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1.


Verflixt. Hat das jemals ein Ende?

Toni wanderte unruhig in seiner Wohnung auf und ab. Mittlerweile müsste in seinem Teppich schon ein Rille gelaufen sein. Den ganzen Abend ging das schon so. Eigentlich wollte er seinen Feierabend gemütlicher verbringen und sogar früher schlafen gehen. Doch sein Herz schien wild dazu entschlossen zu sein, in seinem Brustkorb eine ausgelassene Party zu feiern. Seit zwei Stunden pochte es so heftig, schlug ein paar Mal, stolperte, setzte für eine winzige Sekunde aus und pilgerte umso heftiger weiter. Diese Rhythmusstörungen plagten ihn schon seit ein paar Wochen, doch erst in letzter Zeit waren sie so heftig geworden, dass er kaum noch schlafen konnte. Immer, wenn er seinen Körper nach einem anstrengenden Arbeitstag runterfahren, sich in seine Federn kuscheln und Erholung für den nächsten Tag verschaffen wollte, begannen diese bescheuerten Herzrhythmusstörungen. Sein Hausarzt hatte ihm lediglich Mineralien in Form von Magnesium und Kalium verschrieben. Die Medikamente schlugen allerdings auch nach zwei Wochen Einnahmezeit noch nicht an.

Toni machte an der Küchentüre Halt, wirbelte herum und marschierte ins Wohnzimmer zurück. An Schlaf war wirklich nicht zu denken. Sein Herz polterte so heftig in seiner Brust, dass er keine Ruhe fand. Fast bis zum Hals klopfte es, sorgte dafür, dass sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust aufbaute und durch die Unsicherheit sogar Panikgefühle aufkamen. Er war wirklich kein Waschlappen, doch wenn diese Störungen nicht bald aufhörten, würde er auch noch Depressionen bekommen.

Sein Weg führte ihn wieder zurück zur Küche. Die Beklemmung in seinem Inneren wurde immer stärker, sodass er bald glaubte, ersticken zu müssen. Er brauchte Luft, Platz und Freiraum zum Atmen. Daher zog er sich seine Fleecejacke über und verließ seine Wohnung, um im Treppenhaus auf und ab zu laufen. Die Anstrengung beim Treppenlaufen beschäftigte sein Herz und es schlug wieder regelmäßig. Doch sobald er stehen blieb und sich sein Blutdruck beruhigte, begann es wieder zu stolpern. Erneut drehte sich Toni um und machte sich zum zweiten Mal auf den Weg in das Erdgeschoss.

Ein Mann kam ihm entgegen, Mitte höchstens Ende Zwanzig. Sein Kopf war in eine weiße Pudelmütze gehüllt, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Draußen war es arschkalt. Der Wetterbericht hatte etwas von Bodenfrost gesprochen und sogar von Minustemperaturen von bis zu zehn Grad. Der dicke Anorak hüllte die Figur des Mannes in unförmige Unkenntlichkeit und die dicken Winterstiefel verliehen ihm das Aussehen eines Bigfoots. Schnee rieselte von der Pudelmütze und dem Anorak, tauten im kalten Treppenhaus. Jeder Schritt hinterließ auf dem grauen Marmor Wasserpfützen. Der Mann sah hoch, als er der Anwesenheit einer weiteren Person gewahr wurde, und nickte Toni begrüßend zu. Dieser nickte freundlich zurück und ging an ihm vorüber.

Ein neuer Nachbar?

Toni konnte sich nicht daran erinnern, dass in letzter Zeit eine der Wohnungen frei gewesen sein sollte. Allerdings hätte er nichts dagegen, wenn der Mann mehr als nur ein Besuch war. Der Kerl sah aus, als ginge er bereits schon öfter hier ein und aus und gehörte eindeutig zu jener Gruppe, die in ihm die Hormone sprießen ließen. Zielstrebig marschierte der die Treppen hoch und schien genau zu wissen, wohin er wollte. Mit zwei dicken Wälzern unter dem Arm, die dicker waren, als eines der Gesetzesbücher, die Toni für seine Arbeit brauchte, waren unter dessen Arm geklemmt. Über einer Schulter hing ein prall gefüllter Rucksack. Offensichtlich wohnte er hier oder besuchte jemanden für längere Zeit.

Ein Stockwerk tiefer verlangten weitere heftige Stolperer seines Herzens seine Aufmerksamkeit. Toni presste eine Hand auf die Stelle, unter der es dumpf polterte, und schnaufte tief durch.

Wann hatte das endlich ein Ende? Er kam sich allmählich wie ein Hypochonder vor, denn bei dem Arztbesuch hatte sich sein Herz von der besten Seite gezeigt. Weder beim Blutdruckmessen noch beim EKG hatte es auch nur eine Entgleisung gegeben, worauf ihn sein Hausarzt mitleidig angelächelt hatte und ihm diese Tabletten verschrieben hatte, die anscheinend nicht mehr als Placebo waren.

Was war nur mit ihm los?

Stress in der Arbeit? Unzufriedenheit mit seinem Leben? Verpasste Gelegenheiten? Was auch immer ihm diese Probleme verschafft hatte, er musste es unbedingt beenden. Denn dass er weiterhin die halbe Nacht herumwanderte und keinen Schlaf finden konnte, war auf die Dauer nicht gut.

Toni drehte an der Haustür um und machte sich auf den Aufstieg. Drei Stockwerke, jeweils fünfzehn Stufen. Er kletterten sogar noch höher, in den vierten Stock, drehte oben auf dem Absatz herum und ging wieder nach unten. Ihm war kalt und er war hundemüde. Er musste dringend ins Bett - sofern ihn sein Herz endlich schlafen ließ.

Wieder in seiner Wohnung angekommen, setzte er sich auf das Sofa, kuschelte sich in eine Decke und legte den Kopf auf der Rückenlehne ab. Seine Augen wurden schwer, brannten vor Müdigkeit. Er schloss sie, gönnte sich einen tiefen Atemzug und versuchte, in den erholsamen Schlummer zu gleiten. Doch sobald sich sein Organismus beruhigt hatte, der Blutdruck heruntergefahren war und sich sein Herzschlag verlangsamte, dauerte es nicht mehr lange, bis es wieder zu Stolpern begann. Zwanzig normale Schläge, ein schneller, der etwas härter war, dann eine kleine Pause von einer winzigen Sekunde, dann polterte es weiter. Die Abstände variierten, mal zehn normale Schläge, dann wieder nur zwei oder drei. Dazwischen schlug ihm das Herz bis zum Hals und schreckte ihn aus dem Dämmerzustand.

Mit einem missmutigen Murren sprang Toni auf seine Beine, wanderte zunächst erneut in der Wohnung auf und ab, bevor ihm abermals nach Luft und Freiheit war und er ins Treppenhaus flüchtete. Das musste endlich ein Ende haben. So konnte es nicht mehr länger weitergehen.

Auf dem Weg nach unten überlegte er, ob er den Keller aufräumen sollte, denn dieses ständige auf- und ablaufen mitten in der Nacht störte die Nachbarn. Es war jedoch zu kalt, um länger im Keller zu werkeln. Er trug nur seine Fleecejacke über der normalen Kleidung und Sneakers, die er als Hauspuschen nutzte. Daher würde er sich zum Herzstolpern auch noch eine saftige Erkältung holen. Also ging er wieder nach oben.

Gerade als er seine Wohnungstür aufschloss, ging die Nachbartür auf. Doch statt seiner Nachbarin Sabine stand jener Mann im Flur, der ihm vorhin schon begegnet war. Passte er auf die Wohnung auf? Denn Sabine war vor einer Woche zu einem Auslandsaufenthalt aufgebrochen.

"Hey", grüßte der Fremde freundlich und entblößte mit einem Lächeln zwei Reihen weißer Zähne. "Ich bin Frank", stellte er sich vor. "Sabines Bruder. Ich sitte für eine Weile ihre Pflanzen, solange sie weg ist. Genauer gesagt, belege ich ein paar Semester an der Uni hier, deswegen werden wir uns vielleicht öfter über den Weg laufen."

"Anton", stellte sich Toni ebenso vor und nahm die dargebotene Hand, um sie kurz zu drücken.

Frank hielt die Hand fest und blickte den anderen eindringlich an, als wollte er hinter die Stirn blicken. "Freut mich", sagte er schließlich. "Sind die Mülltonnen immer noch hinten im Hof?"

Erst jetzt entdeckte Toni den prall gefüllten Müllbeutel in dessen Hand.

"Typisch meine Schwester", schnaufte Frank genervt. "Hinterlässt mir ihren Dreck. Das macht sie absichtlich, um mich zu ärgern. Wir verstehen uns in der Regel zwar ganz gut, doch wir sind grundverschieden. Sie ist der Vernünftigere von uns beiden, behauptet sie jedenfalls." Er grinste breit und hielt kurz die stinkende Tüte hoch. "Dann werd ich das mal entsorgen gehen." Er nickte mir zu und ging an ihm vorbei zur Treppe.

Toni blickte ihm hinterher, bis er an der Biegung verschwunden war. Der Kerl gefiel ihm, nicht nur wegen seiner offenen Art, die er anscheinend mit seiner Schwester gemein hatte. Auch sie erzählte ihm bei ihrer ersten Begegnung beinahe ihre ganze Lebensgeschichte. Sie war Reporterin oder so etwas Ähnliches, schrieb neben Reiseberichte auch Reportagen und reiste daher öfter in der Weltgeschichte herum. Aber von einem Bruder hatte sie noch nichts erzählt. Toni hatte ihr gegenüber auch nicht sein ganzes Leben ausgeschüttet. In dieser Beziehung war er ziemlich verschlossen. Als er in seiner Jugend festgestellt hatte, dass ihm Jungs lieber waren, als Mädchen, war er dafür von den anderen Kindern gehänselt und schikaniert worden. Daher hielt er die intimen Details lieber für sich.

Seufzend schloss Toni seine Wohnung auf und ging ins Wohnzimmer, wo er sich ein weiteres Mal auf das Sofa setzte und hoffte, endlich Ruhe zu finden. Zu seiner Verärgerung und als Futter für seinen Frust fing sein Herz nach kurzer Zeit wieder zum Poltern an. Zwei oder drei Schläge normal, dann ein kleiner Aussetzer, schließlich weitere Schläge, Aussetzer und so weiter.

Toni sprang erneut auf die Beine. An Schlaf war wirklich nicht zu denken, obwohl seine Augen inzwischen unangenehm brannten und er unentwegt gähnen musste. Einige Male ging er in seiner Wohnung auf und ab, entschied sich dann dafür, die Küche aufzuräumen und putzte sogar die Toilette, als es immer noch nicht besser wurde.

Sollte er ins Krankenhaus gehen, sich einmal richtig durchchecken lassen und eventuell vielleicht eine Komaspritze geben lassen, nur damit er endlich schlafen konnte? Seine Beine waren inzwischen schwer wie Blei. Der Zeiger der Küchenuhr wanderte auf zwölf Uhr Mitternacht. Wenn sein Herz nicht bald Ruhe gab, würde er morgen mit dunklen Rändern unter den Augen in der Firma auftauchen und spätestens nach der Mittagspause auf dem Schreibtisch eingeschlafen sein.

Sein Herz polterte ungerührt weiter. Bald verlangte ihn auch wieder nach Luft und Freiraum. Er öffnete ein Fenster und sog die kalte Winterluft tief in seine Lungen. Der Stillstand vor dem Fenster war jedoch keine Abhilfe. Sein Herz stolperte weiterhin und hin und wieder sogar so sehr, dass ihm schwindelig wurde. Daher marschierte er weiter durch die Wohnung, blieb hin und wieder am Telefon stehen und überlegte, ob er vielleicht doch den Notarzt anrufen sollte. Dieses unaufhörliche Poltern in seiner Brust ließ allmählich die Panik in ihm aufsteigen. Wenn doch etwas Ernsthaftes mit ihm war? War er vielleicht ernsthaft herzkrank? Oder schlummerte in ihm noch etwas viel Schlimmeres? Durch Tonis Gedanken rasten die schrecklichsten Dinge. Seine Finger verharrten einige Male über dem Telefon, gingen bereits im Geiste die Zahlenfolge durch, drei einfache Nummern, die er schon in der Grundschule auswendig gelernt hatte. Vielleicht würden gerade diese drei einfachen Zahlen nun sein Leben retten.

Ein weiteres Mal flüchtete Toni ins Treppenhaus. Er brauchte Ablenkung, musste sein außer Rand und Band geratenes Herz beschäftigen, indem er sich die Treppen auf und ab jagte. Vielleicht war er dann so müde, dass er einfach einschlief.

Kaum hatte er seine Wohnungstür hinter sich geschlossen, ging die vom Nachbarn auf und Sabines Bruder stand vor ihm. Mit einem wissenden Blick musterte er Toni, schien genau zu wissen, was in dem anderen vorging.

"Alles in Ordnung mit dir?", erkundigte er sich besorgt.

Toni wollte erst nicken. Was ging es dem Fremden an, wie es ihm ging. Doch er schüttelte den Kopf.

"Nein, ganz und gar nicht", gab er schließlich zu. "Seit einiger Zeit stolpert mein Herz merkwürdigerweise und ich kann vor Aufregung nicht schlafen. Solange ich in Bewegung bleibe, schlägt es gleichmäßig, doch sobald ich zur Ruhe komme, geht es wieder los." Toni kam sich wie ein Jammerlappen vor, dennoch war ihm wohler, als es raus war.

Frank sah ihn eingehend an und strich dabei nachdenklich mit zwei Fingern über sein Kinn. "Ich hab vorhin schon, als wir uns die Hand gaben, gemerkt, dass mit dir etwas nicht stimmt. Das ist jetzt etwas ungewöhnlich. Ich studiere Medizin und möchte mich später auf Cardiologie spezialisieren", erzählte er milde lächelnd. „Aber keine Angst, ich werde jetzt nicht meine Lehrbücher rauskramen. Aber ich habe einen anderen Vorschlag. Ein Versuch ist es wert. Darf ich etwas ausprobieren?"

"Was meinst du?"

"Es ist nur eine Idee. Wenn es nicht funktioniert, dann ist nichts kaputt."

Toni sah ihn fragend an, da er sich keinen Reim daraus machen konnte.

"Dazu müsstest du dich hinsetzen oder besser legen. Wir brauchen einen Ort, an dem du dich wohlfühlen kannst. Bei mir oder bei dir?"

Toni zog ratlos die Schultern hoch. "Bei mir", erwiderte er und holte seine Schlüssel hervor, um die Wohnung aufzuschließen. Frank folgte ihm bis ins Wohnzimmer, wo sich Toni auf das Sofa setzte.

"Leg dich bequem zurück." Frank rieb seine Hände aneinander, hauchte sie an und rubbelte sie warm. Dann legte er sie an seiner eigenen Wange an und rieb weiter. "Zieh dein Shirt hoch." Er lächelte freundlich. "Das soll jetzt keine Anmache sein. Aber ich muss meine Hände auf deine nackte Brust legen."

Toni öffnete seine Fleecejacke und schob seinen Pullover hoch. Er hatte keine Ahnung, was Frank vorhatte und was das Ganze sollte. Aber was auch immer das war, einen Versuch war es allemal wert. Wenn ihm Frank dabei auch noch näher kam, war ihm das sogar noch viel mehr Recht. Er lehnte sich zurück und beobachtete mit wachsender Anspannung, wie Franks Hände sich auf seine Brust legten, dort wo sein Herz aufgeregt pochte. Lange schlanke Finger, die sicherlich noch nie einen Hammer oder einen Spaten in der Hand gehalten hatten, berührten Tonis Haut, die sofort mit einer Gänsehaut reagierte. Trotz der Rubbelaktion waren sie noch immer ein wenig kühl, aber nicht unangenehm, sodass Toni nur ganz leicht zusammenzuckte.

"Entspann dich", forderte Frank sanft. "Dein Puls muss sich beruhigen."

"Dann geht es wieder los", wusste Toni.

"Ich bin bei dir. Dir kann nichts passieren."

Allein die Nähe dieses Mannes sorgte in Toni helle Aufregung. Außerdem hatte er inzwischen eine Panik vor diesem Herzklopfen entwickelt, sodass es ihm nicht leicht fiel, sich nun bewusst zu beruhigen. Dennoch schaffte er es, dass sich sein Herzschlag verlangsamte. Prompt stolperte es wieder. Toni spannte sich an und konzentrierte sich auf die Berührung dieser Hände. Ganz sachte hatten sie sich auf seine Brust gelegt, als wollten sie sein Herz umhüllen oder vor Unheil beschützen. Wie eine schützende Decke kamen ihm die feingliedrigen Hände vor. Hände, die ganz nach einem Arzt oder einem Klavierspieler aussahen und sich sicherlich auch gut an anderen Regionen seines Körpers gut anfühlen würden.

Plötzlich strömte von den Händen wohlige Wärme durch seinen Körper, floss in die umgebenden Fasern und breitete sich von dort allmählich immer mehr aus. Seine Nervenstränge füllten sich mit der Wärme, streckten sich genussvoll aus und ließen sie immer weiter durch den Körper rollen. Sein Herz polterte noch einige Male erschrocken, doch dann wurden die Schlaganzahl immer größer, bis es einen Takt aussetzte. Nach einiger Zeit schlug es tatsächlich für längere Zeit gleichmäßig.

Verwundert hob Toni den Blick und sah direkt in die dunklen Augen des anderen, der ihn nun triumphierend ansah.

"Es hat funktioniert", erkannte Frank und zog seine Hände zurück. Traurig sah Toni ihnen hinterher.

"Was hast du gemacht?"

"Das nennt man Reiki", erklärte Frank. "Dabei lasse ich die Energie der Erde durch deinen Körper fließen. Eine uralte Heilmethode."

Toni sah ihn perplex an. Er glaubte nicht an alternative Heilmethoden. Nicht einmal an Homöopathie. Das war für ihn Humbug, Scharlatanerie, Geldmacherei, ausgemachter Quatsch. Doch er glaubte an das, was er gespürt hatte, und das war sehr real und vor allem real spürbar gewesen.

Er hatte die Energie, die er als kribbelnde Wärme wahrnehmen konnte, wirklich spüren können. Das hatte er sich nicht nur eingebildet, auch wenn allein schon die Berührung der warmen Hände ein wohliges Gefühl durch ihn hatte durchgehen lassen und eine Gänsehaut verursacht hatte. Die Energie war tatsächlich da gewesen.

„Das ist wie Wunderheilung“, entkam Toni beeindruckt.

Frank lachte. „Na ja, mal sehen, wie lange es vorhält. Du solltest auf jeden Fall zum Cardiologen gehen. Solche Herzrhythmusstörungen haben meist eine harmlose Ursache, können aber bedrohliche Auswirkungen haben, wie Schwindel oder gar Bewusstlosigkeit.“

Tonis Blick blieb auf seinen Lippen hängen, die sich beim Sprechen leicht kräuselten. Für einen Moment überlegte er, sie einfach zu küssen, aus Dankbarkeit oder aus purer Neugier. Ihm war danach, diesen Mann näher an sich zu spüren und die vermeintlichen Heilkräfte noch intensiver zu fühlen.

„Du bist schwul“, sagte ihm Frank auf den Kopf zu.

Toni blinzelte überrascht. „Ja … Woher weißt du das?“ Er konnte sich nicht daran erinnern, dies irgendwann einmal Franks Schwester gegenüber erwähnt zu haben. Woher konnte er das wissen? Stand es groß und breit auf seiner Stirn, oder hatte er es vorhin in ihm gelesen, als er die Reiki-Energie durch ihn hatte rinnen lassen?

„Bei Heteros kann ich meist einen gewissen Widerwillen spüren“, erklärte Frank. „Die mögen es nicht, wenn ein Mann sie so intim anfasst. Bei dir war nichts zu fühlen.“

Abermals sah Toni ihn beeindruckt an.

„Meine Schwester meinte oft, ich sehe durch die Hände“, lachte Frank, als Tonis Gesicht immer länger geworden war. „Ich halte es eher für reine Erfahrung. Ich praktiziere auch als Heilpraktiker und komme daher viel mit Leuten zusammen. Aber vielleicht entwickelt man als Homosexueller einfach ein gewisses Gespür, wer für einen infrage kommt und wer nicht. Die Chemie muss stimmen.“

„Du auch?“, erkundigte sich Toni interessiert.

Ein breites Grinsen war Antwort genug.

Tonis Herz machte bei dieser Erkenntnis glatt einen weiteren Stolperer, schlug jedoch gleich danach regelmäßig weiter. Die Heilbehandlung schien in der Tat zu funktionieren und sein Organismus beruhigte sich allmählich. Die Nervosität ebbte ab und die Anflüge von Panik verflüchtigten sich immer mehr. Damit kehrte aber auch die Müdigkeit zu ihm zurück und überrannte ihn förmlich. Er gähnte herzhaft und seine Augen begannen erneut, zu tränen.

Frank schien dies als Abschluss zu sehen, erhob sich und lächelte milde. „Klingle einfach, wenn es wieder los geht … egal wie spät.“

„Ich habe in den letzten Tagen wenig Schlaf bekommen“, erklärte Toni entschuldigend und musste erneut gähnen. Krampfhaft unterdrückte er den Impuls. Er erfasste ihn jedoch rigoros. „Willst du nicht hierbleiben?“, schlug er vor. „Bei mir. Dann kannst du sofort Erste-Hilfe-Maßnahmen ergreifen.“

Frank musterte ihn eingehend, schien ihn erneut hinter die Stirn sehen zu wollen. Schließlich nickte er.

Wortlos stand Toni auf, ging in sein Schlafzimmer. Auf dem Weg dorthin, entledigte er sich seiner Fleecejacke, stieg wenige Meter vor seinem Bett aus den Sneakers und ließ die Jeans zu Boden gleiten, noch ehe er den Bettrand erreichen konnte. Frank tat es ihm gleich, kuschelte sich neben ihn und legte seine Hand auf die Brust, wie vorhin, als er ihn mit seinen magischen Händen geheilt hatte. Toni schaffte es gerade noch, die Decke über sie beide zu ziehen. Gerne hätte er diese Berührung noch länger genossen und gewusst, ob sie erneut eine solche wohltuende Wärme durch ihn hindurchschicken konnte. Doch noch bevor er diesen Gedanken zu Ende führen konnte, war er eingeschlafen. Er träumte davon, dass Frank ihn noch öfter heilte, nicht nur sein Herz, sondern auch seine einsame Seele.



2.


Als Toni am Morgen die Augen aufschlug, fühlte er sich erholt und ausgeruht. Das Herzklopfen war noch immer verschwunden. Zumindest pochte der eigensinnige Muskel in seiner Brust nun brav regelmäßig und polterte nicht mehr wie die Tage und Wochen zuvor. War er nun geheilt?

Er drehte den Kopf zur Seite. Der Platz neben ihm war leer. Kein Frank.

Hatte er das Ganze nur geträumt?

Noch immer konnte er die schlanken Hände auf seinem Herzen spüren und glaubte, das Kribbeln seiner Nervenenden zu fühlen, als die Energie durch ihn hindurchgeströmt war. Er kniff die Augen zusammen, versuchte, dieses Gefühl festzuhalten. Panik erfasste ihn förmlich, als er daran dachte, dass er mit dem Öffnen der Augen dieses Gefühl verlieren könnte. Denn Frank lag nicht mehr neben ihm, um es wieder aufzufüllen.

Ein weiterer Gedanke zuckte durch ihn hindurch.

Wie spät war es? Sein Kopf fuhr zum Wecker herum, der auf dem Nachttisch stand. Halb acht. Wie von einer Tarantel gestochen schoss er aus dem Bett. Verflucht, in einer halben Stunde musste er am Arbeitsplatz sitzen. Zu spät kommen tolerierte sein Chef nicht. In Windeseile vollzog Toni eine Katzenwäsche, ein hastiges Frühstück, das aus Zeitgründen nicht mehr als aus einer trockenen Scheibe Brot bestand, sprang in seine Klamotten und düste keine zehn Minuten später auch schon Richtung Büro.

Den ganzen Tag lang ging ihm Frank nicht aus dem Kopf. Die Reiki-Behandlung schien noch anzuhalten, denn sein Herz funktionierte tadellos, setzte kein einziges Mal aus. Fast wehmütig wünschte sich Toni nach Feierabend, dass es wieder zu poltern begann, damit er einen Grund hatte, nebenan zu klingeln. Doch es schlug ganz regelmäßig, zwar schneller, wenn er an seinen neuen Nachbar denken musste, aber ohne ein einziges Mal zu stolpern.

Wenn Sabine zuhause war, konnte aus der Nebenwohnung schon mal laute Musik ertönen. Doch nun war alles still, als sei niemand dort. Toni stand oft lauschend an der Wand und horchte nach drüben, doch Frank schien nicht einmal den Fernseher anzumachen. In der Tat sah er, mit seinen hellen Locken, die er bei der ersten Begegnung unter der weißen Pudelmütze versteckt hatte, wie ein „Alternativer“ aus, der sich lieber ein Buch schnappte, um in Abenteuer zu versinken, als sich von der Glotze berieseln zu lassen. Die beiden dicken Wälzer, die er am gestrigen Tag hochgeschleppt hatte, sahen gelesen aus, sprich hatten an den Seiten dunkle Flecken, wo man öfter mit dem Finger über die Ränder fuhr und umblätterte und auch sichtbare Knicke im Buchdeckel. Toni vermutete jedoch, dass es sich um Lehrmaterial handelte, die er sich bei seinem Studium einverleiben musste.

Heilpraktiker. War das nicht schon eine Ausbildung? Und warum musste er jetzt noch richtige Medizin studieren?

Toni wanderte unruhig in seiner Wohnung auf und ab, überlegte, ob und wie er Frank wiedersehen konnte. Dass er ihn wiedersehen wollte, dessen war er sich sicher. Es hatte ihn stark beeindruckt, was mit ihm geschehen war. Ob Wunderheiler oder nicht, allein schon die Berührung war es wert gewesen, diese „Quacksalberei“ über sich ergehen zu lassen.

Stunde um Stunde verging, ohne dass er zu einem Ergebnis gekommen war. Der Stundenzeiger der Küchenuhr wanderte mittlerweile auf zehn Uhr zu, eigentlich eine Zeit, in der sich Toni ins Bett begeben musste, damit er am nächsten Tag ausgeschlafen in der Arbeit erscheinen konnte. Doch in ihm arbeitete es noch heftig. Seine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen. Ihn sehnte es nach Frank, der nur eine Mauer von ihm getrennt war. Einfach so zu klingeln, wagte er nicht. Auch wenn er sich für seinen Mut, Frank für die Nacht in sein Bett geladen zu haben, selbst auf die Schulter klopfte. Es war nichts passiert. Frank war einfach nur neben ihm gelegen und hatte sich vermutlich verkrümelt, sobald Toni eingeschlafen war.

Immer wieder zog es ihn zu seiner Wohnungstür, doch den Mumm, sie zu öffnen und einfach nebenan zu klingeln, konnte er nicht aufbringen. Als es elf Uhr schlug, gab er schließlich auf. Mit dem Gedanken, wenn Frank etwas von ihm wollte, hätte er sich sicherlich nach dem Befinden seines Patienten erkundigt. Was er aber nicht getan hat.

Toni ging ins Bett, zog die Decke bis zum Hals, kniff die Augen zu und versuchte, jeden Gedanken an Frank aus seinem Kopf zu verbannen. Sein Organismus fuhr langsam herunter. Sein Pulsschlag verlangsamte sich. Seine Atmung wurde ruhiger. Kurz bevor ihn die Müdigkeit übermannte, polterte sein Herz besonders heftig, setzte einen Moment aus und schlug dann kräftig weiter. Dann gab es fünf Schläge und es stolperte erneut.

Freude überkam ihm, als er erkannte, dass er nun einen triftigen Grund hatte, zu klingeln. Er zog seine Fleecejacke über, schlüpfte in seine Sneakerspuschen und verließ die Wohnung. Dabei musste er sich gewaltsam zurückhalten. Am liebsten wäre er so schnell wie möglich zu Frank geeilt, wäre mit der Tür in die Wohnung gefallen und hätte ihn angefleht, erneut seine magischen Hände auf seine Brust zu legen. Stattdessen hielt er sich krampfhaft zurück und musste sich Gewalt antun, um seinen Finger auf den Klingelknopf zu drücken.

Es dauerte endlos lange Minuten, wahrscheinlich aber nicht länger als zwei oder drei, so lange, bis jemand vom Sofa oder dem Bett aufgestanden war und zur Tür schlurfte. Sie ging auf und ein lächelnder Frank präsentierte sich, allerdings hielt er ein Telefon ans Ohr.

„Hab ich, Biene“, sagte er und nickte Toni zu, schob die Tür weiter auf und ließ ihn mit einem grüßenden Nicken eintreten. „Ich bin ihm bereits begegnet“, fuhr er fort. „War ganz schön fies von dir, mir nichts von deinem schnuckeligen Nachbarn zu erzählen. Ich musste ihm erst das Leben retten, um das mitzukriegen. Hast du das mit Absicht gemacht?“

Toni blieb im Flur stehen und starrte den Mann an, der offenkundig gerade seine Schwester zur Rechenschaft rief, weil sie ihm den Nachbarn vorenthalten hatte. Da hätte er auch noch ein Wörtchen mitzureden. Als er sich Franks Worte noch einmal durch den Kopf gehen ließ, blieb er an dem Wörtchen „schnuckelig“ hängen.

Frank fand ihn schnuckelig? Hoffnung keimte in Toni auf.


Doch als er in dessen Gesicht sah, das plötzlich ernst geworden war, verflüchtigte sich dieses Gefühl wieder.

„Das hat doch nichts damit zu tun“, murrte Frank ins Telefon. „Das ist mein Privatleben. Außerdem ist es nicht mein Stil, alle Brücken hinter mir abzubrechen, nur weil du mir von einem gut aussehenden Kerl erzählst. Was hältst du eigentlich von mir? Anscheinend kennst du mich schlechter, als du denkst.“ Er keuchte entrüstet, warf Toni einen auffordernden Blick zu, sich tiefer in die Wohnung zu trauen, drehte sich langsam um und marschierte gemächlich in eines der Zimmer, die vom Flur abgingen, während er weiter mit seiner Schwester telefonierte. Toni blieb im Korridor stehen. Neugier hatte ihn befallen. Er wollte unbedingt hören, was die beiden noch zu sagen hatten, denn es ging indirekt auch um ihn. Doch Frank schwieg, bis er das Schlafzimmer erreicht hatte und die Tür hinter sich anlehnte.

Frustriert ging Toni ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Sabines Wohnungseinrichtung war ihm bekannt. Er hatte sie ein paar Mal besucht und auch, als er von ihr zum Brunch eingeladen worden war. Allerdings war das eine größere Angelegenheit gewesen und er war lediglich eingeladen worden, weil der Lärm ihn sonst den ganzen Sonntag über gestört hätte. Mitmachen, anstatt nebenan zu hocken und sich über die Musik und das Gelächter zu ärgern. Es war ein ganz lustiger Sonntag geworden, trotz der Leute, von denen er keinen einzigen gekannt hatte.

Etwas unbeholfen saß Toni auf dem Sofa und ließ seinen Blick im Zimmer umherschweifen. Seit seinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Sein Herz pochte nach wie vor unregelmäßig und verursachte in seinem Brustkorb ein beengendes Gefühl. Er machte einige tiefe Atemzüge, die ihm allerdings keine wirkliche Erleichterung verschafften. Daher ging er zum Fenster und öffnete es. Beim letzten Mal war er im Treppenhaus auf und ab gelaufen und dabei Frank begegnet.

Dessen Stimme drang dumpf aus dem Schlafzimmer zu ihm. Es hörte sich an, als würden sich die Geschwister streiten. Ein Stich bohrte sich in Tonis Herz. Frank sauer zu sehen, gefiel ihm nicht.

Als er zu frösteln begann, erschien Frank endlich im Wohnzimmer, warf das Telefon mit einem unwirschen Laut auf die Ladestation und kam heran.

„Entschuldige“, sagte er sanft. Jeglicher Groll war aus seiner Stimme verschwunden. „Du krepierst hier und meine Schwester hält mir einen Vortag über die Gepflogenheiten eines Homosexuellen. Als ob sie es besser wüsste, als ich.“ Er setzte ein leidliches Lächeln auf. Man konnte ihm dadurch ansehen, dass ihn Sabines Äußerungen wurmten. „Sie erzählt mir sonst jeden Quark, aber dich verschwieg sie absichtlich, weil sie keinen Keil zwischen meinem Freund und mir treiben wollte.“ Er schüttelte fassungslos den Kopf. Als er weitersprach, schien seine Entrüstung bereits wieder verflogen zu sein. „Poltert dein Herz wieder?“, wollte er wissen.

Toni zwang sich zu einem Nicken. Seine Füße verlangten jedoch, dass er herumwirbelte und die Wohnung verließ. Und seine Vernunft schrie ihm lautstark ins Ohr, dass er gefälligst seinen Arsch in seine eigenen vier Wände bringen sollte. Frank war vergeben, hatte er eben selbst gesagt. Dass er seinen Freund nicht verlassen hätte, wenn ihm Sabine etwas von ihrem schnuckeligen Nachbarn vorgeschwärmt hätte, zeugte davon, dass die Beziehung ernster war und für Toni keine Chance blieb.

Er kämpfte darum, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, ließ sich von Frank auf das Sofa dirigieren, zog artig die Jacke aus und das Shirt nach oben und lehnte sich zurück. Als sich die langen, schlanken Hände auf seine Brust legten, verkrampfte er sich, um die Gänsehaut und den wohligen Schauer zu unterdrücken. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Am liebsten wäre er heulend davongelaufen, doch nun saß er nun mal hier und musste sich behandeln lassen.

Er schloss die Augen, als seine Nervenenden zu kribbeln begannen, sich die Wärme von der Berührung aus über den ganzen Brustkorb ausbreitete und auch seinen ganzen Körper einnahm. Er glaubte, ein weiteres Mal, diese Energie in Form eines schwachen Stromes durch seinen Leib fließen zu spüren. Weil er sich nicht vorstellen konnte, wie genau dieses Reiki funktionierte, stellte er sich einen leuchtenden Fluss vor, der von Franks Händen aus in einem unsichtbaren Flussbett verlief und sich allmählich in jede Ader, jede Faser und jeden Nervenstrang bahnte. Sein Herz fühlte sich an, als hätte Frank es mit seinen warmen, energiegeladenen Händen umhüllt, hielt es wahrhaftig in seinen Fingern, liebkoste es mit zarten Streicheleinheiten und brachte es dazu, wieder regelmäßig zu schlagen.

Toni sank förmlich in diese Berührung. Von ihr ging ein Sog aus, der ihn regelrecht in den Energiestrom hineingleiten ließ. Wenn es nach Toni ginge, würden diese Berührung und der angenehme Strom niemals enden. Er ließ sich fallen, genoss es in vollen Zügen – es war alles, was er jemals von Frank bekommen würde – und entspannte sich so tief, dass er tatsächlich noch während der Behandlung wegkippte.

Sein Schlummer musste jedoch nicht lange gewesen sein, höchstens eine Minute. Als Frank seine Hände von ihm nahm, schrak er hoch und starrte verwundert in das Gesicht des anderen. Ihm war, als wäre er aus einem tiefen Schlaf erwacht. Und während er geschlafen hatte, war die Welt ein ganzes Stück weiter gegangen. Ihm war, als wäre der Zug, der ihn in die Nähe von Frank und an dessen Seite bringen sollte, längst abgefahren. Er hatte den Anschluss verpennt.

„Danke“, murmelte Toni, raffte sein Shirt über den Bauch und sprang auf seine Beine. „Es geht schon wieder.“ Sein Herz schlug tatsächlich gleichmäßig, ohne auch nur einmal zu poltern. Es hatte es zwar ungemein eilig und pochte so schnell, als wäre er die Treppen vom Eingang in den dritten Stock zu seiner Wohnung im Laufschritt hochgesprungen, dennoch setzte es kein einziges Mal aus. „Du solltest dir deine Hände patentieren lassen“, presste er flapsig hervor und schob sich an Frank vorbei.

„Gern geschehen“, erwiderte Frank, stellte sich ebenfalls auf die Beine. „Das haben schon viele gesagt. Aber ehrlich gesagt, dann könnte ich sie nicht mehr benutzen, ohne von jedem Nutzungsgebühren zu fordern. Dafür hab ich noch nie etwas verlangt.“ Er lächelte unsicher. „Kannst du jetzt schlafen?“, wollte er wissen.

Toni kämpfte gegen den Drang an, eine Antwort über seine Zunge rollen zu lassen, die seiner Vernunft ganz und gar nicht gefiel. Er nickte mit zusammengepressten Lippen und schob sich unmerklich in Richtung Ausgang.

„Sorry, dass ich heute Morgen einfach so abgehauen bin. Aber ich musste ganz früh in der Uni sein. Ich traf mich da mit einem Professor und einigen Kommilitonen. Und du hast so friedlich geschlafen.“

Toni biss sich auf die Zunge, als er erkannte, dass Frank die ganze Nacht geblieben war und nicht, wie er vermutet hatte, gegangen war, sobald er eingeschlafen war. Das warme Gefühl, das ihm dabei von den Zehenspitzen aus in die Lenden steigen wollte, focht er vehement nieder.

„Danke für deine Hilfe“, sagte er rasch, bevor er sich umdrehen und aus der Wohnung flüchten wollte.

„Ich kann dich begleiten“, hielten ihn Franks Worte zurück.

Toni blieb stehen und drehte sich langsam um. „Wohin?“

„Zum Cardiologen“, erklärte Frank. „Da solltest du unbedingt hin. Reiki kann vieles, aber wenn du ernsthaft Herzprobleme hast, solltest du das von einem Experten abchecken lassen.“

Mit einem Nicken wandte sich Toni wieder um. „Ich melde mich“, raunte er mühsam und verließ die Wohnung.

Für die Herzprobleme, die Toni nun plagten, würde kein Experte der Welt ein Heilmittel finden, wusste er. Die Fleecejacke behielt er an, als er sich in sein Bett verkroch. Er schlang sie eng um seinen Brustkorb, um die Berührung, die noch immer in seiner Brust wummerte, so lange wie möglich festzuhalten.



3.


Tonis Verstand konnte nicht wirklich nachvollziehen, was Frank mit ihm gemacht hatte. Wunderheilung gab es nicht. Er war zu bodenständig, um an Übernatürliches zu glauben. Dennoch konnte er nicht von der Hand weisen, was er gespürt und welche Auswirkungen es auf ihn gehabt hatte. Irgendetwas war in ihm passiert. Die Berührung allein hatte nicht dieses warme Kribbeln auslösen können. So verliebt war er nicht, dass ihm heiß und kalt wurde, sobald er nur an Frank dachte. Wobei … Dieser Kerl beschäftigte ihn, ließ seine Gedanken rotieren und hin und wieder sogar verträumt durch die Gegend wandeln. Auch wenn er sich dabei immer wieder sagte, dass sein neuer Nachbar vergeben und für ihn damit tabu war, konnte er nicht leugnen, dass er begann, gewisse Empfindungen für den Mann zu entwickeln.

Frank hatte ihn nicht nur durch die Wunderheilung beeindruckt. Auch dessen ruhiges Wesen und die sanfte Stimme aktivierten in Toni genau jene Hormone, die dafür sorgten, dass sein Herz bald ein Plätzchen freiräumen musste.

Die Nacht war dank der Behandlung ruhig. Nerviges Weckerklingeln riss ihn am Morgen rechtzeitig aus dem Schlaf. Wie gewohnt, stellte er sich erst unter die Dusche, frühstückte anschließend gemütlich und warf sich in den Zwirn, um die Kleidervorschriften der Steuerkanzlei gerecht zu werden. In seinem Kleiderschrank hatte sich seit einiger Zeit ein Wandel vollführt. Seine Jeans, die legeren Shirts und T-Shirts waren Designeranzügen, eleganten Hemden und jede Menge Krawatten gewichen. Unentschlossen, was er an diesem Tag anziehen sollte, stand er vor seinem Schrank und wühlte sich durch die Hemden, als es plötzlich an der Wohnungstür klingelte.

Bevor er die Tür öffnete, spitzelte er durch den Spion und wich erschrocken zurück, als er Frank entdeckte. Angespannt hielt er die Luft an und verharrte.

Nein, er wollte nicht öffnen. Seine Schwester hatte ihm absichtlich nichts von ihrem „schnuckeligen“ Nachbar erzählt, da sie befürchtete ihr Bruder könnte eine Beziehung in die Tonne treten, um sich um den neuen zu kümmern. Auch wenn Frank protestierte und Sabines Verdacht dementierte, glaubte er, dass sie ihren Bruder besser kannte, als er zugeben wollte. Frank ein Herzensbrecher.

Toni konnte die Tür nicht aufmachen. Er wollte nicht schuld daran sein, dass eine Beziehung zerbrach.

Daher ging er zurück ins Schlafzimmer und kleidete sich an. Bevor er seine Wohnung verließ, lugte er noch einmal durch den Spion, doch Frank hatte es inzwischen aufgegeben und war gegangen.

Erleichtert verließ er die Wohnung, schlich sich wie ein Verbrecher die Treppen hinunter und kam sich aus seltsamen Gründen schlecht vor. Er hatte es noch nie nötig gehabt, sich vor jemanden zu verstecken oder sich zu verleugnen. Dennoch erschien es ihm falsch, sich noch länger mit Frank abzugeben. Seinem Herz ging es nicht gut dabei. Die Behandlung hatte ihm wohl getan, dennoch erlitt es Schmerzen, wenn er Frank noch einmal begegnen oder gar ihn um Hilfe bitten musste.

Am Abend schlich sich Toni bewusst an der Nachbartür vorbei, lehnte sich auf der Innenseite dagegen und schnaufte tief durch. So verlockend der gut aussehende Kerl auch sein mochte, Toni musste ihn sich aus dem Kopf schlagen.


Feierabend vor dem Fernseher mit TK-Gericht und einem Glas Wein. Dann, wenn die Müdigkeit eingesetzt hatte, ins Bett und am nächsten Tag ausgeschlafen ins Büro. Dieser Ablauf galt bereits seit vielen Jahren, seit er in der Steuerkanzlei arbeitete. Seine Stechuhr ratterte Tag für Tag nach demselben Schema. Unter der Woche konnte sich Toni keine ausladenden Exzesse erlauben. Am nächsten Tag musste er seine grauen Zellen alle beieinanderhaben, damit ihm kein Fehler unterlief. Schon eine Abweichung von einem Cent führte zu großen Problemen. Gerade mal am Wochenende gönnte er sich etwas Ausschweifung, in Form eines Besuches in einer Kneipe oder einem Klub.

Als sich Toni das Wort Ausschweifung noch einmal durch den Kopf gehen ließ, hätte er fast aufgelacht. Seit Monaten hatte er nicht mehr richtig die Sau rausgelassen. Sein Job als seriöser Bilanzbuchhalter schien ihm bereits so in Fleisch und Blut übergegangen zu sein, dass er sich selbst auf Partygängen nicht wirklich entspannen konnte. Vielleicht kamen seine Herzrhythmusstörungen davon, dass etwas in ihm Entspannung und Power verlangte, während er sich bewusst bremste. Er musste zugeben, dass er es vermieden hatte, sich allzu sehr gehen zu lassen, aus Angst einer seiner Arbeitskollegen würde ihn erkennen und denunzieren. Im Steuerbüro wusste niemand von seiner sexuellen Gesinnung. Sein Chef war ein konservativer Mittfünfziger, auf dessen Schreibtisch das Bild seines ersten Enkels stand. Er ging regelmäßig in die Kirche und predigte bei fast allen Konferenzen und Besprechungen über Moral, Gesetz und Anstand.

Als Toni am Freitagabend vor dem Kolibri stand, einem Klub, in welchem sich überwiegend Homosexuelle trafen, glaubte er, noch immer die enge Krawatte um seinen Hals zu spüren, die er während der Arbeitszeit tragen musste. Die Schlinge wurde ihm von Chef und Kollegen angelegt und ziemlich eng gezogen. Vermutlich hatte sie auch Auswirkungen auf sein Herz. Burn-out, Überlastung … Eventuell Ursachen für sein unrund laufendes Herz.

Franks zweite Behandlung hielt diesmal länger an. In der Hoffnung, dass seine Probleme mit diesem Muskel nun ein für allemal behoben waren, ging Toni frohen Mutes an dem Türsteher vorbei, nickte ihm grüßend zu und warf sich ins Getümmel.

Das Kolibri war gut besucht. Auf der Tanzfläche gab es kaum noch einen freien Platz. Dicht an dicht tanzen, bewegten, hüpften oder umschlungen sich männliche Paare, verschlangen sich mit Blicken oder auch mit Händen in den Hosen eines anderen. Blicke folgten ihm, als er sich einen Weg durch die Masse zur Bar bahnte und sich erst einmal ein Bier bestellte. Mit der Flasche in der Hand lehnte er sich in Westernmarnier gegen den Tresen und überflog das Angebot. Er suchte nicht gerade etwas für die Nacht, allenfalls für den Abbau des Druckes in seinem Unterleib und zur Kontrolle, ob sein Herz nun den Anforderungen eines Ficks standhalten konnte. Einige Kandidaten bissen sogleich an. Ein paar Mal ließ er sich auf die Tanzfläche entführen, plauderte mich einigen anderen und gestattete ihnen sogar, ihm unter die Wäsche zu gehen. Doch keiner war ihm gut genug, um mit ihm ins Separee zu verschwinden. Obwohl er sich dagegen wehrte, verglich er alle Kerle, die sich an ihn ranmachten mit Frank.

Es war ein Fehler. Das wusste er selbst. Er machte sich selbst das Leben schwer. Frank konnte er nicht haben. Da war niemals eine Chance gewesen. Er sollte ihn sich endlich aus dem Kopf schlagen. Dann würde vielleicht auch sein Herz leichter werden und keine weitere Behandlung benötigen. Vielleicht konnte er den Termin beim Herzspezialisten wieder absagen, den er am Vormittag ausgemacht hatte. Die Pumpe lief seit der letzten Energieladung einwandfrei. Wozu dann noch einen nervenaufreibenden Check?

Irgendwann am späten Abend legte sich eine Hand auf seine Schulter.

„Hey, hallo“, schrie ihm eine Stimme gegen die Phonzahl der Lautsprecher ins Ohr. Toni versteifte sich. Die Stimme kannte er unter Tausenden heraus, auch wenn dieser so gegen den Bass anschreien musste, dass sie schrill klang. „Das ist aber eine schöne Überraschung“, brüllte Frank.

Toni schob sich seitwärts, um den Abstand zwischen ihnen beiden zu vergrößern und nickte dem anderen nur stumm zu.

„Geht es dir wieder besser?“, erkundigte sich sein Nachbar besorgt und musterte ihn interessiert.

Toni nickte.

„Lust auf Tanzen?“

Erst wollte Toni sofort ablehnen, denn dies hätte zur Folge gehabt, dass sie sich eng aneinander schmiegen mussten. Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, die bereits zum wummernden Klubhousebeat die Hüften schwang.

„Angst, dass anstatt deines Herzens nun deine Füße stolpern?“ Frank sah mich herausfordern und leicht spöttisch an. Eine Herausforderung, die Toni gerne angenommen hätte, wenn ihm nicht ein wichtiger Aspekt ins Gehirn geschrien hätte, sich raus zu halten.

Es hätte ihm schon gefallen, den Mann einmal in Aktion zu sehen, zu beobachten, wie er sich bewegte, wie er seine Hüften schwang und damit hin und her wackelte. Wie er mit dem Rhythmus mitschwang und seinen Körper präsentierte. Es musste herrlich sein, mit anzusehen, wie er seinen Rücken durchbog, sich aufbäumte und sein Becken im Takt von Bässen oder einem Orgasmus bewegte.

Toni kniff kurz die Augen zu und schüttelte verkrampft den Kopf. Weg mit diesen Gedanken, schalt er sich. „Nein, danke“, stieß er mühsam hervor. Unterhalb seines Gürtels wurde es verdammt eng und er musste an die Kante des Hockers rutschen, um seinem Schritt etwas mehr Freiheit zu gönnen.

„Ich lache ganz bestimmt nicht“, versprach ihm Frank. „Ich bin selbst kein guter Tänzer, aber es macht Spaß.“

Erneut schüttelte Toni den Kopf. „Ich war heute schon“, gab er müde von sich.

„Ist deine Tanzkarte schon ausgeschöpft?“, erkundigte sich Frank enttäuscht.

„Ich bin müde, trinke nur noch mein Bier aus, dann gehe ich“, erklärte Toni und setzte die Flasche an, um den fahlen Geschmack hinunterzuspülen, der sich in seinem Mund gebildet hatte.

„Es ist doch erst kurz vor elf.“ Frank blickte kurz auf die Uhr und zog die Augenbrauen hoch, als er die Zeit ablas.

„War eine anstrengende Woche.“ Toni wand sich ab. Er fühlte sich schlecht. Tief in seinem Inneren wollte er Frank nicht abservieren. Eigentlich war es ihm immer egal gewesen, ob ein Kerl vergeben war oder nicht. Solange sie sich im Kolibri vergnügten, befanden sie sich innerhalb einer gewissen Freizone, in der man tun und lassen konnte, was man wollte, ohne dass es Konsequenzen nach sich zog. Skrupel existierten hier nicht. Bei Eintritt mussten alle gesellschaftlichen Werte an der Garderobe gegen Aushändigung eines Pfandbons abgegeben werden. Hier war man nur Tier, das seinem Trieb und seinen ureigenen Bedürfnissen nachging. Bürohengste wie Toni wurden zu begehrten Objekten. Verweichlichte Muttersöhnchen zu wahren Sexmaniacs. Doch heute schaffte es Toni irgendwie nicht, den Arsch raushängen zu lassen und sich Frank zu schnappen, vollkommen gleichgültig, was dessen Freund dazu zu melden hatte. Es erschien ihm falsch.

Sein Blick schweifte über das übrige Angebot, das sich teilweise in Stoff sparendem Outfit anbot und ihn mit Blicken zu einem Kurzaufenthalt im Nebenzimmer zu überreden versuchte. Nur ein Tanz, nur ein harmloser Fick, redete er sich selbst ein, um sich dazu zu ermuntern, sich einfach gehen zu lassen. Es funktioniert jedoch nicht.

Er drehte sich wieder zu Frank um, hob seine Flasche und prostete ihm kurz zu. „Wir sehen uns“, verabschiedete er sich, schob sich vom Hocker und mischte sich unter die Menge.

Warum fühlte er sich jetzt wie ein Arsch? Er hatte doch nur getan, was richtig war.

Wenn er sich nicht selbst Lügen strafen wollte, hätte er jetzt das Lokal verlassen müssen. Toni war sogar auf dem Weg zum Ausgang, als ihn eine Hand packte, festhielt und zu sich umdrehte. Ein Kerl grinste ihn an, rieb sein Becken lasziv an ihm und zog ihn an der Hand zur Tanzfläche. Noch ehe Toni sich versah, hatte der Typ seine Hand am Schritt angelegt und begann, die Beule mit genüsslichen Auf- und Abbewegungen zu massieren. Tonis Verstand klickte sich aus. Er ließ sich von dem Kerl zu einem Balztanz verführen und sich sogar die Zunge in den Mund schieben.



4.


Wie genau und vor allem wann er nach Hause gekommen war, konnte Toni nicht sagen. Als er am Morgen erwachte, fand er sich allein vor. Also hatte er niemanden mit zu sich genommen, stellte er erleichtert fest. Er blinzelte, wischte sich den Schleier der Schlaftrunkenheit von seinem Gesicht und gähnte herzhaft.

Auf Tonis Etage gab es vier Wohnungen, zwei mit einem Wohn- und einem Schlafraum und zwei, die neben Bad, Küche und Wohnzimmer zwei Schlafräume hatten. Die Zwei-Zimmer-Wohnungen, wie die von Toni und Sabine, waren spiegelverkehrt angeordnet, was bedeutete, dass Wohnzimmer an Wohnzimmer und Schlafzimmer an Schlafzimmer lagen. Flankiert wurden sie von den anderen beiden Wohnungen, deren Küchen und Badezimmern jeweils gemeinsame Wasserleitungen in der Wand nutzten. Die Wände des nur zehn Jahre alten Wohnhauses waren relativ dünn. Man konnte durch sie den Mediengeschmack des Nachbarn erfahren, aber auch, was sie sonst noch so trieben.

Von nebenan kamen lautes Stöhnen und abgehackte Schreie, wie bei einem heftigen Fick. Eindeutig von einer männlichen Kehle ausgestoßen.

Sofort zog sich Tonis Herz schmerzhaft zusammen. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand ein glühendes Messer hineingetrieben. Dass ihm Sabines Bruder inzwischen nicht mehr ganz gleichgültig geworden war, hatte Toni längst erkannt. Aber dass es ihn derart verletzen würde, wenn er hörte, wie der es mit jemanden trieb, überraschte ihn dennoch.

Er riss die Decke von seinen Beinen, sprang aus dem Bett und flüchtete aus dem Schlafzimmer. Nein, das wollte er sich nicht anhören. Wen auch immer Frank nebenan nagelte oder sich von jemanden nageln ließ, er wollte es weder wissen, noch sich diese Audioshow antun.

Im Wohnzimmer drehte er die Stereoanlage auf, kurbelte den Lautstärkeregler etwas höher als gewöhnlich und ging in die Küche, um sich Frühstück vorzubereiten. Seine Hände zitterten vor Anspannung und Wut, wobei er nicht wusste, auf wen er wütend war. Auf sich, da er es einfach nicht schaffte, sich diesen Kerl aus dem Kopf zu schlagen. Oder auf Frank, der die Frechheit besaß, ihm seine bestehende Beziehung auch noch lautstark durch die Wand mitzuteilen und ihn dadurch zu verhöhnen. Vielleicht hätte er ihn gestern nicht so schroff abweisen sollen. Eventuell war das nun die Retourkutsche.

Mit einem Grummeln im Bauch saß Toni in der Küche, hielt sich an seiner Kaffeetasse fest und überlegte sich ernsthaft, umzuziehen. Wenn Frank nun länger hier wohnte, würde es für ihn eine Qual werden. Offenbar hatte der Kerl mit Tonis Herz noch mehr angestellt, als es zu heilen. Hatte er sich dort einen Platz gesichert? Sich ungefragt eingenistet und stichelte nun von innen heraus das Unterbewusstsein an? Diese Gabe, die Frank besaß, dieses Reiki, konnte es noch mehr, als mit Erdenergie widerspenstige Herzen heilen? Fast glaubte er an seine Vermutungen. Irgendetwas war seit der ersten Berührung mit ihm passiert. Als sich diese feinen Hände auf sein Herz gelegt hatten, musste nicht nur die Heilenergie auf ihn eingewirkt haben, sondern auch noch etwas anderes. Nicht anders konnte sich Toni erklären, warum sein Blut in Wallung geriet und die Hormone flossen, sobald er auch nur an Frank dachte. Er hatte ihn manipuliert, ihn auf sich gepolt, irgendwie mit etwas infiziert, das ihn an sich band.

War das der eigentliche Grund, warum Sabine nichts erwähnt hatte? Weil sie wusste, dass ihr Bruder in der Lage war, Menschen zu manipulieren?

Toni schüttelte den Kopf. Die Sache wurde ihm zu skurril. Für derartige Sachen war er einfach zu bodenständig und zu reell. Es gab keine übersinnlichen Fähigkeiten oder Gaben. Das waren alles reine Fantasiegeschichten. Abgefahrene Gedanken von kranken Hirnen, die vielleicht selbst eine Elektroschockbehandlung brauchten.

Was genau hatte Frank eigentlich mit ihm gemacht? Welchen Zaubertrick hatte er angewandt.

Toni sah an sich herunter, betrachtete die Stelle an seiner Brust, die von Frank behandelt worden war, als könne er von dort die Antwort ablesen. Er hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt, keine Geräte, die der andere unbemerkt aus dem Hemdsärmel gezaubert hatte, während Toni wegen seines stolpernden Herzens halb am Durchdrehen war. Also wie hatte er das gemacht?

Die Neugier befiel ihn. Er nahm seinen Laptop und recherchierte nach Reiki und alternativen Behandlungsmethoden von Herzrhythmusstörungen. Nach einer Stunde surfen im Internet war er jedoch genauso schlau wie vorher. Ihm sagten die Erklärungen auf den Reiki-Seiten nicht viel. Dafür hatte er sich zu wenig mit beschäftigt und außerdem glaubte er nicht daran, dass man einfach Energie heraufbeschwören konnte, die Mutter Erde für die Menschen bereithielt. Energie floss aus der Steckdose und brachte Glühbirnen zum Leuchten oder Computer zum Laufen. Zudem soll es auch Symbole geben, die man für das Fließen der Lebensenergie benötigte. All das verwirrte ihn und ließ ihn noch ratloser zurück, als er vorher war.

Mit einem resignierten Seufzen klappte Toni den Computer zu und ließ den Kopf auf den Deckel sinken. In was für eine Sache war er da eigentlich reingeraten? Was er gelesen hatte, ließ immer mehr die Vermutung in ihm aufkeimen, dass Frank mit bösen Mächten vereint war und ihm vielleicht sogar schaden wollte. Auch wenn der Kerl mit seinem netten Lächeln ganz und gar nicht danach aussah. Aber schon im Kommunionunterricht war ihm eingeprägt worden, dass man einem Teufel nicht unbedingt ansah, wer er war. Satan war listig und schlau und tarnte sich sogar mit dem Deckmantel eines Engels.

Plötzlich klopfte es einmal hart und unangenehm in seiner Brust. Dieser ungewöhnlich harte Schlag seines Herzens war sogar bis zum Hals zu spüren. Dann setzte es den Bruchteil einer Sekunde aus und schlug schließlich weiter. Fünf normale Schläge, dann ein Aussetzer.

Es ging wieder los.

Toni sprang auf seine Beine, rempelte dabei fast den Tisch um und hastete hektisch durch die Küche, um seinen Kreislauf anzukurbeln. Doch diesmal wollte sich seine Pumpe nicht mehr durch den erhöhten Blutdruck dazu überreden lassen, in einen gleichmäßigen Takt überzugehen. Der Mehranspruch sorgte sogar dafür, dass sein Herz beleidigt reagierte, nur ein oder zwei Mal schlug, um sich mit einem heftigen Poltern eine kleine Auszeit zu gönnen.

Panik keimte in Toni auf. Er tigerte mittlerweile durch das Wohnzimmer, marschierte durch den Flur, immer schneller und hektischer. Doch sein Herz wollte sich diesmal nicht durch die Pulsbeschleunigung überreden lassen.

Das Klingeln der Wohnungsglocke ließ ihn zusammenfahren. Wie mechanisch eilte er zur Tür, öffnete sie und hätte sie am liebsten sofort wieder zugeschlagen. Verdammt, warum hatte er vorher nicht durch den Spion gesehen. Frank stand davor und sah ihn mit mürrischer Miene an.

„Könntest du deine Musik etwas leiser drehen?“, fragte er dennoch mit höflichem Ton. „Wir versuchen, für eine Klausur zu lernen und da ist die Party, die du hier veranstaltest, wenig hilfreich.“

Toni sah ihn erst fragend an. „Wie kann man gleichzeitig ficken und lernen?“, entkam es ihm, bevor er über seine Worte nachdenken konnte. „Rammt ihr euch den Lehrstoff direkt über die Körperöffnungen ins Hirn?“

Franks Gesicht verfinsterte sich sofort. „Wer hat denn dir in den Morgenkaffee gespuckt?“, blaffte er gereizt. Die Falten auf seiner Stirn verschwanden jedoch, als er seinen Gegenüber eingehender musterte. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Was geht dich das an?“, bellte Toni und wollte die Tür zuwerfen. Frank platzierte blitzschnell seinen Fuß im Türspalt und drückte sie wieder auf. „Ich kann es dir ansehen. Dir geht es nicht gut.“

„Verschwinde!“, zischte Toni, machte ein verächtliches Geräusch und wirbelte herum, um den Tigermarsch durch seine Wohnung fortzuführen. In seinem Kopf kribbelte es plötzlich seltsam und ihm wurde schwindelig. Sein Sichtfeld engte sich ein. Reflexartig suchte er Halt und fand ihn an den Schultern eines Mannes, der ihn auffing und festhielt.

„Ich rufe den Notarzt“, entschied Frank.

„Fass mich nicht an“, rief Toni und versuchte, ihn von sich zu stoßen. Frank drückte ihn jedoch gegen eine Wand und bannte ihn dort fest, während er in seiner Tasche nach dem Handy angelte und hektisch auf die Tasten drückte.

„Lass mich in Ruhe“, keifte Toni. In seinem Brustkorb polterte es heftig. Fast bei jedem Schlag blieb sein Herz nun für einen Moment stehen, ehe es einen weiteren machte und wieder aussetzte. Er drückte seine Faust gegen die Rippen, versuchte, durch den Druck den Takt anzukurbeln, doch sein Herz weigerte sich standhaft. Dann probierte er es mit einer Eigenmassage, presste seine Faust rhythmisch auf den Brustkorb. In seinem Kopf kribbelte es immer wieder und seine Knie wurden weich. Würde Frank ihn nicht gegen die Wand drücken, wäre er schon längst zusammengesackt.

„Sie sind gleich da“, keuchte Sabines Bruder, schob seine Arme unter Tonis Achseln und drückte ihn an sich. „Halte durch. Es wird schon wieder.“

„Lass mich in Ruhe“, verlangte Toni erneut. Einerseits war er heilfroh, dass Frank aufgetaucht war und er dies nicht alleine durchstehen musste. Andererseits entfachte dessen Nähe ein Gefühl in ihm, das er nicht gutheißen wollte und konnte. Trotz der Aufregung in seinem Körper und der Todesangst, die mehr und mehr in ihm an Bestand gewann, drückte sich die Erregung gegen die Naht seiner Pyjamahose und beulte die weite Hose immer mehr aus.

Frank schien dies nicht zu bemerken oder einfach zu übergehen. Als er ihn ins Schlafzimmer zu seinem Bett führte und vorsichtig dort niederlegte, rieb Tonis harter Schwanz mindestens einmal an Franks Becken. Jeder Mann spürte eine solche unsittliche Berührung sofort. Doch Frank sagte nichts.

„Schieb das Oberteil hoch“, verlangte er und rieb seine Hände aneinander. Seine Miene war ausdruckslos. Er schien komplett in die Rolle des ungerührten Arztes gefallen zu sein.

„Nein.“ Toni fasste den Saum der Pyjamajacke fester und zerrte sie über seinen Schritt.

„Ich kann dir helfen“, versuchte Frank, ihn zu überreden.

„Fass mich nicht an!“, zischte Toni erneut. Sein Herz polterte wild und unkontrolliert in seiner Brust. In seinem Kopf kribbelte es und Sternchen bildeten sich vor seinem Auge. Ein dicker Knoten schwoll in seiner Kehle an und seine Atmung beschleunigte sich, nicht nur dank der Panik, die in ihm zu wüten begann und seinen Blutkreislauf mit Adrenalin überschwemmte. Er wollte aufspringen und durch die Wohnung rasen. Seine Glieder zitterten. Er presste immer wieder seine Hände zu Fäusten, drückte gegen den pochenden Muskel in seinem Körper.

Verdammt!, fluchte er im Stillen. Warum konnte er nicht wie ein normaler Mann sterben, sondern musste sich vor dem Kerl lächerlich machen, der sich über ihn lustig machte?

Als er bemerkte, dass Frank aus der Wohnung rannte, überwältigte ihn die Panik erst recht. Dieser Mistkerl ließ ihn allein krepieren, elendig zugrunde gehen. Wut keimte in ihm auf, während er weiter versuchte, per Herzmassage seine Pumpe zu überreden wieder einwandfrei zu funktionieren. Im nächsten Moment war Frank wieder da, schüttete aus einem kleinen Fläschchen winzige, weiße Kügelchen in seine Handfläche und hielt sie Toni hin.

„Nimm das!“, verlangte er.

Toni wich zurück und öffnete den Mund zu einem Protest. Da packte Frank ihn, zwang den Kiefer weiter auf und schüttete die kleinen Perlen einfach in den Mund.

„Sorry, aber sonst verfällst du in einen Schockzustand“, erklärte er, als Toni hustete und die kleinen Dinger auszuspucken versuchte. „Das sind nur Notfallglobuli.“

„Placeboscheiß“, keuchte Toni und spie eines der kleinen weißen Dinger auf Franks Schoß, wo das von seinem Speichel befeuchtete Ding kleben blieb.

Im selben Moment näherte sich eine Sirene, die genau vor dem Haus anhielt.

„Sie sind da“, informierte Frank ihn. „Jetzt geht’s dir gleich besser.“

Es klingelte. Frank öffnete den Sanitätern. Binnen weniger Minuten war Toni umringt von fremden Leuten, die ihn untersuchten, sein Herz abhörten und auf ihn einredeten. Er bekam eine Spritze. Toni realisierte nicht, was der Arzt zu ihm sagte. Seine Sinne schwirrten. Die Sternchen wurden immer mehr. Und irgendwann glitt er unaufhaltsam in eine Dunkelheit.

Das Einzige, das er noch bis in die Umnachtung hinein spürte, war die Hand, die ihn festhielt und drückte, bis er eingeschlafen war.



5.


Als Toni die Augen aufschlug, war er überrascht, dass er sich in seinem Schlafzimmer und nicht auf der Intensivstation der Klinik befand. Sein Herz schlug langsam und gleichmäßig, als wäre nie etwas gewesen. Er hob den Kopf an und sah sich um.

War das nur ein absolut krasser Traum gewesen?

In der Wohnung war es still. Selbst von nebenan kam kein Geräusch.

Langsam schwang er die Beine aus dem Bett und stellte sich auf die Füße. Er trug noch immer seinen Pyjama. In der Ellenbeuge klebte ein Pflaster, das einzige Beweisstück dafür, dass er das alles nicht geträumt hatte. Vorsichtig, sich am Türstock festhaltend, verließ er das Schlafzimmer und schlurfte ins Wohnzimmer. Dort saß Frank im Schneidersitz auf dem Sofa, ein dickes Buch auf seinen Knien und schien konzentriert darin vertieft zu sein. Als das schlurfende Geräusch der Schritte auf dem Teppich auf den Eintretenden aufmerksam machte, sah er hoch, blinzelte kurz und setzte ein nettes Lächeln auf.

„Geht es dir wieder besser?“

„Was ist passiert? Wo sind die Sanitäter hin?“

„Wieder gegangen“, erklärte Frank, legte das Buch neben sich auf die Couch und erhob sich. „Sie haben dir eine Spritze zur Beruhigung gegeben. Danach hat sich die Herzfrequenz normalisiert und du bist eingeschlafen. Der Notarzt meinte, du sollst dich unbedingt zu einem Herzspezialisten begeben.“

Toni nickte.

„Hast du einen Termin ausgemacht, so wie ich es dir geraten habe?“

Ärger kochte in Toni hoch. Er drehte sich mit einem Murren um und ging in die Küche. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Er brauchte dringend einen Schluck Wasser. Als er ein Glas aus dem Schrank nahm und unter den Wasserhahn hielt, kam Frank heran.

„Was ist mit dir los?“, wollte er wissen. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann …? Wenn du Probleme hast, im Job oder sonstwie … Ein Gespräch hilft manchmal ungemein.“

Jetzt dachte der Kerl auch noch, dass Toni psychische Probleme hatte.

Toni schnaufte genervt, trank das Glas in einem Zug aus und stellte es in die Spüle.

„Ich komm schon zurecht“, fauchte er ungehalten und schob sich Frank vorbei aus der Küche heraus. Plötzlich war es ihm unangenehm, sich vor ihm im Pyjama zu präsentieren. Doch zum Glück war sein Ständer inzwischen abgeflaut.

„Den Eindruck hab ich aber nicht“, widersprach Frank. „Du sendest absolut widersprüchliche Signale. Ich weiß nicht, woran ich mit dir bin.“

Entnervt biss sich Toni auf die Zunge, marschierte ins Wohnzimmer, wischte den dicken Wälzer zur Seite und ließ sich auf das Sofa sinken. Frank folgte ihm.

„Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass dich etwas beschäftigt, mit dem du nicht klar kommst“, fuhr er fort.

„Erspar mir diesen Psychoscheiß“, fauchte Toni.

„Ich will dir nur helfen“, entschuldigte sich Frank.

„Seid ihr Placeboschlucker alle so selbstlos und müsst euch Leuten aufdrücken, die euch nicht haben wollen?“

Frank starrte ihn einen Moment ausdruckslos an, dann raffte er seine Habseligkeiten zusammen und verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort. Mit dem Knall, mit der die Wohnungstür hinter ihm zufiel, hätte sich Toni am liebsten selbst einen Magenschwinger verpasst. Er fühlte sich so beschissen und wie der größte Arsch der Welt, dennoch konnte er nicht anders. Frank war freundlich und wollte ihm nur helfen, das war ihm klar. Aber dessen Nähe war für Toni einfach unerträglich. Ständig musste er daran denken, dass er ihn wollte, aber nicht haben konnte. Wie ein Stückchen Zucker, das in einem Käfig eingesperrt war. Er konnte es riechen, wenn er den Finger durch das Gitter streckte, sogar fühlen, aber er konnte es nicht herausholen und in den Mund schieben. Wenn er das täte, würde die Strafe sofort auf dem Fuß folgen, sich die Hand Gottes über ihn senken und ihm eine deftige Ohrfeige verpassen, oder der Boden unter ihm auftun, ihn verschlingen und direkt in die Hölle befördern. Dann würde man ihn mit einem Schild brandmarken und als Verräter und Beziehungstöter durch die Stadt jagen.

Toni hatte seine Prinzipien und die drohten ihm unsägliche Qualen an, wenn er dagegen verstieß.


Am Montag Nachmittag stand der Termin beim Cardiologen an. Toni wünschte sich, er hätte Frank nicht so schroff aus seinem Leben geworfen und stattdessen das Angebot angenommen, ihn zu diesem Termin zu begleiten. Er fühlte sich unbehaglich, als er im Wartezimmer der Praxis saß und darauf wartete, dass er drankam. Nervosität machte sich in ihm breit. Seine Gedanken bekamen Flügel und malten sich die schlimmsten Sachen aus, die bei der Untersuchung rauskommen könnten. Womöglich brauchte er mit seinen knapp 28 schon einen Herzschrittmacher. Oder er hatte einen angeborenen bis jetzt unentdeckten Herzklappenfehler. Was auch immer dieses Herzstolpern bei ihm auslöste, er glaubte nicht, dass es harmlosen Ursprungs war. Dafür war der letzte Anfall zu heftig gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre bewusstlos geworden, weil sein Gehirn durch das unregelmäßig schlagende Herz mit zu wenig Sauerstoff versorgt worden war.

Der Arzt bestätigte nach einer ausgiebigen Untersuchung, verschiedenen EKGs und Screening seines Brustkorbes zu Tonis Leidwesen die Vermutung, denn er konnte keine Ursache finden.

„Ihr Herz ist kräftig und gesund“, sagte er. „Wir können gerne noch ein Langzeit-EKG machen, aber ich denke, es wird keine Resultate bringen.“

„Aber irgendwas muss es doch auslösen“, wand Toni ein. „Diese Störungen kommen doch nicht von nichts.“

„Natürlich kommen sie nicht von nichts“, pflichtete ihm der Experte bei. „Aber die Ursachen sind nicht immer körperlich. Stress, Trauer, psychische Überlastung können ebenfalls Auslöser sein. Nehmen Sie sich etwas zurück, treiben Sie Sport, stellen Sie Ihre Ernährung um. Vielleicht hilft auch Yoga oder Tai Chi, sich wieder in den Griff zu bekommen. Solche Störungen, die nicht körperlich bedingt sind, sind meist ein Hilferuf des Körpers. Es klingt für Sie vielleicht etwas unbefriedigend, aber sehen Sie Ihr Leben etwas lockerer. Berufliche Erfolge müssen nicht auf Biegen und Brechen sein. Sie stellen sich auch ein, wenn man einen bequemeren Weg einschlägt.“

Toni unterdrückte ein Knurren. Er hatte sich bisher nicht unbedingt als Karrieremensch bezeichnet, dennoch konnte er nicht leugnen, dass ihm die berufliche Anerkennung wichtig war und dass er sich viele Nächte um die Ohren geschlagen hatte, um Bilanzen noch pünktlich bis zum Stichtag zu erstellen. Sein Chef wie auch die Behörden verlangten stets Pünktlichkeit und Perfektionismus. Lapidare Zeitangaben und Schlendrianismus ließ sich nicht in Paragrafen und starre Zahlen ausdrücken. Toni war ein Mensch, der nach der Stechuhr lebte.

Und das sollte er jetzt aufhören? Eingefahrene Muster und Karrieresprünge seinem Herz zuliebe aufgeben und sich lieber auf die Sonnenliege betten, als auf den Schreibtischstuhl. Das war etwas zu viel verlangt.

„Vielen Dank“, verabschiedete er sich von dem Mann, gab ihm freundlich die Hand und verließ die Praxis noch unbefriedigter, als er sie vorher betreten hatte. Zumindest war er nicht todkrank, tröstete er sich selbst. Ein Umstand, der ihn trotz allem beruhigte. Dennoch … Wenn er wieder so einen Anfall hatte und sein Herz ihm seinen Willen aufzwingen wollte, würde er einfach umkippen, und so lange in seiner Wohnung liegen, bis ihn jemand vermisste. Und dies konnte lange dauern.

Zu seinen Eltern hatte er keinen Kontakt mehr, nachdem sie ihm zu verstehen gegeben hatten, dass sie mit einem schwulen Sohn nicht zurechtkamen. Seine Freunde waren immer weniger geworden, als er seine Gewohnheiten zugunsten seines Jobs änderte und nur noch am Wochenende bereit war, einen mit ihnen drauf zu machen. Er hatte sein Leben strukturiert und in geordnete Bahnen sortiert und sich Prinzipien zurecht gelegt, die es ihm vereinfachten, den Anforderungen, die das Leben an ihn stellte, gerecht zu werden. Paragrafen und strikte Zahlen, wie ein Buchhalter, der er war. Konnte er wirklich nur noch in Soll und Haben denken? War nur noch fähig, sich in Prozente einzuteilen? Wenn er nicht hundertprozentig ausgeschlafen war, lieferte er auch keine volle Leistung? Er stand mit dem Wecker auf und ließ mit dem fünf-Uhr-Gongschlag des Domes vor dem Fenster seines Büros den Stift fallen und machte sich auf dem Nachhauseweg. Um sechs gab es Abendessen, danach Fernsehen bis spätestens zehn Uhr. Schlafen und um sechs aufstehen. Vergnügungen nur noch an freien Tagen. Regelungen, Gesetze, die er sich selbst auferlegt hatte, um besser und einwandfreier funktionieren zu können.

Sein Herz hatte nun eine Petition dagegen eingelegt und schien ihn mit Revolte und Streik zu einer Einigung zu zwingen.

Absurd.

Toni schüttelte den Kopf, als er auf die Straße trat und ihn die kalte Winterluft empfing. Es hatte inzwischen wieder begonnen zu schneien. Er zog den Kragen seines Wintermantels höher und machte sich auf zum Parkplatz, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, um zum Büro zurückzufahren. Sein Chef hatte ihm extra noch gesagt, dass er nach dem Arztbesuch wieder erscheinen sollte. Kurz vor Jahresschluss war die Hochsaison für das Steuerbüro. Die halbe Welt schien sich erst Ende Dezember daran zu erinnern, dass es feste Termine für steuerbegünstigende Maßnahmen gab.

Er hielt inne, den Schlüssel in der Hand und starrte den Schneeflocken hinterher, die sich auf der Autoscheibe niedersetzen und langsam abwärts rutschten.

Wann hatte er das letzte Mal blaugemacht?

Noch nie, erinnerte er sich. Er fühlte sich nicht fähig, auch nur einen Buchungsvorgang richtig einschätzen und entsprechend verbuchen zu können. Seine Hände zitterten, nicht nur vor Kälte. In seinem Kopf herrschte heilloses Durcheinander. In seiner Brust holperte es alle zwanzig oder dreißig Schläge, als hätte sein Herz Schluckauf. Er konnte jetzt nicht still auf einem Stuhl sitzen und stupide Zahlen eintippen. Dafür brauchte er eine ruhige Hand und einen klaren Verstand. Auch wenn sein Intellekt dabei nur wenig zu tun hatte.

Kurz entschlossen zog er sein Handy aus der Tasche und meldete sich krank. In fünf Jahren war es allemal drin, auch wenn ihm sein Chef nun am Telefon etwas vorjammerte.

Mit einem gewissen beschwingten Gefühl stieg Toni in seinen Wagen und ließ den Motor an. Sein Blick durch die Windschutzscheibe fing eine Person ein, die über den Parkplatz spazierte, die weiße Pudelmütze tief ins Gesicht gezogen, einen Rucksack auf dem Rücken und den Kopf vor den herabfallenden Schneeflocken gesenkt. Wie Yeti persönlich stapfte er mit seinen dicken Winterstiefeln durch den Schnee, kickte kleinere Schneehäufchen zur Seite und schien sich stur auf seinen Weg zu konzentrieren. Seine Miene wirkte verkniffen. Vielleicht war ihm auch einfach nur kalt, mutmaßte Toni und blickte dem Mann hinterher, bei dessen Anblick sein Herz spontan schneller schlug. Frank spazierte zum Eingang der Praxis, verharrte kurz und öffnete schließlich die Tür, um in Inneren zu verschwinden.

Was machte Frank hier?, fragte sich Toni, neugierig geworden. Spionierte er ihm nach? Kontrollierte er, ob er auch tatsächlich den Termin wahrnahm? Was ging den Kerl Tonis Gesundheit an? Hatte er selbst Herzprobleme? Wenn ja, warum heilte er sich mit seinen magischen Händen denn nicht selbst?

Er schaltete den Motor wieder aus und wartete. Es dauerte über eine Stunde, bis Frank die Praxis endlich wieder verließ. Die Pudelmütze erneut tief ins Gesicht gezogen, sodass man kaum mehr die Augenbrauen sehen konnte, stapfte er durch den Schnee über den Parkplatz. Inzwischen war es im Wagen so kalt geworden, dass Toni schlotterte. Ihn hätten jedoch keine zehn Pferde von dieser Stelle weggebracht. Als Frank näher kam, öffnete Toni die Tür und stieg aus.

„Hey!“, rief er, um Frank auf sich aufmerksam zu machen.

Franks Kopf kam hoch, blickte sich verwirrt um, und als er Toni entdeckte, huschte erst ein Lächeln um seine Lippen, das jedoch rasch wieder verschwand.

„Hey“, gab der andere zurück, blieb jedoch wie angewurzelt an der Stelle stehen, wo er angehalten hatte. „Spionierst du mir nach?“, wollte er scharf wissen.

„Dasselbe könnte ich dich fragen“, erwiderte Toni.

Frank legte den Kopf leicht schief und ließ seinen Blick zurück zur Praxis gleiten. „Muss wohl daran liegen, dass das die einzige cardiologische Praxis hier am Ort ist“, meinte er und rückte seinen Rucksack bequemer auf seiner Schulter zurecht.

„Kann ich dich irgendwo mit hinnehmen?“, bot sich Toni an.

Für einen Moment schien Frank tatsächlich über das Angebot nachzudenken und zu erwägen, es anzunehmen. Doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein, danke“, lehnte er ab, rückte den Schulterriemen erneut zurecht, nickte Toni zu und wollte weitergehen.

„Frank, warte!“, hielt ihn Toni zurück, warf die Autotür zu und beeilte sich, die Distanz zwischen ihnen beiden zu verringern. Zumindest so nahe zu kommen, dass sie sich nicht über den halben Parkplatz anschreien mussten.

Der Student blieb stehen und wartete geduldig, bis Toni herangekommen war.

„Ich möchte mich bei dir bedanken“, sagte Toni und schob seine Hände in die Manteltaschen. Die Kälte im Inneren des Wagens hatte ihm schon ziemlich zugesetzt. Hier draußen, wo zudem noch ein eisiger Wind dazukam, war es fast nicht mehr zu ertragen. Er zog den Kragen höher, zog die Schultern hoch und stopfte seine Hände zurück in die Taschen. „Für das, was du für mich getan hast. Wärst du nicht gewesen … ich weiß nicht, ob es dann so glimpflich ausgegangen wäre.“

Frank nickte ausdruckslos. „Keine Ursache“, gab er tonlos von sich.

„Und ich möchte mich entschuldigen.“

Der andere hob den Blick. Seine Augen weiteten sich und blickten Toni erwartungsvoll an.

„Ich war nicht nett zu dir“, erklärte Toni. Es fiel ihm schwer, dies zuzugeben, doch er musste unbedingt sein Gewissen bereinigen. „Ich hätte das nicht zu dir sagen dürfen.“

Frank verzog sein Gesicht. „Kein Problem. Ist eben meine Art, mich Leuten aufzudrängen.“

„Nein“, beeilte Toni zu sagen. „Ich habe dich beleidigt und das hätte ich nicht tun dürfen. Du wolltest mir nur helfen und … Es war falsch, dich so anzufahren.“

„Hätte ich vermutlich auch getan, wenn ich in deiner Lage gewesen wäre“, erwiderte Frank.

„In meiner Lage?“ Toni überlegte kurz, wie er das gemeint haben könnte, beeilte sich aber sein Vorhaben vorzubringen, noch ehe ihn der Mut dazu verließ. „Ich war durcheinander und …“ Er wusste nicht genau, wie er es ausdrücken sollte, und schalt sich, in der Stunde, in der er auf Frank gewartet hatte, nicht daran gedacht zu haben, sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Anfangs wollte er einfach abwarten und sehen, was passierte. Doch als Frank herausgekommen war, war Toni einfach einem Impuls gefolgt.

„Ich habe keine Erfahrung mit diesen ganzen Dingen und ihnen bisher eher skeptisch entgegen gesehen. Du hast mich gelehrt, dass hinter diesen energetischen Methoden durchaus etwas stecken kann. Ich hätte das niemals für möglich gehalten.“

„Man lernt nie aus“, gab Frank philosophisch von sich.

„Du bist absolut davon überzeugt. Und ich habe dich verletzt und verspottet. Dafür entschuldige ich mich.“

Diesmal nickte Frank stumm. Sein Gesicht entspannte sich und musterte den anderen nun interessiert. „Was hat der Dok gesagt?“, erkundigte er sich.

„Hast du auch ein Herzproblem?“, fragte Toni, anstatt zu antworten. „Weil du zu ihm gegangen bist?“

Frank lachte leicht zynisch auf. „Für diese Art von Herzproblemen ist er nicht zuständig. Nein, ich fragte ihn, ob ich bei ihm ein Praktikum machen kann, weil ich doch irgendwann als Cardiologe arbeiten will.“

„Und?“

Frank zog die Schultern hoch. „Er überlegt es sich.“ Ihre Blicke trafen sich. „Konnte er dir helfen?“

„Nicht wirklich“, gab Toni zu. „Ich soll mein Leben ändern und es langsamer angehen lassen.“

„Keine schlechte Idee“, nickte Frank. Ein Lächeln huschte dabei um seine Mundwinkel. Es verschwand jedoch rasch wieder. „Ich hab noch eine Menge zu tun. Ich hab einen riesigen Wulst an Lernstoff nachzuholen“, versuchte er, das Gespräch abzuschließen.

„Warum?“ Erst jetzt erinnerte sich Toni daran, dass die Semester bereits im September begonnen hatten und Frank jetzt erst, Mitte Dezember, aufgetaucht war. „Hattest du Probleme an deiner alten Uni?“

Ein Seufzen entkam Frank. Diese Frage schien ihn tiefer zu treffen, als er zuzugeben bereit war. „So in etwa“, wich er aus. „Wir sehen uns“, gab er knapp von sich, richtete den Schulterriemen zurecht und stapfte einfach davon.

Toni blickte ihm hinterher, noch unbefriedigter, als er jemals zuvor war. Irgendetwas war mit Frank passiert. Diese Erkenntnis weckte seine Neugier, auch wenn ihm seine Vernunft ein Stoppschild ins Gesicht schlug und ihn darauf aufmerksam machte, dass Frank erstens vergeben und zweitens, es nicht seine Baustelle war.



6.

 

Auch wenn sich Toni den ersten Blueday seines Lebens gegönnt hatte, so war er nicht bereit, dies gnadenlos auszunutzen. Er ging nach Hause, legte sich noch für ein paar Stunden ins Bett und versuchte, Schlaf zu finden, um das Defizit halbwegs auszugleichen. Doch seine Gedanken kreisten unentwegt um Frank. Nicht nur, dass den Studenten ein Geheimnis zu umwittern schien, dem er auf die Spur kommen wollte. Der Platz, den Frank in seinem Herzen eingenommen hatte, verlangte danach, besetzt zu werden. Es fühlte sich kalt und einsam an, und wenn er in sich horchte, machte er eine Leere aus, wie in einem großen Saal voll verwaister Stühle.

Auch wenn ihm klar war, dass dieser Stuhl solange unbenutzt bleiben würde, wie Frank mit seinem Freund zusammen war und vielleicht sogar niemals besetzt werden würde, keimte in ihm das Verlangen auf, wenigstens ein klein wenig von dem zurückzugeben, was Frank ihm geschenkt hatte. Es war wahrlich keine Lebensenergie, die er dem Studenten bieten konnte. Allenfalls die Hand oder das Ohr eines guten Freundes.

Nach zwei Stunden gab er es auf. Vor allem, als irgendwo im Haus Flöte geübt wurde und sich das Gequietsche ungünstig auf seine Nervenenden auswirkte. Er ließ die Wohnungstür einen Spaltbreit offen stehen, damit er mitbekam, wenn Frank nach Hause kam. Gegen halb sieben war es schließlich soweit. Aber nicht Franks Schlüssel klirrte im Schloss, sondern der von Sabine.

Überrascht starrte Toni die Nachbarin an.

Sie lächelte verwirrt zurück.

„Ist Frank da?“, wollte er wissen.

Sie zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Bin eben erst heimgekommen. Moment, ich seh mal nach.“ Sie zerrte ihren Koffer in die Wohnung und kehrte ein paar Minuten später zurück. „Nein, er ist wohl noch unterwegs.“

„Könntest du ihm ausrichten, dass ich ihn sprechen möchte, wenn er zurück ist?“, bat Toni die Frau, mit der er bereits kurz nach dem Einzug, genauer gesagt seit dem Brunch per Du war.

„Mach ich“, nickte sie und schickte sich an, in die Wohnung zurückzukehren.

„Sabine“, hielt Toni sie auf. „Warum hast du Frank absichtlich verschwiegen, dass ich dein Nachbar bin?“ Es war eigentlich eine ganz indiskrete Frage. Dennoch brannte sie ihm so heftig auf der Zunge, dass er sie einfach stellen musste.

„Warum willst du das wissen?“, erkundigte sie sich berechtigerweise.

„Das ist ein ungewöhnliches Verhalten“, erwiderte er. „Ich war gerade bei ihm, als er mit dir telefonierte und da packte mich die Neugier. Frank meinte, weil das sonst einen Keil zwischen ihn und seinen Freund triebe. Ist sein Freund so eifersüchtig?“

Sabine sah ihn skeptisch an.

„Hat er das gesagt?“, fragte sie verwirrt, fasste sich jedoch sofort und setzte ein leidliches Lächeln auf. „Das hatte nichts mit dir persönlich zu tun“, erklärte sie. „In der Beziehung hat es zu dieser Zeit ein wenig gekriselt und ich wollte nicht noch mehr Zündstoff liefern, indem ich ihm von meinem Wohnumfeld erzähle. Frank erzählt mir auch nicht, mit wem er sich trifft. Wir sind erwachsen. Jeder geht seinen eigenen Weg. Aber du kennst das ja sicherlich.“

Toni nickte nur zustimmend, erkannte die Zurechtweisung hinter ihren Worten. „Entschuldige. Ich war nur neugierig. Gute Nacht und … willkommen zurück.“

Sie nickte lächelnd und verschwand in ihrer Wohnung.

Mit gemischten Gefühlen ging Toni in seine eigene zurück. Sabine verhielt sich zugeknöpft, was nicht verwunderlich war. Sie waren sich trotz ihres guten Verhältnisses fremd. Mehr als freundliche Worte im Treppenhaus hatten sie nicht gewechselt. Ihr einziges enges Zusammentreffen war der Brunch gewesen, zudem Toni aber nur geladen worden war, um Probleme mit ihm zu vermeiden.

Frank schien am Montagabend nicht zurückgekommen zu sein, oder Sabine hatte vergessen, ihm Tonis Bitte auszurichten, denn Frank klingelte nicht bei ihm. Auch drei Tage später nicht. Zufällig begegnete er seiner Nachbarin im Treppenhaus. Als er noch einmal nach unten gehen wollte, um die Post aus dem Briefkasten zu holen, schloss sie gerade ihre Wohnungstür auf.

„Wo ist Frank?“, wollte er sogleich wissen.

Sabine seufzte tief und fixierte ihn mit schulmeisterlichem Blick. „Was läuft zwischen dir und meinem Bruder?“, verlangte sie zu wissen.

„Nichts“, erwiderte Toni sogleich. „Er hat mir nur mit seinen Fähigkeiten geholfen und wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit. Ich wollte ihn noch einmal sprechen, weil ich etwas klarzustellen habe.“

„Mit seinen Fähigkeiten?“ Sie schien regelrecht erschrocken darüber zu sein. „Er hat doch versprochen, es nie wieder zu tun“, schimpfte sie verärgert und wandte sich mit einem besorgten Blick zu Toni. „Geht es dir gut?“

„Bestens“, nickte er irritiert. „Ist was damit? Er sagte, es sei Reiki und ich war überrascht, das es wirkt. Ich kannte das nicht und …“

 

„Komm rein“, sagte sie schnell, stieß die Tür auf und flüchtete regelrecht in ihre Wohnung.

Toni folgte ihr verwirrt, blieb im Flur stehen und sah sich neugierig um. Von Frank war nichts zu sehen. Auch die dicken Bücher lagen nicht herum. War er etwa wieder ausgezogen?

„Setz dich“, bot Sabine an, schlüpfte aus ihren Winterschuhen und ihrem Mantel und bot ihm einen Platz auf dem Sofa an. „Mit diesen Fähigkeiten ist nichts“, begann sie. „Zumindest geht es mir wie dir. Für mich ist das Hokuspokus ich frage mich immer wieder aufs Neue, wie das funktioniert. Aber es funktioniert. Er hat mir schon oft damit geholfen. Aber genau das ist das Problem.“ Sie ließ sich neben Toni auf das Sofa plumpsen, sprang jedoch sofort wieder auf, als ihr etwas einzufallen schien. „Möchtest du etwas trinken?“

Toni schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Was für ein Problem?“, wollte er gleich zur Sache kommend wissen.

Sie schnaufte tief durch. „Ich hab ihm nichts von dir erzählt, weil in seinem Leben bis vor Kurzem alles absolut durcheinander war. Das mit dem Keil war nur so dahin gesagt, um ihn abzuspeisen. Ich rufe ich an und will mich erkundigen, ob alles in Ordnung sei und ihn vielleicht darauf aufmerksam machen, dass er sich mit dir anfreunden könnte, weil ihr doch fast gleich alt seid und er neu in der Stadt ist. Da fährt er mich an, warum ich nichts von dir gesagt habe. Das war vielleicht etwas überreagiert, doch bis vor wenigen Wochen, sah es für ihn nicht gut aus. Sein Leben lag in Trümmern. Er führte mit einem Freund zusammen eine Heilpraktikerpraxis. Die beiden waren ein Paar. Wir hörten schon die Hochzeitsglocken läuten, wenn du verstehst, was ich meine. Jedenfalls lief die Praxis gar nicht so schlecht, bis Harry, sein Freund, erfuhr, dass Frank für seine Reiki-Behandlungen an den Patienten keine Bezahlung forderte. Daraufhin setzte Harry, der sich um die Finanzen kümmerte, einfach einen Preis an, den er jedem berechnete, der von Frank behandelt worden war. Natürlich gab es deswegen Knatsch zwischen den beiden. Frank hatte zwar eine doch recht kostspielige Reiki-Ausbildung absolviert, wollte für seine Dienste jedoch nichts verlangen, weil er nur Energie umleitet, wie er erzählt und da die Praxis genug abwarf, verzichtete er darauf. Er war nicht davon abzubringen. Harry sah das nicht ein. Es gab einen Riesenkrach zwischen den beiden, der natürlich im Bruch endete. Frank verließ die Praxis. Erst da bemerkte Harry, dass sie nur wegen Frank gut gelaufen war, weil nun die Kunden ausblieben. Frank hat sich inzwischen für das Medizinstudium angemeldet und kein Interesse mehr an Harry oder der Praxis. Schließlich machte sie Bankrott. Harry gab Frank die Schuld für die Insolvenz und denunzierte ihn in der Universität bei den Professoren. Er beschuldigte ihn, mit Reiki Leute falsch behandelt zu haben. Es ging sogar bis vor Gericht. Ich sag dir, das war ein absolutes Drama. Vor allem machte es Frank schwer zu schaffen. Er war unsterblich in diesen Kerl verliebt. Er war sein Traummann und hat sich mit ihm einen Lebenstraum, die Praxis aufgebaut. Er musste die Uni auf Druck der Kommission verlassen, die meinte, er würde dem Ärztekodex nicht mehr gerecht werden. Welch ein Schwachsinn! Ich habe ihn eingeladen, zu mir zu kommen und hier sein Leben neu zu ordnen. Das Ganze hat ihn tief getroffen. Er wurde von Harry sehr enttäuscht.“

„Wo ist er jetzt?“, wollte Toni wissen, als Sabine eine kleine Pause machte, offenkundig, um ihrer Stimme eine Erholung zu gönnen oder etwas mehr Dramatik reinzubringen. Sie war sehr aufgeregt und schien regelrecht froh zu sein, sich endlich jemandem anvertrauen zu können.

„Worum ging es bei eurem Streit?“, wollte sie wissen.

„Ich hab ihn wegen seiner alternativen Heilmethoden niedergemacht“, gestand Toni aufrichtig, dem bei Sabines Erzählung einige Scheuklappen von den Augen fielen. Sein Herz pochte wild, setzte sogar einige Male aus, doch diesmal beunruhigte es ihn nicht mehr. „Aber eigentlich eher deswegen, weil ich dachte, er sei vergeben und baggert mich trotzdem an. Ich habe ihn durch die Bemerkung mit dem Keil ganz falsch eingeschätzt. Frank gefällt mir und ich würde gerne mehr mit ihm zusammen sein. Ich war fies zu ihm, hab ihn weggestoßen. Das hat ihn verletzt. Das würde ich gerne richtigstellen und wenn er …“ Toni brach ab, wusste nicht, ob er aussprechen sollte, was ihm noch auf den Lippen lag. Doch eigentlich hatte er es Sabine gegenüber schon eingestanden. „Wenn er mich noch möchte, kann er sogar wieder seine Hand bei mir auflegen.“

„Ich erwähnte dich nicht, weil ich verhindern wollte, dass er noch einmal verletzt wird“, sagte sie streng. „Nicht dass ich dir unterstellen würde, das Herz meines Bruders absichtlich zu brechen. Aber ich merkte einfach, dass er noch nicht so weit war, sich für ein neues Leben oder einer neuen Liebe zu öffnen.“

„Kannst du ihn anrufen und bitten, herzukommen?“, bat Toni und sah sie dabei flehend an. Sein Herz polterte spürbar, setzte für einen Moment aus und hämmerte weiter. „Sag ihm, nur er kann mich retten.“ Toni presste seine Faust auf die Brust und nahm einen tiefen Atemzug, um den Druck in seinem Hals loszuwerden.

Sabine nahm tatsächlich ihr Telefon in die Hand und wählte eine Nummer. Dann stand sie auf und entfernte sich ein paar Schritte, während es in der Leitung läutete.

Als Frank ranging, führte sie Tonis Bitte aus. Als sie erwähnte, dass nur ihr Bruder in der Lage wäre, ihrem Nachbarn zu helfen, schien für einen Augenblick Schweigen in der Leitung zu herrschen. „Komm bitte“, schob sie hinterher. Schließlich nickte sie, als die Antwort durch das Telefon kam, und lächelte Toni zuversichtlich zu.

„Ich war überrascht, als er mir eröffnete, zu einem Freund ins Wohnheim zu ziehen“, erzählte sie und setzte sich wieder neben Toni. „Und zwischen euch läuft was?“, erkundigte sie sich neugierig.

„Nein, eigentlich nicht.“ Toni verzog frustriert das Gesicht. „Ich habe alles abgeblockt. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn etwas laufen würde.“

„Das ist schön“, rief sie aus. „Ich brauche jetzt einen Drink. Irgendwie ist mir nach was Heftigem. Du auch?“, wandte sie sich an ihren Gast.

Toni schüttelte den Kopf. Alkohol war jetzt nicht das, wonach es ihn sehnte. Sein Herz hatte wieder begonnen, zu stolpern. Die Abstände, in denen der Takt ausfiel, wurden immer kürzer. Er presste die Faust stärker auf seine Brust.

Sabine schien dies mitzubekommen. „Geht es dir nicht gut? Du bist blass geworden.“

„Es geht wieder los“, erklärte er und schnaufte ein weiteres Mal tief durch. Er hoffte inständig, dass Frank rechtzeitig kam, bevor es wieder so schlimm wurde, wie beim letzten Mal. Diesmal würde er ihn aber nicht zurückstoßen oder diese weißen Kügelchen ausspucken, die er ihm aufgezwungen hatte.

„Soll ich einen Arzt rufen?“

Toni schüttelte den Kopf. „Nein, Frank ist derjenige, den ich brauche.“

Sie setzte sich mit einem merkwürdigen Lächeln neben ihren Gast. „Ich wusste es“, stieß sie begeistert hervor. „Ich wusste, dass ihr beide euch verknallen würdet. Das war ein weiterer Grund, warum ich ihm nichts gesagt habe. Ihr passt so gut zusammen. Ich wusste es schon, als ich dich das erste Mal sah. Nur leider war da noch das mit Harry, und Frank war so geknickt.“ Sie holte ihr Telefon hervor, während sie sprach. Als sich der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung meldete, bellte sie einen schroffen Befehl hinein. „Schaff deinen süßen Arsch hierher. Sofort! Sonst krepiert mir der Gute noch. … Was weiß ich?“, rief sie schnippisch, als die Gegenstelle nachfragte. „Herzschmerzen. Ganz schlimme. Komm her!“

Zufrieden warf sie das Telefon auf den Tisch und setzte ein Grinsen auf. „Ihr Jungs seid so süß, wenn ihr verliebt seid.“

Toni sah sie nur verständnislos an. Im Moment plagten ihn andere Probleme als eine entzückte Frau. Er stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. Es hielt ihn nicht mehr auf dem Sofa. Die Unruhe hatte ihn befallen und überschwemmte seinen Blutkreislauf mit Adrenalin. Nur leider brachte es sein Herz nicht dazu, gleichmäßiger zu schlagen. Ganz im Gegenteil. Die Stolperer folgten immer kürzer aufeinander.

„Wegen mir hat noch niemand Herzklopfen bekommen“, schwärmte sie. Ihr Blick wanderte mit Toni, der unruhig im Zimmer hin und her tigerte. „Soll ich nicht doch einen Arzt rufen?“

Toni schüttelte den Kopf. „Nein, ich will Frank.“

„Das kann gute zehn Minuten dauern.“ Er erhob sich. „Ich kann dir Baldriantee machen“, bot sie an und machte sich schon auf den Weg in die Küche.

„Danke“, schickte ihr Toni hinterher. Er wusste selbst nicht, was ihm wirklich Abhilfe verschaffen konnte, war jedoch zuversichtlich, dass Frank die Lösung war. Und wenn nicht er selbst, dann wusste er sicherlich ein Heilmittel, eine seiner alternativen Methoden. Was auch immer, Toni würde sich in dessen Hände geben und nichts mehr hinterfragen. Alles war ihm recht, wenn nur Frank endlich käme und ihn ein weiteres Mal rettete.

Er presste die Hand auf die Brust und schnaufte tief durch. Vier oder fünf Schläge, dann ein Stolperer. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es in seinem Kopf zu kribbeln begann und er womöglich bewusstlos wurde. Er hatte sicherlich schon eine Rinne in den Teppich gelaufen, als endlich die Wohnungstür ging und Frank im Flur stand. Er riss sich die weiße Mütze vom Kopf und eilte ins Wohnzimmer.

„Mann, was machst du?“, schalt er ihn, schob seine Schulter unter die Achsel und stützte ihn, als Toni wankte. „Sabine, hast du den Notarzt gerufen?“, rief er seiner Schwester zu, die noch immer in der Küche werkelte.

„Nein, ich will dich“, keuchte Toni, klammerte sich an ihm fest und blickte ihm in die Augen. „Mach mit mir, was du willst, aber bleib bei mir. Nur du kannst mein Herz heilen.“

„Was redest du da?“, schimpfte er. „Du brauchst ärztliche Hilfe.“

„Mein persönlicher Leibarzt ist bereits hier. Ich brauche niemand anderen als dich. Der Dok sagte, ich soll mein Leben ändern. Das tu ich. Ich will dich. Ich brauche dich. Nur du kannst mich gesund machen.“

„Du halluzinierst“, keuchte Frank alarmiert.

Toni umfasste das Gesicht des Mannes mit beiden Händen und zog ihn zu einem Kuss heran. Erst versteifte sich Frank, legte seine Hände an die Brust, um ihn von sich zu schieben. Doch dann gab er nach und erwiderte sogar den Kuss. Seine Arme legten sich langsam auf den Rücken, pressten den anderen Mann immer fester an sich, bis zwischen ihnen kein Freiraum mehr blieb. Toni sog die Luft ein, inhalierte Franks Duft und stöhnte leise, als es in ihm ein wohliges Kribbeln auslöste. Er konnte nicht sagen, ob Frank bereits mit seiner Heilmethode begonnen hatte und ihm Lebensenergie schickte, es fühlte sich aber fast genauso an.

„Fang an“, keuchte er, als er sich gerade mal für diese zwei Worte von den Lippen loseiste.

Frank schob seine kalten Hände unter das Shirt auf die nackte Brust. Toni jaulte kurz auf, doch dann spürte er bereits, wie ein heißes Kribbeln ihn erfasste. Dort wo ihn die feinen, magischen Hände berührten, wurde es angenehm warm. Die Wärme breitete sich allmählich immer weiter in seinem Körper aus und erfüllte ihn, entspannte seine verkrampften Muskeln und brachte eine innere Ruhe in ihn, die auch sein Herz dazu animierte, Vernunft anzunehmen. Die Fehlschläge wurden immer weniger, bis sie schließlich gar nicht mehr auftauchten und Tonis Herz ganz normal – zwar heftig und voll Freude, jedoch normal – schlug.

Frank löste den Kuss. „Ich kann mich nicht konzentrieren, während mir dein Kuss den Verstand raubt“, keuchte er. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln. „Sorry, aber das funktioniert so nicht.“

„Es hat schon funktioniert.“ Toni nahm eine Hand und legte sie auf seine Brust, dort wo das Herz aufgeregt pochte. „Spürst du es? Es schlägt wieder ganz normal.“

„Das schlägt ganz und gar nicht normal. Es rast.“

„Ja“, nickte Toni. „Das wird es immer, wenn du in meiner Nähe bist.“

„Wie kommt das?“, wollte Frank wissen.

„Du bist das gewesen und deine heilende Energie.“

„Ich meinte, wie kommt das, dass du nicht mehr sauer auf mich bist?“

„Warum sollte ich sauer auf dich sein?“

„Weil ich mich dir aufgedrängt habe.“

„Du hast dich nicht aufgedrängt. Ich nahm es nur so wahr. Ich dachte, du wärst bereits vergeben, weil du etwas von einem Freund erzählt hast. Und als du mich deutlich angebaggert hast, dachte ich, du wärst einer von der Sorte, denen eine Liebe nichts wert ist. Ich habe mich getäuscht.“

Frank musterte das Gesicht des anderen. „Was hat meine Schwester alles über mich erzählt?“, wollte er wissen.

„Alles“, erwiderte Toni, umfasste den Leib des anderen und drückte ihn an sich. „Sieht so aus, als müssten wir uns gegenseitig heilen. Dok Toni steht dir auch außerhalb der Sprechzeiten zur Verfügung.“

„Akzeptiert Dok Toni auch Privatpatienten?“, fragte Frank grinsend.

„Ganz besonders die.“ Ihre Lippen fanden sich erneut. Ein Räuspern riss sie jedoch wieder auseinander.

„Jungs, könntet ihr nach nebenan gehen? Ich muss noch ein paar Berichte schreiben.“

„Apropos“, fiel Toni ein. „Wen hast du letztens gefickt, als du dich wegen der Musik beschwert hast.“

Frank sah ihn einen Moment verwirrt an. Dann prustete er los. „Ich? Ganz bestimmt nicht. Das war …“ Er verstummte verlegen. Sein Blick sprang zu seiner Schwester. „Die beiden anderen Kommilitonen. Einer der beiden, Jungs, ein Paar, ebenfalls schwul, war durch das ganze Lernpensum so gestresst und verspannt, da hab ich aus Spaß vorgeschlagen, dass die beiden eine Nummer schieben und sich abreagieren. Was sie prompt getan haben.“

„Wie bitte?“, fuhr ihn Sabine an. „Du erlaubst, dass wildfremde Kerle in meinem Schlafzimmer vögeln?“

„Die Therapie hat funktioniert“, entschuldigte er sich.

„Du hast hoffentlich hinterher sauber gemacht und die Bettwäsche gewechselt“, schnauzte sie.

„Sie haben das Bett nicht benutzt, sondern …“

„Erspar mir Details“, fuhr sie ihm barsch ins Wort. „Jetzt geht nach drüben und heilt euch da weiter. Ich hab hier genug Energie für einen Abend.“ Sie scheuchte die beiden aus der Wohnung.

Toni nahm Frank an der Hand und zerrte ihn ungeduldig in seine eigenen vier Wände, warf die Tür hinter ihnen zu und bannte ich gleich neben der Tür an die Wand, um ihm einen weiteren Kuss zu rauben.

„Jede Behandlung kostet extra“, keuchte Frank atemlos, als er sich von dem Kuss losreißen konnte. Seine Hände fuhren wieder unter das Shirt. Sie waren noch immer kühl, sodass Toni erschrocken zusammenzuckte.

„Ich bin gut versichert“, hauchte Toni zurück und drückte sich an den Leib des anderen.

„Hast du deswegen die Musik so laut gedreht, weil du dachtest, ich treibe es auf der anderen Seite der Mauer mit einem anderen?“

„Mit deinem Freund“, nickte Toni.

„Du bist eifersüchtig“, erkannte Frank amüsiert. „Das gefällt mir.“

„Mir aber nicht.“ Toni zog kurz eine störrische Schnute.

„Mir ist eine Liebe etwas wert“, versicherte ihm Frank. „Sehr viel sogar. Ich würde sie um nichts auf der Welt aufs Spiel setzen.“

„Ich weiß“, raunte Toni und setzte zarte Küsse auf die Mundwinkel. „Ich werde niemals mehr an dir und deiner Arbeit zweifeln.“

„Was arbeitest du eigentlich“, erkundigte sich Frank interessiert.

„Ich bin Buchhalter.“

Durch Frank ging ein Ruck. Er schob Toni etwas von sich und starrte ihn entsetzt an. „Hättest du das nicht vorher sagen können?“

„Warum?“

Frank schnaufte tief. „Harry war Buchhalter und hat umgesattelt, als ihn das stupide Zahlen eintippen langweilte.“

„Das ist jetzt ein Problem“, merkte Toni traurig an. „Gibt es dagegen ein Globuli?“

Erst sah ihn Frank verwirrt an. Schließlich hellte sein Gesicht auf und ein schelmisches Grinsen machte sich breit. „Seit wann gehst du unter die Placeboschlucker?“

Dasselbe Grinsen machte sich auch auf Tonis Gesicht breit. „Ich würde gerne etwas schlucken. Allerdings bezweifle ich, dass es Placebo ist.“ Dabei sank er langsam auf die Knie. Als er bedächtig den Hosenbund öffnete, sog Frank zischend die Luft ein. Ein lüsterner Blick traf ihn, als Toni den Knopf durch das Loch bugsierte und ihn befreite. Als auch noch der Reißverschluss in qualvoller Gemächlichkeit nach unten ging und die Härte durch die immer größer werdende Öffnung drängte, klopfte Tonis Herz erneut bis zum Hals. Es setzte sogar einmal aus, doch diesmal wusste er, dass es ein Heilmittel dafür gab.

 

Impressum

Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: dreißigstervierter/www.pixelio.de
Lektorat: nach besten Gewissen selbst
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2014

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