„Wie oft ist er denn in unserer Wohnung gewesen, Alexander?“
Die Frage fühlte sich wie Säure an. Ich konnte förmlich riechen, wie sehr sie mit Gift, Eifersucht und Misstrauen getränkt war. Meine Mutter konnte meinen Freund nicht ausstehen, obwohl sie täglich das Gegenteil behauptete. Als sie für ein paar Tage in einen Kurort verreiste, um sich etwas zu erholen, hatte ich fest damit gerechnet, dass nach ihrer Rückkehr ein solcher oder ein ähnlicher Satz aus ihrem Mund kam.
„Er war nicht in deiner Wohnung“, beharrte ich nicht zum ersten Mal.
„Woher willst du denn das wissen?“, fauchte sie beleidigt, weil ich nicht auf ihre Anschuldigungen eingehen wollte. „Er kann dir den Schlüssel genommen haben, während du geschlafen hast und dann …“
„Mama!“, fuhr ich ihr barsch ins Wort. „Dennis würde so etwas nie tun.“
„Bist du dir da sicher?“ Sie sah mich streng an, als wisse sie über meinen Freund besser Bescheid als ich.
Dennis und ich waren jetzt seit fast drei Jahren zusammen. Ich war heilfroh, dass meine Eltern meine Homosexualität hinnahmen und nicht minder entzückt, dass sie Dennis als meinen Lebenspartner akzeptierten. Anfangs war alles harmonisch, hätte nicht besser laufen können. Meine Mutter brüstete sich damit, nun zwei Söhne zu haben und stellte Dennis ihren Freundinnen als zukünftiger Schwiegersohn vor. Ich war stolz auf meine Eltern, auf ihre tolerante Haltung und auf die Unvoreingenommenheit, mit der sie Dennis begegneten. Ich war glücklich. Eine wunderbare, sich liebende Familie.
Doch dann wurde alles ganz anders.
Es fing relativ harmlos an. Kleine Spitzen, die hin und wieder fielen, wenn ich allein bei meinen Eltern war und ihnen bei irgendetwas zur Hand ging. Einzelne Worte, ein bestimmter Tonfall. Erst dachte ich, es läge an der Erkrankung meiner Mutter und an den vielen Medikamenten, die sie deswegen einwerfen musste. Niemand wusste so genau, was dieser Tablettencoctail bei ihr anrichtete. Sie musste Schmerzmittel wegen ihrer beschädigten Halswirbelsäule einnehmen, zudem Psychopharmaka, da sie seit den Wechseljahren gehäuft unter Panikattacken litt. Letztes Jahr wurde an ihr sogar Hautkrebs entdeckt. Das war für mich ohnehin schon ein Schicksalsschlag gewesen. Dennis hatte mich lange im Arm gehalten und getröstet. Für die Untersuchung hatte sie sich ein paar Tage in eine Klinik begeben. Einige Zeit nach ihrer Rückkehr verlangte sie, dass Dennis ihre Blumentöpfe zurückgab.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Was zum Teufel sollte Dennis mit harmlosen Blumentöpfen? Doch sie behauptete Stein und Bein, dass sie die backsteinfarbenen Töpfe an bestimmte Rillen erkannt hatte und diese nun auf unseren Fensterbrettern standen.
Dennis war ein Orchideenliebhaber. Unter seinem grünen Daumen wucherten diese Gewächse nun beinahe wie Unkraut an unseren Fenstern, doch keine einzige der Pflanzen steckte in Tontöpfen.
So ging es immer weiter.
In ihrer Wohnung verschwanden angeblich Handtücher, Gläser, Weihnachtsdeko und anderes belangloses Zeug. Ihre Schränke seien durchwühlt worden und irgendwelche Substanzen, die vorher noch nicht da waren, glaubte sie an Wänden oder Türen entdeckt zu haben. Ich wusste genau, dass Dennis sich eher alle Finger brechen würde, als in der Wohnung meiner Eltern etwas zu klauen oder ihnen in irgendeiner Weise zu schaden. Dennis war fast schon harmoniesüchtig und hatte noch nie das Gesetz übertreten, nicht einmal einen Strafzettel wegen Falschparkens oder zu schnellen Fahrens erhalten. Das war nicht Dennis' Art. Natürlich hatte ich versucht, eine Aussprache zwischen uns allen abzuhalten. Meine Mutter bestritt die Anschuldigungen und tat das Ganze als Hirngespinste meinerseits ab. Spätestens da war ich mir sicher, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Ein Arzt, den ich diesbezüglich befragt hatte, meinte: sie leide unter schizotypische Persönlichkeitsstörung.
Ich versuchte, das Beste draus zu machen und Dennis von meinen Eltern fernzuhalten und umgekehrt. Dennis besuchte sie schon lange nicht mehr, auch nicht bei Familienfeiern.
Diese ganze Situation trieb einen Keil zwischen uns.
Ein Keil, den meine Mutter stets tiefer zu treiben wusste.
„Du kannst den Kerl doch gar nicht so genau kennen“, sagte sie mir auf den Kopf zu. „Dazu seid ihr noch nicht lange genug zusammen.“
Ich knirschte verärgert mit den Zähnen und schluckte meinen Groll hinunter.
„Soll ich deine Schmutzwäsche und die Koffer in den Keller bringen?“, versuchte ich abzulenken. Mein Vater war auch nicht mehr der Jüngste. Sie hatten beide die siebzig überschritten, waren aber trotz ihrer Zipperlein noch sehr rüstig und agil.
Meine Mutter drückte mir den leeren Koffer in die Hand und sah mich immer noch so streng an. Für sie war das Thema noch nicht erledigt.
„Weißt du, dass er sich mit dem Nachbarn trifft, heimlich, damit wir nicht merken, dass er mit denen Intrigen schmiedet?“
Ich seufzte tief, schnappte den Koffer und eilte in den Keller, um ihn in eine der Regale zu verstauen. Dieses Thema hatte sie schon mehrmals angeschnitten. Denn selbst mit den Nachbarn lag sie im Clinch, da diese angeblich ihre Rosen im Garten zerpflückten und die Äpfel ernteten, bevor sie selbst etwas davon haben konnte. Ich kannte es zur Genüge. Nicht selten dichtete sie Dennis mit hinzu.
Nicht zum ersten Mal tat ich so, als hätte ich das nicht gehört. Es waren nur Fantasien, haltlose Unterstellungen, die nur im Kopf meiner Mutter existierten.
Als ich zurückkehrte, räumte sie gerade den Inhalt des Kühlschranks um. „Habt ihr euch den Käse geholt?“, rief sie mir aus der Küche zu.
„Nein, Mama.“ Ich stellte mich in den Türrahmen und versuchte, ein gleichmütiges Gesicht zu machen. Dennis hasste Käse, ebenso wie ich. „Ruf an, wenn ihr noch etwas braucht“, plauderte ich bewusst unbekümmert.
Sie sah mich lächelnd an. „Kommt ihr am nächsten Wochenende zum Essen?“
„Ja, ich komme“, antwortete ich, betonte dabei das „ich“ besonders. Dennis würden keine zehn Pferde dazu verleiten können, je wieder die Schwelle dieses Hauses zu übertreten. „Ich muss los“, tat ich auf einmal geschäftig. Mir reichte es. Meine Laune war im Keller. Noch mehr konnte ich nicht vertragen. „Ruft an, wenn was ist.“ Ich gab meiner Mutter ein Küsschen auf die Wange, drückte meinen Vater kurz an meine Brust und eilte nach draußen.
Erst auf der Straße konnte ich wieder tief durchatmen. Ich saß zwischen den Stühlen. Kein bequemer Platz, wenn man bedachte, dass man von beiden Seiten gedrückt und geschubst wurde. Wobei Dennis sich weitgehend zurückhielt. Ich merkte ihm jedoch deutlich an, dass es ihn ziemlich beschäftigte.
Dennis fläzte auf dem Sofa, die Füße auf dem Tisch, eine Schüssel Popcorn auf dem Schoß und zappte sich gelangweilt durch das Fernsehprogramm. Als ich eintrat, zuckten seine Mundwinkel einen Moment freudig hoch. Doch als er mein Gesicht erkannte, das ich trotz der Freude, meinen Geliebten zu sehen, nicht aufhellen konnte, fielen sie wieder herab. Ich konnte die Gedanken hinter seiner Stirn förmlich sehen. Doch er schwieg, streckte nur die Hand nach mir aus. Ich ließ mich zu ihm ziehen, kuschelte mich an ihn und bediente mich von dem süßen Maissnack.
„Nur Wiederholungen heute“, versuchte er, ein belangloses Gespräch zustande zu bringen.
Ich nahm die Schüssel mit dem Popcorn von seinem Schoß, stellte sie auf den Tisch und schob mich auf ihn.
„Ich kenne eine Wiederholung, die immer wieder Spaß macht“, gurrte ich, fing seinen Mund ein und verführte ihn zu einem Kuss.
Dennis war leicht zu verführen. An seinem Körper gab es ausreichend Stellen, an denen unsichtbare Schalter für Erregung angebracht schienen. Ich brauchte sie nur zu berühren und er wurde scharf auf mich. Schon als ich meine Finger unter sein Shirt schob, begann er zu knurren und sich unter mir zu winden. Sein Mund öffnete sich bereitwillig und ließ mich ein, während sich die Jogginghose aufbäumte und gegen meinen Schritt pochte.
Seine Hände machten sich bereits an meinem Hemd zu schaffen, zerrten es mir vom Leib. Binnen weniger Augenblicke lagen wir beide nackt auf dem Sofa, rieben uns aneinander, keuchend, stöhnend, peitschten uns gegenseitig der Klippe der Erlösung entgegen. Dennis war ein Prachtexemplar von einem Mann, dessen Körper mich stets auf Neue betörte. Sein Duft, die Kraft, die in den durch seine Arbeit auf dem Bau gestählten Muskeln wohnte, die mich packen, einnehmen und mit sich reißen konnte, ohne dass ich etwas dagegen zu unternehmen in der Lage war. Wer wollte das auch. Ich nicht.
Dennis war mein Traummann, der Mann, dem ich mein Herz geschenkt hatte und mit dem ich mein ganzes weiteres Leben verbringen möchte.
Wir kamen kurz nacheinander. Er in mir, nachdem ich ihn im Aufwallen meiner übersprudelnden Gefühle an mich gepresst und das Pulsieren meines Orgasmus ihn noch zusätzlich aufgestachelt hatte.
Schwer atmend sanken wir auf das Sofa nieder, sahen uns tief in die Augen. Ich erkannte in den bernsteinfarbenen Augen die Liebe, die er mir entgegen brachte, so tief und innig, dass es schon wehtat. Unsere Lippen fanden sich erneut, verwickelten sich in einen langen, verzehrenden Kuss, der die Gram hinfortspülte, die ich im Haus meiner Eltern erlitten hatte. Vergessen, weit von mir geschoben. Nur noch wir beide zählten.
Erst später, als wir aus dem Taumel unserer Erregung erwachten und unsere Umgebung wahrnahmen, erkannten wir, dass wir im Überschwang des Aktes die Schüssel mit dem Popcorn umgestoßen hatten und sich die Maiskörner nun über den ganzen Boden verteilten. Lachend sanken wir zu dem Maisteppich, pflückten die kleinen Knollen erst vom Boden und begannen irgendwann uns gegenseitig damit zu bewerfen – bis wir erneut übereinander herfielen.
Das Leben hätte so schön sein können. Wenn es uns vergönnt wäre.
Sonntag. Das Wochenende, an dem uns meine Mutter zum Essen eingeladen hatte, obwohl es bereits von vornherein klar stand, dass nur ich allein auftauchen würde.
Ich erwachte durch Dennis' laute Stimme. Sofort sprang ich aus dem Bett und eilte ins Wohnzimmer, wo er mit dem Telefon am Ohr, hochrot im Gesicht, mit jemandem stritt. Der Blick, den er mir zuwarf, als er mich entdeckte, informierte mich sofort. Er stritt mit meiner Mutter.
Ich nahm ihm das Telefon aus der Hand, vollkommen gleichgültig, um was es wieder ging und legte einfach auf. Ich hörte noch meine Mutter keifen. Der Klick auf den roten Knopf schnitt ihr kurzerhand das Wort ab. „Ich hab dir doch gesagt, dass du dich nicht mit meiner Mutter auf Diskussionen einlassen sollst“, schalt ich ihn und warf das Mobilgerät auf das Sofa.
„Ich lasse solche Behauptungen nicht auf mir sitzen“, blaffte er zurück. Es brauchte viel, um Dennis so richtig wütend zu machen. Er war sonst ein sanftmütiger Kerl, aber wenn ihm etwas gegen den Strich ging, konnte er auch wie ein Stier durchgehen.
Ich seufzte tief. „Was hat sie denn diesmal gesagt?“
Dennis schnaubte aufgebracht, als stünde er wirklich nahe dem Durchdrehen. Sein Gesicht glühte vor Wut. Die Sehnen an den Schläfen und am Hals traten deutlich hervor. Er ballte die Hände zu Fäusten und presste sie gegen die Schenkel. Kurz schien er zu überlegen, ob es die Mühe wert war, die infamen Worte zu wiederholen. Dann fauchte er wie ein Kater nur einen Augenblick vor dem Angriff.
„Was geht mich diese bescheuerte Erdbeermarmelade an!“, motzte er. „Ich mag das Zeug nicht mal. Angeblich fehlen drei Gläser und ein Nachbar hätte ihr gesagt, dass er mich vorgestern aus ihrem Haus hätte gehen sehen, während sie beim Arzt war. Was soll diese Scheiße? Ich war vorgestern den ganzen Tag auf dem Bau und bin nicht einmal in die Nähe des Viertels gekommen, wo sie wohnt. Ich hab die Schnauze voll. Ich habe jetzt lange genug den Mund gehalten, aber jetzt ist ein für alle Mal Schluss.“ Er dampfte wutschnaubend an mir vorbei aus dem Wohnzimmer. Ich rief ihm noch hinterher, doch Dennis war zu sauer, als dass es einen Zweck gehabt hätte, ihn zu einem vernünftigen Gespräch zu überreden.
Ich suchte nach dem Telefon und rief meine Mutter an. Sie war ebenfalls stinksauer, weil wir die Unverschämtheit besaßen, das Telefonat einfach so abzubrechen und überschüttete mich mit Vorwürfen und Verdächtigungen und beschwerte sich anklagend, dass ich sie nicht mehr respektierte. Meist kam sie mit solchen unfairen Methoden an, jammerte mir die Ohren voll, wie krank sie sei und appellierte an meine Pflicht als Sohn, wenn ich Dennis in Schutz nahm und mich auf seine Seite stellte.
Es war zum aus der Haut fahren.
Ein weiteres Mal unterbrach ich einfach die Verbindung, da es keinen Zweck hatte, mich mit ihr wegen drei Gläser selbsteingemachter Erdbeermarmelade zu streiten. Vermutlich hatte sie diese selbst gegessen oder jemandem geschenkt und es vergessen. Aber dies würde sie niemals zugeben.
Ich suchte Dennis und fand ihn im Schlafzimmer, wo er inzwischen angezogen, wahllos Klamotten in eine Reisetasche stopfte.
„Was soll das?“, erkundigte ich mich erschrocken.
Dennis drehte sich langsam um. In seinen Augen standen Tränen. „Es tut mir leid, Alex“, sagte er. Seine Stimme zitterte. Sein Kehlkopf hob und senkte sich hektisch, als sich unsere Blicke trafen. „Ich kann nicht mehr.“ Er ließ die Hand mit dem Stapel Unterhosen, den er eben im Begriff war, in die Tasche zu stopfen, sinken und verharrte bewegungslos. „Ich dachte, wenn ich es einfach ignoriere, so tue, als existiere das alles nicht, könnte ich es überstehen. Aber das war falsch. Ich kann so nicht weitermachen. Deine Mutter hat was gegen mich. Schon von Anfang an intrigierte sie gegen mich. Ich kann das nicht mehr länger ignorieren. Das belastet mich zu sehr.“
„Meine Mutter ist krank“, versuchte ich Verständnis heischend zu erklären und näherte mich ihm langsam. „Sie ist nicht mehr Herr ihrer Sinne.“
„Das gibt ihr das Recht, mich als Dieb und Lügner zu bezeichnen?“ Seine Stimme triefte vor Bissigkeit und verletztem Stolz. Ich konnte ihn wirklich verstehen und hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und ins Ohr geflüstert, dass alles nicht so schlimm war. Doch sein versteinertes Gesicht und das Beben seines Körpers gewahrten mir, Abstand zu halten.
Er schnaufte tief durch, stopfte den kleinen Unterwäschestapel endlich in die Tasche und drehte sich zum Schrank um.
„Ich will nicht, dass du ausziehst“, presste ich voller Panik hervor.
Dennis drehte sich wieder zu mir um. Sein Gesicht hatte sich inzwischen merklich entspannt. Doch die Sehnen an seinen Schläfen und am Hals pulsierten immer noch.
„Ich hab nicht vor, auszuziehen“, sagte er beherrscht. „Ich brauche nur ein paar Tage Auszeit, weil ich mich nicht mit dir streiten will. Das hat nichts mit dir zu tun. Ich brauche jetzt nur etwas Abstand.“
„Wenn du jetzt gehst, hat es etwas mit mir zu tun.“ Ich näherte mich ihm, legte die Arme um seinen Hals und zog ihn an mich. Er ließ es überraschenderweise mit sich geschehen, lehnte sogar seine Stirn an meine und schnaufte erneut tief durch.
„Ich will dich nicht vor die Wahl stellen“, gestand er. Seine Stimme brach. „Ich weiß, wie weh dies auch dir tut. Deswegen möchte ich nicht, dass du dich zwischen uns entscheidest. Ich stehe kurz davor, dich um diese Wahl zu bitten.“ Seine Zähne knirschten, als er verstummte und sich an mich presste. Er legte seine Arme um mich und drückte mich noch fester an sich. „Ich liebe dich, Alex. Von ganzem Herzen. Ich verbrenne innerlich, wenn ich das noch länger durchstehen muss.“
Unsere Lippen fanden sich für einen flüchtigen zärtlichen Kuss. Dann blickte ich ihm in die Augen und versank vor Liebe in diesem wunderschönen Bernstein.
„Was hältst du davon, wenn wir heute einen Ausflug in die Berge machen?“, schlug ich vor. „Nur du und ich und die Natur.“
„Du hast heute schon eine andere Verabredung“, erinnerte er mich. Er schmiegte sich dankbar für diesen Vorschlag an meine Wange. Sein ganzer Körper bebte vor Anspannung. „Lass mich ein paar Tage zur Ruhe kommen“, bat er inständig. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Bitte.“ Er küsste mich auf die Wange und löste sich dann von mir.
„Wo willst du denn hin?“
„Zu Bernd“, erklärte er. „Meinem Bruder. Mittwoch bin ich wieder da. Aber ich muss jetzt weg hier.“
„Dennis“, flehte ich. „Das hier ist dein Zuhause, dein Zufluchtsort. Hier ist alles in Ordnung. Ich helfe dir dabei. Ich bin immer für dich da.“
„Ich weiß“, keuchte er traurig. „Aber ich will nicht, dass du derjenige bist, der mir hilft.“
„Warum nicht?“
„Weil ich dich dann sonst vor eine Wahl stellen würde.“ Damit drehte er sich wieder zum Schrank um und riss ein paar Shirts und Hemden vom Bügel, um sie zu den anderen Sachen in die Tasche zu packen.
Ich ließ ihn diesmal gewähren und beobachtete mit wachsender Traurigkeit, wie Dennis seine Tasche immer mehr füllte. Als er schließlich an der Wohnungstür stand, bereit unser Zuhause zu verlassen, folgte ich ihm mechanisch. Mein Kopf war leer. Panik und unendliche Trauer hatten mich erfüllt. Ich konnte nicht mehr klar denken, war nicht einmal imstande, ihn erneut aufzuhalten.
„Ich … bin bald wieder da“, versicherte mir Dennis, suchte noch ein letztes Mal meinen Blick und drehte sich dann einfach um, um förmlich aus der Wohnung zu flüchten.
Ich sank auf die Knie nieder, wo ich gestanden hatte. Tränen rannen über meine Wange. Ich versuchte verzweifelt, sie zurückzuhalten und wischte sie hektisch weg. Doch es kamen stetig neue.
Die Essensverabredung mit meinen Eltern wollte ich eigentlich erst absagen, doch dann nahm ich sie doch wahr, um meiner Mutter ordentlich die Leviten zu lesen. Ich war nicht überrascht, dass sie fröhlich vor sich hinträllerte, während sie in der Küche herumwerkelte. Meine Mutter war die Sprunghaftigkeit in Person. Vor allem in den letzten Jahren, wo es ihr gesundheitlich immer schlechter ging. Lachend hielt sie mir ihre Wange hin, verlangte kichernd einen Kuss. Ich tat ihr den Gefallen und half sogar dabei, den Tisch zu decken.
„Wo ist Dennis?“, wollte sie wissen, als sie sich endlich zu uns setzte.
„Ihm geht’s nicht gut“, murrte ich und überlegte, ob ich sie darauf aufmerksam machen sollte, dass mein Freund schon lange nicht mehr bei gemeinsamen Essen zugegen war. Ich war entschlossen, das Thema jetzt anzusprechen und zu klären. „Dennis war am Freitag den ganzen Tag auf dem Bau. Da gab es irgendwelche Probleme. Er kam erst spät abends nach Hause. Er kann gar nicht hier gewesen sein.“
„Das war doch sicher nur eine Ausrede“, erklärte sie mit einem wissenden Blick. „Was er genau macht, kannst du doch gar nicht kontrollieren. Es ist jedenfalls erwiesen, dass er hier gewesen war. Meine Marmelade verschwindet doch nicht von allein.“
„War am Freitag nicht der Techniker von der Heizungsfirma hier?“, fiel mir gerade noch rechtzeitig ein.
„Der war in der Früh hier, als wir noch zuhause waren. Der Nachbar von vorne am Eck meinte, dass gegen Mittag ein Mann hier gewesen war.“ Erneut sah sie mich schulmeisterlich an, überzeugt davon, dass sie recht hatte.
„Der Nachbar von vorne am Eck? Ich dachte, mit dem sprichst du seit ein paar Jahren nicht mehr, weil er seinen Dreck in eure Garage wirft.“
„Stimmt“, nickte sie. „Wir haben kein sonderlich gutes Verhältnis. Er wollte uns ja auch nur darauf aufmerksam machen, dass jemand während unserer Abwesenheit in unserer Wohnung war.“
„Das glaube ich nicht.“ Ich schüttelte den Kopf. Für einen Moment wankte mein Vertrauen an Dennis. Doch ich hielt mir vor Augen, dass mich der Nachbar ebenfalls schon einmal darauf angesprochen hatte, ob mit meiner Mutter etwas nicht stimmte, da sie ihn ständig wegen Belanglosigkeiten beschimpfte.
„Es ist schon sehr enttäuschend, dass du anderen Leuten mehr glaubst, als mir“, gab sie beleidigt von sich. „Dein Freund ist eifersüchtig, will dich von deiner Familie trennen. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob er es mit dir ernst meint.“
„Mama!“, rief ich sie zurecht.
„Eine Bekannte aus dem Yoga-Kurs hätte ihn schon mit anderen Männern gesehen“, bemerkte sie trocken und sah mich erneut mit diesem strengen Lehrerblick an.
„Woher will deine Bekannte Dennis kennen?“, murrte ich und schob meinen Teller von mir. Der Appetit war mir gehörig vergangen. Nicht nur, dass sie ihn des Diebstahls bezichtigte, jetzt soll er auch noch untreu sein. Ich bezweifelte stark, dass auch nur eine aus dem Yoga-Kurs meinen Freund je zu Gesicht bekommen hatte.
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, wo der sich überall rumtreibt.“
„Jetzt ist Schluss!“, donnerte ich wütend. „Hör auf, solche Dinge über Dennis zu sagen. Er hat es nicht nötig, sich an den Habseligkeiten anderer zu bedienen. Er ist ein ehrlicher Mann, der es sehr wohl ernst mit mir meint.“
Erst blickte mich meine Mutter ob meines Ausbruches erschrocken an. Dann verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck und sie blickte mich beleidigt und verletzt an.
„Das ist wieder mal typisch. Jetzt wirfst du mir gleich wieder vor, dass ich spinne, oder was? Hast du denn keinen Respekt mehr vor deiner Mutter?“ Sie suchte Zustimmung im Gesicht ihres Mannes, doch der hielt sich aus dieser ganzen Sache komplett raus, zuckte nur mit den Achseln und starrte in seinen Teller. Dafür hasste ich meinen Vater, dass er sich raushielt, für niemanden Partei ergriff und so tat, als ginge ihn das alles gar nichts an. Ein klein wenig konnte ich ihn verstehen. Er wollte genauso wenig eine Wahl zwischen uns treffen, wie ich. Aber das half auch nicht, die Situation zu entspannen.
„Sag du doch auch mal was?“, wurde er von seiner Frau angeblafft, doch er hielt sich raus und schwieg weiterhin. Mit einem verächtlichen Laut sprang meine Mutter vom Tisch auf und eilte nach oben, wo sie sich vermutlich im Schlafzimmer einsperrte und heulte.
Ich widerstand der Versuchung, ihr zu folgen. Abgesehen davon, dass ich mich nicht mit ihr streiten wollte, tat es weh, sie weinen zu sehen. Ich liebte sie trotz allem. Sie war meine Mutter, die mich spät, erst mit knapp vierzig geboren hatte. Ich war ihr Wunschkind, die Erfüllung ihres Lebens. Sie nun so traurig und verzweifelt zu sehen, rüttelte arg an mir. Aber ich liebte auch Dennis, und ich wusste, dass meine Standhaftigkeit vermutlich ins Wanken geriet und ich nachgab, wenn sie mich so herzzerreißend ansah.
Eine Weile saßen mein Vater und ich schweigend im Esszimmer, brütend vor unseren Tellern und wussten nicht, was wir nun tun sollten. Mein Vater stocherte genauso lustlos in dem köstlichen Mittagsmahl herum, wie ich.
„Hast du schon mal daran gedacht, mit ihr zu einem Psychologen zu gehen?“, brach ich die Stille.
„Ja, hab ich“, erklärte er und seufzte tief. „Sie weigert sich jedoch standhaft, da sie der Meinung ist, dass mit ihr alles stimmt.“
„Das muss ihr inzwischen doch selbst klar geworden sein, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Das gibt es nicht, dass sich die ganze Welt gegen einen einzigen Menschen verschworen hat.“
Mein Vater seufzte nur tief, schob den Teller von sich und lehnte sich zurück. „Deine Mutter war schon immer eine sehr starke Persönlichkeit. Wenn es Probleme gab, dann war sie diejenige, die wie ein Fels in der Brandung stehen blieb. Sie hat einen ausgesprochenen Sturkopf und ist mit nichts so schnell von ihrer Überzeugung abzubringen.“ Er verschränkte seine Arme vor der Brust und blickte mich traurig an. „Es tut mir in der Seele weh“, gestand er. „Ich habe Angst, dass ihr etwas passiert. Sie tut Dinge … Ich beobachte sie dabei, wie sie es macht ... wenig später weiß sie nichts mehr davon und fährt mich an, warum ich das gemacht habe.“
Ich sog zischend die Luft ein. „Warum hast du mir das nicht gesagt?“
Mein Vater senkte den Blick. „Ich dachte, es ist wegen den Medikamenten. Aber es wird immer schlimmer.“
„Sie muss dringend in Behandlung“, wusste ich. „Und wenn ich sie in einen Sack stopfe und persönlich bei einem Psychologen abliefere. So kann es nicht mehr weitergehen. Dennis ist nach dem Telefonat für ein paar Tage zu seinem Bruder gefahren. Ich will nicht, dass unsere Beziehung dadurch zerbricht.“
„Es tut mir leid. Aber ich weiß auch nicht mehr, was ich tun soll.“
Von oben kam ein dumpfes Poltern. Wahrscheinlich warf meine Mutter in ihrer Wut Gegenstände durch die Gegend. Ich seufzte tief und überlegte, wie ich es anstellen sollte, sie zu einem Arztbesuch zu überreden. Die wahrscheinlich beste Möglichkeit war wirklich, sie in einen Sack zu stecken und dorthin zu schleifen. Freiwillig würde sie es niemals tun.
„Mach einen Termin aus“, verfügte ich. „Ich werde dann dafür sorgen, dass sie da ist. Auch wenn sie mir danach für den Rest meines Lebens spinnefeind ist. Aber das muss aufhören. Ich will Dennis zurück. Für ihn ist das sehr schlimm. Ständig diese Unterstellungen. Du kennst ihn. Er ist ein ehrlicher Mann.“
Mein Vater nickte nur. „Da hast du einen wirklich guten Partner gefunden.“ Er hob den Kopf an und blickte kurz zur Decke. „Ich wünschte nur, Mutter würde es genauso sehen … Eigentlich sieht sie es ja auch genauso. Sie redet immer wieder davon, wie fleißig Dennis ist. Aber dann …“ Er seufzte, senkte das Kinn wieder auf die Brust nieder und nahm einen tiefen Atemzug. „Es nimmt sie sehr mit. Ihre ganzen Krankheiten. Sie merkt, dass sie nicht mehr so kann wie früher.“
„Ihr seid beide über siebzig“, erinnerte ich ihn. Eine Feststellung, die mich mit Grauen erfüllte. Ich schob den Gedanken von mir. „Vielleicht solltest du nach oben gehen und sie runterholen. Ihr Essen wird kalt.“
Mein Vater nickte, erhob sich und ging nach oben. Keine Minute später hörte ich ihn laut nach mir rufen. Die Panik in seiner Stimme alarmierte mich sofort. Ich sprang von meinem Stuhl, sodass er hintenüber kippte, eilte die Treppe hoch und fand meinen Vater über meine Mutter gebeugt, die auf dem Boden vor ihrem Bett lag. Ihre Augen hatten sich nach oben verdreht. Ihre Gliedmaßen zuckten unkontrolliert. Sofort eilte ich wieder nach unten, riss das Telefon von der Base und rief den Notarzt.
Eine knappe Stunde später hockte ich in der Notaufnahme auf einer unbequemen Bank aus Drahtgeflecht. Mein Blutdruck ging seit dem Vorfall auf über hundertachtzig. Ich bekam von meiner Umgebung wenig mit, weil mir das Blut in den Ohren so laut rauschte, dass ich kaum die Leute verstehen konnte. Bis vor wenigen Minuten saß ich noch am Krankenbett neben meiner Mutter, die an Drähten und Schläuchen angeschlossen war und um ihr Leben kämpfte. Doch ich muss raus, sonst wäre ich durchgedreht.
Plötzlich legte jemand eine Hand auf meine Schulter. Ich sah hoch. Neben mir stand Dennis und blickte mich verständnisvoll an. Sofort sprang ich auf die Beine und zog ihn in eine Umarmung.
Ich war so froh, ihn zu sehen, wäre am liebsten in ihn geschlüpft, um ihn voll und ganz zu spüren. Fest presste ich mich an ihn, ignorierte den Umstand, dass mich seine Gegenwart erregte und ich mich mit ihm lieber in ein Bett verzogen hätte, als hier im Krankenhausflur zu stehen. Es war unangebracht und dennoch beruhigte es mich.
„Ich bin da“, flüsterte mir Dennis liebevoll ins Ohr.
„Woher wusstest du es?“, wollte ich wissen.
„Dein Vater rief mich an.“
Ich sah ihn an. Wann das passiert sein sollte, konnte ich nicht nachvollziehen. Ich war so erfüllt mit der Sorge um meine Mutter, dass ich es nicht mitbekommen habe.
„Er meinte, du brauchst dringend eine Stütze. Jetzt bin ich da.“ Er packte mich fester, als befürchtete er, dass ich gleich zusammenbrach, und lächelte mich zuversichtlich an. Eine Hand legte sich auf meine Wange und streichelte sanft darüber. „Ich hätte nicht gehen dürfen“, flüsterte er. „Ich hätte bei euch sein müssen.“
„Nein“, widersprach ich. „Das war schon richtig so …“ Ich brach ab. Der Schreck saß mir noch immer in den Gliedern und wütete dort in meinem Inneren wie ein heftiger Schneesturm.
„Wie geht es ihr?“, erkundigte er sich interessiert.
„Nicht gut“, antwortete ich. Lügen hätten nichts gebracht. Meine Mutter hatte einen Schlaganfall und wären wir nur ein paar Minuten später gekommen, wäre sie daran gestorben. Ich machte mir die größten Vorwürfe, dass ich das Rumpeln von oben ignoriert und damit wertvolle Zeit verschwendet hatte.
„Wir stehen das durch“, versicherte mir Dennis und küsste mich zärtlich auf den Mund. „Gemeinsam. Ich werde nie wieder davonlaufen. Ich bin bei dir – für immer.“ Unsere Lippen fanden sich erneut, konnten sich nicht voneinander trennen. Meine Finger verkrallten sich in seinem Rücken, waren nicht bereit, ihn erneut gehen zu lassen. Ich brauchte ihn, seine Nähe, seinen Duft, seine Wärme, seine Stimme.
„Ich liebe dich“, wisperte ich ergriffen und nahm den Kuss erneut auf, den ich für meine Worte kurz unterbrechen musste. Es war mir scheißegal, was die anderen Passanten von uns denken mochten. Ein schwules Paar, das ungehemmt knutschte. Doch ich brauchte es. Es war wie Baldrian für mich.
Dennis löste sich von mir und blickte tief in meine Augen. „Ich bleibe bei dir, bis ans Ende deiner Tage.“ Er zog meine Hand hervor, nahm die Finger in beide Hände, küsste die Fingerknöchel und nahm den Kontakt zu meinen Augen wieder auf. „Es ist kein guter Moment, entschuldige bitte. Aber als dein Vater mich anrief und mir erzählte, wie fertig du bist, wusste ich, dass ich an deine Seite gehöre. Jederzeit.“
Unendliches Glück durchflutete mich. „Jederzeit“, floss es beinahe lautlos über meine Lippen. Dann küssten wir uns erneut, bis ein Räuspern in unserer Nähe ertönte. Wir trennten uns.
„Mutter ist wach“, berichtete mein Vater, der in der letzten Stunde ebenso wie ich, vor Sorge so alt wie noch nie geworden war. Er wirkte zusammengesunken, schwach und gebrochen. Doch in seinen Augen glitzerte die Hoffnung. „Sie will euch sehen – beide.“
„Dennis wird mein Mann“, erklärte ich meinem Vater.
„Ist er das nicht schon längst?“, seufzte dieser und lächelte glücklich. „Kommt. Ihr wisst, wie ungeduldig Mutter werden kann, wenn man sie warten lässt.“
Dennis nahm mich fest an der Hand und ging an meiner Seite ins Krankenzimmer.
Texte: Ashan Delon 2013
Bildmaterialien: DTL, Hotblack www.morguefile.com
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2013
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