Cover

1.

Lange genug, habe ich versucht, es hinauszuzögern, doch nun war es nicht zu verhindern. Ich brauchte eigentlich nur eine Unterschrift. Denn Ordnung musste sein. Manchmal kam ich einfach nicht aus meiner Buchhalterhaut. Wenn so ein verdammtes Ding auf dem Lieferschein fehlte, musste ich es eben einholen. Dumm nur, dass ich dazu den Mann anquatschen und an sein Versäumnis erinnern musste, dem ich am allerwenigstens begegnen wollte. Ich hätte diesen Lieferschein auch mit der Hauspost zurückschicken und um die Unterschrift bitten können. Doch da mir der Zahlungstermin im Nacken saß, konnte ich nicht mehr warten.

Noch bevor ich ein „Guten Morgen“ oder auch nur etwas anderes erwidern konnte, hatte er mich erblickt und mir das obligatorische „Hey, Bugs Bunny“ entgegen geworfen.

„Mein Name ist Julian“, blaffte ich zurück.

„Wie du willst, Bunny.“ Dabei grinste er so unverschämt, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, um die Beleidigung zu übergehen.

Das war nichts neues und mittlerweile so abgedroschen und langweilig, dass ich es übergehen konnte.

Ich hielt ihm den Wisch hin und versuchte mich in einer grimmigen Miene. Dass dies gründlich daneben ging, konnte ich bereits voraussagen. Mein Spitzname sagte es schon. Mein Gegenüber musste auch gleich einen Lachkrampf bekämpfen. Aber er hatte schon immer nie viel mehr als Hohn und Spott für mich übrig gehabt.

„Was soll ich mit dem Zettel?“, wollte er sogleich argwöhnisch wissen, ein breites Grinsen im Gesicht.

„Da fehlt die Unterschrift“, informierte ich ihn schroff und achtete darauf, dass ich nicht zu viel sprach. Denn genau das lieferte ihm immer wieder weiteren Anlass dazu, mich zu verhöhnen.

„Nimmst du irgendwann mal den Stock aus dem Arsch?“, fuhr er mich an, riss mir den Zettel aus der Hand und knallte ihn auf den Sekretär, der neben dem Rolltor stand. Ein Hochtisch, auf dem sich mehr Staub und Dreck angesammelt hatte, als unter manchen Sofas. Ich unterdrückte ein angewidertes Verziehen des Gesichtes und sah mich schon im Geiste dabei, den Lieferschein zu desinfizieren, bevor ich ihn zur Rechnung heften und ablegen konnte. Dann rief ich meine Gedanken zurück und konzentrierte mich darauf, ruhig zu bleiben, abzuwarten, bis er seinen Servus auf dem Schein verewigt hatte und ich in mein ruhiges Büro zurückkehren konnte.

Wenn Fred nicht so ein ausgemachtes Arschloch wäre, der ständig irgendwo aneckte und bei den übrigen Mitarbeitern alles andere als beliebt war, hätte er mir durchaus gefallen können. Er war genau der Typ Mann, der mir feuchte Nächte bescheren konnte. Oft hatte ich ihn mir beim einsamen Wichsen vorgestellt. Doch wenn sein selbstgefälliges, überhebliches Grinsen vor meinem geistigen Auge auftauchte, war es mit der Erotik vorbei. Fred war ein paar Zentimeter größer als ich und brachte sicher die doppelte Masse auf die Waage. Was nicht heißen sollte, dass er fett war. Nein, er war ein Muskelpaket, das die Kisten mit Autozubehör so mühelos herumwuchtete, wie ich Daunenkissen. Ich der Carl-Valentin-Typ – hochgewachsen und spindeldürr – der sich anfuttern und trainieren konnte, was er wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen, er der Anwärter für Mister Universum. Na ja, ein ganz klein wenig übertrieb ich schon. Fred war groß, kräftig und stählte seine Muskeln sicher in illegalen Boxwettkämpfen, da er fast nie ohne irgendwelche Blessuren zur Arbeit erschien. Geschwollene Lippen, blaue Flecken, Veilchen, getapte Platzwunden … das war schon fast sein Markenzeichen und der triftigste Grund, warum ich mir die meisten seiner Beleidigungen gefallen ließ. Auch heute hatte er wieder eine dicke Lippe und ein Zugpflaster über der linken Augenbraue. Ich wollte nicht wissen, mit was sich dieser Kerl die Nächte vertrieb. Vermutlich arbeitete er nebenberuflich noch als Schuldeneintreiber. Mit Fred legte man sich nicht an. Ich verbal schon gleich gar nicht, denn aufgrund einer angeborenen Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte hatte ich einen Sprachfehler, den ich selbst durch intensives Sprachtraining nicht eliminieren konnte. Die Gaumenspalte war schon in meiner frühen Kindheit korrigiert worden, doch die Narben trug ich mehr als deutlich im Gesicht. Meine Nase war so platt wie die eines Boxweltmeisters, nach unten gebogen und leicht schief. Meine Oberlippe hatte unterhalb der Nase einen Knick, was mir ein schiefes Lächeln verpasste und meine Zähne waren trotz jahrelanger Zahnspange noch immer zu weit auseinander. Ich lispelte beim Sprechen. Wenn ich aufgeregt oder unkonzentriert war, bekam ich die Verschlusslaute nicht richtig hin, so dass aus Fred rasch ein Frech wurde und sich ebendieser vor Lachen förmlich am Boden kringelte. Im Volksmund sagte man zu so einer angeborenen Deformierung „Hasenscharte“, weswegen ich von Fred den Spitznamen „Bugs Bunny“ verpasst bekommen hatte. Meine Mutter hatte mich immer liebevoll Hase genannt, woraus irgendwann nach etlichen Operationen, Therapien und Behandlungen Hasenkämpfer geworden war. Zwar schrieb man meinen Nachnamen mit e, also Kempfer, aber so macht es deutlich, wie tapfer ich all die Dinge über mich ergehen ließ, die man mit mir machte, um den Geburtsfehler zu korrigieren. Mit 14 hatte ich beschlossen, dass Schluss damit war und dass die Leute mich so akzeptieren sollten, wie ich bin. Ich ließ mich so schnell nicht unterkriegen und normalerweise schrak ich vor Konfrontationen nicht zurück. Doch Fred war ein ganz besonderes Kaliber, der es nicht wert war, dass ich mir meine verbogene Nase noch weiter deformieren ließ.

Fred knallte mir den unterschriebenen Lieferschein mit einem verächtlichen Laut gegen die Brust, worauf ich einen Schritt zurückwich. Der Schlag war hart und ich musste vor Entrüstung schlucken, unterdrückte aber den Impuls, die getroffene Stelle zu reiben, um den Schmerz zu kompensieren.

Das Papier flatterte zu Boden. Ich bückte mich danach, denn ich wollte so schnell wie möglich wieder zurück in mein warmes, gemütliches Büro.

„Sieh mal einer an. Dieser wandelnde Spazierstock kann sich tatsächlich biegen.“ Freds höhnische Stimme schallte durch die ganze Lagerhalle.

Ich würgte den Impuls nieder, ihm über den Mund zu fahren. Wenn ich den meinen aufgemacht und ihn zurechtgewiesen hätte, hätte er mir nur ins Gesicht gelacht. Also raffte ich den Schein an mich, wirbelte herum und marschierte davon.

„Hey, Bugs Bunny!“, rief er mir hinterher.

Ich weigerte mich, darauf einzugehen und schickte nur ein gezischtes „Arschloch“ über meine Schulter.

Sein Lachen begleitete mich bis zum Aufzug, der mich in den fünften Stock des Bürokomplexes brachte.

In der sicheren Abgeschiedenheit der Liftkabine lehnte ich die Stirn gegen die Spiegelwand und sah mir selbst tief in die Augen. Ich hasste Fred, da ich genau wusste, dass es nichts gab, mit dem man ihn kleinkriegen konnte. Er war es auch nicht wert, keine Mühe der Welt war so geringfügig, um sie gegen Fred aufbringen zu können. Er war ein lästiges Übel, ein hartnäckiger Pickel, den man allenfalls überschminken konnte, aber niemals wirklich beseitigen.

Mit einem Seufzen löste ich mich von dem Spiegel, legte eine Hand auf mein Gesicht, sodass Mund und Nase bedeckt waren und betrachtete mich. So sah ich wirklich annehmbar aus. Aber wenn ich die Hand wieder wegnahm, blickte mir ein Monster entgegen. Ein klein wenig konnte ich Fred und all die anderen Schwachmaten verstehen. Als Kind hatte ich etliche Momente, in denen ich mir die makellose Schönheit anderer Kinder wünschte. Viele Psychotherapeuten hatten versucht, in mir Verständnis für mein Aussehen zu entwickeln. Inzwischen hatte ich ein Abkommen mit meinem Gesicht. Ändern konnte ich es nicht. Allenfalls durch weitere schmerzvolle Operationen. Ich bin Hasenkämpfer und genauso so, wie mich Gott oder die Natur gemacht hatte.

In meinem Büro angekommen, heftete ich den Beleg endlich zur Rechnung, schickte die Zahlung ab und schob Fred und seine beleidigenden Sprüche aus meinem Gedächtnis. Dabei war ich froh, dass der Kerl nicht auch noch von dem anderen Geheimnis wusste. Wenn er davon erführe, dass ich schwul bin, hätte er sicher eine Hetzkampagne ins Leben gerufen. Darauf hatte ich schon gleich gar keine Lust.

Zeit hatte ich dafür auch nicht. Denn nach Feierabend musste ich ins Bildungszentrum, um in der Abendschule meinen Bilanzbuchhalter zu machen. Es war stressig und fraß die Freizeit schneller auf, als ich sie mir freischaufeln konnte. Tagsüber arbeiten, abends, nachts und am Wochenende büffeln. Da blieb nicht viel Gelegenheit, um auf Pirsch zu gehen. Frühstück und Abendessen nahm ich im Bus ein, entweder auf dem Weg zur Arbeit oder zum Bildungszentrum. Mittagessen in der Kantine vermied ich, wo es nur ging. Abgesehen davon, dass das Essen dort verkocht und widerlich schmeckte, war die Gefahr zu groß, auf Fred zu treffen. Wenn ich gegen elf Uhr endlich in meiner Wohnung ankam, blieb gerade mal Zeit für einen Joghurt oder einen Apfel, ehe ich todmüde ins Bett fiel. Vielleicht war ich deswegen nur ein Strich in der Landschaft. Ich musste durchhalten. Nur noch ein Jahr, dann hatte ich meinen Abschluss in der Tasche. Als Bilanzbuchhalter standen mir mehr Möglichkeiten offen, als als einfacher Bürokaufmann.

Mit der Post in der Hand betrat ich meine stille, dunkle Wohnung, schnaufte einmal tief durch, um runterzukommen und schlenderte dann in die Küche, um mir etwas aus dem Kühlschrank zu angeln. Meine Mutter sorgte dafür, dass er gefüllt war, da ich selten zum Einkaufen kam. Sie war unendlich stolz auf mich, dass ich mich nach der Ausbildung noch weiterentwickeln wollte und unterstützte mich, wo sie nur konnte. Sie war schon immer hinter mir gestanden, hatte meine Hand gehalten und mich getröstet, wenn ich dachte, all die Strapazen nicht auf mich nehmen zu können. Nur bei meinem Outing merkte ich ganz deutlich, dass hier ihre Grenze erreicht war. Sie half mir bei allem anderen, aber das mit meiner Homosexualität musste ich allein meistern. Dieses Thema mied sie wie die Pest und schwieg mich an, wenn ich es erwähnte.

Ein Zettel lag auf dem Küchentisch. Eine Mitteilung meiner Mutter. Mit einem Lächeln überflog ich die Nachricht. Eine Aufzählung der Dinge, die sie in den Kühlschrank gepackt hatte und der Arbeiten, die sie in der Wohnung getätigt hatte, damit ich wusste, was sich in meiner Abwesenheit geändert hatte. Ohne sie wäre ich längst im Chaos und Dreck versunken und verhungert. Liebevoll drückte ich den Zettel an meine Brust und legte ihn zu den anderen in die Schale neben der Mikrowelle. Warum ich sie aufhob, konnte ich selbst nicht sagen. Manches mal holte ich sie hervor und las sie erneut durch. Ich hatte meine Mutter schon seit Wochen nicht mehr persönlich gesprochen, nur per Telefon, da mir kaum die Zeit blieb, ans andere Ende der Stadt zu fahren. Diese kleinen Zettel gaben mir ein Stück der Persönlichkeit von ihr und füllten mich mit der Wärme, nach der ich mich seit meinem Auszug sehnte.

Ja, ich fühlte mich allein und einsam. Aber nach meinem Outing vor vier Jahren war es mir unmöglich geworden, weiterhin in meinem Elternhaus zu leben. Meine Eltern waren lieb und nett und würden ihr letztes Hemd für mich opfern, aber sie waren von meinem Anderssein überfordert.

Immer noch lächelnd, widmete ich mich der Post, riss die Briefumschläge auf und zerrte die Papiere heraus. Die Telefonrechnung legte ich neben meinen Laptop. Die Werbung landete sofort im Altpapierbehälter unter der Spüle und die Kündigung der Wohnung pfefferte ich mit einem wütenden Laut durch die Küche.

Verdammt. Ich hatte ja schon damit gerechnet. Vor einem Jahr hatte der Eigentümer gewechselt. Eine Investmentgesellschaft, die den ganzen Wohnkomplex aufgekauft hatte, modernisieren und mit Gewinn weiterveräußern wollte. Viele der anderen Mieter hatten sich dem Druck gebeugt, die Mieterhöhungen angenommen oder waren ausgezogen. Ich weigerte mich strikt. Die Quittung war mir nun ins Haus geflattert. Ich hatte nur ein paar Monate Zeit, mir eine andere Bleibe zu suchen. Auch das noch.

 

2.

Die nächsten Tage und Wochen verbrachte ich damit, mich mit dem Eigentümer zu streiten, Briefe und Telefonate mit ihm, den Mieterschutzbund, Maklern und Vermietern zu führen und dabei meine Arbeit und den Lehrstoff meiner Fortbildung nicht zu vernachlässigen. Meine Eltern unterstützten mich, wo sie nur konnten, aber Verhandlungen und Besichtigungstermine musste ich selbst absolvieren. Meine Überstunden schrumpften zusammen, da ich während der Arbeitszeit zu den Terminen gehen musste. Es war auch nicht so einfach in der Großstadt eine bezahlbare Wohnung zu bekommen. Zudem schreckten viele Vermieter vor mir zurück. Ich konnte es ihnen an den Augen ablesen, dass sie mich am liebsten gleich wieder losgeworden wären. So erhielt ich eine Absage nach der anderen und blickte dem feststehenden Auszugstermin immer verzweifelter entgegen.

Zu meinen Eltern, in mein altes Jugendzimmer zu ziehen, kam wegen besagter Homosexualität nicht in Frage – auch nicht übergangsweise. Ich wollte mich aber nicht unterkriegen lassen und suchte unermüdlich weiter.

Als mir nur noch vier Wochen blieben, saß ich über Inventurlisten, auf die ich mich nicht richtig konzentrieren konnte. Ich sah mich schon unter Brücken hausen. Doch plötzlich stutzte ich.

Die Anzahl der Autoteile, die ich eben addiert hatte, stimmte nicht mit dem überein, was bei der Inventur gezählt worden war. In den elektronischen Bestandslisten stand eine wesentlich höhere Zahl, als die Studenten, die unten im Lager in stundenlanger Arbeit ermittelt hatten. Ich überprüfte mein Ergebnis ein weiteres Mal, glich es mit den Bestand im Computer ab und kam auf dieselbe Differenz. Kopfschüttelnd legte ich es beiseite. Ich hatte in den letzten Wochen einfach zu viel um die Ohren. Vielleicht hatte ich mich nur vertippt. Daher nahm ich mir einen anderen Artikel desselben Lagers vor … und fand erneut eine Differenz.

Verwundert hob ich die Augenbrauen und starrte auf die Zahlen, die das Programm auf meinen Monitor projizierte. Entweder konnten die Studenten nicht zählen, oder es gab tatsächlich Fehlbestände im Lager. Um auf Nummer sicher zu gehen, nahm ich mir weitere Artikel vor. Nach einer Stunde Recherche entdeckte ich zehn weitere Differenzen – alle im denselben Lager – jenem, für das Fred zuständig war.

Das konnte doch nicht sein?

War Fred nicht nur menschlich ein Versager, sondern auch als Lagerarbeiter und nicht fähig, die richtige Menge in den Computer einzutippen, oder für die Bestellungen zu entnehmen? Die andere Möglichkeit, die mir durch den Kopf schoss, schob ich vorerst weit von mir. Selbst ein Fred war nicht so blöd, sich am Eigentum seines Brötchengebers zu bedienen.

Oder doch?

Ich druckte die Listen aus und begab mich damit nach unten ins Lager, wo mich sogleich ein hämisch grinsender Kerl empfing.

„Hey, Bugs Bunny! Was verschafft mir die Ehre?“

Ich schnaubte entrüstet, schluckte jedoch die Bemerkung und knurrte ihn mit einem Blick zu einem Verschlag an, das den Lagerarbeitern als Büro und als Aufenthaltsraum diente.

„Ich hab mit dir zu reden“, fuhr ich ihn schroff an. „Unter vier Augen.“

Fred zog nur einen Mundwinkel hoch und folgte mir tatsächlich in das Containerbüro. Stickige Luft empfing mich. Ein Heißluftgerät blies erhitzte Luft in den Raum und schaffte eine einigermaßen annehmbare Atmosphäre. Mir war trotzdem kalt, da der Plan, den ich mir spontan zurecht gelegt hatte, selbst mir eisiges Grauen verpasste.

Kaum war die Tür hinter uns zugeflogen und wir allein, wirbelte ich herum und funkelte ihn wütend an. Es war mir egal, ob er mein Gesicht dadurch zum schießen fand und loskicherte – so wie er es stets machte. Doch diesmal blieb er reglos, beinahe versteinert. Er schien den Braten zu riechen.

„Ich hab ein Problem“, begann ich.

„Sieht man deutlich“, konterte Fred unverschämt. Nur kurz zuckte sein Mundwinkel erneut.

„Du bist ein voreingenommenes, arrogantes Arschloch, Fred“, zischte ich, wobei ich darauf achtete, seinen Namen richtig auszusprechen.

„Danke“, gab er kalt von sich.

Ich wedelte mit den Ausdrucken vor uns beiden herum. „Entweder ist die ausgeklügelte Artikelverwaltung ein Schrott oder du klaust“, spuckte ich ihm geradewegs ins Gesicht. Da ich lispelte, kam bei ihm sicher mehr an als nur meine Worte. Fred wich tatsächlich zurück, verzog mit einer Mischung aus Ekel, Verwunderung und Schreck das Gesicht, hatte sich aber bereits in der nächsten Sekunde wieder im Griff.

„Was willst du damit sagen?“ Ein eisiger Blick traf mich. Ein Blick, der vor Verachtung und Wut nur so strotzte. Ich konnte das Pochen der Halsschlagader deutlich sehen. Seine Stirn zog sich für einen Moment kurz zusammen. Wie gewohnt hatte er auch an diesem Tag Blessuren im Gesicht. Eine einige Tage alte Schürfwunde am linken Unterkiefer, die bereits am abheilen war. Der Bluterguss darunter schillerte in deutlichen Gelb- und Grüntönen, auch wenn er offensichtlich versuchte, es mit einem Dreitage-Bart zu vertuschen.

„Du hast mich schon verstanden.“ Ich warf ihm die Listen an die Brust. Sie flatterten unbeachtet zu Boden. „Es gibt einen Fehlbestand von über zehntausend Euro in deinem Lager. Hast du gedacht, das fällt keinem auf?“

„Was geht dich das an?“, schnauzte er mich an. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Für einen Moment dachte ich, dass er mich schlagen wollte. Doch er hatte sich noch immer gut im Griff und presste seine Fäuste gegen die Schenkel.

„Ich mache dir einen Vorschlag“, fuhr ich unbeirrt fort. Eigentlich müsste ich das sofort der Betriebsführung melden. Aber ich hatte einen anderen Plan. „Ich lasse die Differenz verschwinden, wenn du etwas für mich erledigst.“

Sein Mund blieb offen stehen. Zum ersten Mal schien er sprachlos zu sein. Rasch fasste er sich jedoch wieder und funkelte mich zornig an.

„Du erbärmliche Witzfigur erpresst mich?“ Er keuchte fassungslos.

„Nein“, widersprach ich. „Wir helfen uns gegenseitig. Ich korrigiere die Abweichung und du gehst morgen zu einer Wohnungsbesichtigung und sicherst den Mietvertrag für mich.“

„Ich soll was …!“ Erneut blieb sein Mund offen stehen.

Ich ignorierte seine Fassungslosigkeit. Ich konnte es selbst kaum glauben, zu was mich meine Verzweiflung getrieben hatte. Aber mir blieb keine andere Wahl mehr. Mir saß die Zeit im Nacken und der morgige Termin war meine letzte Chance. Ich musste die Wohnung bekommen. Fred war genau der richtige Kandidat dafür. Seine imposante Erscheinung würde den Vermieter überzeugen. Dass dies eine ganz linke Tour war, war mir selbst bewusst. Aber vielleicht musste man über ein paar Leichen gehen, um sein Recht zu bekommen.

Ich zerrte das Bestätigungsschreiben des Vermieters aus meiner Jackentasche und warf es ihm zu den Ausdrucken vor die Füße.

„Zieh dir was anständiges an“, riet ich. „Bring mir den Mietvertrag. Dann lösch ich den Fehlbestand.“

Damit schob ich mich an ihm vorbei und ließ ihn einfach stehen. Ein klein wenig schadenfroh war ich, als ich Fred so fassungslos zurückließ. Ich hatte mit wesentlich mehr Gegenwind gerechnet, eventuell auch mit einem Schlag ins Gesicht, sogar mit einer Tracht Prügel. Aber dass er seine Tat nicht leugnete und sogar sprachlos war, überraschte mich.

Im Aufzug lehnte ich mich in eine Ecke und sank daran entlang zu Boden. Mein Herz klopfte wie wild. Kalter Schweiß stand in meinem Nacken und ließ mich frösteln. Ich zitterte vor Anspannung und kämpfte darum, nicht zu hyperventilieren. Ich war geradewegs ins eiskalte Wasser gesprungen und hoffte, dass ich weder ertrank noch erfror, ehe ich meinen Hals retten konnte. Mit meinem Angebot hatte ich Freds Diebstahl gedeckt und meinen Job und sogar meine weitere Karriere riskiert. Dies konnte mir noch immer zum Verhängnis werden. Doch ich bezweifelte, dass Fred so dumm war, es anzuzeigen. Er würde in dieselbe Schlinge geraten, wenn er mich verpfiff.

In der Not fraß der Teufel Fliegen.

Ich hoffte nur, dass ich nicht zur Fliege wurde.

 

Am Abend konnte ich mich kaum auf die Ausführungen des Dozenten konzentrieren. Die Nacht war unruhig und schlaflos. Am ganzen nächsten Tag passierte mir ein Fehler nach dem anderen. Übermüdet und aufgeregt, konnte ich mich kaum konzentrieren. Ich hatte von Fred keine Zusage erhalten, auch keine Rückmeldung, dass er auf meinen Vorschlag einging und den Termin für mich wahrnahm. Um meine Nerven zu beruhigen, meine Ungewissheit zu besänftigen und meine Nervosität abzumildern, brauchte ich nur einen Blick in die Mitarbeiterkartei zu werfen und nachzusehen, ob sich Fred Müller für heute Nachmittag freigenommen hatte. Doch ich brachte es nicht fertig. Meine Hände zitterten, als ich versuchte, den Mauszeiger auf das entsprechende Symbol zu setzen.

Zwei Stunden nach dem Termin ging schließlich meine Tür auf und ein Mann stand im Rahmen, den ich erst auf den zweiten Blick erkannte: Fred.

Geschniegelt und in schicke Klamotten gehüllt kam er mit wenigen lang ausholenden Schritten heran und warf einen Umschlag auf meinen Tisch. Mein Mund blieb offen stehen. Mein Blick war auf die Erscheinung geheftet, als sei er eines der Weltwunder. Er hatte sich rasiert, die dunklen Haaren sorgsam gekämmt, trug nun eine lässig geschnittene, moderne schwarze Jeans, darüber ein eng anliegendes dunkelgraues Shirt und einen locker um den Hals gebundenen Pastellfarbenen Schal. Er sah einfach umwerfend aus, wie eine Manifestation meiner feuchten Träume. Rasch riss ich mich aus meiner Starre, schluckte hart und zwang mich dazu, ihm unbeeindruckt ins Gesicht zu sehen. Sein Blick war kalt und unnahbar. Die Kiefer fest zusammengepresst. Die Nasenflügel geweitet. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.

„Und?“, fuhr er mich sogleich an.

Ich nahm den Umschlag entgegen, vergewisserte mich kurz darüber, dass es der versprochene Mietvertrag war und nickte stumm. Anschließend schob ich den Mauszeiger zur Artikelverwaltung, korrigierte mit wenigen Klicks die Bestandszahlen auf die ermittelten Inventurzahlen und speicherte das Ganze. Dann sah ich hoch und erwiderte seinen eisigen Blick.

„Lass dir das nicht noch einmal einfallen“, ermahnte ich ihn, eigentlich eher, in einem Anflug von ehrlicher Besorgnis. Wenn er es nötig hatte, zu stehlen, war er entweder verschlagener und falscher, als ich dachte oder in Not geraten. Letzteres traute ich ihm allerdings nicht zu.

„Du kannst mich mal!“, fauchte er, machte auf dem Absatz kehrt und verließ mein Büro.

Trotz allem erleichtert atmete ich tief durch. Die Angelegenheit war glimpflicher abgelaufen, als ich erwartet hatte. Es hätte auch gründlich schief gehen können. Dass Fred meine Forderung erfüllt hatte, wunderte mich noch immer. Aber ich hatte, was ich brauchte. Eine neue Wohnung. Es fehlte nur noch meine Unterschrift.

Rasch setzte ich sie auf den Vertrag. Die großzügig bemessene Drei-Zimmer-Wohnung hatte ich mir vorher ausgiebig im Internet angesehen. In der Anzeige auf dem Immobilienportal waren mehrere Fotos eingestellt worden. Die großen Fenster im Wohn- und im Schlafzimmer hatten mich auf Anhieb in ihren Bann gezogen. Das dritte Zimmer könnte irgendwann mein Büro sein, wenn ich den Abschluss geschafft hatte. Auch die Umgebung und der Mietpreis hatten mich überzeugt, sodass ich per email Kontakt mit dem Vermieter aufgenommen hatte. Jetzt war sie mein.

Ganz glücklich war ich nicht über die Angelegenheit. So sehr ich mir das auch gutredete, ich hatte Fred erpresst. Mein schlechtes Gewissen meldete sich und piesackte mich mit spitzen Nadeln. Vehement würgte ich es nieder.

 

 

3.

Die nächsten Wochen vermied ich es, ins Lager zu gehen. Ich wollte ihm nicht noch einmal unter die Augen treten. Abgesehen davon, dass ich nicht scharf drauf war, von ihm weiterhin verhöhnt zu werden, schaffte ich es nicht, das Geschehen in den Hintergrund zu schieben oder als Bagatelle abzustempeln. Wir hatten beide nicht richtig gehandelt. Fred hatte eine Straftat begangen, die angezeigt gehörte. Auch meine Erpressung gehörte nicht zum guten Ton.

Der Vermieter bestätigte den Vertrag. So lange es ging, hielt ich per email Kontakt und vermied es, mich persönlich vorzustellen oder anzurufen. Der Betrug wäre sofort aufgeflogen.

Am Tag nach meinem Einzug nahm ich mir ein Herz und beichtete mein Vergehen. Der Vermieter reagierte überraschend verständig, auch wenn es mich viel Überzeugungsarbeit kostete. Als er mir berichtete, dass seine Tochter ebenfalls mit Gaumenspalte auf die Welt gekommen war, fühlte ich mich sogar noch schlechter als vorher. Aber dadurch konnte er Verständnis für meine Situation aufbringen und wir fanden eine Gemeinsamkeit, die uns meinen Betrug vergessen ließ.

Fred war eine andere Sache. Ich kämpfte darum, ihn ebenfalls zu vergessen, diesen überheblichen Arsch mit den schlechten Manieren abzustempeln und so weiterzumachen wie bisher.

So stürzte ich mich in meine Fortbildung und kam gut voran. Die Wochen vergingen. An manchen Tagen dachte ich weder an ihn noch an die Abmachung, die mich zu einem Mittäter gemacht hatte. Der Winter zog unaufhörlich über die Stadt. Die Straßen wurden bald mit einer dicken Schneedecke überzuckert. Weihnachten stand kurz vor der Tür. Jeder war mit Geschenke einkaufen und Plätzchen backen beschäftigt. Ich konzentrierte mich auf meine Ausbildung und büffelte in jeder freien Minute. Nach dem Abendkurs kam ich erst weit nach elf Uhr nach Hause, zu einer Zeit, in der sich der überwiegende Teil der Bevölkerung in ihr warmes Heim verzogen hatte. Den Kragen meines Mantels hochgeklappt, den Schal bis zur Nasenspitze geschlungen, marschierte ich von der U-Bahn Richtung Heimat. Der Wind pfiff kalt um die Ecken. Meine Füße waren bereits zu Eisklötzen verkommen. Ich musste mir irgendwann dickere Winterstiefel besorgen. Es waren kaum noch Leute auf den Straßen. Die wenigen, die mir entgegen kamen, hatten es genauso eilig nach Hause zu kommen, wie ich.

Den Mann, der an der Hauswand lehnte, bemerkte ich erst, als ich fast an ihm vorbeigegangen war. Irgendetwas an ihm hielt mich gefangen. Er hatte die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht gezogen, ließ den Kopf hängen und lehnte neben dem Eingang eines Wohnhauses an der Wand, als schien er auf jemanden zu warten.

Ich blieb stehen, drehte mich zu ihm um und beäugte ihn eingehender. Die Straßenbeleuchtung, die einige Meter weiter weg stand, erreichte ihn nicht vollständig, sodass er in einem düsteren Schatten getaucht war. Erst als er meiner Anwesenheit bewusst wurde, hob er den Kopf an. Ich fuhr zusammen, als sich mein Herz verkrampfte. Es fühlte sich im ersten Moment an, als hätte jemand eine Nadel hineingestoßen. Denn der Kerl war niemand anderer als Fred.

Er erkannte mich ebenfalls, hob den Kopf noch weiter an, sodass das Licht der Straßenlaterne in sein Gesicht fiel.

„Bugs Bunny?“, sagte er nicht ohne den gewohnten Hohn und verzog seine Lippen zu einem gehässigen Grinsen.

Als das Licht in sein Gesicht fiel, erkannte ich, dass er sich schon wieder geprügelt haben musste. Die Abschürfungen an seinem Wangenknochen und die aufgeschlagene Lippe waren noch ganz frisch.

„Sag mal, tust du dir nicht irgendwann selbst leid?“, gab ich wenig nett von mir. Ich hatte für ihn weder Mitleid übrig noch Angst.

„Was kümmert es dich?“, murrte er missmutig, zog die Schultern hoch und machte es sich an der Wand bequemer.

„Nichts“, erwiderte ich und meinte es auch so. Was auch immer Fred für Machenschaften trieb, es ging mich nichts an. Ich schob meine Hände tiefer in die Manteltaschen und wollte schon weitergehen, als mich seine Stimme aufhielt.

„Alles klar mit deiner neuen Bude?“, erkundigte er sich.

Ich stutze und nickte. „Alles bestens.“ Als ich weitersprach, musste ich mir förmlich auf die Zunge beißen, um meine Neugier im Zaum zu halten. „Was hast du mit den Sachen gemacht, die du aus dem Lager hast mitgehen lassen?“

„Willst du das wirklich wissen?“

Ich schüttelte den Kopf. Nein, das wollte ich nicht wissen. Ich war schon straffällig geworden. Als Mitwisser hing ich noch tiefer drin. Aber ich konnte mich nicht zurückhalten, ihm noch einmal eine Warnung auszusprechen. „Tu das nie wieder.“

„Fick dich!“, fauchte er.

„Kein Bedarf“, gab ich unbeeindruckt zurück. „Danke für deine Hilfe bei der Wohnung.“

„Du erwartest doch hoffentlich nicht, dass ich mich für das Löschen der Daten bei dir bedanke. Oder?“

„Nein.“

„Dann verzieh dich endlich.“

Von irgendwo aus dem Haus ertönte lautes Schreien. Offenbar stritt sich ein Ehepaar. Dann krachte eine Tür und es wurde wieder ruhig. Das Geräusch schien Fred alarmiert zu haben. Er stieß sich von der Wand ab, wirbelte herum in Richtung des Eingangs. Doch keinen Schritt später blieb er stehen, als hätte er es sich anders entschieden, stopfte seine Hände in die Jackentaschen und verharrte.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte ich mich.

„Verzieh dich!“, fuhr er mich an, ohne den Blick unter der Kapuze an mich zu richten.

„Warum prügelst du dich ständig?“, wollte ich wissen. Die Neugier nahm in mir überhand. Ich biss mir auch sogleich auf die Zunge und hoffte, dass er mein Eindringen in seine Belange, die mich so rein ganz nichts angingen, überhört hatte. Doch er hatte es gehört, drehte sich langsam zu mir um und hob den Kopf an. Das Licht der Laterne fiel erneut in sein Gesicht. Die Blessuren aus der letzten Prügelei glänzten im Schein der Laterne und ließen ihn verwegen und gefährlich aussehen. Seine Augen blitzten angriffslustig aus leicht zusammengekniffenen Lidern auf. Für einen Moment presste er fest seinen Kiefer zusammen, schien darüber nachzudenken, ob er mir antworten oder mir gleich eines auf mein Maul geben wollte. Dann entspannten sich seine Züge.

„Weil mein Stiefvater es in seinem Suff sonst an meiner Mutter auslässt“, erzählte er nicht ohne beißenden Groll. „War’s das jetzt? Hau endlich ab.“

Ich bezweifelte stark, dass er mir eine Lügengeschichte auftischte. Plötzlich wurde mir einiges klarer. Sein Machogehabe, sein beißender Hohn an allem, was ein leichtes Opfer darstellte. Er hatte sich nicht an illegalen Boxkämpfen beteiligt, sondern den Prellbock zwischen seiner Mutter und dem Stiefvater gemimt. Und ich war nur ein willkommenes Ventil, um sich an dem abzureagieren, was ihm sein Stiefvater antat. Fred war nur ein Jahr älter als ich, was ich aus den Personalakten entnehmen konnte, also erwachsen, verdiente genug, um selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, schien aber zuhause zu wohnen.

Ich blickte an dem Haus empor, überflog die trotz später Stunde beleuchteten Fenster und unterdrückte ein Schaudern. In dem Mehrparteienhaus krachte erneut eine Tür. Fred zuckte zusammen, blieb aber stehen. Er schien seiner Mutter zur Hilfe eilen zu wollen, hielt sich jedoch zurück.

„Ist er zuhause?“ Es ging mich nichts an, dennoch konnte ich mich nicht zurückhalten.

„Verpiss dich endlich, Bugs Bunny!“, schnauzte er, wirbelte herum und stapfte in die Nacht hinein.

„Du weißt, wo ich wohne“, rief ich ihm hinterher und hätte mich im selben Moment selbst ohrfeigen können. Warum zum Teufel hatte ich das eben gesagt? Das war ein eindeutiges Angebot, mich zu besuchen. Ich konnte nur hoffen, dass er mich nicht gehört hatte oder das Angebot ausschlug – so stolz und stoisch wie er war.

Ich ertappte mich tatsächlich dabei, wie ich meine Wohnungstür abschloss, in der Hoffnung, mich damit vor dem vermeintlichen Besuch zu schützen. Dass mir dies nicht helfen konnte, war mir selbst bewusst. Dennoch verschaffte es mir eine gewisse Erleichterung.

Ich hatte mir all die Zeit zu wenig Gedanken über Freds wahren Beweggründe gemacht. Stets hatte ich in ihm nur den unangepassten Rüpel gesehen, der mit jedem aneckte und sich aufführte, wie Rübezahl persönlich. Erst an diesem Abend, als ich das Flehen in seinen Augen sah, die Verzweiflung und Angst um seine Mutter, aber auch die Entschlossenheit, es mit dem ungeliebten Stiefvater aufzunehmen, erkannte ich das wahre Wesen in ihm. Und vielleicht hatte er nicht aus Eigennutz gestohlen, sondern war aus welchen Gründen auch immer dazu gezwungen worden. Mit einem Kopfschütteln tat ich diese Gedanken ab. Es ging mich nichts an. Ich sollte froh sein, mit heiler Haut aus der Sache entkommen zu sein. Andererseits hielt ich mir vor Augen, dass unsere Tat noch immer von anderer Stelle entdeckt werden konnte.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen ging ich schließlich ins Bett und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Ich hatte noch nie etwas unrechtes getan. Selbst den Betrug mit der Wohnung hatte ich auflösen müssen, weil ich es nicht mehr aushalten konnte.

Irgendwann mitten in der Nacht klingelte mich die Türglocke aus dem Schlaf. Ich hüllte mich in meinen Bademantel und betätigte den Rufknopf für die Sprechanlage.

„Ja?“

„War dein Angebot ernst gemeint?“

Noch bevor mein Verstand wach genug war, um die Folgen abwägen zu können, drückte ich auf den Öffner. Im selben Moment stieß ich einen herzhaften Fluch aus. Mein Herz klopfte wie wild, als es nur eine Minute später an meiner Wohnungstür klopfte. Ich zitterte wie Espenlaub, als ich die Tür öffnete und erschrak bei dem Anblick, der sich mir bot.

„Ach, du Scheiße!“, entkam es mir vor Entsetzen.

Er sah noch schlimmer aus. Seine Lippe war blutig. Es rann ihm bereits über das Kinn und tropfte auf seine Jacke. Über seiner linken Augenbraue klaffte eine Wunde, die sich aufgrund der Kälte offenbar bereits geschlossen hatte.

„Mein Stiefvater lässt mich nicht mehr rein und ich weiß nicht, wo ich die Nacht bleiben soll.“

„Warum nimmst du dir nicht eine eigene Wohnung?“ Ich blieb stehen, die Hand an der Klinke, anstatt ihn reinzubitten.

„Wegen meiner Mutter. Er bringt sie um, wenn ich nicht hin und wieder dazwischen gehe.“

„Dann ist die Story also wahr?“

„Sehe ich aus, als ob ich Jokes mache?“ Er machte ein verächtliches Geräusch und schien wieder Kehrt machen zu wollen, blieb aber dann doch stehen und blickte zu Boden.

Endlich öffnete ich ihm die Tür, trat einen Schritt zurück und ließ ihn eintreten.

„Du weißt, wo das Badezimmer ist.“ Ich brauchte ihm keine Führung durch die Wohnung anzubieten. Das hatte der Vermieter schon bei der Besichtigung erledigt.

Er nickte nur, kam herein, streifte die nassen Schuhe ab und marschierte auf Socken an mir vorbei zielstrebig ins Bad. Ich begab mich in die Küche, setzte Wasser für einen Tee auf und holte zwei Tassen aus dem Schrank. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt Tee trank. Trotzdem bereitete ich für uns beide heißen Mate-Tee zu und setzte mich an den Tisch, bis er endlich auftauchte. Mit einem nassen Waschlappen an den Lippen setzte er sich unaufgefordert an den Tisch und nahm sich sogleich die für ihn bereitstehende Tasse, um sie mit seiner freien Hand zu umschließen.

„Danke“, murmelte er, den Blick in den Wasserdampf gesenkt, der von der Tasse ausging.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das noch bereue“, erwiderte ich und nippte an meinem Tee. „Ich hab auch Eis für deine Schwellung …“

Er sah hoch. Der Blick, mit dem er mich musterte, ließ mich verstummen. In ihm lag etwas Undefinierbares, das ich nicht entziffern konnte.

„Ich weiß selbst, dass es ein Fehler ist, herzukommen. Aber ich wusste nicht wohin.“ Sein Blick glitt für einen Moment zum Kühlschrank. Ich erhob mich ohne ein weiteres Wort, holte die Wanne mit den Eiswürfeln aus dem Eisschrank und stellte sie vor ihn hin. Bereitwillig füllte er ein paar der gefrorenen Würfel in den Waschlappen und legte es sich erneut an die malträtierte Lippe.

„Du kannst auf dem Sofa pennen. Ich leg dir Bettzeug raus“, bot ich an. Obwohl mir ein ganzer Schwall an Fragen auf der Zunge brannte, verbot ich es mir, weiter in ihn einzubohren. Es ging mich nichts an, und nach all der Zeit, in der er es mir mies gemacht hatte, sollte ich ihm eher einen Tritt in den Arsch verpassen, anstatt ihm ein gemütliches Lager in meinem Wohnzimmer zu bereiten. Wobei … seinen Arsch würde ich gerne auf andere Weise bearbeiten. Aber dies stand jetzt nicht zur Debatte.

Ich schluckte meine Gedanken hinunter, verbarg mein rötlich anlaufendes Gesicht, indem ich den Kopf zur Seite drehte und begab mich ohne ein weiteres Wort ins Wohnzimmer, wo ich Kissen und Decken auf das Sofa räumte. Fred war mir gefolgt, blieb aber im Türrahmen stehen, bis ich mit meiner Arbeit fertig war.

„Sieht viel besser als, als beim ersten Mal“, kam es anerkennend von ihm.

„Da war es ja auch noch unbewohnt.“ Ich richtete mich auf, nachdem ich die Decke über dem Polstermöbel ausgebreitet hatte und wollte den Raum verlassen. Da Fred den Ausgang mit seiner Statur beinahe vollständig verbarrikadierte blieb ich vor ihm stehen. Wieder traf mich ein undefinierbarer Blick. Offenbar war es ihm genauso peinlich wie mir, dass wir uns nun zusammen in einer Wohnung befanden. Mir, weil ich einem Kerl Asyl bot, der für mich nur Hohn und Spott übrig hatte. Und er vermutlich, weil er sich von mir Witzfigur aus der Patsche helfen lassen musste.

Ich hoffte nur, dass morgen noch meine wertvollen Habseligkeiten an ihrem Platz waren. Auf meine Stereoanlage und dem Flachbildfernseher verzichtete ich nicht gerne.

„Danke“, kam es leise von ihm. Ich schrak leicht zusammen, da ich nicht bemerkt hatte, wie er den Mund geöffnet hatte, obwohl ich ihn die ganze Zeit angestarrt hatte. Wo hatte ich eigentlich hingesehen? In seine wunderschönen dunklen Augen? Oder auf die sinnlichen, nun leider angeschwollenen Lippen? Oder auf das Kinn, das von einem struppigen Drei-Tage-Bart bedeckt war. Ich mochte es, wenn ein Mann einen dünnen Bart trug. Auch wenn es beim Küssen kratzte, aber dies gab mir das Gefühl, es mit einem Mann zu tun zu haben. Ebenso mochte ich Haare auf der Brust, dem Bauch und im Schambereich – nicht viel, aber gerade genug, um damit spielen zu können und leicht daran zu ziepen. Ob Fred sich seine Brust rasierte?

„Alles in Ordnung mit dir?“ Freds Stimme katapultierte mich unsanft aus meinen Gedanken und ließ mich in der Wirklichkeit aufprallen. Rasch nickte ich, schob mich an ihm vorbei und unterdrückte ein Keuchen, als ich ihn dabei berühren musste. Oh Mann. Der Kerl roch sogar noch so gut, dass es mir heiß und kalt wurde.

Fred machte sich nicht die Mühe, mir Platz zu machen. Ich knurrte schon ungehalten, als er mich aufhielt und mich dazu zwang, ihn anzusehen.

„Ich meine es ernst. Danke für deine Hilfe.“

„Gern geschehen“, presste ich hervor. „Vielleicht könntest du als Gegenleistung damit aufhören, mich Bugs Bunny zu nennen.“

„Warum?“, wollte er verwirrt wissen, als stellte ich ihn mit meiner Forderung vor eine unlösbare Aufgabe.

„Weil es diskriminierend ist“, warf ich ihm an den Kopf.

„Finde ich nicht. Du erinnerst mich an Bugs Bunny.“

„Warum? Weil ich eine Hasenscharte im Gesicht trage? Denkst du, du hast deswegen das Recht, mich so zu beleidigen?“

„Nein, das ist nicht der Grund. Du lispelst genauso niedlich wie er.“

Dies verschlug mir für einen Moment die Sprache. „Wie bitte?“

„Aber wenn du darauf bestehst, werde ich dich nicht mehr so nennen.“ Endlich rückte er zur Seite und ließ mich durch.

„Du bist ein Arschloch, Fred“, schickte ich ihm hinterher. Leider bemerkte ich erst als ich seinen Namen ausgesprochen hatte, dass ich mich nicht genügend darauf konzentriert hatte, sodass aus Fred wieder einmal ein Frech wurde. Er kicherte leise, ließ sich auf sein Nachtlager fallen und blickte mich herausfordernd an.

„Nur um eines klarzustellen. Ich mag den kleinen Kerl und das mit dem Spitznamen sollte keine Beleidigung sein.“

„Das kam aber so rüber“, fauchte ich.

„Wenn du sauer bist, hast du fast denselben Blick drauf.“

„Du musst wohl immer noch eins drauf setzen.“ Ich bereute es immer mehr, ihn bei mir aufgenommen zu haben.

„Ich hab kein Problem mit deiner Hasenscharte. Aber es scheint, dass du eines hast.“

„Fick dich!“, entkam es mir absolut untypisch für mich, wirbelte herum und stapfte in mein Schlafzimmer. Die Tür flog laut ins Schloss. Mit einem wütenden Schnaufen ließ ich mich ins Bett fallen und schickte einen wütenden Laut in mein Kissen. Der Hasenkämpfer in mir kam bedrohlich ins Wanken. Wenn Fred nicht so ein vollkommener Idiot wäre, würde mir so einiges leichter fallen. Ihn zu küssen oder vor die Tür zu setzen, zum Beispiel. Der Kerl verwirrte mich und sorgte dafür, dass meine Gefühlswelt durcheinander geriet. Warum, konnte ich selbst nicht sagen. Fred war mir schon immer ein Gräuel und dass er nun in meinem Wohnzimmer nächtigte, gefiel mir ganz und gar nicht. Warum hatte ich es auch nur angeboten? Ich konnte nur hoffen, dass er morgen nicht mehr da war, wenn ich erwachte.

 

4.

Ein Klopfen an der Tür ließ mein Herz losgaloppieren. Ich fuhr herum, wischte hektisch über mein Gesicht und hoffte, dass ich nicht vor Wut geheult hatte – passierte mir manchmal, wenn ich so wütend war, dass ich irgendein Ventil brauchte.

„’Tschuldigung, wenn ich nochmal störe, aber eines solltest du unbedingt wissen, bevor du es von woanders hörst und dich hintergangen fühlst.“

Er streckte seinen Kopf herein, öffnete die Tür ein klein wenig weiter, als ich nickte und blieb im Rahmen stehen.

„Ich bin schwul, aber ich schwöre, dass ich dich nicht anmache. Da ich schon ziemlich krasse Erlebnisse hatte, wollte ich, dass du das weißt.“

Mein Herz blieb einen Moment stehen, ehe es stolpernd weiterpolterte. Ich konnte ihn nur anstarren, war nicht fähig, auch nur eine Erwiderung zu machen.

Fred nickte stumm, zog sich zurück und schloss die Tür.

Verfluchter Mist. Der Kerl, der mir seit langer Zeit schlaflose Nächte bereitete und mir ohne sein Wissen auch die eine oder andere erotische Gegebenheit verschafft hatte, ist schwul. Auch wenn er sich die ganze Zeit wie ein Arsch benommen und mich unentwegt wütend gemacht hatte, konnte ich nicht leugnen, dass er als Wichsvorlage bestens geeignet war.

Ich kroch aus dem Bett, ging zur Tür und legte eine Hand auf die Klinke. Nein, Julian. Mach keinen Fehler. Wenn du jetzt rausgehst, artet das in einer Katastrophe aus. Er will dich nicht. Er verabscheut dich und dein missgestaltetes Gesicht.

Ich rang mit mir, drückte die Klinke herunter und ließ sie wieder los, ohne die Tür zu öffnen.

Nein, bleib im Schlafzimmer.

Die Vernunft schrie lauthals in meinen Kopf. Doch ich ignorierte es, öffnete endlich die Schlafzimmertür und marschierte über den Flur. Fred hatte es sich bereits in seinem Bett gemütlich gemacht. Allerdings hatte er sich dazu nicht ausgezogen, sondern lag ausgestreckt auf der Decke, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Als ich im Zimmer auftauchte, ging ein Ruck durch ihn hindurch.

„Muss ich jetzt gehen?“, glaubte er meine Gedanken erraten zu haben.

Ich schüttelte rasch den Kopf. „Warum tust du dann so etwas? Ich meine, du weißt doch sicher selbst gut genug darüber Bescheid, wie es ist, diskriminiert zu werden? Warum tust du es dann anderen an? Warum tust du es mir an?“

„Ich hab gerade so viel Scheiße am Hals, dass ich es mir nicht leisten kann“, erklärte er mit einem Seufzen.

„Was nicht leisten kann?“, hakte ich nach.

„Mich zu verknallen“, gestand er ehrlich. „Es ist ein böser Fehler, etwas mit einem Hetero anzufangen. Ich hab das schon so oft erlebt. Aber irgendwie scheint da in mir etwas nicht richtig zu funktionieren. Ich dachte einfach, wenn ich jeden vor den Kopf stoße, kann ich meine Gefühle im Zaum halten. Aber dem ist nicht so. Und dann ist da noch mein verfickter Stiefvater, der sich jeden Tag so voll laufen lässt, dass er nicht mehr weiß, was er tut. Wenn er betrunken heimkommt, schlägt er auf meine Mutter ein. Ich wäre schon längst auf und davon, hätte irgendwo mein Studium fortgesetzt. Ich könnte mir aber niemals verzeihen, wenn es ihm gelingen sollte, ihr etwas anzutun. Er schlägt sie, weil sie eine Schwuchtel auf die Welt gebracht hat, lässt sie dafür büßen. Ich geh immer dazwischen, versuche, sie zu beschützen. Ich habe schon oft versucht, sie zu überreden, ihn zu verlassen. Aber sie hat Angst. Davor, dass er sie findet und sie totschlägt. Die Sachen, die ich im Lager mitgenommen habe, verkaufte ich auf dem Schwarzmarkt, um Geld für meine Mutter zu sammeln, damit sie irgendwo ein neues Leben beginnen kann. Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich konnte nicht anders. Ich weiß ehrlich gesagt bald nicht mehr, was ich tun soll.“

Ich war wie vom Blitz erschlagen im Türrahmen stehen geblieben und konnte nichts anderes tun, als ihn anzustarren. Das Schweigen, das sich daraufhin im Raum ausbreitete, schien ihm Antwort genug zu sein. Er hievte sich auf die Beine, raffte seine Habseligkeiten zusammen und wollte an mir vorbeischlüpfen, um die Wohnung zu verlassen. Diesmal machte ich mich breit und verweigerte ihm den Weg.

„Ich bin schwul“, gestand ich ihm geradewegs ins Gesicht. Dabei musste ich mich etwas auf die Zehenspitzen stellen, um Auge in Auge mit ihm zu sein. „Und wenn du nicht so ein Arsch gewesen wärst, mich die ganze Zeit verhöhnt und beleidigt hättest, hätte ich längst versucht, dich anzubaggern, trotz meines Makels im Gesicht. Ich hab kein Problem damit, ganz im Gegensatz zu anderen. Wenn es dir nicht passt, wie ich aussehe, dann kannst du gerne gehen.“

„Ich liebe es, wie du meinen Namen lispelst“, sagte er grinsend, beugte sich vor, vergriff sich mit beiden Händen am Kragen meines Pyjamas und zog mich an sich. Noch ehe ich ein Wort entgegnen konnte, hatte er seine Lippen auf meine gepresst und küsste mich.

Ich war wie erstarrt, konnte mich nicht bewegen, geschweige denn, den Kuss erwidern. Ich wusste auch nicht, ob die Welt angehalten hatte oder vorwärtsschnellte. Es war wie im Vakuum. Ich spürte nur noch die weichen Lippen und den heißen Atem, der an meiner Wange entlang strich. Ich schaffte es nicht einmal, meine Auge zu schließen, um diesen Genuss gänzlich in mich aufzunehmen. Erst als er sich von mir löste, erwachte ich aus meiner Trance und starrte ihn weiterhin fassungslos an.

„Danke“, flüsterte er, schob sich an mir vorbei, schlüpfte in seine Schuhe und verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort.

Ich stand noch immer da wie vom Donner gerührt.

Was war eben geschehen?

Hatte Fred mich geküsst?

Das konnte nicht wahr sein. Das war nur ein absolut krasser Traum.

Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich musste träumen, redete ich mir ein. Wie traumatisiert schlich ich in mein Bett zurück, legte mich hin und zog die Decke bis an mein Kinn. Ich musste schlafwandeln. Vielleicht war das ganze etwas zu viel für mich. Ich kniff die Augen zu, versuchte weiterzuschlafen oder aus diesem Traum aufzuwachen. Doch weder das eine noch das andere gelang mir.

Auf dem Display des Weckers leuchtete eine rote vier, als es erneut an der Tür klingelte. Ich kroch aus dem Bett, schlurfte zur Tür und betätigte den Türöffner, ohne vorher nachgefragt zu haben, wer mich zu dieser unchristlichen Zeit störte. Wenig später klopfte es an meiner Wohnungstür. Ich öffnete. Fred stand davor. Ein weiteres Mal schrak ich zusammen. Er schien sich erneut geprügelt zu haben. Die Lippe war noch mehr angeschwollen. Frisches Blut lief ihm über das Kinn. Auf seinem Wangenknochen zeichneten sich deutlich die Hinterlassenschaften einer Faust ab. Ein Bluterguss bildete sich dort, wo er mehrmals getroffen worden war. Trotz seines derangierten Zustandes, strahlte er über das ganze Gesicht.

„Musst du immer deinen Kopf hinhalten?“, fauchte ich ihn an.

„Ich habe meine Mutter in ein Frauenhaus verfrachtet“, erklärte er, schob mich einfach in die Wohnung und warf die Tür mit einem Schubs seiner Ferse zu. Im nächsten Moment befand ich mich an der gegenüberliegenden Wand. Sein Körper drängte eng an mich. Er war mir so nahe, dass ich mit jedem Atemzug seinen Duft in meine Lungen einsog. Meine Sinne schwirrten und ich blinzelte gegen den Schleier an, der Übermüdung und Überraschung dorthin zauberten.

„Was soll das?“, keuchte ich verwirrt.

„Ich will dich, Bugs Bunny. Gib mir fünf Minuten in deinem Badezimmer, dann kannst du mit mir machen, was du willst.“

„Woher nimmst du die Gewissheit, dass ich dich will?“

„Ich weiß es einfach.“ Unsere Lippen trafen sich. Ja, ich wollte ihn schon. Aber dies ging mir etwas zu schnell.

„Fred!“ Ich drehte den Kopf zur Seite und als ich bemerkte, dass ich den Namen auf meine unverkennbare Weise ausgesprochen hatte, wiederholte ich es. Diesmal gab ich mir Mühe, das D richtig auszusprechen.

„Ich hab kein Problem damit. Ganz im Gegenteil. Ich habe mich immer gefragt, wie sich deine Lippen wohl anfühlen.“

„Das meine ich nicht.“ Ich holte tief Luft und musste mich erst kurz sammeln, ehe ich weiterreden konnte. Sein Überfall hatte einen Tsunami in mir ausgelöst. Alles stand auf Habacht, inklusive meines Schwanzes, der pochend in meiner legeren Pyjama-Hose jubilierte.

„Du denkst wirklich, du küsst mich einfach und lässt mich damit die ganzen Beleidigungen vergessen, mit denen du mich die ganze Zeit überschüttet hast? Ich mag es nicht, als Bugs Bunny bezeichnet zu werden. Du hast mich lange Zeit wie den letzten Dreck behandelt.“

„Ich war rettungslos in dich verknallt. Bin ich immer noch. Deswegen habe ich dich so mies behandelt. Wenn ich vorher gewusst hätte, oder auch nur geahnt hätte, dass du schwul bist …“

„Das ändert gar nichts.“

„Doch tut es.“ Er versuchte erneut, mich zu küssen. Ich drehte rasch den Kopf zur Seite.

Ansich hatte ich nichts dagegen, von ihm geküsst zu werden. In mir prickelte und pochte alles, wenn seine Lippen die meinen berührten. Dennoch konnte ich die Vergangenheit nicht ruhen lassen.

Fred rutschte an mir entlang auf die Knie, legte seine Stirn gegen meinen Schritt und krallte sich an meinen Beinen fest.

„Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, etwas zu wollen, von dem man überzeugt ist, es niemals zu bekommen. Immer, wenn du bei mir aufgetaucht bist, bin ich fast durchgedreht. Ich wusste mir aber nicht anders zu helfen, als dir wehzutun. Ich wollte, dass du mich hasst und nie wieder bei mir auftauchst.“

„Warum Bugs Bunny?“

„Weil ich diese Figur liebe und du genauso sprichst wie er.“

„Mein Name ist Julian.“

Fred löste sich von meinem Schritt, legte den Kopf in den Nacken und sah mich flehend an.

„Oder Hasenkämpfer“, fügte ich sanfter an. „So nennt mich meine Mutter immer.“

„Ich finde meine Bezeichnung niedlicher.“

„Niedlich?“ Ich schnaubte entrüstet. „Weißt du, welche Namen ich für dich hatte?“

„Kann ich mir gut ausmalen.“ Er legte leicht den Kopf schief und sah mich an wie ein Hund, der um ein Leckerli bettelte. „Julian?“, sagte er schließlich leise. „Gib mir eine Chance, mich zu beweisen. Du wirst es nicht bereuen.“

„Ich bereue es schon jetzt.“ Ein Knurren entkam mir. Ich leckte über meine Oberlippe und ließ die Zungenspitze dort liegen, wo die Lippe einen Knick machte. In Freds Augen blitzte es auf. Ich konnte deutlich erkennen, dass er die Bewegung meiner Zunge gerne mit seiner gefolgt wäre. Einem Impuls folgend, vergrub ich meine Finger in seinem Haar und zog ihn daran sanft aber bestimmt auf meine Höhe. Er folgte der Aufforderung und drängte sich erneut an meinen Körper. Der Stoff meines Schlafanzuges gab ungeschönt wieder, was sich darunter verbarg. Ein Kichern entkam Fred, als er sich an meiner Beule rieb.

„Ich merke, wie sehr du es bereust. Wie wäre es, wenn ich in dieser Region für Wiedergutmachung sorge?“

„Wie wäre es, wenn du dir erst einmal fünf Minuten im Badezimmer gönnst. Dein Stiefvater scheint eine feste Handschrift zu haben.“

„Kannst du noch so lange warten?“

„Ohne es zu wissen habe ich fast zwei Jahre auf dich gewartet. Dass ich dich die meiste Zeit auf den Mond hätte schießen können, versuche ich gerade zu vergessen.“

„Was hast du eigentlich mit dem leeren Zimmer am anderen Ende des Flures vor?“, wollte er wissen, kurz bevor seine Lippen mein bebendes Kinn berührten. „Ich bin derzeit obdachlos. Nimmst du einen wie mich bei dir auf?“

„Aber nur, wenn du hin und wieder dein Nachtlager in meinem Schlafzimmer aufschlägst.“

Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Fünf Minuten“, hauchte er, küsste mich zärtlich auf den Mund und riss sich dann mit sichtlicher Gewalt von mir los, um ins Bad zu flüchten.

Ich blieb atemlos zurück, blickte ihm hinterher, konnte kaum fassen, was geschehen war. Wie traumatisiert löste ich mich von der Wand, wankte ins Schlafzimmer und ließ mich ins Bett fallen. Träumte ich etwa immer noch?

Zum Test zwickte ich mich in den Oberarm und musste den Schmerzenslaut unterdrücken, der mir entweichen wollte. Ob Fred tatsächlich nur fünf Minuten benötigte, um sein Gesicht zu waschen, konnte ich nicht sagen. Als die Tür aufging, hätte eine Ewigkeit aber auch nur eine Sekunde vergangen sein konnte.

Er kam auf mich zu, mit einem Gang, der einer Raubkatze glich. Ich fühlte mich wie die Beute und rutschte höher. Langsam ließ er sich auf der Bettkante niedersinken. Seine Hand wanderte bedächtig an meinem Bein höher. Ich verkrampfte mich immer mehr, je näher er meinem Lustzentrum kam, in dem es zu toben begann.

„Wie hast du dir die Wiedergutmachung vorgestellt?“, wollte er wissen. Auf seinen Lippen lag ein gefährliches Grinsen.

„Ich … äh …“ Ich musste hart schlucken, als seine Finger die Mitte meines Körpers erreicht hatten und sich ungeniert auf die harte Beule legten, sie umfassten und durch den Stoff liebkosten.

„Du gehst ganz schön ran“, keuchte ich überrumpelt.

„Ich hinke meinen Träumen ein gutes Stück hinterher.“ Freds Finger stahlen sich höher, fassten den Saum der Hose und zogen ihn ein wenig herunter. Bevor er meinen harten Schwanz entblößen konnte, legte ich eine Hand auf die seine und hielt ihn fest.

„Meine haben auch einen großen Vorsprung. Dennoch wäre es mir lieber, wenn wir uns vorerst nur über die Versöhnung freuen könnten.“

Fred sah mich schief an, mit einem Gesicht, das mehr als deutlich klar machte, dass ich eben von ihm verlangt hatte, seinen Lieblingsschokoladenkuchen nur anzuschauen, anstatt ihn endlich zu vernaschen.

„Tu ich doch schon“, gab er heiser von sich, beugte sich vor und berührte mit seinen Lippen eine nackte Stelle an meinem Bauch, die der heruntergeschobene Saum und der untere, offene Teil der Pyjama-Jacke offenbarte. Mit der nächsten Berührung schmolz jegliche Hemmung dahin. Natürlich wollte ich, dass er weitermachte. Mein Schwanz hätte mich geohrfeigt, wenn ich konsequent geblieben wäre. So bog ich meinen Rücken durch, als er die unteren Knöpfe der Jacke öffnete, eine nach dem anderen und die bloßgelegte Stelle küsste. Ich reckte ihm sogar mein Becken entgegen, als er den Saum weiter runterzog, hob meinen Hintern an, als er die Hose über meine Hüften zog und seufzte tief, als mein harter Schwanz in seinem Mund verschwand.

Wiedergutmachung in allen Ehren. Was Fred anschließend an mir absolvierte, war eine mehr als großzügige Entschädigung. Binnen weniger Minuten brachte er mich dazu, mich auf meinem Bauch zu ergießen. Ich stöhnte seinen Namen, mit einem mehr als deutlichen Lispeln, worauf er mit einem breiten, glücklichen Grinsen zu mir hochkam, mich leidenschaftlich küsste und immer wieder von mir verlangte, Frech genannt zu werden.

Ich tat ihm den Gefallen, aber nur, wenn er im Gegenzug Hasenkämpfer zu mir sagte.

 

 

Impressum

Texte: 2014 Ashan Delon
Bildmaterialien: 456492_original_R_K_B_by_Albrecht E. Arnold_pixelio.de
Lektorat: myself
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2014

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