug versprochen. Wo ist er?"

"Glaubst du wirklich, ich erzähle dir das", spuckte ihm Vandellen wütend ins Gesicht.

"Das musst du, sonst pustet dir ... Norman ! ... das Lebenslicht aus. Darauf hast du doch die ganze Zeit gewartet, oder nicht? Hier ist deine Verabredung mit ihm. Wo ist nun der Sprit?"

"Du musst dir etwas anderes einfallen lassen, um das aus mir heraus zu bekommen", grinste Vandellen hämisch.

"Leider bin ich nicht derselbe ruchlose Bastard, sonst würde ich dir Kenkover mit gleicher Münze heimzahlen."

"Nur zu", forderte ihn Vandellen auf.

Mit einer Ohrfeige fing es an, erinnerte sich Carry und schon hallte es durch die Nacht. Diese Bewegung erinnerte ihn mit einem schmerzhaften Stich daran, dass seine Verletzungen in arger Mitleidenschaft gezogen worden waren. Maryle schien Vandellen über alle Details informiert zu haben. Was ihn mehr schmerzte war, dass sie ebenfalls eine von ihnen war. Eine dieser verbohrten Weitländer, die mindestens einen unschuldigen Flaemen auf dem Gewissen hatten.

Carry verkrallte sich fester in Vandellens Haar.

"Ich habe leider nicht die ganze Nacht Zeit", fuhr er fort. "Es ist besser, wenn du es mir gleich erzählst, bevor ich dich zu deinen Freunden in den Container sperre."

Parro klopfte Carry vorsichtig auf die Schulter.

"Wir haben den Schlüssel fortgeworfen", berichtete er. "Wir können den Container nicht mehr öffnen."

"Also gut", rief Carry und zog Vandellen an den Haaren hoch. "Mal sehen, ob wir etwas Besseres finden." Er sah sich kurz um und zerrte ihn mit sich fort. Ihm war eine Idee gekommen. Er stieß Vandellen in einen der leeren Ladecontainer, verriegelte diesen sorgfältig, brach den kleinen Lieferwagen der Reinigungsfirma auf, indem er ein Seitenfenster einwarf und entnahm ihm den Zuluftschlauch eines Staubsaugers. Ein Ende befestigte er am Auspuff des Lieferwagens; das andere Ende führte er in den Container.

"Mal sehen, wie lange du die Luft anhalten kannst", rief er Vandellen zu, schloss die Zündung des Lieferwagens kurz und ließ den Motor im Stand laufen.

"Das kann ihn töten", gab Sanom besorgt zu Bedenken.

"Dieser Bastard hat es mehr als jeder andere verdient", knurrte Carry und lehnte sich lässig gegen den Container. "Außerdem seid ihr auch nicht besser. Cedric! Wo ist der Tankzug?" Nun saß er am längeren Hebel. Nur schade, dass er kein heißes Wasser parat hatte, dachte er im Stillen.

"Such ihn doch selbst", kam es aus dem Container.

"Dazu habe ich leider keine Zeit", rief Carry zurück. "Und dir wird auch nicht mehr viel Zeit bleiben. Also mach es kurz. Wo ist der Tankzug?"

Vandellen antwortete nicht.

"Wie kommst du eigentlich zu Maryle?", wollte Carry beiläufig wissen. "Hat sie dich ebenso in einer Kneipe angequatscht und anschließend abgeschleppt? Oder kennt ihr euch aus irgendeiner Spitzelversammlung?"

"Was geht es dich an?"

"Reine Neugierde", entgegnete Carry. "Ich schätze, dass du in ungefähr zwanzig Minuten in die ewigen Jagdgründe eingegangen sein wirst. Wenn du den großen Manitu noch etwas warten lassen möchtest, dann erzähle mir, was ich wissen will."

"Du kannst mich."

"Du mich auch", knurrte Carry verärgert. "Im Grunde ist Maryle auch nichts anderes als eine gewöhnliche Hure", fuhr er fort. "Sie arbeitet nur in einem anderen Stil. Findest du nicht auch?"

"Ein denkbar schlechter Augenblick für ein Gespräch unter Freiern", kam es aus dem Container. "Du vergeudest deine Zeit."

"Ich hielt dich für 'nen richtigen Kumpel", gestand Carry. "Du weißt schon. Solche, mit denen man sich durch Kneipen saufen und prügeln kann. Es scheint, dass es mit meiner Menschenkenntnis nicht weit her ist. Seit wann bist du hinter mir her? Schon seit damals, als wir uns während der Schlägerei kennenlernten?"

"Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?"

"Die Enttäuschung trifft mich hart", erwiderte Carry aufrichtig. "Außerdem glaubt mir Norman nicht, dass ich dich für harmlos hielt." Er warf Garth ein freches Augenzwinkern zu.

"Pech für dich."

Carry stutzte. Irgendetwas stimmte nicht. Vandellen blieb bemerkenswert ruhig. Obwohl ihm der nahe Tod vor Augen stand, verhielt er sich, als würde jeden Moment der Rettungstrupp eintreffen. Er sah sich um. Die Luft roch plötzlich merkwürdig unheilschwanger. Dann fiel es ihm ein. Er hatte vergessen Cedric zu filzen, bevor er ihn in den Container sperrte. Vermutlich war er mit irgendeinem Hauptquartier verkabelt und die hörten selbstverständlich alles mit. Nachdem die Flaemen die unmittelbare Mannschaft außer Gefecht gesetzt hatte, dauerte es eben nur etwas länger, bis Nachschub folgen konnte.

Als ob es einer Bestätigung nötig gewesen wäre, entdeckte Carry einen Schatten, der von einer Halle zur anderen huschte.

"Verdammt", fluchte er laut. "Wir müssen weg hier."

Nur einen Augenblick später hagelten Maschinengewehrsalven über sie herein. Carry hechtete unter den Lieferwagen. Dort wo er vor einer Sekunde noch gestanden war, bohrte sich eine Reihe von Geschossen in die dicke Stahlwand des Containers. Die Flaemen warfen sich auf den Boden und krochen auf allen Vieren in die Deckung einer Wellblechwand.

"Garth!", rief Carry durch den Lärm des Dauerfeuers. Er musste den Kopf einziehen, als der Reifen, hinter dem er sich verschanzt hatte, getroffen wurde und platzte. Nachdem er den Kopf wieder hob, bemerkte er, dass auch der Tank getroffen worden war und seine brennbare Flüssigkeit verlor. Zudem lief noch der Motor. "Benutze gefälligst die Waffe", befahl er und kroch tiefer unter den Leib des Lieferwagens.

"Ich kann nicht schießen", rief der Flaeme zurück und schwenkte Vandellens Pistole hilflos durch die Luft.

Carry war zwar kein Meisterschütze, doch wenn es darauf ankam, vermochte auch er das eine oder andere Ziel zu treffen. Er musste an das Massaker auf Mon denken und erschauderte.

"Wirf sie rüber", befahl er. "Und dann verschwindet, solange ihr noch könnt." Er ärgerte sich darüber, dass dieser nächtliche Ausflug vermutlich umsonst sein würde. Denn höchstwahrscheinlich gab es hier keinen Tankzug. Oder vielleicht doch? Es kam lediglich darauf an, ob Vandellen ihr den Ort genannt hatte, bevor oder nachdem sie Carrys Namen aussprach.

Garths Wurf fiel einen Meter zu kurz aus. Was für Carry hieß, dass er seine Deckung verlassen musste, um an die Waffe zu gelangen. Er fluchte im Stillen, robbte unter das Führerhaus und spähte vorsichtig in Richtung der Scharfschützen. Vielleicht gelang es ihm, den Lieferwagen ins Rollen zu bringen. Da der Motor noch lief, brauchte er lediglich den Gang einzulegen. Er kroch vorsichtig hinter dem Reifen hervor, hangelte sich zum Türgriff hinauf und öffnete sie. Er befand sich zwar in einem für die Schützen ungünstigen Winkel, aber das Öffnen der Tür würden sie zweifellos bemerken. Wenn ihm das Glück hold sein wollte, konnte er sich damit zwar nicht an Vandellens Pistole bringen, doch sicherlich außerhalb der unmittelbaren Gefahrenzone. Carry kroch über den Einstieg in den Fußraum, drückte mit der einen Hand die Kupplung und legte mit der anderen den Gang ein. Es funktionierte. Der Lieferwagen setzte sich ruckend in Bewegung.

Einige der Schützen konzentrierten sich erwartungsgemäß auf den Motor des langsam anrollenden Wagens. Es gab klirrende und zischende Geräusche, als Stahlgeschosse den Kühlergrill durchbrachen und sich im Motorblock wiederfanden. Querschläger sausten jaulend nahe an Carry vorbei. Metallfetzen flogen durch die Luft. Carry betete, dass es ihn noch wenigstens nahe genug an die rettende Wellblechwand brachte. Der Schlauch war dabei aus dem Container gerissen worden, doch dies war ihm nun egal.

Diesmal schien Vandellen mit einem blauen Auge davon zu kommen. Doch irgendwann würde auch seine letzte Stunde schlagen. Und Carry hoffte inständig, dass es unter Schmerzen geschah.

Es dauerte noch einige Kolbenschläge lang, dann fiel der schwergeschädigte Motor aus. Mit einem letzten Tuckern und einem letzten Zischen verstummte er und der Lieferwagen blieb in Sprungweite der Halle, hinter der sich auch die Flaemen in Sicherheit gebracht hatten, stehen. Carry schob sich unter dem Wagen zum hinteren Ende und spähte vorsichtig in Richtung der Schützen. Wenn sie inzwischen umzingelt waren, würden die Karten schlecht für sie ausfallen, dachte er, wartete eine kurze Gefechtspause ab und sprang unter dem Lieferwagen hervor. Die Schützen richteten ihre Aufmerksamkeit sofort auf ihn. Ein Streifschuss ließ Carry mitten im Sprung zusammenzucken. Im gleichen Moment fragte er sich, warum sie nicht aus ihrer Deckung kamen. Sie müssten doch längst erkannt haben, dass von den Flaemen keine Gegenwehr kam und sie daher kein Risiko zu befürchten hatten. Kaum hatte er seine Gedanken zu Ende führen können, da sah er im Augenwinkel auch schon das Aufblitzen mehrerer Gewehrläufe, die durch die Ritzen der benachbarten Halle ihre Ziele anvisierten.

Carry fluchte im Stillen. Eines musste man diesen verdammten Weitländern lassen. In Sachen Sadismus konnte ihnen keiner das Wasser reichen. Die Flaemen standen nun so frei und ungeschützt vor der Wellblechwand, wie zum Tode Verurteilte vor einem Exekutionskommando. Darauf schienen die Scharfschützen gewartet zu haben - bis ihre Opfer von den Treibern in das tödliche Netz getrieben worden waren.

Carry konnte gerade noch eine Warnung ausstoßen, da stürzte es auch schon über sie herein. Er ließ sich blitzschnell zu Boden fallen und presste sich hart in die Ecke zwischen Wand und Boden. Es gab eigentlich kein Entkommen mehr.

Zu seiner Überraschung gab die Blechwand nach und er stürzte bereits halb in das Innere der Halle. Schnell schlüpfte er gänzlich hindurch, rief nach Garth und erlaubte sich ein erleichtertes Durchatmen. Die Blechverkleidung der Halle trotzte den todbringenden Geschossen noch beharrlich. Doch wie lange würde es noch standhalten können?

Mit einem Seufzer erhob er sich, klopfte den Staub aus seinen Hosenbeinen und sah sich um. Für einen Moment blieb ihm die Spucke im Rachen kleben.

"Ihr Flaemen scheint doch einen Gott zu haben", kam es überrascht über seine Lippen. Er stand vor drei Tanklastzügen.

"Was hast du denn gedacht?", entgegnete Garth. "Dass unser Gleichmut von Trotz gepredigt wird?" Er verkniff sich ein freches Grinsen, als er einen seiner Männer entdeckte, der gerade noch durch die Lücke entwischen konnte. Er war getroffen worden und hinterließ am Blech eine breite Blutspur. "Sanom!", rief er entsetzt und half ihm von der Wand weg. Erst jetzt entdeckte er, dass es nicht alle geschafft hatten, sich in Sicherheit zu bringen. "Wann wird dieses sinnlose Morden und Blutvergießen endlich aufhören?", rief er traurig und zerrte am leblosen Körper einer weiteren Person, die es leider nicht mehr geschafft hatte, sich in Sicherheit zu bringen.

"Sie sind bis oben hin voll", rief Carry freudig. Er besaß im Moment keine Gedanken für die Toten und die Verwundeten. "Die Tanklaster sind unsere Freikarten. Sie sind gepanzert. Legt die Verletzten auf den Boden der Führerkanzel. Wir müssen mit etwas Nachdruck abreisen." Er schwang sich bereits die vier Stiegen zum Führerhaus hoch. Mit wenigen Blicken machte er sich der Handhabung des Tankzuges kundig und begann bereits damit, die Tanklaster abreisebereit zu machen. Mit einem letzten Blick, bevor er den Gang einlegte und mit Vollgas das Tor aus den Angeln riss, entdeckte er noch Garth, der das vor wenigen Minuten gerettete Mädchen, welches von einem Kopfschuss um ihr junges Leben gebracht worden war, vorsichtig auf den Boden bettete.

Carry seufzte, schob die aufkommenden traurigen und wütenden Gedanken beiseite und widmete sich den anderen Fahrern. Er bezweifelte, dass sie einen Transporter bedienen konnten. Wenn sie es nur bis hinter den Stadtrand schafften, war die Flucht von einigen tausend Flaemen gesichert.

"Warum sollen wir alle drei stehlen?", wollte jemand an seiner Seite wissen. "Wir brauchen doch nur knapp tausend Liter."

"Erstens ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass wenigstens eine Tankfüllung für uns übrig bleibt", keuchte Carry und legte den Gang ein. "Und zweitens können mit dem Rest noch viele Andere flüchten. Oder willst du den Sprit den Weitländern überlassen?" Er sah ihn fragend an. Sanom hielt sich seine Wunde mit der Hand zu. Blut floss durch die Finger. "Außerdem glaube ich, dass weder das Verteilungsamt, noch die Polizei etwas von dieser Ladung weiß. Ich denke, Cedric wollte den Gewinn in seine eigene Tasche fließen lassen." Carry hatte hinter dem Sitz eine alte Decke entdeckt. Er gab sie Sanom, damit dieser den Blutstrom aufsaugen konnte. Die Decke würde nicht lange helfen, wusste er. Was Sanom wirklich brauchte, war Mae. "Demnach brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben. Das geschieht diesem Bastard nur recht."

Mit einem letzten Blick in die Rückspiegel vergewisserte sich Carry, dass alle Überlebenden in die Wagen geklettert waren und trat auch schon voll in das Gaspedal. Dunkle Rußwolken wurden an die Decke der Halle geschleudert. Motoren heulten donnernd auf. Entgegen allen anderen Passagieren, zuckte Carry nicht einmal mit den Wimpern, als sie die Tore durchbrachen und mit Volldampf in die Barriere aus Geländewagen und Scharfschützen fuhren, die inzwischen vor der Halle aufgebaut worden war. Schüsse prallten an der gepanzerten Scheibe des Führerhauses ab oder sausten als Irrläufer jammernd durch die Luft, um irgendwo ein eher zufälliges Ziel zu finden. Von zahlreichen spektakulären Grenzübergängen geschult, fand sein Auge rasch eine passierbare Lücke, brach durch einen windigen Zaun aus schussbereiten Polizisten und ließ den starken Motor mühelos drei Einsatzwägen auf die Seite schieben, um bald mit Höchstgeschwindigkeit weiterzurasen.

Hinter ihm erzitterte ein ohrenbetäubendes Krachen die Luft. Für einen langen Moment wurde die Nacht gleich einem sonnigen Tag erhellt. Carry sah nicht zurück. Die Schreie seiner Passagiere, informierten ihn über das Geschehen. Einer der Tanklastzüge hatte es nicht geschafft.

 

Der weitere Weg war nun mehr oder weniger ein Kinderspiel. Die Motoren bis an die Höchstleistung getrieben, rasten sie in atemberaubendem Tempo durch den Verladebahnhof, durchbrachen mühelos die Schranken und rasten hinaus in die Stadt. Es dauerte allerdings nicht lange, da hatten sich auch schon hartnäckige Verfolger an ihre Versen geheftet. Carry trat das Pedal bis aufs Bodenblech durch, ignorierte rote Ampeln und späte Reisende, die die Lage nicht erkennend, zu weit in die Kreuzung einfuhren. Der Tanklastzug donnerte in die querstehenden Wägen und schob sie beiseite, als wären sie nichts weiter als Pappkarton. Immer wieder vergewisserte sich Carry mit flüchtigen Blicken vom immer geringer werdenden Abstand zu seinen Verfolgern, raste mit überhöhtem Tempo um Kurven und über Kreuzungen und hoffte, dass sie noch die Autobahn, die an Phasanker vorbeiführte, erreichen konnten. Und er hoffte, dass Garth ihm folgen konnte.

 

"Sanom, übernimm das Steuer", rief Carry, als sie auf der Autobahn angekommen waren. Er schaltete in den höchsten Gang, jagte den Motor in die höchsten Drehzahlen und nahm die Hände vom Lenkrad.

"Aber, ich ... Wieso? Ich kann nicht", stotterte der Flaeme, der noch genug zu tun hatte, die Decke auf seine Wunde zu pressen. Ihm blieb allerdings keine andere Wahl, denn Carry hatte sich bereits erhoben und schickte sich an, aus dem Fenster zu klettern. "Was hast du vor?", rief ihm Sanom fragend hinterher, mit dem Lenkrad und der rutschenden Decke zugleich kämpfend.

"Klemm deinen Fuß auf das Pedal und halte das Steuer gerade", rief Carry zurück. "Gleichgültig was passiert." Damit war er verschwunden.

Sanom suchte ihn im Rückspiegel, doch die blendenden Scheinwerfer ihrer Verfolger machten es unmöglich, irgend etwas zu erkennen. Er seufzte tief und konnte nur auf die Verwegenheit jenes Mannes hoffen, der schon so viele Flaemen in das Land des Lebens gebracht hatte.

 

Carry krallte sich an einer schmalen Rinne fest und suchte mit den Beinen baumelnd Halt für seine Füße. Eine ruckartige Bewegung des Tankers hatte ihn des festen Standes beraubt und er war dem vorbeirasenden Asphaltboden gefährlich nahe gekommen. Zum Glück hatten seine Finger noch jenen winzigen Halt gefunden und ihn vor dem sicheren Tod gerettet.

Unter Anstrengung all seiner Kräfte zog er sich hoch, fasste nach oben und bekam das Trittbrett des Tankanhängers zu fassen. Als er sein rechtes Bein nach oben warf, um sich auf das schmale Gitter zu ziehen, meldete sich seine Verletzung mit einem kurzen aber heftigen Schmerz wieder. Solchen Eskapaden war er noch nicht gewachsen. Anstatt aber zu jammern und zu stöhnen, biss er die Zähne zusammen und zog sich auf das Gitter. Er hatte noch einen langen Weg vor sich. Die allzu lästigen Verfolger, die nun wieder begonnen hatten, auf sie zu schießen, mussten abgeschüttelt werden und würden sich von ein paar Wehwehchen sicherlich nicht davon abbringen lassen.

Er atmete tief durch, rappelte sich hoch und machte sich auf den Weg, ans hintere Ende des Anhängers. Dort angekommen, deutete er Garth näher zu kommen. Immer wieder winkte er den Fahrer des zweiten Tankers heran, bis zwischen ihnen nur noch ein Abstand von einem halben Meter bestand und Carry beinahe mühelos überspringen konnte. Geschosse pfiffen an seinen Ohren vorbei, als er sich bäuchlings ans Ende des Tankzuges schob, sich weit über den Rand beugte und nach dem Ablaufhahn fingerte. Der Tank war gepanzert, so war die Gefahr einer Explosion durch einen Treffer gebannt. Sein Körper war es jedoch nicht und so manche Querschläger sauste nur wenige Zentimeter an ihm vorbei. Endlich bekam er den Hahn zu fassen, drehte ihn herum und ließ den kostbaren Inhalt auf die Straße rinnen. Schnell schob er sich wieder zurück, ließ sich zwischen Führerkanzel und Tankanhänger gleiten und zerrte mit Leibeskräften an der Kupplung, die den Tank am Zugwagen hielt. Während der Fahrt gab es einen ständigen Zug auf der Kupplung und so sehr er auch zog und zerrte, es wollte ihm nicht gelingen, die beiden Fahrzeuge zu trennen.

"Garth!", schrie er gegen den Lärm von Motoren, sausendem Wind, singenden Wulstreifen und knatternden Maschinengewehren an. "Kurz vom Gas gehen!" Er klopfte gegen die Rückwand der Kanzel. "Geh kurz vom Gas!"

Als Carry gegen die Rückwand geschleudert wurde und der Anhänger ein wenig auf ihn zu kam, riss er sofort den Sicherungsstift aus der Kupplung. Nun haltlos geworden, schnalzte die kurze Deichsel nach oben und zur Seite und hätte beinahe Carrys Beine erwischt, wenn er nicht reaktionsschnell in Deckung gesprungen wäre. Aus ihren Verankerungen und Steckverbindungen gerissene Kabel, Schläuche und Drähte, peitschten durch die Luft und trafen ihn noch, bevor sie in einem Funkenregen davonjagten. Ein Quietschen und Kreischen zerriss die Luft und übertönte den Lärm der Verfolgungsjagd. Erwartungsgemäß blockierten die Bremsen des Tankanhängers, sobald er von der Zugmaschine losgekoppelt war. Er stellte sich quer und die ersten Verfolger stießen unausweichlich mit ihm zusammen. Weitere konnten den Zusammenstoß nicht mehr verhindern und rasten ebenfalls in den Tod. Ein zweites Mal wurde die Nacht in einen Tag verwandelt, als der Tank des Anhängers explodierte. Ein Feuerteppich wanderte in rasend schnellem Tempo die Strecke des abgelassenen Brennstoffes zurück und verwandelte auch die Fahrzeuge der restlichen Verfolger in mehrere kleinere und größere Feuerbälle.

 

Trotz allem irgendwie doch erleichtert, kletterte Carry in das Führerhaus zu Garth, der ihn mit einem etwas missmutigem Gesicht erwartete.

"Wir hätten den Sprit gut gebrauchen können", schimpfte er.

"Was ist dir lieber? Wenigstens einen Tankwagen und dein Leben zu retten, oder ohne Richter und Verhandlung vor einem mordlüsternen Erschießungskommando zu stehen?", wollte Carry wissen. Blut tropfte auf seine Hand. Er wischte über seine angeschlagene Nase. Eines der zügellos umherschnalzenden Drähte oder Schläuche hatte ihn im Gesicht erwischt. "An dieser ganzen Sache ärgert mich nur eines", knurrte er anschließend. "Dass es dieser Schweinehund von Vandellen überlebt hat. Ich bezweifle aber stark, dass er sich noch der Verfolgung anschließen konnte."

"Das bedeutet, dass wir irgendwann wieder auf ihn stoßen werden", schlussfolgerte Garth richtig.

"Darauf kannst du deinen heiligen Arsch verwetten", erwiderte Carry nickend und bewegte vorsichtig sein Becken. Jetzt, da er sich einen Moment der Ruhe gönnen konnte, meldete sich seine Verletzung erneut. Akrobatische Spitzenleistungen sollte er sich eigentlich für später aufheben. "Halt die Augen offen", riet er, lehnte sich zurück und gönnte sich eine Pause.

 

Eine knappe Stunde später bog der kleine Tross von der Autobahn ab und folgte einem schmalen Schotterpfad zu einem Wäldchen. Von allen fremden Blicken gut bewahrt, in mitten eines Dickichts stand der für spezielle Zwecke umgebaute Speedster 5000, als schien er die ganze Zeit nur darauf gewartet zu haben, dass sein Besitzer zurückkam und ihn aus dieser Einsamkeit erlöste. Nach einer prüfenden Runde um seinen Laster, befand ihn Carry, in einwandfreiem Zustand und bedachte Garth mit einem strafenden und einem dankbaren Blick. Während er die Tanks mit dem gestohlenen Sprit füllte, tauchte auch Mae mit einer ganzen Schar von Flaemen auf und begab sich sofort an die Arbeit, die Verwundeten zu versorgen.

 

"Ist euch irgend jemand gefolgt?", erkundigte sich Carry, während er die Anzahl überschätzte. Es waren weitaus mehr, als die Ladefläche seines Lasters aufnehmen konnte. Er musste sich demnach etwas einfallen lassen.

Mae war eine Ärztin aus Passion und ließ sich nur ungern bei ihrer Arbeit stören. Mit einem mürrischen Blick, der nicht nur der Störung galt, bedachte sie Carry und entschuldigte sich sogleich mit einem müden Lächeln.

"Soweit ich weiß, nicht", gab sie erschöpft zurück. "Die Wahrscheinlichkeit sollten wir aber immer mit einschließen."

"Was ist das nur für ein Land, in dem niemand ohne Erlaubnis irgendwo hingehen kann", gab Carry seufzend von sich und überprüfte ein letztes Mal die Stoßdämpfer seines Lasters. "Wir müssen ein paar Leute auf die Zugmaschinen der Tankzüge verfrachten", bemerkte er. "Wir kommen sonst nicht weit, wenn wir die Zuladung noch mehr überschreiten."

Mae nickte und suchte den Blick ihres Mannes, der sich bereits angeschickt hatte, diejenigen aus der Menge herauszupicken, die auf den Tankzügen fahren sollten. Sie räumte ihre Utensilien in die Tasche zurück und kletterte auf die Ladefläche des Speedsters. Dann dauerte es nicht mehr lange und der Flüchtlingszug setzte sich ruckelnd in Bewegung.

 

Frohen Mutes, aber dennoch ständig auf der Hut und hin und wieder misstrauisch in den Rückspiegel blickend, trat Carry auf das Gaspedal und lenkte sein geliebtes Fahrzeug, das schon so vieles durchgemacht und ihm schon so viele Leben gerettet hatte, auf die Autobahn zurück. Er wusste, dass sie nicht lange auf der Schnellstraße bleiben durften. Aber um querfeldein zur Landgrenze zu gelangen, mussten sie erst einmal den Wald hinter sich lassen. Und der zog sich viele Stunden lang, entlang der Autobahn dahin.

Als endlich die Waldgrenze erreicht und die ersten freien Flächen und Äcker kamen, war ihm um ein wesentliches leichter. Er schaltete ein paar Gänge tiefer und verließ die übersichtliche Straße, um das unwegsame Gelände auf seiner Seite zu haben. Schlaglöcher, tiefer Schlamm, Felsbrocken oder ausgefahrene Spurrinnen stellten für den Speedster keinerlei Hindernis dar. Sein Fahrgestell war speziell für diese wechselnden Bodeneigenschaften ausgerüstet. Die Zugmaschinen der Tankwägen taten sich damit schon schwerer und Carry fuhr bewusst langsamer, als er mit seinem Wagen musste. Er pfiff sogar ein gutgelauntes Liedchen.

Es schien, als sollten sie ungehindert zu ihrem Treffpunkt kommen, an welchem Norman bereits mit weiteren Männern und seiner Geheimwaffe warten wollte. Doch knapp hundert Kilometer vor ihrem Ziel, tauchten jene schnellen Jeeps auf, die ihnen bereits auf dem Pass Schwierigkeiten bereitet hatten. Offensichtlich wussten sie über den Fluchtweg der Gruppe Bescheid und hatten sich an der strategisch besten Stelle in den Weg gestellt.

Carry fluchte, schaltete einige Gänge runter und jagte den Motor in die höchsten Drehzahlen hinauf, um die ersten Fahrzeuge, die mit Maschinengewehren, schnellen Schützen und guten Fahrern bestückt waren, zu rammen und sie in tiefen Morast längst des ausgefahrenen Pfades zu stoßen. Die ersten beiden schaffte er mühelos, die nächsten wussten bereits um die Absicht des Fahrers und wichen rechtzeitig aus.

Er konnte sich nicht um die Nöte der nachfolgenden Tankwagen kümmern. Auf seiner eigenen Ladefläche bangten dichtgedrängt über sechzig Menschen um ihr Leben und vertrauten darauf, dass Carry sie sicher über die Grenze brachte. Der Überladung seines eigenen Fahrzeuges wohl bewusst, riskierte er keine allzu hektischen Manöver und musste das Übergewicht seiner Ladung immer wieder durch Pendelbewegungen ausgleichen. Carry fluchte insgeheim, dass er es zugelassen hatte. Aber gleichzeitig war ihm auch klar, dass er nichts dagegen hätte tun können. Es wäre sogar mit seinem eigenen Gewissen unvereinbar gewesen, auch nur einen einzigen Flüchtling zurückzulassen.

Die Jeeps versuchten, ihn in die Mangel zu nehmen. Sie schienen genauestens zu wissen, welcher der Wagen ihnen am meisten Schwierigkeiten und den größten Erfolg bieten konnte und visierten den Anführer der kleinen Kolonne aufs Schärfste an. Die Scharfschützen an den Maschinengewehren ließen sich nicht übermäßig durch den Beschuss aus den Führerhäusern der Tankwägen oder des Leitfahrzeuges stören. Unbeeindruckt des nachlässigen Feuers, pickten sie sich zielsicher das eine oder andere Opfer heraus, als ob sie genau wussten, dass ihre Gegner lausige Schützen waren. Und das waren sie auch. Kaum einer der Präzisionsschützen fiel getroffen über seine Waffe. Kaum einer der Fahrer oder der Beifahrer stürzte tot aus dem Wagen. Einzig der Leitwagen konnte von Erfolgen zeugen, indem er mit geschickten Haken und Brems- oder Gasmanövern den einen oder anderen Jeep in tiefe Schlammlöcher schubste oder zum umkippen brachte.

Carry fluchte immer wieder still in sich hinein. Mit jedem aus dem Rennen geworfenen Jeep schienen zwei oder drei neue aufzutauchen. Wie aus dem Nichts schossen sie plötzlich von hinten vor, versuchten ihm von der Seite oder von Vorn den Weg abzusperren und ihn zum Anhalten zu zwingen. Dank des PS-starken Motors und der gut gepanzerten Karosserie widerstand er den Angriffen und schob sie einfach zur Seite.

Im Rückspiegel bemerkte er, wie der letzte Tankwagen, jener ohne Anhänger, in ein tiefes Loch fuhr, sich überschlug und Kopfüber auf dem Acker liegen blieb. Carry konnte ihm nicht helfen, schaltete statt dessen einen Gang tiefer, trat aufs Gas und schob zwei aufdringliche Jeeps, mit gestikulierenden Insassen in einen wassergefüllten Graben. Die Schlamm- und Wasserfontaine konnte er gar nicht mehr sehen, da das Geschehen längst aus seinen Rückspiegeln verschwunden war und weitere Jeeps mit hartnäckigen Bordschützen seine Aufmerksamkeit auf sich lenkten.

Die Schreie seiner Passagiere zehrten an seine Nerven. Das Rattern der Maschinengewehrsalven ließ ihn zusammenzucken und das Aufheulen der überlasteten Motoren erzeugten kalte Schauer in seinem Nacken. Er hatte schon einige Zusammenstöße mit der Miliz von Weitland hinter sich. Doch diesmal schien es sich in einem Finale zu gipfeln zu wollen. Ein wahres Aufgebot an weiteren Panzerfahrzeugen, Hubschraubern, ganze Schwärme von geländegängigen Jeeps und wendigen Motorfahrzeugen tauchten plötzlich wie aus dem Nichts auf und stellten sich ihm in den Weg. Carry fluchte diesmal laut vor sich hin und schämte sich für seine derbe Ausdrucksweise keineswegs.

"Festhalten", konnte er noch schreien, bevor er das Steuer herumriss und geradewegs ins offene Moor raste. Er hatte wahrlich nicht vor gehabt, das Land über die Mangoo-Sümpfe zu verlassen. Die Wege waren zu unübersehbar und er war der wenigen befahrbaren Wege zu unkundig. Bei den paar Malen, in denen er durch die Sümpfe gefahren war, war er stets in Ruhe und mit reiflicher Überlegung vorgegangen. Doch nun trieben ihn Hektik, Überlebenswille und eine ganze Armada von wütenden Soldaten geradewegs in das brodelnde und stinkende Moor. Carry hoffte bei sich selbst, dass ihn sein Gedächtnis nicht gänzlich im Stich ließ und er einigermaßen passable Fahrstraßen fand.

Einige der Jeeps und der motorisierten Dreiräder drehten ab, bevor sie in tiefe Schlammlöcher versanken und schlossen sich dem Ende der Kolonne an. Ein paar besonders Mutige blieben beharrlich an den Flanken des Leitfahrzeuges kleben und musste bald erkennen, dass der befahrbare Steg gerade mal einen Lastwagen aufnehmen konnte.

Carrys geschultes Auge für geeignete Fahrbahnen erkannte den festen Untergrund aus dem übrigen weichen Sumpf heraus, bremste stark ab und lenkte sein Fahrzeug vorsichtig über die enge Gasse tiefer in den Mangoo hinein. Ob er auch wieder einen Weg hinausfinden würde, darüber dachte er im Moment nicht nach. Der Sumpf war im Moment der einzige Fluchtweg und die einzige Möglichkeit, ihr Ableben etwas hinauszuzögern.

Hubschrauber nahmen über ihren Köpfen Stellung und eröffneten das Feuer aus der Luft. Raketen, Granaten und Explosivgeschosse platzten rund um die Kolonne in den Boden, wühlten Schlamm, brackiges Wasser und vermodertes Geäst auf, zerwühlten den Boden vor ihnen nur noch mehr und verwandelten die Sichtscheiben der Fahrzeuge bald in schmierige Flächen, durch die eine Aussicht immer beschwerlicher wurde.

In der Ferne war der Moorwald zu sehen. Dicht verwucherter Wald, der ihnen Schutz vor den Hubschraubern und den lästigen Verfolgern gewähren konnte. Carry zählte die Minuten und Sekunden, bis sie unter dem schützenden Blätterdach waren. Eigentlich zog er das offene Gelände einem - wenn auch offener bewachsenen Wald - vor, doch diesmal begrüßte er die Baumstämme, die sich einem gern in den Weg stellten, wenn man es besonders eilig hatte und die alles verdeckenden Blätterkronen, unter denen er sich auch mit seinem großen Fahrzeug hervorragend verstecken konnte.

Nur noch wenige Meter standen zwischen ihnen und dem schützenden Moorwald. Carry begann nervös zu werden. Sie mussten den Wald unbedingt erreichen. Schafften sie es nicht, war sein Leben, das seiner Passagiere und das aller fluchtwilligen Flaemen verwirkt. Nur noch wenige Sekunden mussten vergehen, bis er in den dunklen Wald eintauchen konnte. Liebend gern würde er Gas geben und mit Höchstgeschwindigkeit in die Düsternis hineinrasen, doch er wusste auch, dass er sich damit die Chance nahm, wegsames Gelände zu finden, war die Strecke auch noch so kurz.

Granaten pflasterten den Weg vor und neben ihm und spritzten Schlamm und brackiges Wasser auf seine Sichtscheibe. Er konnte kaum noch etwas sehen, wagte es dennoch nicht, den Kopf auf dem Fenster zu strecken, um bessere Sicht zu bekommen. Sein Kopf würde eine bessere Zielscheibe abgeben, als seine gepanzerten Reifen und der lange Tankzug, der ihm bis auf einen knappen Meter und in exakt gleichlaufender Formation in den Sumpf folgte. Garth lenkte den zweiten Wagen und er schien auf der Strecke einiges gelernt zu haben.

Immer wieder explodierten Granaten in seiner unmittelbaren Nähe und Carry hatte alle Mühe sein Fahrzeug auf dem schmalen Steg zu halten. Dann war er endlich unter dem Blätterdach und erlaubt es sich tief aufatmend zurückzulehnen und die Hände für einen Moment zu einer triumphierenden Handbewegung vom Lenkrad zu nehmen. Als auch der nachfolgende Tankzug den Weg unter das schützende Blätterdach geschafft hatte, vernahm er einen Jubelschrei an seiner Seite, die von einigen Stimme aus seinem Rücken, von der Ladefläche, beantwortet wurden.

Carry musste grinsen, als er das ziellos umherirrende Rattern der Hubschrauber vernahm und blickte angestrengt in den Rückspiegel, um die Geländefahrzeuge zu entdecken, die ihnen in den Sumpf gefolgt waren.

"Sag deinen Kumpels, dass sie die Schmeißfliegen abschütteln sollen", rief Carry seinem Nachbarn zu und deutete mit einem Kopfwink in die Spiegel. Mindestens zwanzig Jeeps und Geländemotorräder hatten sich an ihre Stoßstangen geheftet und folgten ihnen beharrlich tiefer in den Sumpf.

"Wie?", wollte Sanom wissen und beäugte die Verfolger mit wenig hoffnungsvollem Blick.

"Versuche über das Dach ans Ende zu gelangen", erklärte ihm Carry. Er hätte es am liebsten selbst getan, doch keiner der Flaemen konnte erstens den Weg finden, ohne in eine ausweglose Sackgasse zu steuern, und zweitens die überladene Karre sicher auf dem rutschigen Untergrund über den schmalen Steg leiten. "Auf der Konsole im Führerhaus des Tankwagens ist ein roter Knopf, der das Ablassventil betätigt. Garth soll etwas von dem Treibstoff ablassen und ein brennendes Streichholz hinterher schicken."

Sanom sah ihn ungläubig an, raffte sich aber dennoch auf und kletterte aus dem Fenster auf das Dach. Viele Minuten später entflammte der Hintergrund seiner Rückspiegel in grellen Blitzen auf und blendete ihn für einige Moment. Erst als die Leuchtpunkte aus seinem Blickfeld verschwunden waren, wagte Carry einen erneuten Versuch, den Rest der Verfolger auszumachen. Sie hatten sich auf die Hälfte reduziert.

"Sanom soll hinten bleiben", schrie er über seine Schulter. Sein Befehl wurde weiter getragen. Viele Kehlen auf der Ladefläche bildeten das Echo. "Alles nach rechts", schrie er, bevor er seinen Blick fest auf den Untergrund vor ihnen heftete.

Carry verlangsamte das Tempo, bugsierte den Zug über eine besonders schmale Stelle und hielt für einige Augenblicke den Atem an. Die linken Räder tauchten tief in den Morast ein und ließen den Lastwagen gefährlich zur Seite kippen. Doch bevor Carry zu ersticken drohte und japsend nach Luft rang, wurden sie wieder in die aufrechte Lage angehoben und befanden sich wieder auf einer breiteren Furt. Mit einem besorgten Blick in den Rückspiegel beobachtete er, wie auch der Tankzug bedrohlich zur Seite kippte und wenig später ebenso wieder aufgerichtet wurde. Der Sumpf war gefährlich. Besonders für so große Fahrzeuge wie Carrys Speedster und den Tankzug. Man konnte nicht vorsichtig genug vorgehen und musste ständig auf der Hut sein.

Carry atmete erleichtert auf, wischte seine feuchten Hände schnell am Hemd ab und umklammerte das Lenkrad mit neuem Elan.

"Es sind noch sieben", ertönte es von hinten. Einige Stimmen wiederholten es gleichzeitig.

"Benutzt die Gewehre und versucht es mit dem abgelassenen Treibstoff ein weiteres Mal", rief Carry nach hinten. "Vielleicht haben wir Glück und sie fallen ein zweites Mal auf denselben Trick herein", murmelte er leiser vor sich hin. Die Feuerfontaine würde auch die Hubschrauber wieder auf ihre Position aufmerksam machen und würden vielleicht ihr Glück aufs Geratewohl versuchen und sie mit Granaten eindecken. Dann trat er unvermittelt auf die Bremse. Garth musste es ihm augenblicklich gleichtun, um nicht aufzufahren. Einige der nachfolgenden Fahrzeuge konnten nicht mehr rechtzeitig bremsen und prallten auf den Tankzug auf. Geistesgegenwärtig drückte Garth auf den roten Knopf, trat wieder auf das Gas, als er seinen Vordermann davonrasen saß und nickte seinem Sitznachbarn zu, der daraufhin ein zweites Streichholz aus dem Fenster warf. Das Heck des Tankzuges schien zu explodieren. Der Tankzug erbebte und erzitterte. Doch nur einen Augenblick später hatte sich die gefährliche Ladung von dem Feuerball getrennt und schoss hinter dem umgebauten Lastzug in die Düsternis des Moores her.

Der Rest der Verfolger war nun ebenfalls abgeschüttelt worden. Brennende Wrackteile blieben zurück, wo sich eben eine Zusammenkunft beider Parteien abgespielt hatte.

Jubelschreie hallten durch beide Wägen. Jemand klopfte Carry auf die Schultern und schrie ihm etwas ins Ohr, doch dieser konnte sich der Freude nicht ungeteilt hingeben. Er war in ein besonders unwegsames Gelände gefahren und konnte sich nun nicht mehr erinnern, wie er es meistern, geschweige denn jemals wieder herauskommen konnte.

Er biss die Zähne zusammen, drosselte erneut das Tempo und rollte nun beinahe in Schrittgeschwindigkeit über den weichen Morast. Seine mannshohen Räder sanken bis zur Hälfte ein, bissen sich aber tapfer durch den weichen Untergrund und schoben sich eisern vorwärts. Der Motor heulte und jaulte. Das Fahrgestell ächzte und stöhnte. Beinahe bekam Carry Mitleid mit seiner geliebten Karre und wäre am liebsten stehen geblieben. Doch er wusste, wenn er auch nur einen Moment anhielt, wäre er für immer verloren gewesen.

Er streckte den Kopf aus dem Fenster und rollte langsam weiter. Weiter vorn sah das Gelände vielversprechender aus, doch er wusste zugleich auch, dass im Sumpf nichts war, wie es erschien.

Er wusste, warum er die Mangoo-Sümpfe hasste. Und er hatte sie nach Möglichkeit gemieden. Er hasste Vandellen dafür, dass er ihn in diese Situation gedrängt hatte und er hasste sich selbst dafür, dass er sich hatte hineindrängen lassen. Vielleicht war es Vandellens Absicht gewesen und sie hatten ihn geradewegs in den Sumpf gelockt. Vielleicht war es seine Absicht gewesen, dass sie sich verirrten, in tiefen Löchern stecken blieben und elendig im Schlamm erstickten.

Carry fluchte. Er musste es sich selbst, Vandellen und den Flüchtlingen beweisen, dass er die Situation meistern konnte.

Doch plötzlich drehten die Räder leer durch und schafften es nicht, den zähen Morast zur Seite zu drängen.

"Alle Mann aussteigen", rief Carry über seine Schulter. "Anschieben." Der Wagen war zu schwer und vielleicht würden sie sich wieder aus der Tiefe des Sumpfes erheben, wenn das Gewicht von über sechzig Leuten nicht mehr auf ihnen lastete. "Die Leute sollen sich unbedingt zwischen den beiden Wägen aufhalten und keinen Schritt außerhalb der Fahrspuren begeben." Jemand neben ihm nickte und gab den Befehl weiter. Widerwillig, aber doch gehorsam kletterten sämtliche Passagiere aus dem Wagen. Carry öffnete die Tür und beobachtete die Räder, die sich nur wenige Zentimeter aus dem Sumpf gehoben hatten. Zuwenig, um wieder vorwärts zu kommen.

"Anschieben", rief er nach hinten, ließ den Wagen wieder an und gab vorsichtig Gas. Äußerst widerwillig, zähe und starrsinnig bewegte sich das Lastwagen vorwärts. Morast wurde schmatzend zur Seite gedrängt. Der Motor dröhnte und zahlreiche Männer stöhnten und kämpften, um das schwere Fahrzeug aus dem Dreck zu schieben. Hinter ihnen ertönten die Stimmen der verängstigen Frauen und Kinder, die ihren Männern Mut zusprachen, oder vor Verzweiflung weinten. Es musste ihnen einfach gelingen, sonst war ihr Leben verwirkt, bevor sie das strahlende Licht der Hoffnung erblicken konnten.

Die Männer bemühten sich redlich. Der Motor jammerte und Carry begann zu schwitzen, obwohl er nichts weiter zu tun hatte, als die Drehzahlen zu kontrollieren und die Kupplung schleifen zu lassen, damit die Räder nicht durchdrehten. Letztendlich gelang es ihnen auch, unter Auslastung von Mann und Material, das schwere Gefährt zu befreien und es auf festeren Untergrund zu schieben. Bevor sie auch den Tankzug über die gefährliche Stelle schoben, füllte Carry seine Tanks auf und koppelte den Anhänger ab. Auch wenn sie den Treibstoff abließen, war er immer noch zu schwer, um die gefährliche Stelle zu passieren. Die Zugmaschine allein konnte die Stelle wesentlich müheloser passieren, als der Speedster, oder der komplette Tankzug.

Als ihn jemand danach fragte, ob der Treibstoff nun bis zur Grenze reiche, zuckte Carry nur mit den Schultern und befahl den Leuten, hinter dem Lastwagen herzulaufen.

Ihm bereitete der Weg nach draußen wesentlich mehr Schwierigkeiten. Er wusste nicht, wo er sich befand und wusste daher nicht, welche Abzweigung er nehmen, oder welche er bereits verpasst hatte. Er hoffte nur, dass ihm ein göttlicher Wink erschien und ihm den richtigen Weg deutete.

Stunden später glaubte er wahrhaftig, sich auf bekanntem Terrain zu befinden. Der Untergrund hatte sich von dem tiefen Sumpf in halbwegs befahrbaren Morast verwandelt. Dichtes Moosgewächs und fahriges Gestrüpp bedeckte den Boden, schrammte über den Unterboden und verfing sich im Gestänge und abstehenden Teilen auf der Unterseite des Lastwagens. Irgendwann wenn ihnen die Situation dazu Zeit ließ, mussten sie anhalten und sich vom Ballast befreien.

Müde, überanstrengt und erschöpft erreichten sie endlich freieres Gelände. Carry hielt an. Nicht nur, dass er dringend ein paar Stunden Schlaf benötigte. Die Fahrzeuge musste auch von lang mitgeschleppten Gestrüpp befreit werden. Carry war die halbe Nacht hindurch gefahren und hielt erst lange nach Mitternacht an. Seine Augen brannten, von der anstrengenden Suche, im Dunkeln einen geeigneten Weg zu finden. Seine Glieder waren schwer und seine Finger verkrampften sich beinahe automatisch um ein Lenkrad herum, obwohl er es längst losgelassen hatte. Er befahl einigen Flaemen, sich um das Gestrüpp zu kümmern und hieß den anderen, vor allem den Fahrern, sich für drei Stunden aufs Ohr zu legen. Noch vor Morgengrauen mussten sie die Grenze passiert haben.

 

Nach drei Stunden war Carry weniger erholt, als er sich erhofft hatte und beobachtete gähnend das geschäftige Treiben der Flaemen, die sich im Schein abgedunkelter Lampen redlich abmühten, besonders hartnäckiges Gestrüpp, das sich unzählige Male um das Gestänge gewickelt hatte, herauszuzerren. Sein müder Blick fiel auf das heftige Streitgespräch von Mae und Garth, die sich zu seiner Überraschung von irgendetwas aus ihrer gewohnten Ruhe hatten bringen lassen. Erschöpft und im ganzen Körper von Muskelkater geplagt, hievte er sich auf seine Beine und schlurfte zu den beiden.

Auf seine Frage, nach dem Beweggrund ihrer Aufregung wurde er von hektischen und von wilden Gestiken begleiteten Erklärungen bombardiert. Carry vernahm wiederholt den Namen Naome. Mehr konnte er nicht verstehen.

"Was ist mit ihr?",, hakte er nach und unterdrückte ein Gähnen.

"Sie ist fort", rief Mae mit dicken Sorgenfalten auf der Stirn und wand sich zum wiederholten Male suchend um. "Ich habe schon die ganze nähere Umgebung abgesucht. Sie ist einfach verschwunden."

"Wir haben es nicht gewagt, laut nach ihr zu rufen", gab Garth vernünftig von sich. "Einige von uns sind sogar mit Lampen auf der Suche nach ihr gewesen. Doch vergebens."

"Sagte sie etwas, bevor sie verschwand?",, wollte Carry wissen und ertappte sich selbst dabei, sich ebenfalls suchend umzusehen.

Mae schüttelte den Kopf. "Ich kümmerte mich um ein paar Verletzte und achtete daher nicht auf sie." Sie machte sich große Sorgen und schien sich die Schuld für das Verschwinden der verwirrten Nichte zu geben. Mit zitternden Fingern, strich sie über ihre Stirn und suchte erneut die Dunkelheit um sie herum ab.

"Das ist dumm", gab Carry und musste ein weiteres Gähnen unterdrücken. "Wenn sie bis zu unserer Abfahrt nicht wieder auftaucht, dann ..."

"Nein", fuhr ihm Mae überraschend energisch ins Wort. "Wir fahren nicht ohne sie weiter."

"Wenn wir uns noch bei Tagesanbruch hier aufhalten, sind wir verloren", versuchte Carry zu Bedenken zu geben. "Wir sitzen hier sozusagen auf dem Präsentierteller."

"Ich lasse sie nicht zurück", herrschte ihn Mae wütend an. Der Gedanke, ihre Nichte im Sumpf zurückzulassen, erregte sie mehr, als die Gefahr erwischt und auf der Stelle exekutiert zu werden.

"Wie sie möchten", zuckte Carry mit den Schultern. "Sie können hier bleiben und auf sie warten." Er wand sich um und schickte sich eben an, zu seinem Fahrzeug zu gehen. Da packte ihn eine Hand und drehte ihn wieder herum.

"Wenn sie wüssten, was ich bereits alles auf mich nahm, um diesem Mädchen ein annehmbares Leben zu geben", rief sie wütend. "Dann würden sie sich auf der Stelle entschuldigen."

"Hören sie", versuchte Carry sich zu behaupten und auf die Vernunft der Ärztin zu plädieren. "Wir müssen auch an die Leben von siebzig anderen Menschen denken. Ihnen überhaupt ein Weiterleben zu ermöglichen, ist primär wichtiger, als ein geistig verwirrtes kleines Mädchen."

"Ich lasse sie nicht allein", antwortete Mae mit zitternder Stimme. Sie schien selbst zu wissen, dass sie die Leben der anderen aufs Spiel setzte, wenn sie darauf bestand, auf ihre Nichte zu warten.

"Auch wenn ich es irgendwann einmal bereue, ich stelle es ihnen frei, hier zu bleiben. Aber wir müssen weiter, ob mit oder ohne ihnen beiden."

Mae nickte, wischte ihre Hände an ihrer inzwischen vor getrocknetem Morast starrenden Hose ab und entfernte sich einige Schritte. Dann senkte sie den Kopf und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Die Sorge um ihre Nichte hatte die starke Frau nun endgültig gebrochen. All die Gefahr, das Töten und Morden, all die Benachteiligungen, die ihre Gemeinschaft hatten hinnehmen müssen, als das Elend und die Not, die sie hatten erdulden müssen, bevor sie einen Hoffnungsschimmer zu Gesicht bekamen, hatten sie nicht so gebeugt, wie das Verschwinden ihrer Nichte.

Garth begab sich sofort zu seiner Frau und versuchte ihr Trost zu spenden. Schnaufend blieb Carry stehen und suchte erneut die Umgebung ab. Doch die Dunkelheit erlaubte nicht einmal die Sicht bis zum nächsten Baumstamm.

"Okay, hören sie", rief Carry und beugte sich zu der weinenden Frau nieder. "Wenn wir sie innerhalb der nächsten Stunde nicht finden, bleibe ich hier und suche sie. Hier irgendwo in der Nähe muss sich ein kleiner Flughafen befinden. Ich bringe das Mädchen mit einer Flugmaschine raus. Einverstanden?"

"Und wer fährt ihren Wagen?", wollte Garth überrascht wissen.

"Sie, oder ein anderer", erklärte Carry. "Sie haben ihn fast bis nach Phasanker gefahren. Sie werden ihn auch über die Grenze bringen."

"Aber wie soll ich die Grenze finden. Ich kenne mich hier nicht aus und vielleicht fahre ich noch in ein Sumpfloch."

"Wenn sie die Oberfläche genauestens beobachten und sich die aufgehende Sonne direkt ins Gesicht scheinen lassen, werden sie irgendwann einen Grenzpfosten überfahren. Außerdem denke ich, ihnen bald aus der Luft Unterstützung geben zu können."

"Das würden sie wirklich tun?", fragte einen tränenüberströmte Frau, von der Carry dachte, dass sie so schnell nicht zum umwerfen war.

"Frauen, wie sie sollten nicht als Sumpfpflanze enden", gab er achselzuckend zurück. "Ich werde Naome finden und sie über die Grenze bringen." Er wusste selbst nicht, welcher Teufel ihn geritten hatte, um ein derartiges Versprechen abzugeben. Aber dann erinnerte er sich daran, dass ihm Mae mehrmals das Leben gerettet hatte und er sich sozusagen in ihrer Schuld befand. Dass er nur ihretwegen, überhaupt in brenzlige Situationen geraten war, vergaß er lieber schnell wieder, bevor er es sich anders überlegte. "Okay", rief er auch sich selbst zum Aufbruch. "Jeder verfügbare Mann beteiligt sich an der Suchaktion. Aber bleibt in Rufnähe." Er scheuchte einige Widerwillige in den dichteren Sumpfwald und schloss sich selbst einer Suchgruppe an.

Die Stunde verging leider, ohne dass auch nur ein Erfolg zu verbuchen war. Keine Spur war zu entdecken, nicht einmal der kleinste Fußabdruck. Der weiche Boden verwischte die eigenen Spuren nahezu sofort und beinahe hätten sich auch einige der suchenden Leute im dichten Gestrüpp verirrt. Carrys Rat in Rufnähe zu bleiben, leitete sie im letzten Moment zurück zu den beiden Fahrzeugen.

Carry hielt an seinem Versprechen fest. Er schnappte sich noch eine Lampe, ein Gewehr und einige Magazine und schickte den Trupp ohne ihn los. Irgendwie musste er das Mädchen finden, sonst würde er bald selbst als Sumpfpflanze verfaulen. Von Schmutz und stinkendem Morast behaftet, fühlte er sich bereits schon nahe der Verwesung und verfluchte sich selbst im Stillen, als das Motorengeräusch langsam verklang. Mit einem letzten Schnaufen, rappelte er sich auf und stapfte in die Dunkelheit dahin. Sollte er das Mädchen tatsächlich irgendwann finden, war ihr eine anständige Tracht Prügel sicher, schwor er sich und knirschte missmutig mit den Zähnen, als er wiederholt bis zur Hüfte in eine tiefe Pfütze eintauchte.

Die Sonne ging allmählich über dem spärlicher werdenden Blätterdach auf und offenbarte eine glitzernde Welt aus kristallenen Spinnennetzen und diamantenen Tautropfen. Überall klatschte und tropfte es. Das Schmatzen seiner eigenen Schritte hörte er schon gar nicht mehr. Er war müde und hatte sich nun vollends verirrt. Den Weg zurück auf den befestigten Grad durch den Sumpf würde er niemals mehr finden. Erschöpft ließ er sich auf einen niederen Ast niedersinken und blickte sich um. Irgendwie kam es ihm bekannt und fremd gleichermaßen vor. Er konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob es jener umgefallene Baum war, über den er schon einige Male gestolpert und bäuchlings in den Dreck gefallen war. Er schloss die Augen für einen Moment und atmete tief ein und aus. Die Tracht Prügel war inzwischen zu einer ausgewachsenen Dresche angewachsen. Eine solche, die er als kleiner Junge hatte eins selbst über sich erheben lassen müssen, wenn er seinen verhassten Vater wieder einmal bis zur Weißglut gereizt hatte. Er schnaufte erneut, doch dann rückte er sich abrupt gerader. Seine Ohren hatten einen Laut vernommen, der nicht den natürlichen Geräuschen des Sumpfes zuzuordnen war. Er sah sich um, konnte allerdings nichts entdecken.

Da war das Geräusch wieder. Er versuchte, es zu lokalisieren, ohne jedoch selbst ein Geräusch zu verursachen.

Wenn er nach dem Mädchen rief und die Geräusche wurden von einer Patrouille verursacht, hatte er mehr als Probleme am Hals. War es jedoch das Mädchen, würde er sie verfehlen, wenn er nicht durch Rufe auf sich aufmerksam machte.

"Naome?", rief er, das Risiko eingehend. Das Geräusch ertönte erneut.

"Hier", kam es zaghaft zurück.

Carry schnappte sich seine spärliche Ausrüstung und rannte der Stimme entgegen, so schnell er konnte. "Wo bist du?", rief er, sich mehrmals umblickend. Der Wald warf ihre Stimmen zwischen den Baumstämmen hin und her, verfremdete sie und ließ sie aus einer ganz anderen Richtung kommend erscheinen.

"Hier", ertönte die zarte Antwort und plötzlich fiel ihm etwas in die Arme.

"Wo zum Henker, bist du gewesen?", fuhr er sie wütend an. Er schob das schmutzige Bündel etwas von sich und betrachtete sie wütend und strafend. Seine Gesichtszüge enthärteten sich aber alsbald.

Naomes Augen waren rot aufgequollen. Mehrere Tränenschwalle hatten die Schmutzschicht auf ihren Wangen dahinfließen lassen. Sie zitterte am ganzen Körper und in ihren Armen hielt sie nach wie vor fest und sicher umschlossen, das Baby.

"Ich musste nur mal", schluchzte sie aufgelöst. "Ich wollte nicht weit fort. Ich fand den Weg nicht mehr zurück."

"Warum hast du nicht gerufen?", wollte Carry nun weitaus ruhiger wissen.

"Mae sagte, wir sollen ganz leise sein und keinen unnötigen Lärm machen", erklärte das Mädchen verzweifelt. "Ich habe mich nicht getraut zu rufen."

Carry knurrte leise und drückte Naome an sich. Die Vorsichtsmaßnahme war ihr zum Verhängnis geworden.

"Ich habe Hunger", sagte sie nach einer Weile, als sie sich etwas beruhigt hatte.

"Ich auch", nickte er. "Aber im Moment kann ich nichts dagegen tun. Wir müssen sehen, dass wir von hier fort kommen."

"Ich bin müde", gab sie erschöpft von sich.

"Wem sagst du das", keuchte er und sah sich um. Er musste sich orientieren, um wenigstens einen Anhaltspunkt zu finden. "Hier in der Nähe muss es einen Flughafen geben. Er ist unser Weg in die Freiheit."

Ihre Augen sahen ihn derart mitleiderregend an, dass er beinahe schwach geworden wäre.

"Im Flugzeug kannst du schlafen", versuchte er sie zu vertrösten. "Doch jetzt müssen wir weiter." Er schulterte das Gewehr und stapfte weiter durch den weichen Morast. Als ob sein Flehen nach einem göttlichen Wink endlich erhört worden wäre, ertönte über ihm der Lärm eines startenden Flugzeuges und brachte ihn damit auf den richtigen Weg. Plötzlich wusste er auch wieder, wo er sich befand. Er musste im Kreis gegangen sein und sich nur etwa fünfhundert bis achthundert Meter von der Lagerstelle entfernt haben. Für eine Rufentfernung in der feuchten Moorwelt zu weit.

Er nahm Naome bei der Hand und zog sie hinter sich her. Als sie jedoch mehrmals stolperte und ihn dabei ebenfalls aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte, schob er sie vor sich her und machte sie immer wieder auf schlüpfrige Fußangeln aufmerksam.

Nach drei weiteren Stunden anstrengenden Marsches durch kniehohen Morast, unterbrochen von Zwangspausen, in welchen das Baby sein Recht forderte, erreichten sie endlich die Waldgrenze und erkannten in zwei bis drei Kilometer Entfernung den Lotsenturm des kleinen Flughafens. Carry hoffte inständig, dass Garth und seine Freunde inzwischen wohlbehalten auf der anderen Seite der Grenze waren und den Boden unter ihren Füßen küssten. Wenn dem nicht so war, so musste er wohl für eine Waise mit Kind ein neues Heim suchen.

Die beiden schlichen sich entlang eines Maisfeldes näher an das Flugfeld heran und beobachteten eine Weile das Treiben auf dem Flugplatz. Eine kleine Patrouille kontrollierte in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen sämtliche Hallen und Maschinen und kehrte regelmäßig zu ihrem kleinen Wachhäuschen zurück. Als sie wieder einmal zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt waren, packte Carry das Mädchen bei der Hand, rannte mit ihr über ein abgeerntetes Feld und schob sie unter den Zaun hindurch. Nahe bei ihnen, auf dem Parkplatz des Geländes stand eine Jester. Genau das richtige Gefährt für jemanden wie Carry. Er kannte sich mit dieser Art von Fluggeräten aus und schickte ein stilles Dankgebet gen Himmel, als er sich mittels eines flüchtigen Blick ins Innere des Cockpits vergewisserte, dass der Schlüssel steckte. Die Unvorsichtigkeit des Piloten war ihr Glück.

Er brauchte nur wenige Sekunden, um die Maschine zu checken, sie anzuheizen und die Motoren zum laufen zu bringen. Mehr wurde ihm auch nicht gegönnt, denn sobald die Düsenantriebe über den Asphalt dröhnten, eilten die Wachposten auch schon aus ihrem Häuschen heraus und versuchten, die unvorhergesehene Lärmquelle zu lokalisieren.

"Halt dich fest", rief Carry, riss den Steuerknüppel an sich und jagte den Motor auf Höchsttouren. "Es kann etwas holprig werden. Anschnallen und rauchen einstellen." Er belächelte sich selbst für seinen kleinen Scherz.

Mit rotierenden Maschinengewehren kamen die Wachposten angelaufen und versuchten, die startende Maschine zum Anhalten zu bewegen. Carry vollführte eine kleine Drehung und ließ den Abgasstrahl direkt in die kleine wütende Gruppe Wachmänner gleiten. Einer fing Feuer, die anderen wurden von dem Schub umgeworfen. Dann setzte sich die Maschine in Bewegung und jagte schneller, als es jede Vorschrift erlaubte, auf die Start- und Landebahn zu. Das Glück schien ihnen hold zu sein und gestattete es ihnen, sich ungehindert in die Lüfte der Freiheit zu bewegen. Doch im letzten Moment, kurz bevor die Geschwindigkeit ausreichend war, um abzuheben, schnellte ein Fanggitter hoch und angelte mit gierigen Gummifingern nach dem Flugzeug. Geistesgegenwärtig riss Carry die Maschine abrupt hoch, doch das Fahrwerk blieb an den Gummifäden hängen. Er gab Vollgas und riss sie steil nach oben. Misslang sein Manöver, würde von ihnen nur noch ein Häufchen Asche übrig bleiben. Gelang es jedoch, musste vielleicht nur das Fahrwerk daran glauben. An die Landung machte er sich in diesem Moment absolut keine Gedanken.

Mit einem heftigen Ruck, als hätte sie das Schicksal wieder ausgespien, riss sich die Maschine von dem Fanggitter los und mit einem flüchtigen Blick auf eine bestimmte blinkende Anzeige, sah Carry seine Hoffnung und sein Flehen bestätigt. Steiler, als es manche Mägen aushalten konnten, zog er die Maschine in den blauen Himmel hinauf. Um den Maschinengewehrsalven auszuweichen und sich schnellstens auf Kurs zu bringen, vollführte er noch im Steigflug eine scharfe Wendung und war bald der Reichweite der Salven entkommen.

Erleichtert atmete er auf und erlaubte es sich gelassen zurückzulehnen.

"Alles in Ordnung?", fragte er, als er sich seiner Passagiere erinnerte und drehte sich um. Leichenblass und zitternd, krallte sich Naome am Sitzpolster fest. Die andere Hand hielt das Kind fest umschlungen. Als sie sein Lächeln erblickte, erwiderte sie es zaghaft. "Die Landung wird zwar langsamer, als holpriger werden", versuchte er sie zu besänftigen und zu warnen gleichermaßen. "Wir haben nun eine gute halbe Stunde Flug vor uns und ich hoffe, dass deine Leute schon längst drüben sind und sich mit ihrer neuen Heimat vertraut machen."

"Wie ist es drüben?", wollte sie unvermittelt wissen.

"Auf jeden Fall unbeschwerter", antwortete er lächelnd. "Vielleicht nicht immer leicht, aber auf jeden Fall freier und ungehemmter."

"Werden wir uns wiedersehen?", wollte sie wissen.

"Vielleicht", gab er achselzuckend von sich. "Ich werde es mir noch reiflich überleben, ob ich jemals wieder die Grenzen nach Weitland überschreite."

"Es gibt noch viele, die in das Land des Lebens wollen."

"Ich weiß", nickte er wissend. "So viele, dass ich bis ans Ende meiner Tage beschäftigt wäre, um alle herüber zu bringen. Aber vielleicht sollte ich auch mal anderen den Ruhm gönnen."

"Bist du berühmt?", kam es daraufhin.

Carry lachte und rief sich gleich darauf wieder zum Ernst. "Wahrlich nicht", erwiderte er kopfschüttelnd. "Ich bin für meine Heldentaten sogar schon im Gefängnis gelandet und erhielt einige ziemlich saftige Strafen. Man warf mir Störung der Völkerverständigung und des Nachbarschaftsfriedens vor. Und man drohte mir sogar damit, mein ganzes Hab und Gut, inklusive meiner Karre zu konfiszieren. Bisher haben sie diesen Schritt aber noch nicht gewagt."

"Warum riskierst du es trotzdem?"

"Vermutlich, weil ich zu denjenigen gehöre, die jeden Tag einen anständigen Adrenalinschub brauchen. Oder vielleicht auch, weil einer meiner Vorväter Pfadfinder war und ich schon genetisch bedingt, jeden Tag eine gute Tat vollbringen muss."

"Bei uns sind die Züge des Lebens eines der ehrenvollsten Dinge", erklärte sie nicht ohne Stolz. "Sie werden fast so verehrt, wie die Pashra."

"Dein Onkel zeigte sich aber nicht gerade zimperlich", gab Carry schmunzelnd von sich und rieb die Stelle, an der ihn Garth niedergeschlagen hatte, um ihn schließlich seines fahrbaren Untersatzes zu berauben.

"Das war die Not, die ihn dazu trieb. Wir hatten nicht für alle Geld, eine Passage in das Land des Lebens zu bezahlen."

"Wir hätten auch mit uns reden lassen können", erwiderte Carry. "Nicht jeder muss bezahlen. Diejenigen, die es sich leisten können, bezahlen für die Minderbemittelten mit. Jeder, der es möchte, bekommt auch einen Sitzplatz."

Naome schwieg für einen langen Moment, so dass sich Carry nach ihr umdrehte.

"Was ist?", fragte er schließlich, als er ihre Sorgenfalten bemerkte, die sich trotz dicker Schmutzschicht deutlich abzeichneten.

"Viel Leid wäre erspart geblieben, wenn wir das vorher gewusst hätten", sagte sie traurig. "Tante Mae und Onkel Garth hätten sich nicht gestritten und du wärst nicht verletzt worden."

"Die beiden haben sich inzwischen wieder vertragen und ich bin dank deiner Tante noch am Leben", versuchte er sie aufzumuntern. "Und wenn nicht noch ein Unglück über uns hereinbricht und wir die Landung einigermaßen überstehen, können wir in weniger als zwanzig Minuten ein sorgenfreies Leben beginnen."

Ihr Kopf fuhr wieder hoch. "Was für ein Unglück?", wollte sie erschrocken wissen und drückte das Kind reflexartig an sich. Dabei erwachte es und begann zu quengeln.

"Ich weiß es nicht", gab er achselzuckend von sich. "In letzter Zeit ist so ziemlich alles schief gegangen, was nur schief gehen konnte. Ich hoffe auch, dass Norman rechtzeitig bemerkt, dass wir nicht am vereinbarten Treffpunkt auftauchen und ..." Er verstummte, als ihn ein bestimmtes Geräusch aufhorchen ließ. Ein schwarzer Punkt am Horizont erweckte seine Aufmerksamkeit. "Unglücke wie diese", sagte er schließlich und stieß einen Fluch aus. "Kampfhubschrauber", erklärte er kurz, checkte die Instrumente flüchtig durch und ließ die Jester auf Bodennähe niedersinken. "Fünfzehn Minuten hätten mir gereicht. Vielleicht sogar zehn. Aber es sollte eben nicht so sein", schimpfte er. "Halt dich fest, so gut du kannst. Ich bin kein sonderlich großes Ass in Flugakrobatik."

Der kleine dunkle Fleck verwandelte sich schnell in einen dicken schwarzen Klecks und schließlich in einen Waffenstrotzenden Kampfhubschrauber der Weitländischen Fliegerstaffel. Dass Vandellen keine Kosten und Mühen scheuen würde, sein Opfer Carry Trains davon abzuhalten, die Grenze zu überschreiten, hätte er sich eigentlich denken können. Vandellen war ein Mensch, der sich gerne noch ein Ass in den Ärmel steckte, um am Schluss als strahlender Sieger hervorgehen zu können. Carry hatte sich zu sicher gefühlt und ihn wieder einmal unterschätzt.

Für einen Moment fragte er sich nur, warum Vandellen nur einen einzigen Hubschrauber geschickt hatte. Ihm standen sicherlich die Befugnisse und die Mittel zu Verfügung einen ganzen Schwarm für eine kleine Mücke auszusenden.

Die Maschinengewehre an den Flanken des Hubschraubers blitzten in rasend schnellen Folgen auf, verfehlten ihr Ziel aber nur knapp. Carry hielt sich so nahe er konnte über den Boden, so war er wenigstens vor dem Dauerfeuer der Flankengewehre geschützt, die nur seitlich, aber nicht nach unten ausgerichtet werden konnten. Dass der Hubschrauber aber noch anderes zu bieten hatte, bekam er alsbald zu spüren. Zwei Lenkraketen trennten sich mit brennendem Schweif von der Maschine und hefteten sich an die Versen der Jester. Vielmehr klammerten sie sich an die heißen Abgasströme und verfolgten diese bis zu ihrem Ursprung. Carry blieb nicht viel Platz zum Manövrieren. In letzter Sekunde riss er den Steuerknüppel herum und ließ eine der Raketen in den Boden platzen, wo sie explodierte. Die andere verfehlte ihn nur um wenige Zentimeter. Er konnte ihren heißen Schweif beinahe spüren und begann zu schwitzen. Auf dem Boden, Jeeps und anderes lästiges Anhängsel abzuwimmeln, war eine gänzlich andere Sache. Seine Flugkenntnisse reichten leider nicht weit über den eines besseren Anfängers. Bevor er seine Karriere als Lastwagenfahrer für Normans Unternehmen begonnen hatte, verdingte er sich als Rundflugpilot und Ausflugskapitän.

Die nächsten beiden Lenkraketen wurden auf ihn angesetzt. Seine Hände waren inzwischen schweißnass und drohten vom Steuerknüppel abzurutschen. Er vollführte einige Haken und schnelle Kurswechsel, doch die beiden Raketen ließen sich diesmal nichts so einfach ins Bockshorn jagen. In der Ferne konnte er die ersten Wachtürme der Grenzpolizei erkennen. Noch zwei Minuten, höchstens fünf, dann hatte er es geschafft.

Die Raketen kamen immer näher. Carry versuchte, sich an die Flugartistik aus irgendeiner Unterhaltungssendung erinnernd, ein Flattern, indem er die Tragflächen abwechselnd hob und senkte. Die Raketen schienen diesmal klug genug zu sein, abzuwarten und den richtigen Zeitpunkt abzupassen.

Wie viele Grenzübergänge er auch schon mitgemacht hatte und wie viele ihn davon haarscharf ins Jenseits befördert hätten, dieser vermeintlich letzter Übergang würde ihm noch die letzten grauen Haare kosten. Zum ersten Mal bekam er Angst. Zum ersten Mal blockierten panische Gedanken sein logisches Denkvermögen und er drohte die Fassung zu verlieren.

Ein leises Wimmern in seinem Rücken, riss ihn aus seiner beginnenden Umnachtung und erinnerten ihn daran, dass er schon so manche aussichtslose Situation gemeistert hatte. Er würde auch mit dieser fertig werden.

"Sie sind schon sehr nahe", hörte er Naomes Stimme.

Carry stellte die Jester abrupt auf die Spitze einer Tragfläche und drosselte gleichzeitig die Geschwindigkeit. Ob dieser Trick je funktionieren konnte und ob Physik und Technik mitspielen wollten, darüber wagte er es nicht nachzudenken. Lieber war er es, der sich selbst ins Nirwana beförderte, als irgendein Handlanger von Vandellen.

Aber es funktionierte. Die Raketen rasten nur wenige Meter über seinen Kopf und unter seinen Füßen vorbei und bohrten sich mit einer Feuerwolke in den Boden.

Dass er wahrhaftig nicht weit davon entfernt war, sich höchstpersönlich und zwei Passagiere ins Nirwana zu befördern, musste er nur eine Sekunde später feststellen. Ein Wachturm stand in direktem Kollisionskurs vor ihm und versperrte ihm beharrlich den Weg. Blitzschnell riss Carry den Steuerknüppel an sich und vollzog eine Kurve, die sämtlichen Achterbahnen Konkurrenz gemacht hätte. Die Spitze der Tragfläche berührte dabei den Boden und erhielt einen Riss. Treibstoff spritzte heraus und entflammte, als es mit den heißen Abgasen der Turbinen in Kontakt kam.

Carry riss erneut an dem Steuerknüppel und richtete die Maschine wieder gerade. Den Lenkraketen war er entkommen. Der Hubschrauber wartete aber noch immer auf ihn. Ebenfalls nahe über den Boden schwebend, hatte er geduldig ausgeharrt, bis sein Opfer beinahe von allein in sein Zielraster hinein lief und eröffnete das Feuer aus vier Zwillingsrohren tödlicher Maschinengewehre. Einschlaglöcher fraßen sich ihren Weg über die linke Tragfläche, bis hin zu den Turbinen, von denen die äußere in Flammen aufging, und bohrten schließlich tiefe Löcher in den Rumpf.

Carry versuchte ein letztes Ausweichmanöver, doch die Jester war so angeschlagen, dass sie sich nicht mehr einwandfrei steuern ließ. Irgendein Ruder hatte er verloren. Im Moment wusste er nicht, ob Höhen- und Tiefenruder. Er hatte genug damit zu tun, sich nicht selbst ungespitzt in den Boden zu rammen.

Da raste ein Blitz, nur knapp an ihm vorbei und traf zielsicher den Hubschrauber, der in einer gigantischen Feuerwolke zerplatzte und zerfetzte Trümmer bis zu einem Kilometer Umkreis hinausschleuderte.

"Was zum Henker war denn das?", rief Carry und fuhr erschrocken herum. Der Hubschrauber war verschwunden. Eine Gaswolke, Staub und letzte Trümmer wirbelten hilflos noch durch die Luft, bevor sie endgültig niedergingen und den Hubschrauber zur Legende machten.

"Da unten", rief Naome und zeigte auf den Boden. Unter ihnen hatte sich eine Ansammlung von Fahrzeugen und Leuten aus ihrer Deckung geschoben und rollten zielstrebig auf die Grenze zu.

"Das ist Norman", erkannte Carry freudig und ließ sich zu einem Jubelschrei hinreißen. Obwohl er noch genug mit der schwer angeschlagenen Maschine zu tun hatte und die Turbine jeden Moment zu explodieren drohte, beobachtete er das Treiben auf dem Boden und lächelte milde, als ein weiterer Blitz eine breite Trasse in die Grenzmauer riss. Er erkannte seine geliebte Karre und einen Tankzug, die geduldig auf diesen Ausgang gewartet hatten. Als sie sich in Bewegung setzten, gab er noch einmal Gas und setzte jenseits der Grenze - im Land des Lebens - zur Landung an.

Bäuchlings über den Boden schlitternd, Bäume und Büsche mitreißend und eine tiefe Furche in den weichen Moorboden, dessen Ausläufer sich auch auf der anderen Seite der Grenze befanden, grabend, brachte er die Jester zum Stillstand und verließ eiligst die Maschine. Die Turbine gab ihren Geist im selben Moment auf, als Naome in ein Loch stolperte, Carry mitriss und die Druckwelle des explodierenden Tanks über ihnen hinweg raste.

Keuchend und lächelnd betrachtete er das flammende Inferno und ließ sich sogar dazu hinreißen, der jungen Naome einen überschwänglichen Kuss auf den Mund zu geben, als er ihr erleichtertes Kichern hörte.

Das Land des Lebens hatte ihn wieder.

 

Ende

 

Impressum

Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: Nims2000 pixabay
Lektorat: myself
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /