Ich war mit Handschellen an Eisenringen befestigt, die links und rechts des Laderaumes an der Wand des Lieferwagens geschweißt waren, eigentlich, um dort Transportgut festzuzurren. Meine Augen und Mund waren mit Klebeband verkleistert. Vier Typen hatten mich schon seit Stunden in der Mangel, wechselten sich ständig ab. Sie schlugen auf mich ein, bespuckten mich, bepissten mich, schnitten mit Messern an mir herum und beschimpften, verhöhnten und beleidigten mich aufs Gröbste. Dass sie mich nicht vergewaltigten, war höchstwahrscheinlich nur dem Umstand zu verdanken, dass es sich um streng konservative italienische Katholiken handelte und ihnen dieser Denkzettel das Risiko einer Sünde nicht wert war. Längst hatte ich aufgehört zu schreien und mich zu wehren. Es hatte ohnehin keinen Zweck. Niemand würde mich hören. Wir befanden uns weit außerhalb von Hamburg, irgendwo in einer gottverlassenen Gegend, wo kein Mensch auf die Idee kam, mitten in der Nacht nach dem Rechten zu sehen. Meine Peiniger würden erst aufhören, wenn ich elendig am Schmerz krepiert oder ihnen der Saft in den Muckis ausgegangen war. Ich fühlte mich schäbig, aufgerieben, bis in meine Seele beschmutzt, konnte vor lauter Schmerz nichts mehr denken und wünschte mir jede Sekunde aufs Neue, dass mich der Tod gnädigst aus dieser Lage befreite. Doch selbst der wollte mich nicht haben.
Schreiend erwachte ich aus meinem Traum. Mein Herz pochte wie wild. Adrenalin überschwemmte meinen Kreislauf. Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Schlafanzug war nass vom Schweiß. Jede Nacht ging das so. Seit fast zwei Jahren. Seit dieser verhängnisvollen Nacht, in der Antonio mich von seinen Häschern verschleppen und zusammenschlagen ließ. Am Ende dieser Tortur hatten sie mich wie Abschaum in den Müllcontainer eines Supermarktes geworfen. Dem Penner, der mich am Morgen entdeckte, war gewiss der Appetit und das Stöbern im Abfall anderer Leute vergangen. Ich erwachte im Krankenhaus, eingehüllt in eine ätzende Wolke aus Schmerz, neben mir meine Mutter in Tränen aufgelöst.
Ich bin Simon Jäger, fünfundzwanzig Jahre alt, schwul und ein gebrochener Mann.
Im Grunde war ich selbst schuld – zumindest versuchte ich, es mir einzureden. Antonio hatte mich gewarnt, mich mehrmals aufgefordert, aus seinem Leben zu verschwinden. Ich wollte nicht hören und hatte nicht aufgehört, ihm hinterher zu laufen und ihn von mir zu überzeugen. Dass es irgendwann Konsequenzen für mich geben musste, war mir klar, aber dass er derart krass vorgehen würde, hatte mich schon überrascht.
Ich stand auf, zog mich aus, ging unter die Dusche und legte mich nackt wieder ins Bett. An Schlaf war nicht mehr zu denken, dennoch drückte ich die Augen zu und versuchte, runterzukommen.
Ich liebte Antonio noch immer, obwohl ich wusste, dass es keine Zukunft haben würde. Eigentlich sollte ich ihn, für das, was er mir angetan hatte, hassen und ihn in Tod und Teufel wünschen. Doch ich brachte es nicht fertig. Ich hatte ihn provoziert, es herausgefordert und mich an dem gefährlichen Spiel mit dem Feuer gewaltig die Finger verbrannt.
Im wahrsten Sinn des Wortes.
Noch heute zieren die Narben dieser Nacht meinen Körper – innerlich wie äußerlich. An meinem Hintern und meinen Schwanz waren die Schnittwunden und Brandnarben von ausgedrückten Zigaretten zu sehen und mein Herz brannte lichterloh, wenn ich an ihn dachte. Tränen schossen mir in die Augen, wenn ich mir sein hinreißendes Lächeln vorstellte. Ich liebte es, wenn er mich anlächelte, wenn er meinen Namen aussprach und mich dabei ansah, als sähe er in mir die Liebe seines Lebens. Natürlich hatte ich mir das alles nur eingebildet. Antonio liebte mich nicht, ganz im Gegenteil. Er war ein durch und durch überzeugter Hetero, verheiratet, zwei Kinder und als Italiener gläubiger Katholik.
Warum ich trotzdem gedacht hatte, ihn von mir zu überzeugen, konnte ich im nachhinein nicht mehr sagen. Auch jetzt nicht. Ich träumte davon, mit ihm im Bett zu liegen und mich von seinen gepflegten Händen verwöhnen zu lassen, um gleich darauf in einem alten, rostigen Kastenwagen zu landen und von vier zu allem entschlossenen Typen gezüchtigt zu werden. Antonio hatte mein Leben in eine Hölle verwandelt, aus Rache, weil ich versucht hatte, sein Leben zu zerstören.
Seit zwei Jahren waren meine Nächte kurz, oder besser gesagt, ich schlief nachts überhaupt nicht mehr, weil ich arbeitete. Das Erlebnis hatte aus mir ein Wrack gemacht, das regelmäßig schreiend aus dem Schlaf schreckte, sobald es die Augen schloss. Gleich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus war ich von Hamburg nach München geflüchtet. Ich wollte so weit wie möglich weg von allem, vorrangig von Antonio und alles, was mich an ihn erinnerte. Meine Mutter hieß es nicht gut, vor allem, weil ich die psychologische Betreuung ablehnte und mich in ein Schneckenhaus oder in eine Art selbstgeißelndem Leben verzog. Nach meinem Umzug heuerte ich in einem Gay-Klub als Kellner und Gogo-Tänzer an, von zehn Uhr nachts, bis sechs Uhr morgens. Danach fiel ich ins Bett, um ein oder zwei Stunden zu schlafen und mich weitere fünf unruhig im Bett hin und her zu wälzen. Ich hatte keine Ahnung vom Tanzen und stellte mich die erste Zeit etwas ungeschickt an. Ein bisschen mit dem Arsch wackeln, die ausgepolsterte Vorderseite ins Sichtfeld der Betrachter rücken und lasziv lächeln, reichte nicht aus. Doch ich lernte schnell und so verdiente ich mir bald meinen Lebensunterhalt damit, dass ich meine Proportionen und meinen Hintern in die Gesichter der Zuschauer drückte und mir meine Pants mit knisternden Scheinen auspolstern ließ.
Im flackernden Disco-Licht des Klubs interessierten die kreisrunden Narben auf meinem Hintern und meinem Schwanz niemand. Sie sahen nur meinen Körper und die hässliche Tätowierung auf meiner linken Arschbacke, die ich seit dieser verhängnisvollen Nacht trug. Beim Servieren trug ich keine Tangas, weil sie mir erstens nicht standen, zweitens mich dieser Faden in meinem Hintern wahnsinnig machte und drittens, um gewisse Dinge zu verbergen, die ich nicht unbedingt zeigen oder als Überraschung aufheben wollte. Auf der Bühne war das Tattoo der Bringer. Ich kann nicht mehr sagen, wann mir einer der vier Typen ein ziemlich wackeliges und schlecht gemachtes „Bitch“ auf den Hintern eingeritzt hatte. Jedenfalls war es nun dort und sorgte für ein gieriges Leuchten in den Augen der Gaffer, die in mir deswegen ein williges, allzeit bereites Stück Fickfleisch sahen.
Damit kamen wir zur Selbstgeißelung. Ich ließ mich von allem ficken, was mir etwas Entsprechendes als Gegenleistung, vornehmlich Knisterndes, bot.
Nach drei Stunden erfolglosem Hin- und Herwälzen, stand ich wieder auf und zog mich an. Die Zeit, die ich schlaflos im Bett absolvierte, reichte mir dennoch, um mein Mindestpensum an Erholung annähernd zu erreichen.
Ich öffnete den Kühlschrank, warf einen frustrierten Blick in die gähnende Leere hinein und warf ihn wieder zu. Dass ich ein guter Hausmann war, konnte man mir wirklich nicht nachsagen. Mein kleines 1-Zimmer-Appartement war schon lange nicht mehr richtig gesäubert worden. Auch nicht unbedingt nötig, denn ich brauchte es nur, um zu schlafen, zu duschen und irgendwo meine Waschmaschine und meine Klamotten unterbringen zu können. Sex, Alkohol und noch mal Sex bestimmten mein Leben. Etwas anderes gab es nicht mehr, seit Antonio mich so schroff aus seinem Leben entfernt hatte.
Ich vermisste ihn – noch zwei Jahre danach und obwohl er mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass er kein Interesse an mir hegte. Es war kein einziger Kuss gefallen, nicht einmal ein zärtliches Streicheln. Antonio hatte stets auf genug Abstand zwischen uns geachtet, dennoch vermisste ich ihn.
Ich weiß, idiotisch.
Ich war nun mal hoffnungslos in ihn verliebt und konnte mich nicht von ihm trennen. Es war wie verhext. Auf der Bühne dachte ich an ihn und bewegte meine Hüften besonders lasziv, um ihm zu gefallen. Wenn ich mir einen runterholte oder im Sex mit anderen, waren nicht irgendwelche Typen meine jeweiligen Sexpartner, sondern Antonio. Ich weiß selbst, dass ich mich damit fertigmachte, doch ich konnte einfach nicht anders.
Dabei musste ich wirklich von Glück reden, dass er mir keine Betonschuhe verpasst und in die Elbe versenkt hatte, obwohl dies wahrscheinlich humaner gewesen wäre, als das, was er letztendlich beauftragt hatte. Antonio war kein x-beliebiger Kerl, wie ich während der Konversation im Lieferwagen erfuhr, sondern eine Art Mafioso von Hamburg. Er hatte seine Finger dick in zwielichten Geschäften mit Drogen, Prostitution, Waffen und was auch immer. Es hat mich nie sonderlich interessiert, sondern die Person an sich. Wenn ich vorher gewusst hätte, wer er wirklich war, hätte ich es vielleicht eher geschafft, mein Herz vor ihm in Acht zu nehmen. Vielleicht …! Aber ich kannte mich besser.
Er sah einfach umwerfend aus, mit einem Lachen, das die Schmetterlinge in meinem Bauch in helle Aufregung versetzte. Seine dunklen Augen, der karamellfarbene Teint seiner Haut und die schwarzbraunen Locken, die er kurz gehalten und akkurat getrimmt hatte, brachten mich jedes Mal um den Verstand. Seine Lippen waren so rot und sanft geschwungen und luden regelrecht zum Küssen ein. Wenn er mich anschaute, vergaß ich, dass er verheiratet und ein eingefleischter Hetero war. Er war mein Held, die Erfüllung meiner Träume. Ich wusste selbst, dass ich damit eine Ehe zerstören konnte. Doch meine Verliebtheit war zu sehr im Egoismus gefangen, um auf die Vernunft zu hören. Ich wollte Antonio. Der Preis dafür war ziemlich hoch. Und am Ende war ich leer ausgegangen.
Mit einem Seufzen holte ich ein Foto aus einer Schublade, setzte mich damit aufs Bett und betrachtete es versonnen. Es zeigte Antonio mit seinem gewohnt strahlenden, leicht überheblichen Lächeln. Eine Aufnahme, die entstanden war, bevor er wusste, was ich von ihm wollte. Da hatte er mich noch angelächelt und liebevoll Piccolino genannt. Da war ich noch sein bevorzugter Kellner gewesen, in dem Café, in welchem er tagtäglich seinen Cappuccino einnahm.
Zärtlich streichelte ich über das Foto und stellte mir vor, ich würde über sein Gesicht streicheln. Ich hatte dieses Gefühl nie leibhaftig erleben dürfen, dennoch konnte ich mir vorstellen, wie gut es sich anfühlen musste. Eine Träne löste sich von meinem Auge und bahnte sich einen Weg über meine Wange, als ich das Bild an meine Lippen hielt und es zärtlich küsste.
Ich vermisste ihn, obwohl ich nie eine Chance bekommen hatte. Eigentlich hatte ich es verdient. Ich war sauer auf mich selbst, weil ich die Warnungen nicht ernst genommen hatte. Antonio konnte nicht anders reagieren. Auch wenn er in seiner Ehe nicht glücklich war und oft traurig wirkte, wenn ich ihn auf seine Frau ansprach, war ich keine Option für ihn, dieses Leben aufzugeben.
Mein Handy klingelte und riss mich damit aus meinem Trübsinn.
Ich wusste genau, wer mich anrief. Dazu brauchte ich nicht auf das Display zu schauen. Jeden Tag zur selben Zeit rief sie an.
„Hi, Mum“, begrüßte ich sie.
„Hi, mein Schatz. Wie geht es dir?“ Das war ihre obligatorische erste Frage. Sie machte sich ständig Sorgen um mich. Seit meinem Outing, seit dem Vorfall mit Antonios Schergen, obgleich sie gar nicht wusste, was in dieser Nacht genau passiert war und weswegen. Ich hatte ihr nichts erzählt, ihr und der Polizei nur gesagt, dass ich überfallen worden wäre und mich an nichts mehr erinnern könne. Wenn sie die Wahrheit wüsste, hätte sie versucht, Antonio zur Verantwortung zu ziehen, und das wäre vermutlich ihr Todesurteil gewesen.
„Gut“, log ich. Ich fühlte mich miserabel. Immer wenn ich an Antonio dachte. „Und dir?“
„Hast du gerade Pause?“, war ihre nächste obligatorische Frage, wie immer meine Frage ignorierend.
„Ja“, antwortete ich mit einem Blick auf die Armbanduhr, die auf meinem Nachttisch lag. Es war die Zeit zwischen Mittagessen und Kaffee, die Zeit, in der ich als Kellner eine Pause einlegen konnte. Nur, dass ich längst nicht mehr als solcher arbeitete, zumindest tagsüber. Meine Mutter wusste nicht, mit was ich hier in München mein Geld wirklich verdiente. Für sie arbeitete ich in meinem Lehrberuf als Gastronomiekaufmann in einem renommierten Restaurant. Meine Mutter würde nie auf die Idee kommen, ihre Heimat Hamburg zu verlassen, um mich in München zu besuchen. Das war auch einer der Gründe gewesen, warum ich beinahe ans andere Ende von Deutschland geflüchtet war. Abgesehen davon, dass ich Antonio und seinen Schlägern entkommen wollte.
„Hast du schon viele Freunde gefunden?“
Ich seufzte. Wie bei fast jedem Telefongespräch ging sie auch heute offenbar eine Checkliste durch. „Ja, Mama“, gab ich entnervt von mir. Eine weitere Lüge. Ich vermied jeglichen näheren Kontakt mit anderen Leuten, mit meinen Kollegen ebenso wie mit den Leuten, die auf derselben Etage wohnten, wie ich. Dabei war ich früher ein recht geselliger Typ, der gern und oft Partys feierte, bis in die frühen Morgenstunden. Doch heute war mir weder nach Gesellschaft noch nach Feiern. Ohne Antonio machte die fetteste Party keinen Spaß. Auch wenn ich mit ihm noch nie auf einer gewesen war.
„Mir geht es gut“, schob ich hinterher, ohne an meine eigenen Worte zu glauben.
„Wann kommst du wieder nach Hause, Simon?“, wollte sie wissen.
Ich seufzte hörbar und schwieg.
„Tante Brigitte hat nächsten Monat ihren Sechzigsten. Es wäre schön, wenn du zu Besuch kämest. Sie freut sich bestimmt.“
Ich nickte, obwohl ich mir im Klaren war, dass sie es nicht sehen konnte.
„Weiß nicht“, gab ich ausweichend von mir. „Vielleicht.“ Ein klein wenig Hoffnung hatte sie verdient, auch wenn ich jetzt schon sagen konnte, dass ich diesem Geburtstag nicht beiwohnen würde. Ich wollte nicht mehr zurück nach Hamburg – nie wieder.
In Hamburg war Antonio.
„Was machst du heute noch?“, fragte sie.
„Arbeiten“, erwiderte ich.
„Und danach?“
„Mama!“, stöhnte ich genervt. „Ich komme hier schon klar. Du brauchst dir um mich keine Gedanken zu machen.“
„Ich möchte nur nicht mehr, dass dir jemand wehtut.“
Mein Herz wurde schwer. Es war mir verdammt schwergefallen, sie allein in Hamburg zurückzulassen. Doch meine Mutter war mit der Stadt verwachsen und hätte sie um nichts in der Welt verlassen. Sie war diejenige gewesen, die mir nach dieser verheerenden Nacht beigestanden und mich wieder aufgebaut hatte. Sie hatte sich weder von meinem Outing von mir abwenden lassen, noch von der Tatsache, dass ihr zweiter Ehemann, noch in derselben Nacht nach meinem Geständnis in mein Bett gekrochen kam und versucht hatte, mich zum Geschlechtsverkehr zu bewegen. Keine halbe Stunde, nachdem mein Schreien sie alarmiert hatte, saß mein Stiefvater auf der Straße, von meiner Mutter höchstpersönlich vor die Tür gesetzt. Wie eine Furie hatte sie auf ihn eingeprügelt und ihn regelrecht mit einem Tritt in den Allerwertesten aus der Wohnung befördert. Sie war meine Heldin. Deswegen konnte ich ihr nicht die Wahrheit sagen.
„Das wird nicht mehr passieren“, versicherte ich ihr. „Ich gehe nicht mehr nachts allein spazieren. München ist in dieser Beziehung sicherer als Hamburg.“ In der bayerischen Hauptstadt gab es durchaus auch Bezirke, in denen man selbst als Mann nicht sicher war. Aber dies musste ich ihr nicht unbedingt auf die Nase binden. „Ich passe besser auf mich auf. Außerdem habe ich einige nette Leute um mich.“ Ich schluckte die Last hinunter, die meine Lüge auf meiner Seele platziert hatte. Es war nicht gerecht, sie so anzulügen, doch es ging nicht anders.
Ein Schnaufen kam durch das Telefon. Ich kämpfte mit den Tränen. Ich liebte meine Mutter. Sie war eine herzensgute Frau, die für ihren Sohn wie eine Löwin gekämpft hatte. Gerade deswegen durfte sie es nie erfahren.
„Kommst du zu Brigittes Sechzigsten?“
„Kann ich noch nicht versprechen. Ich weiß nicht, ob ich Urlaub bekomme.“ Damit hatte ich mir eine Ausrede für mein Nichterscheinen geschaffen.
„Ich würde dich gerne mal wieder sehen“, entgegnete sie hoffnungsvoll.
„Ich versuche es“, seufzte ich und musste abermals gegen die Last der Lüge ankämpfen, die mich zu erdrücken drohte. „Ich muss wieder los. Hab dich lieb, Mum.“
„Ich dich auch“, kam es zurück. Ein Schmatzen drang an mein Ohr. Ein Kuss von meiner Mutter, den sie mir normalerweise auf die Wange gedrückt hätte.
Ich erwiderte ihn. Allein schon, um sie zu sehen und ihr den Kuss persönlich überreichen zu können, hätte genügt, um nach Hamburg zu fahren. Doch da ich wusste, dass ich nicht standhaft sein konnte und vermutlich versucht hätte, Antonio aufzulauern, durfte ich nicht fahren.
„Bis morgen“, verabschiedete ich mich mit schwerem Herzen. Eine einzelne Träne rann über meine Wange. Ich vermisste sie so sehr, wie ich Antonio vermisste.
David, mein Boss trat an mich heran, klopfte mir auf die Schulter und nahm das Tablett ab, das ich durch die Menschenmenge bugsierte.
„Norbert fällt heute aus. Du musst früher ran, Simon. In fünf Minuten“, brüllte er gegen die Lärmpegel aus den Lautsprechern an. „Ich mach hier weiter.“
Ich nickte und machte mich auf den Weg, hinter die Bühne, um mich in Windeseile umzuziehen und für meinen Auftritt fertigzumachen. Ich war nicht nur als Kellner, sondern auch als Tänzer und Anheizer angestellt. Binnen weniger Minuten hatte ich das knappe Latexhöschen und den Kragen mit der schwarzen Kellner-Fliege gegen einen Glitzertanga getauscht, meinen Körper eingeölt und die Haare mit Gel zurückgekämmt. Pünktlich stand ich am Vorhang zur Bühne und wartete auf meinen Einsatz.
Ich musste nicht viel tun. Meinen Körper lasziv zur Musik bewegen, mit dem Hintern vor der Nase der Zuschauer hin und her wackeln und dabei so tun, als sei ich höchst erregt. Mir gelang es nur, wenn ich all die Gesichter, die mich mit offenem Mund und halb heraushängender Zunge begafften, in meiner Vorstellung gegen das von Antonio tauschte. Der Kerl machte mich noch immer an, obwohl er mir die schlimmste Nacht meines Lebens beschert hatte und ich ihn noch nicht einmal hatte berühren dürfen. Sobald die Musik einsetzte und ich die Bühne betrat, tanzte ich nur noch für ihn.
Mein Gehalt als Kellner war vergleichsweise niedrig, noch geringer als der Mindestlohn. Meinen wahren Verdienst holte ich mir beim Tanzen und später im Darkroom. Bereits nach dem ersten Lied war der Glitzerslip reichlich mit knisternden Scheinchen ausgepolstert. Ich hielt dennoch meine üppige Vorderseite in die Menge und ließ mir weitere Scheine in die Hose stecken. Manche Gäste schoben sie mir direkt vorne rein, nur um eine flüchtige Berührung meines Schwanzes zu stehlen. Ich ließ sie gewähren. Denn genau das brachte die Kohle. Die Gäste waren freigiebiger mit Trinkgeld, wenn sie bekamen, wonach es sie sehnte – nach verruchtem Fleisch, das sich begrapschen und ficken ließ.
Mir war es egal, wer mich in das Hinterzimmer einlud und sich an mir oder in mir einen runterholte. Ich war inzwischen abgestumpft. Anfangs brachte es mir so den ersehnten Kick, den ich dachte zu brauchen, um von Antonio wegzukommen. Doch mit der Zeit mutierte es zum simplen Job, der mir die Miete und das Essen bezahlte.
Über Mangel an Sexangeboten konnte ich mich nicht beklagen. Die Leute liebten meinen Body und bestellten mich sogar in den Darkroom, nur um das Tattoo auf meinem Hintern zu küssen und zu lecken. Bei jedem Tanz war mindestens eine Einladung zu einem Date dabei. Auch diesmal fischte ich aus all den Banknoten einen Zettel, auf den jemand mit Kugelschreiber „2H“ gekritzelt hatte. Es war ein Code, den jeder verstand.
Im Darkroom verteilt gab es Treffpunkte, die mit Buchstaben gekennzeichnet waren. Die Zahl bedeutete, um 2 Uhr.
Lächelnd bahnte ich mir einen Weg durch die Gäste zum Hinterzimmer. Sofort drang mir die eindringliche Duftmischung aus Sex, Schweiß, Alkohol, Parfüm und Zigarettenrauch entgegen. Vorne im Partyraum sorgte eine gute Klimaanlage für ausreichend Frischluft. Hier hinten war die Belüftung absichtlich ausgeschaltet, um die Gäste wieder nach vorn zu locken, wo sie den Getränkeabsatz ankurbeln und die Atmosphäre noch zusätzlich anheizen sollten. Das Testosteron, das hier im Raum schwebte wie eine dicke fette Gewitterwolke sorgte bereits beim Eintritt dafür, dass mein Schwanz anschwoll.
Ich freute mich auf dieses Date. Nicht, weil ich den Mann kannte, der mich für ein paar Minuten nur für sich allein haben wollte, sondern weil es sicherlich eine Belohnung dafür gab. Zur Stellenbeschreibung des Kellners in diesem Gay-Klub gehörte das Tanzen, wie auch der persönliche Service im Hinterzimmer. Wobei das Geld, das wir damit verdienten, uns überlassen blieb. Dafür war das Grundgehalt ausgesprochen mies.
Unter einem rotleuchtenden H blieb ich stehen, lehnte mich an die Wand und blickte mich um. Der Raum war so dunkel gehalten, dass man kaum etwas erkennen konnte. Leuchtstreifen auf dem Boden und den Trennwänden wiesen zu den einzelnen Treffpunkten oder wieder aus dem Raum heraus. Überall waren Sitz- und Liegemöglichkeiten geschaffen, wie Sofas, Polster, Stühle oder Bänke. Man konnte hier seiner Fantasie freien Lauf lassen. An einigen Treffpunkten gab es sogar Metallringe in Wände, Stützen oder Stangen eingelassen, an denen man jemanden fixieren konnte. Die meisten trafen sich jedoch nur für einen schnellen Fick oder einem Blowjob.
Ich trug noch immer mein Bühnenoutfit, das knappe Glitzerhöschen, das meinen Arsch frei ließ und meinen Ständer unverhohlen zur Schau stellte. Einige der Männer, die auf der Suche nach einem Sexpartner an mir vorbeiflanierten, grinsten mich anzüglich an, doch da ich mich direkt unter einem der Leuchtbuchstaben platziert hatte, wussten sie, dass ich bereits reserviert war.
Plötzlich stand jemand neben mir und legte eine Hand auf meinen Bauch. Ich fuhr erschrocken zusammen, weil ich für einen Moment gedanklich abwesend gewesen war, drehte den Kopf in seine Richtung und wollte ihm ins Gesicht sehen.
Es war dunkel und ein Schatten bedeckte sein Gesicht. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass er eine Maske trug. Etwas, das nicht ungewöhnlich war. Leute, die im Alltag nicht zufällig von flüchtigen Sexbekanntschaften erkannt werden wollten, tarnten sich gerne mit einer Maske. Auch vorne im Partyraum versteckten sich viele der Gäste hinter Masken.
Ich lächelte ihn hinreißend an.
„He“, grüßte ich und wollte es ihm gleichtun, indem ich seinen Arm berühren und ihn streichelnd stimulieren wollte. Doch er schob meine Hand weg.
Wortlos drehte er mich mit dem Gesicht zur Wand und zog die Tangabänder von meinem Hintern, um die Rundung sofort mit der ganzen Hand und ohne störenden Fummel in Besitz zu nehmen und die Backen auseinanderzuziehen. Das Verhalten dieses Mannes unterschied sich nicht viel von dem der anderen. Einige wollten noch ein paar Worte wechseln, ehe sie zur Sache kamen. Ein paar verlangten sogar geküsst zu werden, oder dass ich ihnen vorher noch den Schwanz steif leckte. Es gab aber auch durchaus Typen, die kamen ohne Vorspiel und Klimbim zum Eigentlichen.
Ich ließ mich an die Wand drücken, spreizte meine Beine und reckte ihm meinen Hintern entgegen. Eine Hand fuhr nach vorn, um mein Glied zu umfassen und zu massieren, während er an meinem Eingang herumfummelte und anscheinend untersuchen wollte, ob ich schon bereit genug war. Dann nahm er seine Hände zurück, streifte sich ein Kondom über und drückte wenig später seine harte Länge in meinen Unterleib. Ich entspannte mich, ließ es geschehen und dachte nur noch an die Kohle, die er mir vielleicht anschließend zustecken würde. Eine Garantie hierfür gab es nicht. Das Honorar vorher zu verlangen, schreckte viele ab. Ich musste mich erst beweisen und den Kunden zufriedenstellen, ehe ich auf Bezahlung hoffen konnte. Auf dem Strich war das genau anders herum. Ohne Kohle ging nichts. Doch hier bestand David darauf, dass wir erst Leistung zeigten, ehe wir kassieren durften. Meist gingen wir auch nicht leer aus. Ein paar Scheinchen sprangen immer für uns ab.
Der Kerl drückte mich mit jedem Stoß fest an die Wand und keuchte erregt in meinen Nacken. Eine Hand hatte wieder mein Geschlecht umfasst, die andere streichelte über meine Brust und zwickte mir hin und wieder keck in die Nippel. Obwohl es alles andere als anregend war und ich es eher stoisch, denn gerne über mich ergehen ließ, brachten mich die Stimulationen in Anus und per Hand irgendwann zum Kommen. Ich stöhnte verhalten, weil ich nicht genau wusste, welche Vorlieben der Kunde hatte und legte den Kopf in den Nacken, geradewegs auf die Schulter, die mich gegen die Wand presste. Er keuchte bei jedem Stoß wie ein Ackergaul, der einen schweren Karren ziehen musste, rammte seinen Unterleib fest auf meinen Hintern und drückte mich mit jedem Stoß unsanft gegen die Wand.
Der Griff seiner Hand wurde unangenehm fest, als er in mir kam. Pochend entlud sich sein Höhepunkt. Ein abgehaktes Stöhnen drang in mein Ohr. Ich lehnte mich dagegen, drückte mich seinem Leib entgegen. Schließlich ließ er los, nahm die Hand von meiner Vorderseite und strich mit der feuchten Hand über meinen Körper, verteilte dabei mein Sperma auf mir. Ich unterdrückte einen Fluch oder einen Protest, da ich mich erst waschen musste, ehe ich mich wieder unter die Gäste wagen durfte. Genüsslich verteilte er die Flüssigkeit auf meinem Bauch, drückte mich an sich, ein kleines Stückchen von der Wand entfernt, sodass er meine gesamte Vorderseite streicheln und benetzen konnte.
Ich ließ ihn gewähren. Mit Sperma beschmiert zu werden, war noch harmlos. Da gab es Schlimmeres.
Es raschelte. Er zerknüllte einige Geldscheine zu einem Papierknäuel und rollte damit über meinen Bauch, während er sich an meinen Rücken schmiegte und seinen allmählich erschlaffenden Prügel erneut tief in mich schob. Erleichtert, weil ich offenbar eine Belohnung wert war und zufrieden, weil ich damit den Kunden zufriedengestellt hatte, schmiegte ich mich an ihn, gönnte ihm noch einen kleinen Kuschelmoment. Manche Kunden mochten das und brummelten zufrieden. Doch dieser stieß mich wieder zurück, wollte anscheinend nicht, dass ich Initiative zeigte. Daher lehnte ich mich an die Wand und wartete ab, bis er sich gänzlich aus mir herausgezogen hatte. Als ich mich umdrehen wollte, drückte er mich erneut an die Wand.
Ich schluckte das leicht verärgerte Grummeln hinunter, das meiner Kehle entweichen wollte. Der Kerl schien absolut anonym bleiben zu wollen. Auch gut. Da ich kein Interesse daran hatte, mich mit ihm näher bekannt zu machen, ließ ich ihn gewähren. Endlich zog er das Glitzerhöschen hoch, stopfte das Papierknäuel an meiner Vorderseite zu meinem feuchten Schwanz, verzog sich gleich daraufhin wortlos und verschwand in der Düsternis des Darkrooms.
Rasch ordnete ich meine spärliche Kleidung, holte das Bündel heraus, das er mir zu meinem Penis in die Hose geschoben hatte, glättete sie und blätterte mit dem Daumen durch die Scheine.
Ich konnte wirklich zufrieden sein, vor allem, da zwischen den Geldscheinen ein weiterer Zettel steckte, auf dem derselbe Code stand, wie der, der mich hierher gelockt hatte. Anscheinend war ich gar nicht so schlecht gewesen.
Am nächsten Tag oder besser gesagt in der nächsten Nacht stand ich pünktlich um 2 Uhr wieder unter dem leuchtenden H. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und ließ meinen Blick über die Umgebung schweifen. Einige Männer lungerten in der Nähe herum, schienen darauf zu warten, dass mein Kunde kam und die Show losging. Andere hatten es sich in den anderen Nischen gemütlich gemacht, paarweise oder auch zu dritt. Die Geräusche kopulierender Männer überspielte die gedämpfte Musik, die von der Party in den Darkroom drang. Stöhnen, abgehackte Schreie, Keuchen … Geräusche, die eine gewisse Erregung in mir anfachten, auch wenn mich diese ganze Szene hier eher anwiderte. Trotz der Scheine, die von einem zum anderen gingen, handelte es sich hier doch um nichts als bedeutungslosen Sex. Nichts, was tiefer ging oder von längerer Dauer war, als ein Fick und ein Orgasmus. Kaum hatten die jeweiligen Sexpartner den Raum verlassen, gingen sie auch schon ihre Wege, um sich den nächsten Kandidaten zu suchen.
Ich drehte mich zur Seite und beobachtete ein Pärchen, das in einer Nische wild knutschte. Meine Gedanken drifteten bei diesem Anblick zu Antonio ab. Wie gerne hätte ich ihn ebenso leidenschaftlich geküsst, doch bevor es dazu kommen konnte, landete ich auf der Intensivstation – auf seinen Befehl.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Abermals fuhr ich erschrocken zusammen, obwohl sich der Kerl am Abend zuvor auf dieselbe Weise bemerkbar gemacht hatte. Doch anstatt mich wieder an die Wand zu drücken, vergriff er sich in meinem Haar und drückte mich wenig gefühlvoll auf die Knie. Dort wartete bereits ein in Latex verpackter Penis, den ich bereitwillig in den Mund nahm und ihn leckte und daran herumsaugte, bis er mich an den Haaren auf die Beine zog und erneut an die Wand presste. Einen Augenblick später riss er auch schon meine knappe Hose über den Hintern und versenkte sich in mir, um mir nach überstandenem Akt ein Bündel Scheine in die Vorderseite zu stecken und erneut wortlos zu verschwinden.
So ging das jeden Abend, zwei Wochen lang. Ich beschwerte mich nicht. Stammkunden waren immer willkommen. Ich wünschte nur irgendwann, ich könnte einmal sein Gesicht sehen. Wenn ich bediente, besah ich mir die Kunden genau, doch keinen der Männer, die sich von mir Bier, Cola und stärkere Alkoholika servieren ließen, konnte ich mit ihm irgendwie in Verbindung bringen. Zudem blieb mir stets zu wenig Gelegenheit, um ihn mir genauer anzusehen. Es war einfach ein anonymer Kerl, dem ich anscheinend gefiel und der es sich etwas kosten ließ, mich einmal am Abend zu ficken.
Ich sollte mir nicht so viele Gedanken darüber machen, sagte ich mir schließlich. Solche Kerle gab es öfter. Sie fickten mich einige Zeit lang, bis ihnen das Geld ausging, oder sie das Interesse an mir verloren. Wenn ich ihm zu langweilig wurde, würde er sich jemand anderen suchen. Ich war nicht der einzige Kellner in diesem Gay-Klub, der diesen speziellen Service bot. Wir waren zu fünft, die bedienten, tanzten und sich im Hinterzimmer prostituierten. Vier weitere genügte es, neben dem Bedienen zu tanzen und zwei servierten nur. Es war eine freiwillige Angelegenheit. David zwang uns nicht dazu. Allerdings verdienten diejenigen auch weniger, die nicht vollen Körpereinsatz boten.
Zuhause allein mit mir und meiner Depression dachte ich hin und wieder an den Kerl, der offenbar Gefallen an mir gefunden hatte. Neben den anderen Kellnern, die sich im Hinterzimmer anboten, gab es jede Menge anderer Kerle, die für ein paar Scheine die Beine breitmachten oder vor einem in die Knie gingen. Es war ein offener Raum. David achtete zwar sorgsam darauf, dass die freien Stricher nicht überhandnahmen, dennoch sorgte die reichhaltige Auswahl an Frischfleisch dafür, dass sich das Lokal füllte und den Umsatz ankurbelte. Wie er das mit den Behörden managte, war mir schnurzegal. Es war ein Puff, nichts weiter und Hauptsache ich verdiente mein Geld für den Lebensunterhalt.
Mit jedem Blind Date unter dem rot leuchtenden H fieberte ich dem nächsten Treffen sehnsüchtiger entgegen, obwohl er wirklich nichts anderes tat, als sich von mir einen blasen zu lassen, mich ohne Vorspiel und überflüssigem Geplänkel zu ficken und mir hin und wieder auch einen Handjob gönnte. Nicht immer, aber doch oft genug und jedes Mal, wenn er es tat, freute ich mich tierisch darüber.
Mehr und mehr wünschte ich, mir würde es vergönnt sein, sein Gesicht zu sehen. Nur um ein Bild vor Augen zu haben. Ich war nicht auf einen Partner aus, oder auf einen Mann an meiner Seite, mit dem ich mich morgens um die Zahnpasta oder die Butter stritt. Aber irgendetwas hatte er an sich. Seine Beharrlichkeit, mit der er mich jede Nacht mit dem Kürzel 2H nach hinten bestellte, beeindruckte und rührte mich. Stammkunden hatte ich einige, aber an ihm war etwas, was ihn mir im Gedächtnis verankern ließ. Wenn er mich gefickt hatte, empfand ich es als falsch, mich einem anderen hinzugeben. Daher versuchte ich, die andern Kunden vorher abzufertigen, sodass dieser unbekannte Maskenmann der letzte war, der sich in dieser Nacht in mir versenkte und ich dieses Gefühl noch länger genießen konnte.
Es war seltsam. Dieser mysteriöse Mann schaffte es sogar, mich von Antonio abzulenken. Eines Tages, als ich nach einer weiteren unruhigen und wegen meiner Albträume viel zu kurzen Nacht im Bett lag und das Foto mit Antonio und mir hervorkramte, gab es mir nicht mehr das, was es mir noch vor wenigen Wochen gegeben hatte. Ich sah sein Lächeln. Es kam mir plötzlich verlogen und falsch vor, als wüsste er bereits zu diesem Zeitpunkt, dass er mein Leben zerstören würde. Schließlich zerriss ich das Foto, warf es in den Aschenbecher und zündete es an.
Damit war Antonio endlich für mich gestorben.
Erleichterung überkam mich. Als hätte sich eine tonnenschwere Last von mir gelöst, konnte ich plötzlich wieder frei durchatmen. Als meine Mutter anrief, schaffte ich es sogar, mit ihr zu scherzen und zu lachen. Etwas, was mir seit dem Zwischenfall nicht einmal mehr annähernd gelungen war.
„Kommst du zu Brigittes Geburtstag?“, fragte sie mich erneut. „Sie hat schon nach dir gefragt.“
„Ja“, gab ich spontan nach und wusste im nächsten Moment nicht, wie mir geschehen war, wie ich auf diese Idee kam. Ich sehnte mich nach meiner Mutter, nach meiner Familie und all den Gesichtern, die ich früher beinahe tagtäglich gesehen hatte. Und auch wenn Tante Brigitte mir wahrscheinlich wieder stundenlang damit in den Ohren lag, mir einen anständigen Lebenswandel zuzulegen, sprich eine Frau zu heiraten und eine Familie zu gründen, vermisste ich sie. „Ich komme“, ergänzte ich in den Jubel meiner Mutter hinein.
„Ich freu mich schon auf dich“, hörte ich ihre erstickte Stimme. Seit fast zwei Jahren hatten wir uns schon nicht mehr gesehen. Insgeheim freute ich mich auch, auf sie, auf ihren unverwechselbaren sauren Apfelkuchen und auf das Drücken und Herzen, wenn die ganze Familie zusammentraf.
David war es egal, ob ich kam oder nicht. Er bezahlte mich schlichtweg nicht für die Zeit, in der ich nicht arbeitete. Da ich mir genug an Trinkgeldern zusammengespart hatte, konnte ich getrost ein Wochenende freimachen.
Das Familientreffen war wie erwartet. Tante Brigitte hielt mir einen Vortrag über die Vorteile einer Ehe, der über zwei Stunden lang ging, bis mich meine Mutter gnädig erlöste, indem sie mich den Töchtern anderer Mütter vorstellte. Obwohl sie wusste, dass diese Mühe vergeblich sein würde, probierte sie es immer wieder. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Ich fühlte mich wie vor zwei Jahren, behütet, umsorgt, verhätschelt und verwöhnt. Meine Mutter wuselte um mich herum, musste die lange Trennung in den paar Tage nachholen, in denen ich in Hamburg verweilte. Dabei vermied ich es, in die Viertel zu kommen, in die ich vermutlich auf Antonio treffen konnte. Ich blieb die ganzen drei Tage bei meiner Mutter und ließ mich wie ein artiges Söhnchen bemuttern. Zeitweise genoss ich es in vollen Zügen. Erst am Sonntagabend war ich geschafft und leicht genervt von ihrer mütterlichen Liebe. Ich hätte mir jedoch eher die Zunge abgebissen, als sie darum zu bitten, mich nicht alle fünf Minuten zu herzen und mir die Haare zu verwuscheln. An diesem Wochenende war ich der gewohnte Sohn, der keine verhängnisvolle Nacht erlebt hatte und seitdem wie ein Wrack nur noch dahinvegetierte. Als ich schließlich wieder im Zug saß, musste ich sogar ein paar Tränchen wegwischen. Wer wusste schon, wann ich das nächste Mal wieder in meine Heimat kam.
Antonio war allgegenwärtig. Auch wenn ich einen großen Bogen um die Straßenzüge und Gegenden machte, in denen er für gewöhnlich anzutreffen war, konnte ich ihn an jeder Straßenecke sehen und spüren. Mein Kopf spielte mir einen Streich nach dem anderen und so war ich trotz allem froh, wieder in mein Asyl zurückzufahren – weit weg von Antonio und seinem Schrecken.
Montagnacht trat ich wie gewohnt meinen Dienst im Gay-Klub an. Die ersten Zettel bekam ich schon beim Servieren zugesteckt. Doch ich ignorierte sie, da mir einfach nicht nach Ficken war. Das Wochenende war erholsam gewesen, trotz des Stresses einer Familienfeier. Dennoch fühlte ich mich noch nicht fit genug, um mich wieder anderen Männern hinzugeben. Vielleicht brauchte ich noch ein oder zwei Tage, ehe auch mein Arsch erkannt hatte, dass ich wieder im gewohnten Alltagstrott festhing. Auf der Bühne bekam ich die nächsten Zettel zugesteckt. Zwischen den Geldscheinen war auch einer mit dem inzwischen bekannten 2H. Obwohl es nur zwei kleine Ziffern waren, hätte ich die Handschrift aus allen anderen Zetteln herausfinden können. Mein Verehrer schien sehnlichst darauf gewartet zu haben, dass ich wieder erschien, denn diesmal hatte er ein Ausrufezeichen hinter die Daten geschrieben.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ein paar Tage auf Zusatzverdienst zu verzichten. Doch als ich diesen Zettel entdeckte, schoss sofort heißes Blut in mein knappes Glitzerhöschen und mir wurde es verdammt eng da unten. Ich haderte mit mir, überlegte mehrere Minuten hin und her, und als es endlich zwei Uhr wurde, bewegte ich mich wie von selbst in den Darkroom, um mich unter das rote H zu stellen. Mein Schwanz pochte hartnäckig. Der Ständer war durch die enge Hose deutlich zu sehen. Die anderen Kerle starrten unverhohlen auf meinen Schritt. Mir kam es jedoch nicht in den Sinn, ihn zu verdecken oder mich wegzudrehen. Ich war geil. Geil auf einen Unbekannten, der mich gleich wieder gefühllos vögeln und wie ein Gebrauchsgegenstand stehen lassen würde.
Endlich kam er und legte wie gewohnt eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr dennoch zusammen und starrte ihm auf die starre Plastikmaske, die sein Gesicht verdeckte. Es war ohnehin so düster, dass man kaum etwas erkennen konnte. Der Typ schien jedoch auf Anonymität zu bestehen und sich nicht darauf zu verlassen, in diesem Halbdunkel unerkannt zu bleiben.
Gefügig ließ ich mich umdrehen und mit dem Gesicht zur Wand drücken. Seine Hand wanderte bereits in mein Höschen und umfasste meinen harten Schwanz. Ein Stöhnen entkam mir, versprach diese Berührung doch Erleichterung.
„Wo bist du gewesen?“, zischte eine Stimme leise in mein Ohr.
„Privat“, gab ich kurz angebunden zurück. Was interessierte es ihn, was ich in meiner Freizeit machte. Dennoch war ich überrascht, dass er nun mit mir sprach. „Hast du mich vermisst?“
„Würde ich sonst fragen?“, kam es heiser zurück. Er schien seine Stimme zu verstellen. Offenbar war er ziemlich paranoid. Ich ließ ihm diesen Tick und konzentrierte mich darauf, gleich genommen zu werden.
Ungeduldig legte ich meine Hände an die dünnen Striemen des Tangas, den ich noch von der Bühne trug, und wollte sie nach unten ziehen. Er hielt mich fest.
„Was hast du gemacht?“, wollte er wissen.
„Was interessiert es dich?“, fauchte ich.
„Du hast mich drei Tage lang um mein Vergnügen gebracht.“
„Sorry. Aber dafür kannst du mich gerne die nächsten Tage zweimal hintereinander vögeln“, erklärte ich mich bereit.
„Bist du krank gewesen?“
Ich versuchte, mich umzudrehen, um ihm in die Augen zu sehen. Doch er pinnte mich noch fester an die Wand, als er mein Vorhaben erkannte. „Ich hatte Privates zu erledigen. Reicht das?“, murrte ich.
„Wenn ich nur vorher gewusst hätte, was für ein verruchtes Stück Fickfleisch du bist“, keuchte er an meinem Ohr. „Du enttäuschst mich.“
„Wie bitte?“ Ich drehte den Kopf zur Seite und versuchte erneut, ihn anzusehen. „Ich arbeite hier als Kellner, der sich auch fürs gefickt werden bezahlen lässt. Das ist allseits bekannt. Wenn dich das jetzt überrascht, dann hättest du die Augen früher aufmachen sollen.“ Ich schnaufte säuerlich. Was sollte diese Predigt?
Er zerrte das metallische Nichts von meinem Hintern, nahm sich gerade mal so viel Zeit, sich ein Kondom überzustreifen, bevor er sich hart und mit wenig Gefühl in mir versenkte. Ich unterdrückte einen Schmerzenslaut und versuchte, mich zu entspannen. Was auch immer ihn plötzlich an mir gestört hatte, ich konnte es nicht nachvollziehen. Er war doch hier, um mich zu ficken, bezahlte mich regelmäßig, und nun regte er sich auf, dass ich für Geld den Arsch hinhielt? Was war das für ein kranker Typ?
Er vögelte mich unbarmherzig und brutal. Ich musste so manches Mal die Zähne zusammenbeißen. Als es schließlich zu heftig wurde, protestierte ich.
„He, du tust mir weh!“, schimpfte ich und wollte ihn von mir abwerfen. Er war stärker und rammelte mich förmlich gegen die Wand. Ich stieß mich ab, versuchte, zur Seite zu entwischen. Doch er hielt mich fest und nagelte mich mit weiteren brutalen Stößen gegen die Wand.
„Lass mich, du Arsch“, fauchte ich.
Eine Hand vergriff sich in meinem Haar und zog meinen Kopf in den Nacken.
Mit den letzten harten Stößen, die mich erstickt aufschreien ließen, ergoss er sich in mir. Mein Unterleib füllte sich mit warmer Flüssigkeit und einem prickelnden Pochen, das allerdings von der Kälte niedergewürgt wurde, die in mir aufkeimte.
„Du bist eine verdammte Schlampe“, keuchte er in mein Ohr.
„Da hast du recht“, stimmte ich ihm zu. „Solche Ärsche wie dich haben mich dazu gemacht.“
Endlich konnte ich ihn von mir stoßen. Hastig zerrte ich das Glitzerteil über meine Hüften und wirbelte herum. „Fick dich!“, spuckte ich ihm ins Gesicht. „Das war das letzte Mal, und steck dir dein scheiß Geld in deinen verdammten Arsch.“ Damit drehte ich mich weg und eilte davon. Ich hatte die Schnauze gestrichen voll und machte daher auch schon früher Schluss. Ich wollte nur noch in meine eigenen vier Wände, mich eine Stunde lang unter einen heißen Wasserstrahl stellen und anschließend mindestens dreißig Stunden lang schlafen. Der Kerl, der ein klein wenig Hoffnung in mir aufkommen ließ, hatte mich mit einem Schlag wieder in den Sumpf von Depressionen und Frust befördert.
Ab der nächsten Nacht ließ ich mich auf nichts mehr ein, als zu kellnern und auf der Bühne zu tanzen, wobei es mir schwerfiel, mich vor all den Kerlen lasziv zu bewegen. Ständig musste ich an den Maskenmann denken und stellte mir vor, wie er mich höhnisch auslachte und mich mit Schimpfworten und Beleidigungen überschüttete. Beinahe so wie die vier Kerle in dem Lieferwagen, nur dass sie ihre einschneidenden Bezeichnungen noch mit Messer und Rasierklingen einritzten. Das Wort „Bitch“ auf meinem Arsch brannte plötzlich wieder, obwohl die Wunden schon längst verheilt waren und nur noch Narben zu erkennen waren. Dennoch glaubte ich, es wie damals zu spüren. Am liebsten hätte ich es herausgeschnitten, mich mit einem Messer selbst so stark verletzt und an mir herumgekratzt, dass es nicht mehr zu lesen war. Doch genau dieses Wort liebten die Kerle an mir, verlangten, dass ich es ihnen ins Gesicht drückte, dass sie mit breiter Zunge drüberlecken konnten, und wollten es befühlen und betasten. Ich fühlte mich schmutzig und nichtsnutzig, dennoch machte ich Nacht für Nacht weiter und präsentierte auf der Bühne und beim Servieren meinen Body, ließ mich betatschen und begrapschen, aber nicht mehr. Einladungen in den Darkroom spülte ich demonstrativ im Klo runter. Ich wusste selbst, dass ich zu einer Schlampe mutiert war. Es mir aber ins Gesicht zu sagen, tat weh.
2H, wie ich ihn inzwischen nannte, lud mich regelmäßig in das Hinterzimmer ein. Noch bevor ich den Zettel identifizieren konnte, hatte ich ihn schon zerknittert und entsorgt. Ich ließ mich auf kein weiteres Stelldichein mehr ein, von niemandem mehr.
Eines Nachts, kurz bevor ich Feierabend machen wollte, brachte ich noch rasch den Müll in den Hinterhof. Diese Woche war ich dran, da ich die Frühschicht übernommen hatte, sprich bis sechs Uhr morgens arbeiten musste und als letzter auch den Dreck der Nacht inklusive Hunderte von gebrauchten Kondomen und Zigarettenkippen aus den Aschenbechern der Tische zu entsorgen hatte. David, mein Boss, befand sich noch in seinem Arbeitszimmer, zählte vermutlich die Einnahmen der Nacht. Ich hörte ihn mit jemandem reden. Was ich hörte, ließ mich sofort erstarren. Sie redeten über mich.
Mehrmals fiel mein Name. Deutlich hörte ich wie David ihn nannte und auch der Gesprächspartner ihn mehrmals aussprach. Leise schlich ich mich zur Tür. Sie stand einen Spaltbreit offen. Neugierig linste ich ins Innere und gefror beinahe zu Eis, als ich die Person erkannte, die mit meinem Boss sprach. Antonio.
Er wusste nun, wo ich mich aufhielt, wo ich arbeitete. Vermutlich wusste er auch, wo ich wohnte.
Ich musste hier weg. So schnell wie möglich.
Ich ließ den Müllbeutel fallen, wirbelte herum und eilte so schnell ich konnte nach Hause. Dabei vergaß ich sogar, abzustempeln. Ich würde die Nacht nicht bezahlt bekommen, wusste ich. Aber das war mir egal. Was nutzte mir das Geld, wenn mich Antonios Schläger erneut unter ihre Fittiche nahmen. Höchstwahrscheinlich machten sie diesmal keine halben Sachen mehr und prügelten mich ganz tot, anstatt nur beinahe. Viel hatte damals nicht gefehlt.
So schnell ich konnte, raffte ich meine Sachen zusammen und stopfte so viel in meine Taschen und Koffer, wie hineinging. Als ich damit die Wohnung verlassen wollte, klingelte mein Telefon.
Nein, für Mama war noch nicht die Zeit.
Nach einem Blick auf das Display stöhnte ich auf. Es war David, mein Boss. Kurz zögerte ich. Auch wenn wir nicht unbedingt die besten Freunde waren und allenfalls eine nüchterne Geschäftsbeziehung hegten, hatte er ein Recht darauf, zu erfahren, dass ich nicht mehr kommen würde. Also ging ich ran.
„Hey, Simon“, rief er sogleich. „Ich habe einen Spezialauftrag für dich. Interesse?“
„Nein“, bellte ich sofort. Ich konnte mir denken, wer ihn beauftragt hatte. Antonio, um mich erneut in einen Hinterhalt zu locken. „Ich muss weg“, keuchte ich atemlos. „Ich komm nicht wieder.“
„Warum?“, wollte er sogleich wissen. Seine Stimme klang besorgt und überrascht. Aber ich wusste, dass er mir nur etwas vorspielte.
„Privates“, erklärte ich kurz angebunden. „Es war schön bei dir. Aber jetzt muss ich gehen.“
„Wenn du Probleme hast, finden wir bestimmt eine Lösung“, sagte er verständig. „Du bist einer meiner besten Angestellten. Die Kunden mögen dich. Es wäre schade, dich gehen zu lassen.“
„Ich kann nicht“, presste ich hervor, schob meinen Koffer in das Treppenhaus und schloss die Tür ab.
„Ich hab einen Kunden, der dich exklusiv buchen möchte. Er würde auch ordentlich was springen lassen. Er sagte, ihr hättet euch schon im Darkroom getroffen.“
„Ich kann nicht“, wiederholte ich.
„Ich meine es ernst, Simon. Wenn du Probleme hast, gleich welcher Natur, ich kann dir helfen. Ich habe sehr hilfreiche Kontakte.“
„Ich kenne deine Kontakte“, blaffte ich bissig. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. „Aber genau deswegen kann ich nicht mehr bei dir arbeiten.“
„Hast du Schwierigkeiten mit dem Gesetz?“, wollte er wissen.
„Nein. Ich denke, du weißt genau, welche Schwierigkeiten ich habe. Frag einfach den Kerl, der bei dir im Büro war. Er weiß Bescheid.“ Ich schulterte meine Reisetasche. „Machs gut.“ Damit klickte ich das Gespräch weg, schob es in meine Hosentasche und eilte mit Koffer und Tasche auf die Straße zur nächsten Bushaltestelle.
Wenn Antonio in München war, wäre Hamburg eigentlich wieder ein sicheres Plätzchen, überlegte ich, während ich mit dem Bus zum Bahnhof fuhr. Am Schalter angekommen, entschied ich mich allerdings für eine Fahrkarte nach Berlin. So weit wie möglich weg von hier.
Während der Busfahrt und während ich auf den Zug warten musste, klingelte unentwegt mein Handy erneut. Ich ignorierte es, denn David rief mich alle paar Minuten an. Ich sollte es ausschalten, riet ich mir irgendwann entnervt. Doch dann würde ich vermutlich den Anruf meiner Mutter verpassen, die die verdammte Kavallerie losschicken würde, wenn ich nicht ans Telefon ging. Irgendwann war eine andere Nummer auf dem Display zu lesen.
Neugier befiel mich. Ich kannte sie nicht. Mein Finger schwebte einige Zeit über den Knopf mit dem grünen Annahmezeichen. Schließlich klickte ich sie weg. Wer auch immer das war, vermutlich einer der Kunden aus dem Gay-Klub, die meine Nummer von irgendjemanden ergattert hatten, es interessierte mich nicht.
Das Warten auf den Zug nach Berlin wurde immer zermürbender. Mit jeder Minute, die ich länger auf dem Bahnhof herumlungern musste, vergrößerte sich die Wahrscheinlichkeit, dass Antonio herausfand, wo ich zu finden war und mich erneut aufgriff. Ich drückte mich in eine geschützte Ecke des Bahnsteiges und ließ meinen Blick unentwegt über die Umgebung und die Menschen gleiten, die ebenfalls auf den Zug warteten. Ich wurde immer nervöser. Die Angst stieg in mir hoch, bis sich die Panik so stark in mir ausgebreitet hatte, dass ich bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Immer wieder klingelte mein Handy. David schien es aufgegeben zu haben. Stattdessen rief ständig der unbekannte Anrufer an.
Irgendwann erwischte ich statt der roten Taste aus Versehen die grüne und hatte den Anrufer am Apparat.
„Simon!“, hörte ich sogleich meinen Namen rufen, bevor ich endlich doch den roten Knopf erwischte. Es war dieselbe Stimme, wie die in Davids Büro. Dieselbe Stimme, die mich früher um den Verstand gebracht und mich lächelnd Piccolino genannt hatte.
Scheiße, er hatte meine Handynummer. David musste sie ihm gegeben haben.
Antonio rief erneut an. Hartnäckig versuchte er es immer wieder, bis ich entnervt doch annahm und ins Telefon schrie. „Lass mich in Ruhe, du verdammtes Arschloch!“
„Simon! Bitte. Lass uns reden.“
„Steck dir das sonst wo hin!“ Ich legte auf und blickte nervös auf die Uhr. Noch über dreißig Minuten, ehe der Zug eintraf.
Erneut klingelte mein Telefon. Entgegen meiner Vernunft nahm ich das Gespräch entgegen. „Ich hab die Lektion gelernt und ich werde dich nicht weiter belästigen“, bellte ich ins Telefon, noch bevor sich der Anrufer melden konnte. „Deswegen werde ich weit wegfahren.“
„Wo bist du? Lass uns reden.“
„Fick dich!“, zischte ich und klickte das Gespräch erneut weg.
Verdammt, warum hatte ich auch sagen müssen, dass ich wegfahre. Die Hintergrundgeräusche würden ihn bestimmt zu mir führen. Mit einem leisen Fluch schaltete ich endlich das Handy ab und steckte es in meine Hosentasche. Wegwerfen und mir ein neues kaufen konnte ich nicht. Dafür hatte ich nicht genug Geld. Das Geld auf meinem Konto konnte ich vergessen. Das würde Antonio bestimmt überwachen lassen. Irgendwann, wenn ich in Berlin angekommen war, musste ich meine Mutter anrufen und sie um Geld bitten, damit ich dort ein neues Leben beginnen konnte.
Noch fünfundzwanzig Minuten. Als auf der Anzeigetafel eine Meldung erschien, dass sich die Verbindung nach Berlin zehn Minuten verspätete, wäre ich beinahe heulend zusammengesunken.
Sich mit einem Mafioso einzulassen war schlecht für die Gesundheit. Dies hatte ich bereits am eigenen Leib erfahren müssen. Aber mein Herz schlug diese Warnung in den Wind und tobte heftig, als ich plötzlich daran denken musste, wie er mich angelächelt hatte. Piccolino, war sein Kosewort für mich gewesen. Bevor er wusste, was ich von ihm wollte. Bevor er seine Schläger auf mich gehetzt hatte, und bevor er mein Leben unter seinen glänzenden Pradas platt trat.
Noch zwanzig Minuten, inklusive Verzögerung.
Die Minuten verstrichen quälend langsam. Ich drückte mich immer tiefer in die Ecke zwischen Ticketautomat und Anzeigetafel und hoffe inständig, dass der Zug früher eintraf als Antonio. Zu meinem Leidwesen entdeckte ich ihn schließlich am Ende des Bahnsteiges. Suchend glitt sein Blick über die Leute. Er suchte mich. Definitiv.
Tränen stiegen mir in die Augen. Er war allein, aber ich war davon überzeugt, dass seine Schläger nicht lange auf sich warten lassen würden. Vermutlich suchten sie nur einen Parkplatz für ihren verfickten Kastenwagen, in den sie mich wieder verschleppten und solange verprügeln würden, bis ich diesmal wirklich den Löffel abgab.
Antonio sah in seinem dunkelgrauen Maßanzug so umwerfend gut aus. Stets gut frisiert und nur die teuersten Klamotten am Leib, wahrscheinlich von einem Leibschneider, den er von dem Blutgeld bezahlte, das er bei seinen Betrügereien und illegalen Geschäften verdiente. Mir wurde schlecht, als er auf den Bahnsteig trat, in welchem ich mich verschanzte. Ich drückte mich tiefer in die Ecke und hoffte inständig, dass er mich übersah. Mein Herz klopfte wie verrückt.
Er kam immer näher. Nur noch zehn Minuten, bis der Zug eintraf.
Dann entdeckte er mich. Sein Gesicht hellte sich auf. Ich sank kraftlos zu Boden, als er zu mir eilte. Ich zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, saß in meiner Ecke in der Falle.
„Bitte“, flehte ich daher. „Lass mich in Ruhe.“
Antonio ging vor mir in die Hocke und hob mein Kinn an. Ich versteifte mich, widerstand der Versuchung, mein Kinn zu entreißen. Die Angst lähmte mich, ließ mich erstarren.
„Lass mich gehen“, flehte ich. Tränen rannen über mein Gesicht. „Ich werde auch versuchen, dir nie wieder über den Weg zu laufen.“
„Ich war das nicht“, erklärte er ruhig. Ein mildes Lächeln huschte um seine Mundwinkel. „Ich wusste schon immer, dass ich nicht für ein Leben an der Seite einer Frau geschaffen war“, fuhr er fort. „Der Familienehre zuliebe ging ich jedoch darauf ein. Aber ich war unzufrieden und jähzornig. Bis zu dem Moment, als ich auf dich traf. Ich brauchte lange, um zu begreifen, dass ich mich selbst vergiftete, indem ich so tat, als wäre ich nicht schwul. Als ich dies begriff, wollte ich damit Schluss machen. Ich trennte mich von meiner Frau, wollte alles hinter mir lassen, ein neues Leben beginnen, mit dir, mit meinem Piccolino … wenn du mich wolltest. Aber dann bist du auf einmal verschwunden. Niemand wusste, wo du bist. Erst später erfuhr ich, dass meine Frau ein paar Männer engagiert hatte, um dir eine Lektion zu erteilen. Ich wusste das nicht und ich hatte nichts damit zu tun. Ich habe sämtliche Krankenhäuser abgeklappert, aber dich nicht gefunden. Ich habe dich gesucht, weil ich dich einfach nicht vergessen konnte. Per Zufall entdeckte ich dich schließlich in Davids Klub. Ich war entsetzt, dich dort zu sehen. Ich war abgrundtief enttäuscht von dir. Niemals hätte ich gedacht, dass du dich jemals prostituieren würdest.“
Ich hörte ihm einfach nur zu, unfähig etwas zu sagen oder auch nur zu denken. Mein Kopf war wie leer. Ich konnte das, was er mir sagte nicht verarbeiten, geschweige denn begreifen.
„Du hast dich mehrere Wochen lang von mir ficken lassen“, sagte er mit einem enttäuschten Tonfall. „Ich bin der Kerl mit der Maske“, gestand er schließlich. „Ich war so sauer auf dich. Ich wollte dir wehtun. Es hat mich verletzt, dich so zu sehen. Du bist ein anständiger Junge gewesen.“
„Du bist ein Mafioso.“
„So in etwa“, erwiderte er ausweichend. „Ich habe dich auch vor mir gewarnt, aber du hast trotzdem nicht locker gelassen. Das hat mich beeindruckt.“
„Du bist ein Mafioso“, wiederholte ich entgeistert.
„Man kann sich seine Familie nicht aussuchen“, gab Antonio zerknirscht von sich. „Aber die Leute, mit denen man sich umgeben möchte. Ich bin nicht unbedingt stolz auf einige Dinge, die ich getan habe. Aber eines hätte ich niemals getan: Dir wehzutun. Du hast mich vom ersten Moment an eingenommen. Deinetwegen habe ich mit meiner Vergangenheit gebrochen und hier in München ein neues Leben begonnen. Meine Familie war nicht gerade begeistert über meine Entscheidung, aber da sie keinen schwulen Sohn in ihren Reihen haben wollten, ließen sie mich ziehen. Meine Frau hat bitter dafür büßen müssen, für das, was sie dir angetan hat. Sie sitzt jetzt allein in einer einsamen Berghütte in Sizilien und es ist mir scheißegal, was sie da treibt. Für mich zählst nur noch du.“ Das Lächeln wurde breiter. Auf der Anzeigetafel über dem Bahnsteig wurde das baldige Eintreffen des Zuges mitgeteilt.
„Es tut mir so leid, was du meinetwegen durchmachen musstest“, sagte er sanft. „Ich wollte mich zu dir bekennen, stand kurz davor, auf deine Avancen einzugehen. Dein Lächeln hat mir gefallen. Ich habe es vermisst. Auch deine Stimme und dein gut gelauntes „Stets zu Diensten“, mit dem du dich an meinen Tisch gesellt hast, das mir immer wieder aufs Neue die Hitze in den Schoß schießen ließ. Ich habe nur wegen dir angefangen, regelmäßig Cappuccino zu trinken.“
Mein Herz klopfte so rasend schnell in meiner Brust, dass mir schwindelig wurde. Ich biss mir auf die Lippen, wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte.
„Bleib hier!“, bat mich Antonio. „Ich möchte alles wieder gut machen. Ich möchte mit dir zusammen sein und dich wieder so lachen hören wie früher.“
Endlich schaffte ich es, mein Kinn zu entreißen. Ich senkte den Kopf. Noch immer rannen die Tränen über mein Gesicht. Ich ließ sie einfach laufen.
„Das ist vorbei“, schluchzte ich.
„Es ist nie vorbei“, gab er entschlossen von sich. „Ich weiß, dass mein Lebenswandel nicht gerade vorbildlich ist und dass ich manchmal nicht nett zu dir war. Früher ebenso wie erst neulich im Darkroom. An manchen Tagen kann ich wirklich unausstehlich sein. Aber es ist schon besser geworden. Ich bin zuversichtlich, wenn du bei mir bist und mich daran erinnerst, werde ich das noch besser in den Griff bekommen.“
Ich hob den Kopf an und suchte seinen Blick.
„Ich meine es ernst, Simon“, bekräftigte Antonio aufrichtig. Sein Blick war dabei todernst und schien keinen Widerspruch zu dulden. „Ich brauche dich. Ich habe dich seit fast zwei Jahren gesucht, beinahe jede Nacht von dir geträumt. Als ich dich in dem Klub sah, dachte ich, meine Gebete wurden endlich erhört. Als ich dann erfuhr, dass du …“ Er verstummte und ließ einen Moment den Kopf hängen. Mit einem Seufzen hob er ihn wieder an und blickte mir tief in die Augen. „Bitte bleib hier, bei mir.“
„Du lässt mir doch keine andere Wahl“, keifte ich. „Jetzt wo du mich wieder hast, wirst du mich einsperren und …“
„Nein, würde ich nicht“, stieß er entrüstet hervor. Er richtete sich auf und machte einen Schritt rückwärts. „Ich halte dich nicht auf, wenn du gehen möchtest. Meinetwegen hast du Schreckliches durchlebt. Das kann ich nicht rückgängig machen. Wenn du gehen willst, dann lasse ich dich ziehen.“
Der Zug fuhr in diesem Moment ein. Antonio biss sich hart auf die Lippen, als ich mich ebenfalls aufrichtete mein Gepäck in die Hand nahm und mich zur Seite schob, um an ihm vorbeizukommen. Er hielt mich tatsächlich nicht auf, als ich einstieg. Er drehte sich nicht einmal um, sondern blieb dort stehen, stocksteif, als wäre er an Ort und Stelle festgefroren.
Mein Herz klopfte noch immer wie wild, als ich mich auf einen Sitzplatz fallen ließ. Draußen stand noch immer Antonio in seinem dunkelgrauen Maßanzug, die Hände an die Seiten seiner Schenkel gepresst, den Kopf leicht gesenkt. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Es tat mir so unendlich weh, ihn so leiden zu sehen. Andererseits hatte er mir das Leben zur Hölle gemacht. Zwei Jahre lang durchlitt ich Albträume, Panikattacken und Depressionen. Zwei Jahre lang hasste ich mich, dafür, dass ich mich in einen Kerl verknallt hatte, der nicht gut für mich war. Wegen ihm hatte ich Dinge getan, die ich früher nicht einmal im Traum erwogen hatte. Seinetwegen hatte ich meinen Körper verkauft, ihn von zahlungskräftigen Männern benutzen und aufbrauchen lassen.
Ich sah, wie Antonio zusammenzuckte, als die Bahnbediensteten das Signal gaben, dass alles frei für die Abfahrt war. Einem Impuls folgend, raffte ich mein Gepäck zusammen und stürzte gerade noch im letzten Moment aus dem Zug. Als ich neben Antonio stehen blieb und meinen Koffer abstellte, drehte er sich langsam zu mir um. Der Zug fuhr ohne mich nach Berlin.
„Bist du dir sicher?“, wollte er wissen. Sein Gesicht war versteinert.
Ich nickte langsam. „Absolut“, unterstrich ich noch einmal. „Mich hat 2H auch beeindruckt. Ich würde ihm gerne jederzeit wieder den Arsch hinhalten.“
Er sah mich fragend an „2H?“ Dann schien er zu begreifen. Seine Miene hellte sich auf. „2H möchte aber nicht, dass du ihm nur den Arsch hinhältst, er will mehr von dir. Er will wissen, wer sich hinter dem „Bitch“ verbirgt, das auf deinem Hintern steht.“
„Frag die Typen, die mich in den Kastenwagen verfrachtet und vermöbelt haben“, gab ich zerknirscht von mir. „Das bin ich nicht. Ich bin keine Bitch.“
„Es tut mir so leid“, kam es betrübt von ihm. „Ich wollte mit dem kleinen Kellner wirklich zusammensein. Ich war bereit mit allem zu brechen, nur wegen Piccolino. Dabei war ich mir nicht sicher, ob du mich überhaupt wolltest. Ich hatte dir keinerlei Hoffnung gemacht, dich ständig von mir gestoßen und dich mehr als einmal gewarnt, dich von mir fernzuhalten. Ich hoffte jedoch, dass dein Lächeln und das Strahlen in deinen Augen das bedeutete, das ich darunter verstand.“
„Das war es“, erwiderte ich mit einem Nicken. Ich war plötzlich ganz ruhig. Sämtliche Angst und Unruhe war von mir gefallen. Vor mir stand Antonio und sah mich so flehend an, dass mir die Knie erneut weich wurden.
„Ich bin kein Mafioso mehr“, berichtete er. „Zumindest bin ich nicht mehr für die Familie tätig. Ich habe mich hier in München und einigen anderen Städten an Nachtklubs beteiligt, wie dem von David.“ Er sah mich an, musterte mich von oben bis zu den Schuhen. „Du sahst in dem kleinen Glitzerhöschen wirklich zum Anbeißen aus.“
„Warum hast du dein Gesicht hinter einer Maske verborgen?“, wollte ich wissen. Es gab zahlreiche Gäste, die ihr Gesicht nicht offenbaren wollten. Dies war nicht ungewöhnlich. Mich interessierte, warum er es vor mir verbarg.
„Ich kann nicht abends in der schwulen Partywelt Gast sein und am nächsten Tag den seriösen Geschäftsmann geben, der Leuten Geld für Investitionsprojekte aus der Tasche ziehen will. Da laufen etliche Männer herum, die ich später am Konferenztisch wiederfinde. Sollten wir uns erkennen und feststellen, dass wir ein paar Stunden zuvor gefickt haben, wirkt sich das etwas negativ auf Verhandlungen aus.“
„Warum hast du es vor mir verborgen?“, präzisierte ich.
Antonio seufzte tief, näherte sich mir und legte eine Hand unter mein Kinn, um es anzuheben und mir direkt in die Augen zu sehen. „Vielleicht, weil ich mich dafür schämte, was dir passiert ist.“
„Du hast gesagt, dass du es nicht gewesen bist.“
„Stimmt auch. Dennoch fühle ich mich schuldig dafür. Ich hab ihr gesagt, dass ich meinem Herz folgen werde und dass ich sie wegen eines jungen Mannes verlasse. Das konnte sie nicht auf sich halten. Sie hat getobt und unsere halbe Wohnungseinrichtung zertrümmert. Ich hätte wissen müssen, dass sie etwas plant.“
„Woher wusste sie von mir?“
„Ich war so dumm, es ihr zu erzählen.“ Er beugte sich näher, lehnte seine Stirn an meine und seufzte leise. Seine Hand löste sich von meinem Kinn und legte sich an meinem Hinterkopf, um dort sanft den Nacken zu kraulen. Es war eine so schöne Berührung, dass ich unwillkürlich seufzen musste und für einen Moment die Augen schloss. Warme Ströme gingen von der Berührung aus, ließen das Blut unter meine Gürtellinie sacken und meine Knie weich werden. Stünden wir nicht auf einem Bahnsteig, hätte ich mich freiwillig flachgelegt.
„Komm mit mir“, bat er mich sanft. Abrupt löste er sich von mir und schnappte sich meinen Koffer.
„Ich werde nicht bei dir einziehen“, stellte ich klar.
„Hab ich auch nicht verlangt. Ich möchte nur gerne etwas mit dir allein sein.“ Er nahm meine Hand und führte mich aus dem Bahnhof heraus, auf den Parkplatz, wo ihn ein schwarzer Benz mit einem kurzen Aufleuchten der Blinklichter begrüßte. Antonio verstaute den Koffer und meine Tasche im Kofferraum, ehe er mir die Beifahrertür aufhielt und mich einsteigen ließ.
Mir war absolut nicht wohl bei der Sache. Ich fühlte mich wie beim Gang zum Schafott. Am Ende dieser Reise würde vermutlich der Tod auf mich lauern und mich nach einer langen Leidensphase in Empfang nehmen. Dennoch stieg ich ein und schnallte mich an. Die Ledersitze gaben knirschende Geräusche von sich, als wir uns darauf niederließen. Ich biss die Zähne zusammen, versuchte, mein wild klopfendes Herz zu beruhigen und mit meinem Leben abzuschließen.
Antonio schien genauso nervös zu sein wie ich. Seine Hände zitterten, als er den schnurrenden Wagen durch den Verkehr lenkte. Immer wieder fuhr er sich durch die akkurat getrimmte Frisur, zerstörte systematisch die Arbeit seines Coiffeurs. Sein Kinn schob sich wiederholt leicht nach vor. Hin und wieder warf er einen Blick zu seinem Beifahrer, um sich offenbar zu vergewissern, ob da wirklich jemand saß.
Ich war nicht fähig, das bleischwere Schweigen, das uns beide niederdrückte zu zerstören. Wenn ich versucht hätte, es mit einem Gespräch aufzulocken, hätte ich vermutlich nur unzusammenhängend gestottert oder nur ein Krächzen von mir geben können. Ich hatte Angst. Eine Scheißangst. Todesangst. Dennoch nutzte ich die Gelegenheiten nicht, die sich mir boten, wenn er an roten Ampeln anhalten musste, aus dem Wagen zu springen und davonzulaufen. Ich blieb sitzen und ließ mich durch München kutschieren. Meinem Untergang entgegen.
„Ich bin kein Mafioso“, brach er irgendwann das Schweigen, das mittlerweile so schwer geworden war, dass ich im Sitz nach unten gerutscht war.
Ich fuhr zusammen, drehte überrascht den Kopf zu ihm und sah ihn trotzig an. „Ihr macht krumme Geschäfte, habt die Finger im Drogengeschäft und anderem.“
„Stimmt schon“, gab Antonio zu. „Aber wir gehören nicht zur ehrenwerten Familie. Außerdem habe ich jetzt damit aufgehört. Das eine oder andere Geschäft, das ich jetzt am Laufen habe, ist vielleicht nicht ganz legal und beansprucht die Winkelgriffe der deutschen Gesetze, aber ich versichere dir, dass mit meiner Steuererklärung alles stimmt.“ Ein flüchtiger Seitenblick traf mich. Er musste jedoch sogleich wieder zum Verkehr zurückkehren, da sich unerwartet ein Stau bildete. Mit einem hörbaren Schnaufen lenkte er den Wagen auf die andere Spur und fuhr sich ein weiteres Mal durch die Frisur. „Ist dir damit leichter?“, wollte er wissen, als der Verkehr wieder etwas flüssiger ging. „Du bist arg verspannt.“
„Ich weiß nicht, was mich erwartet.“
„Was glaubst du denn, was dich erwartet?“, wollte er wissen.
Ich konnte nur mit den Schultern zucken.
„Ich wollte nicht, dass dies alles passiert“, sagte er. Seine Finger umfassten das Lenkrad fester, sodass die Knöchel weiß hervortraten. „Deswegen habe ich dich gewarnt. Aber dass ausgerechnet meine Frau …“ Er verstummte und räusperte sich leise. „Das habe ich wirklich nicht erwartet. Sie wusste, dass ich schwul bin. Es war eine Zweckehe. Sie brauchte ein Sprungbrett zur ausgesorgten Zukunft und ich ein Alibi. Sie hatte oft mehr Liebhaber in ihrem Bett liegen, als ich in einer Nacht vögeln konnte. Ich habe nie mit ihr geschlafen.“
„Das ist eine Lüge“, hielt ich ihm bissig vor. „Du hast zwei Kinder.“
Ein Lächeln huschte um seine Mundwinkel. „Schon mal etwas von künstlicher Befruchtung gehört?“ Er lachte kurz humorlos auf. „Sie weigerte sich, die Kinder auf natürlichem Wege zu empfangen, weil sie sich vor meinem Schwanz ekelte. Schließlich war er schon in zahlreichen dreckigen Hintern verschwunden. Dabei vögle ich niemals ohne Kondom. Aber mir war das auch recht. Ich habe mich vor ihr geekelt, weil ich wusste, dass in ihrer Möse mindestens genauso viele Kerle drin waren. Und um den Zweck einer Ehe erfüllen zu können, hätte ich sie ohne Präservativ begatten müssen.“ Er schüttelte angewidert den Kopf. „Sie hatte alle Freiheiten, konnte sich kaufen, was sie wollte, ging mit allen möglichen wichtigen Leuten auf Opernbällen und konnte jeden Tag in New York shoppen gehen. Das war es, was sie wollte. Als ich sagte, dass ich sie wegen dir verlassen würde, ist sie durchgedreht. Wenn sie nicht so etwas unsagbar Dummes getan hätte, hätte ich mich dazu überreden lassen können, sie bis an ihr Lebensende weiterhin im Luxus schwelgen zu lassen. Jetzt ist sie wieder da, wo sie herkam.“
Ich schluckte hart.
„Hast du es meinetwegen getan?“, fragte er unvermittelt. „Hast du dich meinetwegen prostituiert?“
Ich konnte nur nicken und ließ den Kopf hängen. Meine Hände zitterten mindestens genauso stark wie seine, die sich am Lenkrad festhalten mussten.
„Als Therapie, um das Erlebnis zu verarbeiten oder um mich zu vergessen?“
„Beides“, erwiderte ich. „Ich habe noch immer Albträume davon. Jede Nacht. Ich kann kaum schlafen. Ich wollte mich aufreiben lassen und irgendwann an irgendwas krepieren. Ich hasste mich, dich, meinen Körper … alle.“
Eine Hand löste sich vom Lenkrad und legte sich auf meinen Schenkel. Ich fuhr sichtlich zusammen und verkrampfte mich. Antonio ließ sie dennoch liegen, ohne sie zu bewegen und begann erst, sanft mit den Fingern über meinen Schenkel zu streicheln, als ich mich wieder entspannte.
„Ich hoffe, dass du das irgendwann überstehen kannst. Ich werde dir dabei helfen“, versprach er. Seine Hand verharrte. Die Finger blieben an der Innenseite meines Schenkels liegen. „Die ganze Zeit bedauerte ich es, dir niemals gesagt zu haben, wie wundervoll du eigentlich bist. Als ich dich da oben auf der Bühne sah, hätte ich dich am liebsten heruntergezogen. Du sahst in diesem knappen Outfit unglaublich sexy aus. Zeitgleich war ich so sauer auf dich. Ich kann auch nicht genau definieren, warum. Es hat wehgetan, dich so zu sehen.“
„Was dich nicht davon abgehalten hatte, mich wie alle anderen namens- und gesichtslosen Freier zu vögeln.“
„Ich hatte nicht das Recht, sauer auf dich zu sein. Ich sollte sauer auf mich sein, weil ich es …“ Er verstummte abrupt, biss sich auf die Lippe und drückte meinen Schenkel für einen Moment fester. Ich zuckte leicht zusammen. Seine Hand war mir unangenehm und willkommen gleichermaßen. Zum einen zeugte sie von Besitz. Er wollte mich besitzen, sein Revier damit kennzeichnen. Zum anderen war die Berührung warm und ging mir durch und durch. Seine Hand strahlte eine Hitze aus, die mein Blut um Kochen und meine Nervenenden zum Vibrieren brachte. Mir wurde immer heißer. Schweiß stand mir bald auf der Stirn und meine Atmung beschleunigte sich.
„Weil du was?“, hakte ich nach. Meine Stimme klang rau. Ich schluckte rasch und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das in mir hochkam.
„Es tut mir so leid, was dir passiert ist. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.“
„Du klingst nicht nach einem skrupellosen Mafioso“, entkam es mir spontan.
Erst drehte Antonio den Kopf zu mir, um mich rasch anzusehen, dann widmete er sich wieder dem Straßenverkehr und lachte herzhaft auf. Erneut drückte seine Hand kurz fester meinen Schenkel, musste sie jedoch wegnehmen, als er an einer Ampel anhalten und den Gang rausnehmen musste.
„Ich bin kein Mafioso, nicht einmal annähernd mit ihnen verwandt“, erklärte er amüsiert. „Obwohl meine Familie Geschäfte mit ihnen macht. Skrupellos bin ich schon gleich gar nicht. Ich hatte zwar keinerlei Skrupel meine Frau ohne alles in der armseligen Hütte ihrer Eltern aussetzen zu lassen, doch das ist in den Augen eines richtigen Mafioso wahrscheinlich absolut kindisch.“ Er lachte erneut auf. Dann wurde er ernst und wagte einen erneuten Seitenblick. Sie standen an einer roten Ampel. Seine Hand wanderte wieder zu meinem Schenkel.
„Piccolino“, sagte er sanft. „Ich weiß, ich bin kein Musterliebhaber und manchmal kann ich aufbrausend und jähzornig werden. Aber alles, was ich wollte, seit ich dich das erste Mal gesehen habe, bist du gewesen. Ich habe dich von mir gestoßen, weil die Umstände nicht günstig waren. Homosexualität ist in meinen Kreisen nicht gern gesehen. Meine Familie wusste davon, legte jedoch großen Wert darauf, dass ich es nicht nach außen trage. Ich führte ein verlogenes Leben, das mir erst bewusst wurde, als ich dich sah. Gerne hätte ich dich verführt, dich geküsst, dich umgarnt, doch dein Leben war mir wichtiger, als meines. Jetzt bin ich frei und kann endlich die Dinge tun, die ich schon lange tun wollte. Du hast Angst vor mir. Das ist verständlich, nachdem was dir geschehen ist. Aber ich werde alles tun, um dein Vertrauen zu erlangen. Ich will dich. Ich begehre dich. In meinem Leben habe ich noch keinen einzigen Mann so sehr gewollt wie dich. Du hast mich vom ersten Augenblick an für dich eingenommen. Ich lag oft viele Nächte lang wach, weil ich mich nach deiner Stimme, deinem Blick oder deinem „Stets zu Diensten“ gesehnt habe. Ich weiß nicht, ob du das nachvollziehen kannst, aber …“ Er verstummte erneut, als es hinter uns hupte. Er zischte einen Fluch, legte den ersten Gang ein und fuhr los.
„Ich kann es nachvollziehen“, entgegnete ich gerührt und legte eine Hand auf die Stelle meines Schenkels, die er zuvor mit seiner Hand erwärmt hatte. Mir war während seiner Rede entsetzlich heiß geworden. Schweiß lief kalt und unangenehm in meinen Kragen. Ich erschauderte.
Antonios Hand kehrte zurück, legte sich auf meine und verschränkte sich mit meinen Fingern. Es war eine wundervolle Geste, nach der ich mich seit unserer ersten Begegnung gesehnt hatte. Ich schloss kurz die Augen und unterdrückte die Tränen, die mir in die Augen schossen.
„Es wird alles gut“, versuchte er, mich zu trösten. „Dir wird niemand mehr wehtun“, versprach er. „Dafür sorge ich. Versprochen.“
Die Tränen drängten stärker nach außen. Ich musste meinen Kiefer fest zusammenbeißen, um nicht loszuheulen.
„Du stehst ab sofort unter meinem persönlichen Schutz“, ergänzte er und drückte meine Hand fester. „Heiliges Mafiaehrenwort.“
Mein Brustkorb begann zu beben. Ich konnte die Tränenflut kaum noch zurückhalten. Ich schluckte und keuchte, doch sie war stärker als ich.
Antonio lenkte den Wagen in einem waghalsigen Manöver an den Straßenrand und parkte den Benz auf einem unbefestigten Seitenstreifen. Kaum, dass er den Motor abgestellt hatte, drehte er sich mir zu, zog mich an seine Schulter und drückte mich an sich.
„Piccolino“, kam es liebevoll von ihm. Seine Hand vergrub sich in meinem Haar und kraulte den Hinterkopf, währen die andere über meinen Rücken und den Armen streichelte. Ich presste meine Stirn an seine Brust und heulte wie ein Schlosshund. Es brach alles aus mir heraus. All die Jahre, die ganzen Erinnerungen, die Albträume, die Schmerzen, die Qualen … alles wurde wieder lebendig und schien mich erneut überwältigen zu wollen. Ich krallte mich an ihm fest. Er war für mich in diesem Moment ein Rettungsring, der mir in einer stürmischen See zugeworfen wurde, an dem ich mich festhalten und aus diesem ganzen Sumpf herausziehen lassen konnte. Ich flennte seinen sündhaft teuren Anzug voll, was ihn aber genauso wenig störte, wie mich. Mir blieb gar kein Sinn hierfür übrig. Die Tränen schossen aus mir heraus. Ich konnte sie weder aufhalten noch eindämmen. Es war, als ob endlich eine Schleuse gebrochen war, worauf der lange angestaute See nun haltlos auslief. Ich konnte nicht mehr aufhören.
Antonio streichelte unentwegt über meinen Hinterkopf, kraulte meinen Nacken, streichelte über meinen Rücken und meine Arme und hielt mich einfach fest, solange ich ihn brauchte. Er war nicht mehr der Kerl, der mein Leben zerstört hatte, sondern jemand, der es wieder aufbauen konnte.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort standen, während der Verkehr an uns vorbeibrauste. Hin und wieder hupte jemand, da der Benz offensichtlich im Weg stand. Irgendwann versiegte die Tränenflut einfach. Sie hörten auf, obwohl ich mich noch immer an ihn klammerte, wie an eine Rettungsinsel. Antonio löste sich leicht von mir, hob mein Kinn an und wischte behutsam mit seinem Daumen über mein nasses Kinn. Dann beugte er sich vor und küsste mich zärtlich auf den Mund. Ich schloss die Augen vor Rührung. Es war nur eine einfache Berührung seiner Lippen, keine Zunge, nicht mit geöffnetem Mund. Dennoch gab mir dieser Kuss so viel, dass ich beinahe unter ihm zusammengebrochen wäre.
„Geht es wieder?“, fragte er leise.
Ich nickte, noch immer mit geschlossenen Augen.
„Ich fahre jetzt weiter“, klärte er mich auf. Er ließ mich los, drehte sich um, ließ den Motor an und fädelte in den Verkehr ein.
Ich war zu aufgelöst, um zu antworten oder zu reagieren. Kraftlos und erschöpft von meinem Heulanfall sank ich in dem Sitz zusammen und sehnte dem Kuss nach. Antonio hielt jedoch nicht noch einmal an, sondern fuhr zu einem Haus, das seinem Auto und seinem Anzug mehr als gerecht wurde. Ein Bungalow mit viel Glas, einer riesigen Grünfläche außen rum und einem weiteren blank poliertem Sprit- und Versicherungsbeitragsfresser in knallrot vor der Tür. Es interessierte mich jedoch nicht im Geringsten, mit welchem Luxus sich Antonio umgab. Es hatte mich noch nie interessiert. Der Kerl hinter dieser geschniegelten Fassade war für mich das einzige, dass für mich zählte.
Er hielt den Wagen an, schaltete den Motor ab und drehte sich erneut zu mir. „Kommst du mit rein?“, bat er mich und legte ein weiteres Mal seine Hand auf meinen Schenkel. „Dann können wir in Ruhe weiterreden.“
Ich schluckte den Rest an Beklemmung und Rührung herunter und begegnete seinem Blick. „Ich will nicht reden“, gab ich beinahe trotzig von mir.
„Was willst du dann?“, wollte er wissen.
„Dich“, erwiderte ich und intensivierte den Blick.
Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Kannst du haben.“
Antonio drehte sich um und stieg aus. Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass ich ebenfalls auszusteigen hatte. Noch bevor ich den Türgriff in die Hand nahm, ging die Beifahrertür auf und er öffnete sie mir ganz gentlemanlike. Er reichte mir sogar die Hand zum Aussteigen und half mir heraus. Als er sie erst einmal in der Hand hatte, nahm er sie fester, warf die Tür zu und zog mich hinter sich her zum Haus. Schnell tippte er einen Code auf einer Ziffertafel neben der Eingangtür ein, drückte seinen Daumen auf eine winzige Glasfläche und lächelte mir zu, als die Haustür aufging. Ich hatte absichtlich den Blick abgewandt, weil ich den Code nicht sehen wollte. Es war wie bei einer PIN. Es ging mich einfach nichts an.
Antonio zog mich ins Innere und pinnte mich gleich neben der Haustür mit dem Rücken an die Wand. Ein erschrockener Laut entkam mir, den er sogleich mit einem weiteren Kuss erstickte. Ein Kuss, der sich von dem ersten bei Weitem unterschied. Er war viel leidenschaftlicher, viel verlangender und wilder, auch wenn er dabei auf das Erobern meines Mundes verzichtete, aber er versprach deutlich, dass da noch mehr kam.
„Trägst du dein sexy Tanzoutfit unter deinen Sachen?“, fragte er atemlos vor Erregung.
Ich schüttelte den Kopf. Bevor ich Hals über Kopf aus dem Klub gestürzt war, hatte ich nur rasch meine Jeans und meinen Pullover über den knappen Kellnerdress geworfen.
„Das Servierhöschen?“, erriet er.
Diesmal nickte ich.
Ein Knurren entkam Antonio. Seine Hände stahlen sich unter meinen Pullover, nahmen meinen Bauch und meine Brust in Besitz, berührten kurz die Nippel, worauf mir ein leises Seufzen entkam und ich meinen Rücken durchbiegen musste, da mir diese Berührung die Lust direkt in meine Leibesmitte schießen ließ. Mit einem Ruck riss er den Pullover hoch und über meinen Kopf und besänftigte die Tat mit einem weiteren Kuss, den er jedoch rasch wieder löste und vor mir in die Knie ging. Seine Finger zitterten, als er meine Hose öffnete, sie mir über die Hüften zog und mein Bein leicht anwinkelte, damit er sie von mir streifen konnte. Ich half ihm bereitwillig, ließ mir Hose und Schuhe ausziehen und stand nun im Latexhöschen vor ihm. Selbst die Fliege trug ich noch.
Antonio musterte mich von unten herauf. Der Anblick schien ihn unheimlich anzumachen. Man konnte direkt sehen, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Sein Kehlkopf hüpfte einmal auf und ab, während seine Augen jede Kleinigkeit an mir einscannte und zum Abspeichern einsandte.
„Du siehst so unheimlich scharf aus in diesen Sachen“, gab er kehlig von sich.
„Ich bin voller Narben“, entkam mir. Sein Blick war anders, als die der Männer in dem Klub, obwohl er nicht weniger lüstern war. Von Antonio so angesehen zu werden, beschämte mich. Ich fühlte mich auf einmal nackt und verletzlich.
„Welche Narben?“, erkundigte er sich. Sein Tonfall verriet, dass er nicht wirklich eine Antwort erwartete. „Du bist so wunderschön, bringst mich um den Verstand.“
„Sieh genauer hin“, verlangte ich. Erneut stiegen Tränen in meine Augen.
Antonio erhob sich, lehnte sich an mich und küsste mich ein weiteres Mal mit geschlossenem Mund. Seine Hände streichelten sanft an meinen Armen entlang. Dann verschränkte er seine Finger in meinen, hob meine Hände über den Kopf und drückte sie an die Wand.
„Ich habe jeden Abend ganz genau hingesehen“, raunte er so leise, dass man es kaum verstehen konnte. „Jedes verdammte kleine Detail habe ich mir eingeprägt. Die Grübchen an deinem Steiß. Die kleinen rosafarbenen Nippel, die dunkelrot werden, wenn du erregt bist. Der süße Bauchnabel, der an eine Herzkirsche erinnert. Die dunkle Spur an Haaren auf deinem Bauch, die von deinem Nabel in den Schambereich führen und sich kräuseln, wenn die Lust in dir hochsteigt. Und das winzige, herzförmige Muttermal zwischen deinen Schulterblättern …“ Unsere Lippen fanden sich zu einem weiteren Kuss. Diesmal ließ er sie länger dort liegen, strich sanft hin und her, liebkoste meine Lippen mit seinen, ehe er sie ein kleines Stück öffnete und kurz meine Unterlippe in seinen Mund saugte. „Glaub mir, ich kenne dich in- und auswendig“, hauchte er an meinem Mund. „Sogar mit geschlossenen Augen würde ich dich genauestens beschreiben können.“
„Ich bin voller Narben“, presste ich mühsam hervor.
„Die einzige Narbe, die ich an dir erkennen kann, ist die auf deiner Seele“, sagte er schroff und schloss meinen Mund, noch ehe ich protestieren oder etwas erwidern konnte. Er schob seine Zunge in meinen Mund, eroberte ihn wild. Bereitwillig öffnete ich mich für ihn, ließ mich nehmen. Meine Knie wurden weich. Ich begann zu zittern. Erst recht, als er sich fester an mich presste und mich spüren ließ, wie erregt er selbst war.
Noch immer hielt er meine Hände über dem Kopf an die Wand gedrückt. Hin und wieder verstärkte er den Druck, verschränkte seine Finger fester mit meinen. Unser Kuss wurde immer leidenschaftlicher und wilder. Bald nahm Antonio auch seinen gesamten Körper hinzu, rieb sich an mir, drückte seine Härte gegen meinen Bauch und stöhnte leise. Mir erging es nicht anders. Seine Nähe, die Berührungen, die Begierde, die ihm beinahe aus allen Poren strömte, nahm auch mich ein. In meinem Unterleib tobte mein Schwanz den Aufstand, weil ich ihn nicht an den anderen heranließ. Er wollte ihn berühren, sich an ihm reiben und aufgeilen. Das Latexhöschen wurde verdammt eng und schnitt an den Säumen in mein Fleisch. Meine Hoden wurden durch das wenig dehnbar Material gequetscht. Ich keuchte bald schmerzhaft auf.
„Antonio“, schnaufte ich, löste hartnäckig den Kuss und schob ihn mit meinem Körper etwas von mir weg. „Wenn du mich nicht bald von der Pants befreist, kastriert es mich.“
Er lachte auf, ließ meine Hände los, ging vor mir in die Knie. Dabei nahm er schwarzen Stoff mit sich, zog es über meine Hüften und befreite meinen hart angeschwollenen Schwanz. Ein Seufzer der Erleichterung ging durch mich hindurch und wurde abrupt zu einem erschrockenen Laut, als mein Penis in einer feuchten, warmen Höhle verschwand. Antonio hatte ihn fast bis zum Anschlag in seinem Mund versinken lassen und saugte sich nun daran fest. Ein gleißender Impuls jagte durch meine Glieder. Ich konnte nicht verhindern, dass mein Becken nach vorn ruckte und noch tiefer in den Rachen stieß. Antonio schien jedoch kein Problem damit zu haben. Seine Hände umfassten meinen Hintern, nahmen die Rundung in Besitz und drückten mich an sich. Erst dann nahm er sich langsam wieder zurück, ließ seine heißen Lippen behutsam über den Schaft streichen.
Loderndes Brennen zog sich in meinem Unterleib zusammen und bereitete sich auf den alles erlösenden Abschuss vor. Bevor es jedoch zum Äußersten kam, ließ Antonio von mir ab und stellte sich wieder vor mich auf die Beine. Erneut fand sein Mund meinen und verwickelte mich in einen leidenschaftlichen Zungenkuss.
„Was hältst du davon, wenn wir uns ins Schlafzimmer verziehen?“, schlug er atemlos vor, als er den Kuss löste und nach fast jedem Wort einen Kuss in Richtung Ohrläppchen setzte. „Ich habe eine riesige Spielwiese.“
Ich konnte nur nicken. Er nahm mich bei der Hand und zog mich hinter sich her. Rasch stieg ich aus dem Latexhaufen zu meinen Füßen und eilte hinterher.
Sein Schlafzimmer war genauso luxuriös eingerichtet, wie alles in diesem Haus. Das Feinste vom Feinsten. Aber mir war es egal, ob das Seide war, das unter mir knisterte oder schlichte Baumwolle. Ich ließ mich von Antonio aufs Bett schubsten, kletterte höher und empfing ihn erwartungsvoll. Noch auf dem Weg vom Eingang zum Schlafzimmer zum Bett hatte er sämtliche Klamotten verloren. Damit hatte er mich zwar um das Vergnügen gebracht, ihn ganz langsam auszupacken. Dennoch nahm ich es ihm nicht übel. Mir war plötzlich nicht nach Langsam und Genussvoll. Wie unter dem roten H, wollte ich es schnell und heftig. Ich wollte ihn spüren, am eigenen Leib deutlich fühlen, dass Antonio wirklich ist. Daher spreizte ich meine Beine und nahm ihn auf, umschlang ihn sogar, als er es sich zwischen meinen Schenkeln bequem gemacht hatte.
Sein harter Schwanz drückte gegen meinen, animierte ihn dazu, ungeduldig zu pochen und glitzernde Tropfen der Lust zu verteilen. Ich keuchte auf, als sich Antonio mit seinem Gewicht auf mir niederließ und mich sofort wieder in einen leidenschaftlichen Zungenkuss verwickelte.
Eine Weile küssten wir uns nur, ließen unsere Zungen sprechen, sie tanzen, locken und verteidigen, schmeckten uns gegenseitig ausgiebig. Dann löste sich Antonio und begann, an meinem Hals entlang zu knabbern und zu küssen, meine Nippel in den Mund zu saugen und eine heiße, brennende Spuren an Küssen und kleinen Knabbereien über meinen Bauch zu verteilen. Ich bäumte mich auf, bog meinen Rücken durch und musste hart gegen mein Verlangen ankämpfen. In mir kochte es, wollte es lieber jetzt als irgendwann, von ihm genommen zu werden. Ich reckte ihm mein Becken entgegen, als er meinen Schwanz erneut in den Mund saugte, meine Hoden umfasste und sie massierte und in seinen Fingern wog. Als er mich entließ und seine Küsse an der Innenseite meiner Schenkel fortsetzte, seufzte ich enttäuscht auf.
„Nimm mich!“, verlangte ich, zog meine Knie an die Brust und präsentierte ihm meinen Eingang. Ich zitterte vor Ungeduld. Ich konnte einfach nicht mehr warten.
„Ich dachte, du bist keine Bitch“, erwiderte er streng. Doch sein Gesicht widersprach seinem Tonfall. Er lachte kurz auf und küsste eine empfindliche Stelle neben meinem Hodensack. Ich keuchte erregt auf.
„Ich komme gleich“, klärte ich ihn auf. „Und ich würde das gerne erleben, während du in mir bist.“
Mit einem Lächeln kramte er ein Kondom aus der Schublade seines Nachtschrankes hervor. Eine Tube Gleitgel landete neben meinem Hintern. Bedächtig, beinahe quälend langsam, riss er die Packung auf, stülpte sich das Gummiteil über den Penis, verteilte eine tüchtige Portion Schmiermittel auf meinem Eingang und seinem Glied, warf die Tube neben sich und beugte sich über mich. Mit einem lasziven Blick überflog er das Angebot, das sich ihm bot, bereitete mich kurz mit einem Finger vor, ehe er ihn durch seinen Penis ersetzte.
Ich war schon so geil, dass er mich nicht viel vorbereiten musste. Außerdem war ich inzwischen erfahren genug, mich zu entspannen und den Schmerz rasch in Lust umzulenken. Antonio fuhr in mich, langsam und gleichmäßig und legte sich dann auf mich, als er sich gänzlich in mir versenkt hatte. Ich hatte nur kurz die Luft angehalten und die Augen geschlossen, mir vorgestellt, wie wir an der Wand unter dem leuchtenden H standen und er mich nahm.
Als er sich langsam zu bewegen begann, mich während dessen erneut küsste und an mir knabberte, war mir, als würde das rote H immer blasser werden. Stattdessen sah ich den lachenden Antonio an einem meiner Tische im Café sitzen, vor ihm eine frische Tasse Cappuccino. Sein Lachen galt mir. Auf seinen Lippen lag ein liebevolles „Piccolino“.
Dass er es mir in diesem Moment wirklich ins Ohr flüsterte, bekam ich kaum mit. Antonio beförderte mich mit jedem Stoß höher in die brennende Lust hinein. Hin und wieder traf er meinen inneren G-Punkt und ich jammerte vor Geilheit auf, bäumte mich unter ihm auf, warf mich ihm entgegen. Mit jedem Volltreffer brannte es heftiger in mir. Ich krallte meine Finger in seinen Rücken, drückte meine Fersen in sein Kreuz und konnte nicht genug davon bekommen. Schließlich brach es aus mir heraus. Heiße Flüssigkeit strömte über meinen Bauch. Ich drückte meinen Rücken durch, presste mein Gesicht an seinen Hals und versuchte so, den Schrei zu unterdrücken, der aus mir heraus wollte. Ich war eigentlich nicht sonderlich laut beim Sex, doch diesmal konnte ich nicht an mich halten. In mir loderte und vibrierte es so stark, dass ich ein Ventil brauchte. Einige Stöße später gesellte sich Antonio dazu. In meinem Unterleib breitete sich wohlige Hitze aus, pochend und beinahe genauso stimulierend, wie seine Stöße. Dann sank er auf mich nieder und fing meinen Mund zu einem weiteren Kuss ein. Wir waren beide schweißnass und zitterten vor Anstrengung.
Eine Weile blieben wir so liegen, genossen unsere allmählich abflauende Erregung und die Anspannung, genossen die Ruhe nach dem Sturm und dass es einfach nur noch uns gab. Irgendwann rutschte Antonio zur Seite und zog sich damit aus mir heraus, zupfte das Kondom von seinem Penis und warf es auf den Boden. Er kehrte jedoch sogleich wieder zu mir zurück, legte sich zwischen meine Beine und bewegte leicht sein Becken, als wollte er sich für eine zweite Runde fit machen.
„Ich kenne einen genialen Tätowierer, der das ziemlich verunglückte Wort auf deinem Hintern in ein Kunstwerk verwandeln kann“, sagte er.
„Mir wäre ein Schönheitschirurg lieber“, gestand ich.
Er strich mir einige verschwitzte Strähnen aus dem Gesicht, streichelte sanft mit der Fingerkuppe über meine Schläfe und lächelte mich liebevoll an. Ich versank förmlich in den dunklen Augen, wäre allein schon deswegen weich geworden, wenn er mich nicht schon vorher weichgevögelt hätte.
„Ich liebe es aber“, gab er betrübt von sich. „Und die Leute im Klub lieben es.“
„Ich hasse es.“
Er küsste mich hastig, als wollte er mir den Hass austreiben und sah mich dann noch betrübter an. „Ich kümmere mich morgen darum. Er ist ein Meister seines Faches und wird es dir entfernen, als hätte es niemals existiert.“
„Redest du jetzt von dem Tätowierer oder dem Schönheitschirurgen?“
„Von welchem möchtest du, dass ich rede?“, fragte er nach.
Ich überlegte kurz. „Von dem Tätowierer“, entschied ich kurzerhand.
Ein Strahlen kam über sein Gesicht.
„Es ist ein ziemlich hässliches Wort. Warum gefällt es dir?“, wollte ich wissen.
„Ich weiß nicht, aber irgendwie gefällt mir der Simon von heute besser, als der von vor zwei Jahren. Der damalige Simon hat mich beeindruckt und von sich überzeugt. Aber der heutige lässt mir das Blut direkt in meinen Schwanz schießen und ich kann an nichts anderes mehr denken, als an dich.“
„Ich bin immer noch derselbe.“
„Nein, bist du nicht.“ Er küsste meine Nasenspitze. „Auch wenn dich widrige Umstände zu dem gemacht haben und du dich hasst, so wie du nun bist, ich liebe dich, mit allen Narben auf deinem Hintern und deinem Schwanz. Mit diesem unschönen Wort auf deinem Arsch und mit dem traurigen Blick in deinen Augen. Vielleicht gerade deswegen.“ Er küsste meine Nase erneut und rutschte schließlich aus meinen Beinen heraus, um sich neben mich zu legen, mich an seinen Bauch zu ziehen und mit den Armen zu umschlingen, als wollte er mich niemals mehr loslassen. „Und wenn du mit diesem Wort keck vor meiner Nase wedelst, könnte ich mich glatt vergessen.“ Seine Worte streiften mein Ohrläppchen, das er sogleich mit einem sanften Knabbern bedachte. Die Berührung ging mir durch und durch und ich stöhnte leise auf, als der Schauder meinen Intimbereich erreichte.
Ich wurde plötzlich müde und ich musste gähnen. Kein Wunder, denn ich war die ganze Nacht auf gewesen, hatte arbeiten müssen und nun zollte die Anstrengung Tribut. Ich kuschelte mich daher enger an ihn, schloss die Augen und war im nächsten Moment auch schon eingeschlafen.
Wie immer, wenn ich schlief, dauerte es nicht lange, bis mich die Albträume erreichten. Ich befand mich wieder im Kastenwagen, wurde von vier Männern geschlagen, beschimpft und gefoltert. Ich schrie in das Klebeband, verlor jedoch rasch den Kampf gegen die Schmerzen und die Scham. Sie schlugen immer wieder auf mich ein, kannten keine Gnade. Bald hing ich nur noch wie ein Sandsack an den Fesseln. Doch auf einmal ging die Tür auf und Antonio stand da. Wie ich ihn mit verklebten Augen sehen konnte, war mir nicht ganz klar. Vielleicht wusste ich einfach, dass er da war und mich rettete. Er eliminierte die Männer nach Al Capone-Art mit einer Salve aus einer Maschinenpistole, befreite mich und trug mich fort.
Zitternd und mit einem Schrei schreckte ich aus dem Traum. Obwohl diesmal der Ausgang meines Traumes eher einem Happy End gleichkam, war ich wie gewohnt mit einem Schrei und schweißnass aus dem Schlaf geschreckt. Antonio lag neben mir, streichelte mir sanft über das Gesicht und flüsterte besänftigend auf mich ein.
„Ich schwöre dir“, sagte er ernst. „Ich werde alles tun, um es dich vergessen zu lassen.“ Damit beugte er sich vor und küsste mich liebevoll auf den Mund.
„Das hast du schon.“ Ich erwiderte den Kuss und schlang meine Arme um seinen Hals. „Zum ersten Mal seit zwei Jahren ist mein Retter gekommen, um mich zu befreien.“
Ein Lächeln huschte um seine Lippen. „Jetzt, wo du endlich wach bist, solltest du deine Mutter zurückrufen. Sie war besorgt, dass du nicht ans Telefon gegangen bist. Es hat eine Weile gedauert, ehe ich das Klingeln im Hausflur bemerkte. Dort lagen deine Sachen und dein Handy.“ Er strich eine feuchte Strähne aus meinem Gesicht. „Sie hat uns zu sich eingeladen. Es ist gut möglich, dass ich mich ihr gegenüber als dein Freund ausgegeben habe. Jetzt will sie mich kennenlernen.“
„Keine gute Idee“, gab ich zerknirscht von mir. „Einen Mafioso als Schwiegersohn hat sie sich bestimmt nie erträumen lassen.“
„Wird sie auch nie bekommen.“ Er lachte kurz auf. „Einen Schwiegersohn vielleicht schon.“ Das Lächeln wurde breiter. Der Blick aus den Tiefen seiner dunklen Augen ließ mir die Hitze erneut in den Schoß schießen. „Sofern du mich möchtest.“
Ich richtete mich auf und ließ meinen Blick abschätzend über seine Statur gleiten. Dann wackelte ich wenig beeindruckt mit dem Kopf. „Na ja, nur wenn du mit mir Bitch mithalten kannst.“
Damit hatte ich ihn herausgefordert. Mit einem animalischen Knurren warf er mich auf den Rücken und nahm mich wenige Minuten später ein weiteres Mal. Allerdings sehr gefühlvoll.
Texte: 2014 Ashan Delon
Bildmaterialien: München bei Nacht: 114987_original_R_K_B_by_jheins_pixelio.de, Mann: petrojperez www.morguefile.com
Lektorat: myself
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2014
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