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" In der Gewalt der Yaalotta "

Lena wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte sich um. Unweit von ihr kämpfte Tchengo mit einer Konditionsmaschine. Auf seiner Stirn glänzte ebenfalls der Schweiß und sein schwarzes Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Sie beide hatten sich bereit erklärt, den vollen Ablauf des Testtrainings noch einmal durchzumachen. Sie musste schmunzeln, als sie an ihren folgenreichen Schwindel zurückdachte. Der Tausch der TEC's hatte ihnen einige Schwierigkeiten bereitet, zugleich aber auch eine neue Freundschaft beschert. Gemeinsam arbeiteten sie an persönlichen Vergeltungsmaßnahmen und bürgten sich mehr Arbeit und schwierigere Lösungsvorschläge auf, als alle anderen Mitstreiter. In jeder freien Minute saßen sie beisammen und erörterten die möglichen Testfragen aus der theoretischen Prüfung. Lena hatte einen bis dahin nie geahnten Ehrgeiz entwickelt und war begierig darauf, soviel wie möglich zu lernen. Tchengo Namarch, der Sohn eines der zwölf königlichen Berater, war eine schier unerschöpfliche Quelle an Informationen und hatte für jede Lehrstunde etwas Neues für sie parat - anfänglich zumindest.

Lena schluckte ihr Lächeln hinunter. Es hatte nur ganze drei Wochen gedauert, bis Tchengo das Interesse an ihr verlor und sich einer lukrativeren und attraktiveren Partie zuwandte. Sie fragte sich stets aufs Neue, warum sich ausgerechnet eine so zierliche und zerbrechliche Person, wie die Tochter des königlichen Haushofmeisters für eine harte militärische Laufbahn interessierte. Zum Testtraining wurde beinahe jeder Bewerber in die Akademie aufgenommen. Erst während des Trainings, nach den ersten Prüfungen und den Abschlussarbeiten kristallisierte sich heraus, wer übernommen und seinen Fähigkeiten entsprechend weiter ausgebildet wurde.

Die spindeldürre Feliss war kaum imstande, die Konditionsmaschine zu beherrschen. Sie bemühte sich nicht einmal. Statt dessen war sie ständig in Tchengos Nähe zu finden und beobachtete ihn bei seinem Körpertraining. Sie verfügte aber über ein bemerkenswertes Gedächtnis und beinahe alles, was in ihrer Gegenwart gesprochen, ausgesagt oder was sie irgendwo gelesen oder gehört hatte, speicherte sich in ihrem Gehirn, sodass sie es jederzeit fehlerfrei wiedergeben konnte. Jede noch so detaillierte Ausführung über komplizierte Waffentechniken oder den Antriebsmaschinerien der Jagdflieger, konnte sie Wort für Wort wiederholen, doch Lena bezweifelte, dass das Mädchen auch nur eine Silbe wirklich verstand. Das Zitieren komplexer Gebrauchsanweisungen ließ sie klug erscheinen, doch auch nur eine Abweichung von der Norm, ließ ihr den kalten Schweiß ausbrechen und ihre zweite Waffe anwenden - ihr Lächeln. Feliss besaß ein so hinreißendes und unschuldiges Lächeln, dass selbst die strengsten Lehrer gutmütig ein Auge zudrückten und ihr Versagen für dieses eine Mal, das selten das letzte Mal blieb, durchgehen ließen. Feliss mogelte sich regelrecht durch das Testtraining.

Eine Vorgehensweise, die Lena auf gar keinen Fall mehr anwenden wollte. So nutzte sie jede Minute ihrer Freizeit, um ihre Nase tief in Bücher, Holoaufzeichnungen, Konstruktionsplänen und Geschichtsdiagrammen zu stecken. Es enttäuschte sie zwar, dass Tchengo keine Zeit mehr für sie aufbrachte, doch sie wusste auch, dass sie keinen Anspruch auf ihn besaß. Sie waren nur einfach Freunde. Wenn er sich jemanden anderen suchte, mit dem er seine Freizeit verbringen wollte, jemand der ihm standesgemäß angebrachter erschien, war das allein seine Sache. Und so stürzte sich Lena nur noch tiefer in ihr Lehrmaterial.

Sie fragte sich auch immer wieder, was jemand wie Feliss von jemandem wie Tchengo Namarch wollte. Denn als Tochter des Haushofmeisters musste sie wissen, dass Namarch kein Mann fürs Leben oder für die gemeinsame Familienplanung war - zumindest nicht für ein monogeschlechtliches Wesen.

Sie war aber weder ihm, noch ihr böse. Erstens besaß sie keinerlei Anspruch auf ihn und zweitens stellte es nur eine Frage der Zeit dar, bis er sich wieder seinesgleichen zuwandte. Und drittens hatte sie es in der Tat nicht anders erwartet. Sie hatte lediglich gehofft, dass es erst nach der theoretischen Prüfung geschah und bis dahin noch Namarchs volle Unterstützung erhielt - so wie er es versprochen hatte.

Seufzend nahm sie die Riemen wieder in die Hand und zerrte weitere fünfzig Mal an dem kräftezehrenden Muskelgerät, um ihr Muss an Körperertüchtigung überzustrapazieren. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich beim zweiten Durchgang ihres Testtrainings wesentlich mehr anstrengte und wesentlich mehr Eifer aufwenden konnte. Sie wollte die Prüfung um jeden Preis bestehen, Captain Braun zuliebe und auch etwas ihr selbst und des lieben Familienfriedens zuliebe.

Ihr Vater hatte überraschend ungehalten reagiert, als Lena ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Wenn Captain Braun sie nicht zu einer Wiederholung verdonnert hätte, ihr Vater hätte sie tatsächlich dazu geprügelt. Erst in diesem Moment hatte sie erkannt, wie stolz er auf die Leistung seiner Tochter gewesen war. Selten kam jemand von so weit unten in Kreise, welche ihm nur einige Streifen, eine ordentliche Uniform oder ein einflussreicher Name ermöglichen konnte.

Sie seufzte erneut, als sie Feliss albernes Kichern hörte, und schloss die Augen. Sie durfte einfach nicht mehr daran denken, dass sie im Grunde versetzt worden war. Tchengo hatte ihr versprochen, ihr alles beizubringen, was für das erfolgreiche Bestehen der theoretischen Prüfung von Nöten war. Dass ein Versprechen selbst in Hofkreisen nicht viel zu bedeuten hatte, bekam Lena rasch am eigenen Leib zu spüren.

Ihre Pflichtübungen brachte sie mehr mit Wut, Eifersucht und angetriebenem Ehrgeiz zu Ende, als mit Pflichtbewusstsein und Aufrichtigkeit. Sie hatte sich irgendwann in endlos langen einsamen Stunden in der Bibliothek, vorgenommen, auch die trockene Theorie mit Bravour zu bestehen. Dafür musste sie einiges tun.

Sie ließ die Gewichte vorsichtig in den Sockel zurücksinken, schnappte sich ihr Handtuch und spazierte gemächlich davon. Entgegen der ersten Wochen hatten sie beide stets aufeinander gewartet, um die nächste Aufgabe gemeinsam zu lösen. Doch mittlerweile war sie des langen Wartens überdrüssig und begab sich allein in die Dusche.

Als nächstes Gebiet hatte sie sich Völkerkunde vorgenommen. Aufgrund der Vielzahl bekannter Welten war es nicht ganz einfach, sich die gängigsten Namen und Daten einzuprägen. Es waren einfach zu viele. Lena nahm sich vor, so viele wie möglich zu wissen. Sie wollte nicht noch einmal bereits bei den ersten fünf Fragen versagen müssen.

Ein Schatten legte sich über ihren Pult und sie fuhr hoch.

"Captain Braun!“, rief Lena erschrocken und schluckte ihren Schreck herunter. Mit seinen dunklen leuchtenden Augen und den Lachfältchen um seine Augenwinkel stellte er beileibe keinen Unhold dar, vor dem man sich vorsehen sollte. "Was machen sie hier? Wollen sie sich weiterbilden?" Sie biss sich sogleich auf die Lippen. Wenn der Hofzögling Tchengo Namarch in diesem Ton mit seinem Captain reden konnte, war es eine andere Sache. Lena hatte sich an die Vorschriften zu halten. Sie räusperte verlegen, erhob sich und versuchte eine respektvolle Haltung, immerhin war sie nur halboffiziell ein Anwärter.

"Guten Tag“, grüßte er höflich, ihre undiszipliniertes Verhalten gnädig übergehend. "Ich hoffe, sie kommen voran."

"Es geht“, nickte sie und ließ ihren Blick über den Tisch schweifen, auf dem alte Bücher, allerlei Kartenmaterial und ein Projektor mit flackernden Holoaufzeichnungen verstreut lagen. "Was kann ich für Sie tun, Captain?"

"Ich suche Namarch." Er blickte sich suchend um. "Jemand sagte mir, ich könne ihn hier finden."

"Ich habe ihn schon seit Stunden nicht gesehen“, antwortete sie wahrheitsgetreu. Sie hatte schon über vier Stunden in der Bibliothek verbracht und mit dieser Erkenntnis machte sich der Hunger bemerkbar. Sie hatte in ihrem Studium sogar das Mittagessen vergessen.

"Wie kommen sie beide zurecht?“, erkundigte er sich fast beiläufig.

"Wir haben viel zu tun“, sagte sie ausweichend. Der Captain wusste von der Abmachung zwischen ihnen beiden. Schließlich war er es gewesen, der sie beide dazu verdonnert hatte.

"Wenn Sie ihn sehen, sagen sie ihm, er soll bei mir vorbeischauen“, gab der Captain mit einem seltsamen Glanz in den Augen von sich und sah sich ein weiteres Mal suchend um. Doch außer langen Reihen von Regalen voller Holos, Bücher, Karten und anderen Aufzeichnungs- und Aufbewahrungsmaterialien war niemand zu sehen. Lena war wegen des Mittagessens allein in der Bibliothek gewesen. Sie konnte sich denken, dass der Captain absichtlich die Mittagsstunde gewählt hatte, um Namarch auch wirklich zu finden. Sie lächelte innerlich und ärgerte sich sogleich. Feliss war ein ziemlich durchtriebenes und einnehmendes Wesen. Sie vermochte selbst ein Wesen wie die Llomenas, wovon die Namarch-Familie letztendlich abstammte, für sich zu gewinnen.

"Ich werde es ihm ausrichten“, nickte sie artig und wünschte, sie würde ihn bis an ihr Lebensende nicht mehr wiedersehen.

"Danke." Der Captain ließ ihr einen dürftigen und mehr als flüchtigen militärischen Gruß zukommen, dann ließ er sie wieder allein.

Lena war nicht mehr imstande, sich auf schwere Geschichte zu konzentrieren. Außerdem begann ihr Magen immer lauter, zu klagen. Also raffte sie ihr Lehrmaterial zusammen und begab sich in den Speisesaal für Offiziersanwärter, der sich von dem der fertigen Offiziere insoweit unterschied, dass es dort weiße Tischdecken gab.

Eher lustlos stocherte sie in ihrem Essen herum, während sie sich zwang, ein Kapitel über die Religionskämpfe der Vwanderwa zu Ende zu lesen. Sie musste die Zeilen immer wieder lesen, ohne auch nur einen Satz zu begreifen. Zu sehr schwirrten ihre Gedanken um Brauns Anliegen und Namarch. Insgeheim brannte sie vor Neugierde, zu erfahren, was Captain Braun so dringliches von ihm wollte. Doch andererseits … - jenes Gefühl musste sie gewaltsam aufrechterhalten - ging es sie einen feuchten Kehricht an.

Sie schob sich einen bissen in den Mund und konzentrierte sich intensiver auf das Kapitel.

Feliss munteres Kichern riss sie erneut aus ihrer Konzentration, ehe sie auch nur die erste Zeile hatte zu Ende bringen können. Sie zwang sich, nicht aufzusehen und ihre Augen fest auf die tanzenden Buchstaben zu richten. Sie fand sich nicht mehr in der Lage, auch nur einen dieser Buchstaben zu entziffern.

"Hallo, McKenzie“, rief Feliss froh gelaunt und ließ sich ausgerechnet neben ihr nieder. "Für mich bitte nur eine Kleinigkeit. Einen Salat oder ein Proteingetränk." In ihrer Stimme schwang etwas mit, was Lena an die Bestellung gegenüber eines Tischkellners erinnerte. Sie wusste aber genau, dass es keine Kellner gab, geschweige denn einfaches Küchenpersonal, das sich ausnahmsweise herabließ, die Anwärter zu bedienen.

Lena sah kurz hoch. Tchengo Namarch musste die Aufgabe des Tischkellners übernommen haben. Er nickte und begab sich auch schon zur Ausgabe.

"Was liest du denn?“, wollte Feliss neugierig wissen und beugte sich über Lenas Buch, um einen Blick zu erhaschen. "Die Vwanderwa“, wusste sie sogleich Bescheid. "Blutiger Religionskrieg, eine abscheuliche Angelegenheit." Sie verzog ihr Gesicht. "Liest du das, weil du denkst, darüber eine Prüfung ablegen zu müssen, oder interessiert dich diese bluttriefende Geschichte?"

Lena knirschte so lautlos sie konnte mit den Zähnen. Am liebsten hätte sie der blöden Kuh das Buch um die Ohren gehauen.

"Es gehört zum Grundwissen“, sagte sie mürrisch und rückte sich etwas fort.

"Dass du dich traust, so etwas zu essen“, war Feliss bereits beim nächsten Thema. "Das ist doch voller Fettanteile und Kohlehydrate. Ich hätte niemals von dir gedacht, dass du deinem Körper so etwas antust. Aber wenn ich dich so ansehe, da ... ." Sie ersparte Lena den Rest.

Feliss war eine Gesundheitsfanatikerin und es hätte sie nicht gewundert, wenn sie Namarch damit angesteckt hätte. Tatsächlich kam er wenig später mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Teller mit Salat und grobkörnigem Sandbrot, das so gut wie keine Nährstoffe besaß, zurück.

"Proteingetränke gibt es heute nicht“, sagte er und rutschte in den Stuhl gegenüber Lena. Auch er warf einen flüchtigen Blick in das Buch, worauf Lena es noch ein Stückchen mehr zur Seite schob. "Wie kommst du voran?“, fragte er interessiert.

Lena sah nicht hoch. Vielleicht hätte sie dann das aufrichtige Gesicht erkannt, doch der Klang in seiner Stimme signalisierte irgendwie nicht das richtige Interesse an ihren Lernleistungen.

"Es geht“, knurrte sie, klappte das Buch zu und schob den kaum angerührten Teller von sich. Anfänglich hatte sie sich dazu entschlossen gehabt, Captain Brauns Nachricht für sich zu behalten. Wenn der Captain vergeblich auf Namarch warten musste, würde sie nur achselzuckend reagieren. Ihr Kopf war mit anderen Dingen beschäftigt, würde sie als Ausrede angeben. Doch dann entschloss sie sich, ihm doch davon zu erzählen. Vermutlich war es etwas Wichtiges oder das Seelenheil oder das Leben von irgend jemanden hing von der schnellen Antwort ab."Captain Braun sucht dich schon auf dem ganzen Gelände. Du sollst in sein Büro kommen." Damit raffte sie ihre Sachen zusammen, nahm das Tablett auf und stellte es in das Sammelregal für Schmutzgeschirr. Ihr war der Appetit vergangen, außerdem hatte sie noch eine Menge zu lernen und Störenfriede wie Namarch und vor allem Feliss konnte sie schon gar nicht gebrauchen.

Sie schwang die doppelte Schwingtüre auf, welche es nur am Eingang zum Speisesaal gab - ein Hinweis auf Historie und auf das beträchtliche Alter der Akademie, vermutete Lena schon beim ersten Durchgang - und überließ die beiden sich selbst. Sie konnte auf die Gesellschaft eines schwatzhaften Weibes und eines unzuverlässigen Llomenas großzügig verzichten.

 

Zufrieden mit ihren Leistungen am Schießstand und im Simulator, kehrte Lena in die Bibliothek zurück. Das Thema Vwanderwa war noch nicht gänzlich abgeschlossen und im Laufe des Nachmittages hatte sie der Ehrgeiz gepackt, dieses Thema zu Ende zu bringen. Ihre Pflichtübungen sollten sie nur wenig aufhalten und schon bald brütete sie wieder über den alten Aufzeichnungen und Holoprojektionen längst vergangener Schlachten.

"Lena!" riss sie jemand aus dem Passus über die Friedensverhandlungen und sie fuhr erschrocken hoch. Vor ihr stand Namarch, noch in der Fliegermontur, die im Simulator getragen werden mussten und den Helm in der Hand und ließ sich schwer atmend neben ihr niedersinken.

Für einen kurzen Moment dachte Lena darüber nach, nach Feliss Ausschau zu halten. Sie hielt sich jedoch zurück.

"Ist ein Krieg ausgebrochen?“, fragte sie etwas mürrisch. Sie hatte sich so schön in die Vwanderwa hineinversetzen können, eine Störung würde sich nun sehr nachteilig auswirken. Wenn sie einmal im Lernen und Studieren vertieft war, schien sie fast mit dem Lehrmaterial zu verwachsen. Sie verlebte die Lektionen buchstäblich mit.

"Nein, warum?“, keuchte er und schnaufte einige Male tief durch, um wieder zu Atem zu kommen.

Lena deutete nur auf die Fliegermontur und sah ihn fragend an.

"Nein“, rief er und schüttelte den Kopf. "Ich bin nur gleich nach dem Simulatorflug hierher gekommen. Ich dachte mir, dass ich dich hier finden könnte."

"Was willst du eigentlich? Ich habe noch jede Menge Stoff zu bewältigen."

"Ist irgendetwas mit dir?“, fragte er leicht besorgt.

"Mit mir ist alles in Ordnung“, erwiderte sie und unterdrückte krampfhaft den schnippischen Unterton. Soweit brauchte sie sich nicht herabzulassen. "Es könnte nicht besser sein."

"Ich weiß, dass du es schaffst“, rief er freudig und erhielt dafür einen genervten Seitenblick eines ebenfalls intensiv studierenden Kollegen. "Was hältst du davon, für ein paar Tage auszuspannen?"

Auf Lenas Zunge sprudelte es über vor bissigen Bemerkungen. "Warum? Was hast du vor?“, fragte sie stattdessen.

"Captain Braun übergab mir eine Nachricht von Botschafter Sirth Magalan“, berichtete er eifrig. "Er bittet mich, zu ihm zu kommen. Ich dachte, vielleicht hättest du Lust, den alten Großvater wieder zu sehen. Ich habe die Erlaubnis von Captain Braun. Auch für dich, wenn du willst."

Lena musste unwillkürlich lächeln. Mit dem alten Großvater meinte er den Botschafter, den sie trotz allem ins Herz geschlossen hatte. Und obwohl sie ihn in arge Bedrängnis gebracht hatte und beinahe seinen Ruf ruiniert hätte, hielt er nach wie vor an ihnen fest und freute sich jedes Mal, wenn er etwas über die beiden hörte. Zudem befanden sich Namarchs Nachkommen in Magalans Obhut.

"Ich kann nicht“, sagte sie. "In einer Woche ist die Prüfung und ich habe noch eine Menge Stoff zu bewältigen."

"Das kann ich dir alles beibringen, während wir nach Mandereth fliegen“, schlug er spontan vor.

"Ich weiß dein Angebot zu schätzen“, entgegnete sie kühl. Es war ihr nicht mehr möglich, ruhig und ungerührt zu bleiben. "Aber ich verlasse mich lieber auf meine eigenen Ambitionen." Dass sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen hätte, dass er doch Feliss als kurzweilige Begleiterin mitnehmen sollte, behielt sie klugerweise für sich. So gänzlich wollte sie nicht auf das niedere Niveau einer eifersüchtigen Zicke begeben.

Der begeisterte Ausdruck in seinem Gesicht verschwand augenblicklich. Er lehnte sich zurück, betrachtete sie kurz ausdruckslos, dann sprang er wie von einer Sprungfeder getrieben hoch.

"Wie du meinst“, gab er etwas beleidigt von sich, machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

Lena seufzte, suchte die angefangene Zeile in ihrem Buch und konzentrierte sich wieder auf den Text. Merkwürdigerweise fand sie beinahe wieder sofort in das Thema hinein. Die Störung hatte nicht allzu viel Schaden angerichtet.

 

Die Tage der Prüfung rückten näher und Lena hatte seit Tagen weder etwas von Namarch noch von Captain Braun gehört. Sie entschloss sich einfach, die ganze Angelegenheit zu vergessen und ihr Leben wieder allein zu verbringen. Früher war sie auch auf sich allein gestellt gewesen. Sie besaß kaum Freunde, und seit sie als Polizistin ihren Dienst tat, wollten auch einige der wenigen alten Freunde nichts mehr mit ihr zu tun haben. Dass sie für ihre Karriere den Preis der Einsamkeit bezahlen musste, hätte sie nicht gedacht. Denn während des Testtrainings hatte auch kaum einer der anderen Anwärtern Zeit für einen kleinen Plausch, geschweige denn für einen netten und geselligen Abend. Lena besaß zudem auch keine Zeit dafür, irgendjemanden darum zu bitten. Zu sehr war sie mit ihrem Lehrstoff beschäftigt.

Einmal entdeckte sie Feliss, die mit einem Tablett auf dem nur ein Glas Proteintrunk stand, durch die voll besetzten Reihen des Speisesaals wanderte und den freien Platz neben Lena entdeckte, sich aber sofort wieder abwendete und einen anderen Platz suchte. Seufzend kommentierte Lena dieses Verhalten. Sie war nicht auf die Gesellschaft ihrer vermeintlichen Nebenbuhlerin angewiesen, obwohl sie sich liebend gern mit irgendjemanden unterhalten hätte - zur Not auch mit Feliss.

 

Öfter denn je in den letzten Tagen vor der großen Prüfung, verschwand Lena in der Bibliothek und steckte ihre Nase tief in Geschichte und Völkerkunde, jene Lehrfächer, von denen sie glaubte, am ehesten zu versagen.

Wieder wurde sie durch die Anwesenheit eines Besuchers gestört, doch als sie hochsah, stockte ihr beinahe der Atem.

Vor ihr stand ein Mann in einem unglaublich teuer aussehendem Gewand. Der eng anliegende Anzug unter dem schwarzen, bodenlangen Umhang schimmerte in allen Schattierungen von Silbergrau. An seiner Brust hingen zahlreiche Abzeichen und Orden, als wolle er sich damit dekorieren oder für einen Maskenball ausstaffieren. Sein langes schwarzes Haar, das die Zeit bereits schon sehr stark hatte ergrauen lassen, hing ihm säuberlich gekämmt und wie eine Trophäe des Alters über den Rücken. Seine faltigen Hände waren vor dem Bauch verschränkt und schienen mit dieser Geste auf den breiten Hüftgürtel hinweisen zu wollen, an welchem Edelsteine und Silbermedaillen glitzerten. Sein Gesicht zeigte höchste Strenge und deutete mehr als deutlich darauf hin, dass er Ausflüchte und Lügen weder duldete noch akzeptierte. Die grünen Augen strahlten Kälte und Strenge aus.

Lena wusste sofort, um wen es sich handelte. Sie hatte Tchengos Vater zwar noch nie gesehen und war ihm auch noch nie vorgestellt worden, dennoch wusste sie augenblicklich Bescheid. Sie schob ihr Buch von sich und erhob sich höflich.

"Lena McKenzie?“, sagte der Berater des Königs, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Dieser Eindruck allein genügte schon, um Tchengos Ängste verstehen zu lernen. Sie hätte diesem Vater auch niemals verraten, dass er bereits Großvater geworden war.

Sie nickte. "Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie höflich. Eigentlich gehörte es sich, den Gegenüber mit dem korrekten Titel und den Namen anzusprechen, doch sie wusste nicht, wie sie ihn ansprechen musste. Erst in diesem Moment bemerkte sie hinter dem Mann weitere Leute, die wie Schatten, ständig in der Nähe des königlichen Beraters zu sein schienen. Sie betrachteten die junge Frau mit Argwohn, so als ob sie in ihr eine potenzielle Gefahr für ihren Schützling sahen. Die Männer im Hintergrund sahen zwar nicht unbedingt wie Leibwächter aus, Lena wusste aber, dass man sich auf den ersten Eindruck nicht unbedingt hundertprozentig verlassen sollte. Vielleicht warteten sie aber auch nur auf die korrekte Anrede ihres Herrn.

"Captain Braun informierte mich darüber, dass sie mit meinem Sohn zusammen die Studien absolvieren“, begann er, wie selbstverständlich voraussetzend, dass sie wusste, mit wem sie es zutun hatte, und sah sich flüchtig um. Sein Blick verriet mehr als deutlich, dass er sich von der recht ordentlich und sauber geführten Bibliothek der Akademie abgestoßen fühlte. Die Einrichtung war sparsam aber zweckmäßig. Auf Prunk, überflüssige Verzierungen und Kitsch war weitgehend verzichtet worden. Die Studenten sollten sich schließlich bilden und nicht im Luxus wälzen.

Lena hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, dass dem schon seit Langem nicht mehr war. Außerdem befand er sich gar nicht auf dem Akademiegelände.

"Das ist richtig“, nickte sie stattdessen.

"Ich ließ meinem Sohn Namarch, einige Aufforderungen zukommen, sich zu mir zu begeben. Doch keine dieser Aufforderungen wurde von ihm befolgt. Ich musste mich daher höchstpersönlich hierher bemühen. Doch bei meiner Ankunft wurde mir gesagt, dass er sich nicht in der Akademie befindet. Und da offenbar auch Captain Braun nicht über Namarchs Verschwinden informiert ist, hoffte ich, Sie könnten mir seinen Aufenthaltsort verraten oder zumindest erklären, was hier vor sich geht."

"Ich wüsste nicht, was ich ihnen erklären könnte“, erwiderte Lena achselzuckend und schluckte ihren Groll hinunter. Der Captain wusste sehr wohl, wo sich der junge Namarch befand. Dass er den schwarzen Peter auf Lena abgeschoben hat, nahm sie ihm sehr übel. Nun musste sie mit dem strengen Mann zurechtkommen.

"Wo ist mein Sohn?“, wurde der königliche Berater endlich direkt.

"Ich weiß es nicht“, log Lena. Sie wollte nicht diejenige sein, die einen Freund verriet. Was auch immer Tchengo ihr angetan hat, es war eine Angelegenheit zwischen ihnen beiden. "Ehrlich gesagt, bleibt uns neben den Studien und den Pflichtküren nicht viel Zeit für Privatgespräche. Es tut mir aufrichtig leid. Ich weiß nicht, wo er ist. Ich habe ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen." Wenn sie unfair sein wollte, hätte sie Feliss erwähnt und den schwarzen Peter auf sie weitergegeben. Doch die Gefahr, dass sie unter dem Druck des strengen Blickes redete, war einfach zu groß und das wollte sie Tchengo trotz allem nicht antun.

"Was haben Sie eigentlich mit meinem Sohn zu tun, dass Sie gemeinsam die Studien absolvieren?“, erkundigte er sich streng. Sein Blick war wirklich erdrückend. In Tchengos Haut wollte sie absolut nicht stecken. Sie hatte immer gedacht, ihr Vater sei hart und gefühllos gewesen, doch dieser Mann schien kein einziges Segment von Nachsicht und Güte zu besitzen. Ihr Vater hatte sie wenigstens hin und wieder in den Arm genommen und sie getröstet, wenn sie am Boden zerstört war und weinte.

"Wir sind beide durch die Prüfung gerasselt“, erklärte sie entschlossen.

"Durch die Prüfung gerasselt?“, wiederholte er überrascht und betrachtete sie, als wolle er in Lenas Gedanken nach dem Sinn dieser Worte forschen.

Lena biss sich auf die Lippen. Was auch immer Tchengo seinem Vater erzählt hatte, dass er die Prüfung wiederholte, weil er sie nicht bestanden hatte, schien nicht dazuzugehören.

"Davon weiß ich nichts“, entgegnete der alte Namarch leicht verunsichert, fasste sich aber gleich wieder und setzte seine gewohnte gebieterische Miene auf. Das Versagen seines Sohnes schien ihn mehr getroffen zu haben, als er sich eingestehen wollte und mehr als er jemals zu akzeptieren bereit war. "Anhand von Tchengos letzten Informationen handelt es sich hierbei um eine Aufstockung, um ein sogenanntes Eignungsseminar zur bevorstehenden Beförderung."

Lena biss sich erneut auf die Lippen und unterdrückte krampfhaft ein hämisches Grinsen.

"Ich habe beim letzten Mal kläglich versagt, weil ich in Geschichte eine Niete war“, sagte sie leicht amüsiert. Tchengos Angst vor seinem Vater schien ihn sogar zu Lügen zu treiben. Sie hätte sich das ihrem Vater gegenüber niemals getraut. Allein schon, um sein Vertrauen nicht zu verlieren. Aber vielleicht herrschten bei Hofe andere Sitten und Gebräuche. "Tchengo ist ebenso durchgerasselt wie ich. Sonst wäre er nicht hier."

Der königliche Berater wand sich kurz zu seinen Begleitern um, die ihre betretenen Gesichter augenblicklich abwendeten und sich urplötzlich für Tischbeine, Sitzbezüge und Buchrücken interessierten.

Lena wusste genau, weswegen sie beide zur Wiederholung des Testtrainings verdonnert worden waren. Aber diese Sache ging auch nur wieder sie beide und Captain Braun etwas an. Was Tchengo seinem Vater erzählte, gehörte zu einem anderen Kapitel. Sie war sich jedenfalls sicher, dass der liebe Sohn etwas zu hören bekam, sobald er den Aufforderungen seines Vaters endlich gehorchte, oder der Vater ihn gefunden hatte.

"Falls Sie ihn sehen, richten Sie ihm etwas von mir aus“, fand der alte Namarch endlich seinen befehlsgebenden Ton wieder. "Er soll sich unverzüglich bei mir einfinden." Damit wirbelte er herum und schritt majestätisch davon. Sein Umhang wallte hinter ihm her, wie eine dunkle Gewitterwolke, die sich vermutlich auch tatsächlich gebildet hatte.

Lena bekam nicht einmal Gelegenheit, sich für dieses Gespräch zu bedanken, geschweige denn, zu bestätigen, dass sie seinen Befehl ausführen würde. Sie war dieses lästige Suchspiel überdrüssig. Ständig suchte jemand nach Tchengo Namarch und immer wieder kamen sie damit zu ihr, als ob sie der Schatten dieses begnadeten Kriegers wäre. Sie wollte damit ein für alle Mal Schluss machen. Spätestens nach bestandener Abschlussprüfung wollte sie alles, was mit Namarch zu tun hatte, von sich weisen.

 

Der Tag der Prüfung war gekommen und sie hatte bis dahin weder etwas von Tchengo, noch etwas von Captain Braun gehört. Ihre Gedanken schweiften einige Male ab, anstatt sich auf die bevorstehende Prüfung zu konzentrieren. Und erst als sie an ihrem Terminal Platz genommen hatte, entdeckte sie ein paar Reihen vor ihr, nur eine Reihe neben jenem Platz, an dem er schon einmal eine Prüfung abgelegt hatte, Tchengo Namarch. Sie widerstand der Versuchung aufzustehen, zu ihm zu gehen und ihm von dem Besuch seines Vaters und des unumstößlichen Befehles zu erzählen. Stattdessen rief sie ihre Testfragen auf und konzentrierte sich gänzlich auf die Beantwortung. Viel wichtiger als Namarchs Befehl, war das bestehen dieses Testes. Sie musste ihn einfach bestehen.

Dass Tchengo auch diesen Test mit Leichtigkeit absolvierte, konnte sie sich ebenso denken, wie die Tatsache, dass er kaum für die Prüfungsfragen gelernt hatte. Und erst als sie ihren TEC in den Schlitz schob, sah sie wieder hoch und suchte jenen Llomenas, der ihr in der Vergangenheit so vieles Kopfzerbrechen bereitet hatte.

Sie war etwas überrascht, als sich ihre Blicke trafen. Mit einigen kurzen Handzeichen gab sie ihm zu verstehen, dass sie ihn dringend sprechen musste. Als sie sich erhob und den Saal verlassen wollte, fing ihr Blick auch den von Feliss ein. Sie schien die stumme Konversation zwischen ihnen beiden genauestens beobachtet zu haben und fragte sich nun, was jemand wie Tchengo nur an jemanden wie der langweiligen Lena McKenzie finden konnte. Verhalten lächelnd verließ Lena den Saal und lehnte sich draußen im Korridor an die gegenüberliegende Wand.

"Du hättest mitkommen sollen“, begrüßte er sie sogleich fröhlich. "Sie sind ganz schön gewachsen."

"Dein Vater sucht dich“, konterte sie sogleich, bevor er weitersprechen konnte. "Und er ist ziemlich ungehalten. Ich weiß nicht, welche Lügen du ihm aufgetischt hast, doch ihm scheint allmählich zu dämmern, was für ein Netz du um ihn herum gesponnen hast. Ich wollte dich nur warnen. Er will dich sehen, und zwar umgehend."

Tchengos heiteres Gesicht verfinsterte sich sogleich. Verlegen und nervös kaute er auf seiner Unterlippe herum.

"Was hast du ihm erzählt?“, wollte er wissen.

"Ich hatte keine Ahnung, dass du ihm gesagt hast, du würdest ein Eignungsseminar absolvieren“, berichtete sie. "Das wird er dir nun wohl nicht mehr abkaufen. Nachdem auch Captain Braun angeblich nicht wusste, wo du bist, stellte ich mich ebenfalls dumm. Du hast dir damit eine ganz schöne Suppe eingebrockt."

"Du musst mir helfen“, floss es beinahe flehend über seine Lippen.

"Ich werde dich nicht decken, wenn du das gemeint hast“, gab sie sofort zurück. "Nicht aus Angst vor deinem Vater. Ich habe sogar Respekt vor ihm und trotz allem verspüre ich sogar etwas Mitleid für ihn. Ich werde dir nicht helfen, weil du mich enttäuscht hast." Im selben Moment ging die Türe auf und Feliss erschien im Korridor. Ihr Blick visierte Lena, als versuche sie, die Nebenbuhlerin mit Blicken zu töten.

"Und du solltest Feliss endlich darüber aufklären, warum ihr Vater nicht erfreut darüber sein wird, dass sie sich mit dir herumtreibt. Ich bin sicher, der Haushofmeister hat immer davon geträumt, Enkel zu bekommen, die ihm irgendwie ähneln." Damit stieß sie sich energisch von der Wand ab, wirbelte herum und rauschte davon. Sie hatte die ganze Zeit regelrecht danach gelechzt, etwas von dem zurückgeben zu können, was er ihr in den letzten Wochen angetan hatte. Es verschaffte ihr aber leider nicht die Genugtuung, die sie gerne gehabt hätte. Sie fühlte sich sogar miserabel. Tränen der Wut stiegen in ihre Augen und sie rannte zurück zu ihrem Quartier, um sich heulend in ihr Kissen fallen zu lassen.

 

* * *

 

Bei der Gratuationsveranstaltung am nächsten Tag glänzte Tchengo Namarch ebenso durch Abwesenheit, wie bei der Einsatzbesprechung, bei der die frischgebackenen Soldaten ihrer Eignung entsprechend untergebracht wurden. Für gewöhnlich diskutierte ein Komitee allein darüber, doch der endgültige Einsatz wurde immer noch mit dem jeweiligen Diensttuenden abgesprochen.

Dass Tchengo nicht erschien, bestätigte Lenas Vermutung, die einflussreiche Hand des königlichen Beraters reichte auch bis zum Komitee und überzeugte sie davon, dass sein Sohn für eine Karriere als Soldat nicht tauglich war. Insgeheim schrieb sie ihn bereits ab, wunderte sich aber dennoch, als ihr der königliche Berater höchstpersönlich auf dem Korridor entgegenkam. Diese Begegnung bestätigte es ihr aber erst recht. Vater Namarch hatte dafür gesorgt, dass sein Sohn nicht in den Reihen des Militärs aufgenommen wurde.

 

Lena betrachtete den Boten etwas verwundert, als er ihr eine Nachricht überreichte, noch während sie auf ihren ersten Einsatzbefehl wartete. Sie solle sich sogleich bei Captain Braun melden, teilte ihr der Bote mit. Achselzuckend begab sie sich auf den Weg und stolzierte an noch mindestens hundert anderen Bewerbern vorbei, die vor ihr an die Reihe kommen mussten.

"Ich gratuliere ihnen, Officer McKenzie“, rief Captain Braun sogleich und reichte ihr die Hand.

Lena war besonders stolz darauf, dass sie es bestanden hatte, denn diesmal konnte sie es guten Gewissens ihrem eigenen Ehrgeiz zuschreiben. Sie lächelte und nahm dankend die Hand entgegen.

"Es ist doch ein wesentlich besseres Gefühl, wenn man es aus eigener Kraft schafft, oder nicht?“, lachte der Captain und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. Er zwinkerte ihr belustigt zu und wand sich wieder der ernsten Seite seiner Arbeit zu. "Da Sie bereits meiner Einheit angehörten und nur zum Zweck der Wiederholungsprüfung freigestellt waren, befinden Sie sich ab sofort wieder im Einsatz, unter meinem Kommando."

"Danke, Sir“, lächelte Lena.

"Ich habe mir noch mal Ihre Leistungen im Simulator angesehen“, begann der Captain mit einem vielsagenden Blick. "Sie machen sich nicht schlecht in einem Jagdflieger. Wie wäre es, wenn ich Sie zur Fliegerstaffel versetze?"

"Ich hatte gehofft, wieder Dienst in der Sicherheit absolvieren zu dürfen“, sagte sie.

"Da würden Sie nur ihr Talent vergeuden“, tat er es mit einer flüchtigen Handbewegung ab. "Nein, ich habe etwas für Sie. Begleitschutz für einen Versorgungstransport, bei dem auch eine hohe Persönlichkeit dabei sein wird. Ich habe bereits vier Mann für die Staffel, fehlen mir demnach nur noch zwei. Ich dachte dabei an Sie und den jungen Namarch, dessen Leistungen im Simulator ebenfalls hervorragend waren."

Lena musste ihn so entsetzt angestarrt haben, dass der Captain verwundert in die Lehne seines Sessels zurücksank.

"Ich und Tchengo? Ich dachte ... Eigentlich ... „, stammelte sie.

"Was?“, wollte er wissen.

"Ich hoffte, niemals wieder mit Tchengo Namarch zusammen Dienst tun zu müssen oder zu können“, sagte sie geradeheraus. "Eigentlich dachte ich, dass sein Vater ihn zurückgeholt hat."

"Warum sollte er?“, fragte der Captain unschuldig. "Namarch hat sich mit dem Bestehen der Prüfung für vier Jahre verpflichtet und daran kann auch kein königlicher Berater rütteln. Außerdem versicherte er mir erst heute Morgen, dass es für ihn ein Vergnügen sei, den Auftrag anzunehmen."

Tchengo schien seinem Vater noch nichts gesagt zu haben, dachte Lena im Stillen. Sonst hätte der Mann sicherlich alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen Sohn freizubekommen. Wie es Tchengo immer wieder gelang, seinem Vater aus dem Weg zu gehen, musste beinahe schon an Zauberei grenzen. Aber vermutlich war er ihm zeit seines Lebens aus dem Weg gegangen und wusste nun, wie und was er tun musste. Die Abberufung zu einem Begleitschutz schien für ihn geradezu willkommen zu sein.

"Haben Sie ihm erzählt, dass ich ebenfalls dabei sein soll?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

Der Captain nickte bestätigend. "Er sagte, das stelle ihn vor kein Problem, freue sich sogar auf die Zusammenarbeit." Er beugte sich wieder an die Kante seines Schreibtisches vor und betrachtete die junge Frau fragend. "Nehmen Sie den Auftrag an? Oder wollen Sie ihren Hals lieber auf den stinkenden Gossen der Hauptstadt riskieren?"

"Wenn Sie mich so fragen, dann werde ich selbstverständlich fliegen“, gab sie zurück. Der Blick und der Tonfall sagten ihr mehr als deutlich, dass die Antwort bereits feststand. Lena durfte keine andere Entscheidung fällen.

"Begeben Sie sich in den Jägerstützpunkt." Er überreichte ihr eine Kennkarte. "Sie werden dort mit allen Instruktionen und mit allem was Sie benötigen ausgestattet."

"Danke, Sir“, gab sie korrekt von sich, nahm die Karte, salutierte und marschierte davon. Dass sie einen weiteren Einsatz mit Namarch absolvieren sollte, gefiel ihr absolut nicht. Sie hatte gehofft, dieses Kapitel für immer abschließen zu können. Doch das Schicksal schien es nicht nach ihrem Willen gehen lassen zu wollen. Seufzend kehrte sie in ihr Quartier zurück, stopfte ihre Sachen in einen Reisesack und schulterte ihn, als sie das Zimmer wieder verließ. Vier Monate hatte sie hier geschwitzt, gelernt, gebüffelt, gefiebert und sogar geheult. Es kam ihr wie ihre eigene Bude im Haus ihres Vaters vor.

 

* * *

 

"McKenzie“, sagte sie zu dem Offizier, der ihre Kennkarte überprüfte. Sie war inzwischen mit einer kompletten Fliegermontur ausgestattet worden. Der Überlebensrucksack auf ihrem Rücken hing ihr schwer auf den Schultern. Zwar musste sie ihn noch nicht unbedingt tragen, doch ihre Arme waren bereits mit ihrem Reisesack, einem Helm, einem Proviantkoffer und der Beatmungseinheit, welche sie noch nicht in dem Überlebensrucksack integriert hatte, beladen und ließen keinen Platz für den wuchtigen Rucksack.

"Da drüben“, rief der Offizier und deutete in eine Richtung des überfüllten Hangars. "Ihre Maschine ist die 19-1/20. Sie wird gerade noch einmal gecheckt. Abflug ist in fünf Stunden. Bis dahin sollten sie sich mit den wichtigsten Bedienungen vertraut machen."

Der Simulator hatte sie genügend geschult, knurrte Lena im Stillen, nickte, klemmte die Kennkarte unter die Achsel und begab sich in die angegebene Richtung. Offenbar stand auf der Kennkarte, dass sie eine blutige Anfängerin war, und ärgerte sich über Captain Braun, der ihr diesmal jede Möglichkeit genommen hatte, irgendeine verantwortungsvolle Position zu übernehmen. Im Grunde war sie froh darüber. Solange sie nicht über ausreichend Qualitäten und Besonnenheit verfügte, sollte sie gar nicht erst in die Führungsebene gelassen werden. Sie sollte noch solange strikt Befehle ausführen müssen, bis ihr nicht mehr solch dumme Fehler wie auf Mandereth unterkamen.

"Guten Morgen“, grüßte eine fröhliche Stimme, und Lena zuckte leicht zusammen. Die Stimme kam ihr so bekannt und so ungelegen, dass sie ihn am liebsten angeschrien hätte.

"Ich muss schon sagen“, rief sie, ohne sich auch nur umzudrehen. "Es zeugt schon von einem ganzen Haufen Mut, ständig seinem Vater davonzulaufen."

"Das hat nichts mit Mut zu tun“, gab er zurück und nahm ihr den Proviantkoffer und den Reisesack ab. "Sondern mit Überlebenswille."

"Das kann ich verstehen. Ich habe deinen Vater kennengelernt." Obwohl sie ihm förmlich dankbar dafür war, dass er ihr zwei schwere Lasten annahm, zögerte sie, die Dinge freizugeben. "Du bist selbst ein ziemlich sturer Besserwisser. Aber dein Vater scheint die Krönung von allem zu sein."

"Du triffst den Nagel auf den Kopf“, murrte er betroffen. "Er hat versucht, mich aus der Verpflichtung freizukaufen. Doch ich habe das Komitee angebettelt, nicht klein beizugeben."

"Ach, das meinte er damit“, leuchtete es ihr endlich ein. Sie hielt an und betrachtete ihn eingehend. "Warum bringst du es nicht endlich hinter dich? Dein Vater wird dich bis in alle Ewigkeit suchen lassen und irgendwann werden deine grünen Augen nicht mehr ausreichen, um dir einen weiteren Ausweg zu erflehen. Dein Vater wird dich überbieten, wenn nicht mit Geld, dann mit Strenge oder mit dem Befehl des Königs. Du hast keine Chance gegen ihn."

"Du kennst ihn besser, als ich annahm“, bemerkte er. "Wie lange habt ihr euch unterhalten?"

"Keine fünf Minuten“, erwiderte Lena und trabte weiter. Die Last auf ihrem Rücken drückte schmerzhaft auf ihre Knochen und sie sehnte sich danach, den Rucksack so schnell wie möglich am Sitz zu befestigen. "Hast du dich schon von Feliss verabschiedet?"

"Warum sollte ich?“, gab er verwundert zurück.

"Ich dachte nur."

"Das klingt nach Eifersucht."

"Das klingt nach Enttäuschung. Immerhin hast du versprochen, mir zu helfen. Stattdessen bist du mit dieser Dumpfdohle herumgestreunt."

"Was auch immer dieser Ausdruck bedeuten mag, er beschreibt keineswegs die Qualitäten dieser Dame“, gab Tchengo reserviert von sich. "Sie ist nicht nur die Tochter des Haushofmeisters. Einer ihrer Onkel sitzt im Komitee und gerade jener hielt standhaft an mir fest, als mein Vater seine Forderung stellte. Wenn ich eines bei Hofe gelernt habe, dann ist es, sich an jene zu halten, die einem nützlich sein könnten, auch wenn man sie im Grunde nicht gerade sympathisch findet."

"Ach“, machte Lena nur. Sie konnte aus keinem reichhaltigen Schatz zehren, welcher ihr derartige Vorteile verschaffte. Insgeheim war sie sogar neidisch darauf. Sie tat es mit einem lautlosen Seufzer wieder ab.

"Und was die Hilfe anbelangt“, fuhr er fort. "Ich merkte schnell, dass du effektiver vorankommst, wenn du dich aus eigener Kraft in die Arbeiten hineinsteigerst. Ich habe schon vor langer Zeit erkannt, dass es keinen Sinn hat, dich auf ein bestimmtes Ziel leiten zu wollen. Man muss dir nur die richtigen Anhaltspunkte geben, dann findest du deinen Weg schon von ganz allein."

"Wie wunderbar“, gab sie knapp von sich. Der Jäger 19-1/20 tauchte hinter einem Frachter auf, an dem sämtliche Ladeklappen geöffnet waren und in den emsige Lastenträger-Droiden unentwegt Container hineintrugen. Lena betrachtete ihn kurz, dann blieb sie wie angewurzelt stehen. "Sehe ich das richtig?“, rief sie entsetzt und starrte auch die anderen Jagdmaschinen an, die in beinahe korrekter Reihe nebeneinander platziert waren. Die 19-1/20 war die Vorderste und besaß als Einziger den unförmigen Pickel an den Flügelenden, der von dem Funkleitsystem herrührte. "Das ist ein Leitschiff. Da muss ein Fehler vorliegen." Sie wirbelte herum und prallte mit Tchengo zusammen, der daraufhin den Proviantkoffer verlor. "Soll ich etwa die Staffel anführen. Das kann nicht sein. Das muss ein Versehen sein." In ihrem Gesicht standen Entsetzen und ein Anflug von Panik. Die Geschehen auf Mandereth kehrten in ihre Erinnerung zurück.

Tchengo nahm den Proviantkoffer wieder auf und trug ihn zu der Leitmaschine. "Irgendjemand sagte, dass du im Simulator die beste Punktzahl von uns allen erreicht hast“, erklärte er. "Du hast sogar mich um über fünfhundert Punkte übertroffen. Warum also solltest du nicht die Führung übernehmen?"

"Du bist der bessere Führer“, rief sie beinahe flehend.

"Das glaube ich wiederum nicht“, gab er milde lächelnd zurück. "Ich würde herrschen, nicht anführen. Das habe ich bereits auf Mandereth erkannt."

"Aber ... aber." Sie fand keine Worte mehr und konnte nur noch fassungslos die Jagdmaschine anstarren. "Ich werde es vermasseln“, murmelte sie schließlich und ließ kraftlos geworden ihren Helm fallen.

"Das wirst du nicht“, wusste es Tchengo, hob den Helm auf, nahm ihr die Beatmungseinheit ab und brachte es ebenfalls zur Jagdmaschine. Dann kehrte er erneut zurück und nahm den schweren Rucksack von Lenas Rücken, der sie zu erdrücken schien. "Du hast die Prüfung auch nicht vermasselt. Du wirst es schon schaffen."

"Ich werde alle in eine Katastrophe führen“, maulte sie, schubste ihn energisch weg und legte die letzten Schritte mit der Last auf dem Rücken allein zurück. "Der Captain sagte, eine hohe Persönlichkeit befindet sich an Bord des Transporters. Diesmal werde ich endgültig meinen Hals riskieren. Diesmal wird mir kein liebenswürdiger Großvater aus der Patsche helfen können."

"Wenn du meinst“, entgegnete Tchengo knapp und zuckte mit den Schultern.

Ein Lastendroide nahm den schweren Rucksack ab und hievte ihn in das Cockpit, das knapp fünf Meter über ihren Köpfen, im Nacken eines schnittigen Jagdflugzeuges hing. Im Simulator wurde ein baugleiches Modell benutzt, nur dass es statt Antriebsdüsen elektronisch gesteuerte Hydraulik und statt einer Sichtscheibe, flimmernde Holomonitore besaß. Lena fühlte sich erleichtert und noch schwerer belastet zugleich. Das Gewicht des Rucksackes war von ihren Schultern genommen, das der Verantwortung geblieben.

"Stammt die Idee von dir?“, schnauzte sie etwas gereizt. Die Erkenntnis, dass sie nun über die Leben von fünf Kameraden verfügen sollte, ließ sie nervös und drahtig werden.

"Ganz sicherlich nicht“, rief Tchengo zu ihr hoch, als sie die Leiter hochkletterte, um den Einbau des Überlebensrucksackes und der Beatmungseinheit zu überwachen. Der Droide wusste genau, was er tat. Kein Wunder. Er war eine perfekt programmierte Maschine. Lena überprüfte dennoch sämtliche Sicherungsschnallen, Gurte und Einrasthaken. Sie war zu nervös, um einfach zusehen zu können.

"Wen hättest du denn vorgeschlagen?“, wollte sie wissen, nur um sich selbst oder irgendjemanden reden zu hören. Wenn es sein musste, auch Tchengo Namarch.

"Mast Azaron“, kam es zurück. "Er flog bereits mehrere Begleitflüge als Staffelführer. Er weiß, was zu tun ist. Er fliegt die Nummer Drei."

"Warum soll jetzt ich als blutige Anfängerin das tun, wo sie doch bereits einen erfahrenen Staffelführer haben?"

"Ich denke, die Punktezahl im Simulator hat alle Argumente geliefert. Azaron selbst kam niemals über zweitausend. Das sind achthundert weniger als deine."

Lenas Kopf erschien an der Kante und betrachtete ihn gedankenverloren.

"Wie lange bist du schon hier?“, wollte sie wissen. "Kennst du etwa auch die Zahlen der Anderen? Vielleicht auch noch ihre ID-Codes und die Nummern ihrer Kreditkonten?"

"Das nicht gerade“, grinste er. "Ich machte mir aber Gedanken darüber, dass ausgerechnet du für die Leitung des Begleitschutzes bestimmt wurdest. Immerhin hast du auf Mandereth beinahe eine Katastrophe heraufbeschwört."

"Letztendlich hatte ich doch den richtigen Riecher“, gab sie spitz zurück.

"Das stimmt. Doch diesmal steht auch noch der Kopf eines hohen Herrn auf dem Spiel, und das Risiko, dass du vielleicht doch noch im letzten Moment das Ruder herumreißen kannst, ist einfach zu hoch."

"Vielen Dank für die Aufmunterung“, knurrte sie und machte sich wieder daran, herabzusteigen. "Wer ist dieser hohe Herr eigentlich?"

"Keine Ahnung. Aus Angst vor Anschlägen wird dies erst kurz vor dem Start bekannt gegeben. Das ist vollkommen normal."

"Aha“, machte sie und überprüfte die Befestigungen der Versorgungsschläuche. "Hast du etwa hier übernachtet?“, fragte sie unvermittelt.

"Ich hatte es vor, nachdem mein Vater mein Quartier in der Akademie fand. Dann ging ich jedoch zu einem Freund."

Lena biss sich auf die Lippen. Vielleicht hätte er sie als Freund gebraucht. Schließlich hatten sie einiges miteinander durchgemacht. Doch sie schüttelte unmerklich den Kopf. Sie wollte sich einfach nicht mit in diese familiäre Angelegenheit hinein zerren lassen. Ein Streit in ihrer Familie artete meist in einer wortgewaltigen Schlammschlacht oder einem Handgemenge aus. Ein Streit in einer Familie wie der Namarch, würde sicherlich mehr als rollende Köpfe fordern.

"Wo sind eigentlich die anderen?“, fragte sie unvermittelt und blickte sich suchend um. Sie hoffte inständig, nicht die Letzte zu sein und allein damit schon den Missmut ihrer Staffelmannschaft auf sich zu ziehen.

"Azaron und Corttes sind noch in der Kantine - wenn man den Verschlag mit der veralteten Kaffeemaschine überhaupt so nennen darf“, fügte er schmunzelnd hinzu. "LoBayy ist noch mal zurück in die Ausstattungskammer gegangen. Irgendetwas mit seinem Überlebenspack stimmte nicht. Mingg kommt erst mit der nächsten Transfermaschine aus Topa. Der Appell erfolgt erst in knapp zwei Stunden. Es ist noch Zeit."

"Du bist sehr gut informiert“, bemerkte Lena und betrachtete ihn musternd.

"Ich bin dein Adjutant. Ich bin der zweite Mann."

"Auch das noch“, schnaufte sie entnervt und wirbelte herum. "Hast du Lust auf einen Kaffee?"

"Ich weiß wirklich nicht, ob das richtiger Kaffee ist, das diese Maschine von sich gibt“, gab Tchengo von sich, folgte ihr aber in Richtung der winzigen Kantine, einem abgeschirmten Bereich des Hangars, in welchem sich die Piloten zu einer letzten oder auch ersten Ruhepause niederlassen konnten. "Es riecht unheimlich stark nach gebrannten Bohnen und nach künstlichen Aromastoffen. Man stirbt hinterher sicherlich eher an Lebensmittelvergiftung, als an einem Koffeinschock."

"Du bist zu verwöhnt, Söhnchen“, flachste sie und knuffte ihm frech in die Seite. "Auf der Straße musst du nehmen, was du bekommst."

"Wenn ich die Wahl habe, zwischen einer undefinierbaren Brühe und dem Konsumverzicht, wähle ich lieber das Letztere. Wäge sorgsam, es gibt immer etwas Besseres."

"Aber jetzt nicht“, entgegnete sie und öffnete die klapprige Stahlblechtüre, die den alltäglichen Lärm des Hangars sicherlich nicht abzuschirmen wusste.

Im Inneren der Kantine roch es nach verbrannten Kaffeebohnen, Schweiß, Desinfektions- und Kühlmittel, Schmieröl und Brennstoffe und nach verschmortem Kunststoff, so als ob sich auch hinter den zusammengeschmiedeten Stahlblechwänden ein kleiner Teil des Hangars und der geparkten Flugzeuge befand. Ganze drei Sitzgruppen, mit jeweils vier bis sechs fest verankerten Sitzmöglichkeiten befanden sich im Inneren der Kantine. An einer Wand stand der besagte alte Kaffeeautomat, ein Automat für Schnellmahlzeiten und ein Kühlgerät für allerlei gekühlte Getränke. Das Licht kam von einer einzigen Leuchtröhre, deren Aufhängung wie ein Spinnennetz über die Stahlblechwände gezogen wurde. An einer Sitzgruppe saßen drei Techniker in ihren verschmierten Overalls. An einem anderen hatten sich zwei Männer in Pilotenmontour über die Tischplatte gebeugt.

Lena zapfte sich einen Becher mit dampfendem Inhalt und setzte sich an den Tisch mit den Piloten. Einer von ihnen sah überrascht hoch. Der Andere starrte weiterhin gedankenverloren in seinen halb geleerten Becher, in welchem der Kaffee bereits erkaltet war. Der Pilot, der hochsah, war ein hellhäutiger Kerl mit strohblondem Stoppelschnitt, einer roten Narbe auf der rechten Wange und einem stark hervortretenden Kehlkopf, der lustig auf und ab tanzte, wenn er schluckte. Seine stahlblauen Augen fixierten die Neuankömmlinge kurz und nickte ihnen begrüßend zu. Seine dünnen Finger klammerten sich beinahe verzweifelt an dem Becher fest. Seine Uniform war nachlässig zugeknöpft, doch das störte in diesem Moment niemanden. Noch befanden sie sich in einer Art Bereitschafts- oder Wartestellung und konnten tun und lassen, wozu sie Lust hatten.

Der Andere zuckte erst hoch, als Lena sich neben ihn setzte. Er war etwas dunkelhäutiger, als sein Kamerad. Sein schwarzes, lockiges Haar war bis hinter die Ohren streng zurück gekämmt und mit Pomade oder einem anderen glänzenden Zeug festgeklebt worden. Der Rest umkringelte wild den Nacken, als wolle es in alle Richtungen davoneilen und könne sich beim Davoneilen nicht entschließen, in welche Richtung es entfliehen sollte. Bei jeder Bewegung wippten sie, als führten sie einen Freudentanz auf. Sein Gesicht war rund und beinahe pausbäckig. Ein dünner Schnauzer zierte die dicken dunklen Lippen und am Ringfinger seiner rechten Hand glitzerte ein goldener Ring.

"Mast Azaron“, stellte Tchengo Namarch den Blonden vor. "Stingrizzo Corttes“, sagte er zu dem Dunkelhäutigen. Die beiden schienen sich bereits mit dem Llomenas bekannt gemacht zu haben. Sie nickten in Lenas Richtung.

"Lena McKenzie“, nickte sie zurück und trank einen Schluck von dem stark nach verkohlten Kaffeebohnen riechendem Gebräu. Sie schluckte schnell den ersten Hustenreiz hinunter und stellte den Becher auf den Tisch, entschlossen, ihn kalt werden und von dem Abräumdienst in den Ausguss schütten zu lassen - vorausgesetzt es gab hier überhaupt einen Abräumdienst.

"Willkommen im Klub“, begrüßte Azaron die Staffelführerin freundlich, freundlicher, als sie jemals erwartet hatte. Immerhin hatte sie ihm den Job als Anführer weggeschnappt. "Ist eigentlich bekannt, wer das hohe Tier ist, das wir eskortieren sollen?“, wand er sich mit dieser Frage sogleich an seine Vorgesetzte, eine Frage, die ihm die ganze Zeit auf der Zunge zu brennen schien.

"Nein, der Name wird für gewöhnlich nicht vor dem Start bekannt gegeben“, antwortete sie und vermied dabei einen Blickkontakt mit Namarch. "Wir werden es schon früh genug erfahren."

"Wenn wir uns irgendwann wieder treffen sollten, würde ich mit dir gerne ein Duell im Simulator ausfechten“, wechselte Azaron das Thema, ohne Lena ausreichend Gelegenheit zu geben, ausführlich über die letzte Frage nachzudenken.

Unwillkürlich musste sie lächeln. Die Zahlen aus dem Simulator schienen ein offenes Geheimnis zu sein; oder Namarch hatte ihn informiert. "Wird mir ein Vergnügen sein“, sagte sie und erwiderte den herausfordernden Blick des Mannes.

Die Türe öffnete sich und ein breitschultriger Mann in Pilotenmontur schlenderte herein. Erst begab er sich in Richtung Kaffeeautomat, doch dann schien er sich an die Qualität dieses Automaten zu erinnern und machte kehrt, um sich an jenen Tisch zu gesellen, an welchem bereits vier Piloten in eindeutigen Uniformen saßen.

"Mor'n“, knurrte der Pilot und sank erschöpft auf seinen Sitz. "Die Kerle in der Ausstattung sind echte Nieten. Die wollten mir doch glatt ein Ü-Pack für Ndomans andrehen. Dabei ähneln wir uns nur im Aussehen, diese miese Luft auf deren Heimatplaneten hält mich keine zwei Stunden am Leben." Er entdeckte erst jetzt das fremde Gesicht in der Runde und reichte ihr spontan eine reichhaltig behaarte Hand. Der Mann besaß menschliches Aussehen. Jedoch waren seine Knochenpartien im Gesicht an den Schultern und den Gelenken weitaus ausgeprägter als bei Menschen. Eine dichte Ganzkörperbehaarung, die dem kurz geschorenen Schopf eines Kadetten ähnelte, spähte an den Uniformrändern an Handgelenken und Kragen heraus und ließ ihn weitaus mehr der Abstammung vom Affen zuerkennen, als es Menschen hätte sein können.

"Dere LoBayy“, stellte er sich selbst vor. "Du musst McKenzie sein. Lena McKenzie, das Wunderkind im Simulator."

"Ehrlich gesagt, halte ich meine Leistungen im Simulator nicht für besonders überragend. Ich absolvierte einfach meine Pflichtübungen, nichts weiter."

"Wenn du solche Leistungen mit dem kleinen Finger hin bekommen hast, möchte ich nicht wissen, was dabei herausspringt, wenn du dich anstrengst“, gab er lächelnd zurück und entblößte zwei Reihen graugelber, spitzer Zähne.

"Wer hat euch eigentlich von meinen Leistungen erzählt?“, war ihre Neugierde endlich so groß geworden, dass sie es einfach wissen musste.

Sie hatte eigentlich gedacht, dass alle Augen sofort Namarch zuflogen, doch keiner von ihnen bewegte seinen Kopf in die Richtung des Llomenas. Stattdessen zuckten Azaron und LoBayy mit den Schultern, während Corttes nur mit einem Augenzwinkern reagierte.

"Das sind normalerweise vertrauliche Informationen“, wusste sie. "Wer hat euch davon erzählt?"

"Braun“, kam LoBayy endlich mit der Sprache heraus. "Eigentlich wissen wir es vom diensthabenden Flotteningenieur. Der weiß es vom Einsatzleiter, und dieser bekam es vom Captain persönlich mitgeteilt." LoBayy entblößte erneut seine spitzen Zähne, als ob er sich für die Inkompetenz seiner Vorgesetzten entschuldigen müsste.

Lena schüttelte nur mit dem Kopf und betrachtete lächelnd ihr Spiegelbild in ihrem Kaffeebecher. Der Captain wollte, dass alle darüber Bescheid wussten, vermutlich, um ihr Versagen auf Mandereth zu vertuschen. Er wollte, dass ihr Respekt entgegen gebracht wurde, trotz ihrer Fehler bezüglich der Revolution unter den Manderethern und den Trouborghern, die ausschließlich ihr zu zuschreiben war.

Dies besagte aber noch etwas anderes. Der Umstand, dass Captain Braun sie trotz ihrer Versagens und der drohenden Katastrophe, die gerade noch im letzten Moment abgewandelt werden konnte, für einen wichtigen Eskort-Flug einsetzte, bewies ihr, dass er ihre anderen Qualitäten gar nicht so minderwertig einstufte. Er hatte sie immerhin eine zeitlang im Einsatz auf der Straße beobachten können. Und da waren noch die Ergebnisse aus dem Simulator, die für sich sprachen.

Sie seufzte unmerklich, und als sie flüchtig ihren Blick hob, fing sie geradewegs den von Tchengo ein. In seinem Gesicht war Verständnis geschrieben, obwohl sie nicht sicher war, ob er wusste, worüber sie eben nachgedacht hatte. Scheinbar machte sich die Erinnerung an Mandereth in ihrem Gesicht so deutlich bemerkbar, wie es nur die Enttäuschung über sich selbst bewirken konnte.

Sie war enttäuscht über sich selbst. Im Nachhinein, viele Wochen später darüber nachdenkend, wusste sie, dass sie überstürzt gehandelt und sich von mehreren Seiten hatte provozieren lassen. Hätte sie mit mehr Überlegung gehandelt und ihre Handlungen und Taten erst einmal abgewägt, wäre es sicherlich niemals zu einer Aufruhr der Beteiligten gekommen. Beinahe wären sich Völkergruppen, die seit Generationen zusammen und miteinander gearbeitet hatten, gegenseitig an den Kragen gegangen - und das nur, weil sie nicht richtig nachgedacht hatte.

Sie seufzte erneut leise in ihr Spiegelbild auf dem längst kalt gewordenen Kaffee und fuhr erschrocken hoch, als sie jemand von der Seite anstieß.

"Alles in Ordnung?“, wollte eine besorgte Stimme wissen. Es war Tchengos Stimme. Sie nickte nur und würgte einen weiteren Schluck der widerlichen Brühe hinunter, die der Automat Kaffee nannte. Dann schob sie den Becher endgültig von sich und lehnte sich zurück.

"Die Reise wird mehrere Tage dauern“, sagte sie, sich an Daten erinnernd, die sie kurz vor dem Antritt ihres ersten richtigen Auftrages überflogen hatte. "Der Transporter verfügt über einen ausreichend großen Hangar, sodass wir alle Maschinen dort parken können und erst bei Bedarf wieder ausfliegen. Auch wenn die Transferwege als sicher gelten, sollten wir Energie und Treibstoff sparen, um im Ernstfall besser gerüstet zu sein."

Ihre Staffelpiloten nickten nur zustimmend.

"Je nachdem, was es für ein hohes Tier ist, wird es sicherlich auch einige Annehmlichkeiten geben“, wusste Azaron aus Erfahrung. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand aus der Oberschicht während seiner Reise auf jeglichen Komfort verzichtet."

"Vorsicht, Männer“, warnte Lena ermahnend. "Ich möchte niemanden zuerst eine Ausnüchterungsdusche verpassen müssen, bevor ich ihn zum Einsatz lasse."

Einige lachten, andere verzogen ihre Gesichter. Scheinbar sahen sie in Lena bereits einen Moralapostel, was sie allerdings niemals beabsichtigt hatte.

"Dann würde ich sagen, wir checken die Maschinen ein letztes Mal ab und machen uns mit alles Unklarheiten vertraut." Sie erhob sich. "Ich würde gerne ein Wörtchen mit dem Piloten des Transporters sprechen."

"Soll ich dich begleiten?" Namarch erhob sich ebenfalls.

"Nicht nötig. Das werde ich hoffentlich ohne deine Hilfe schaffen." Damit wirbelte sie herum und marschierte zur Türe hinaus. Doch ehe sie Hand an die Klinke legen konnte, wurde die Pendeltüre nach innen gestoßen und versetzte ihr einen kräftigen Schlag ins Gesicht, sodass sie rückwärts taumelte und geradewegs in Tchengo Namarchs Arme stolperte.

"Verzeihung“, rief eine weibliche Stimme aufrichtig. Eine Frau in Pilotenmontur stand vor ihr, selbst erschrocken und zugleich wütend über irgendetwas. Sie erschien abgehetzt und setzte rasch ihr Reisegepäck ab, um Lena wieder auf die Füße zu helfen. "Es tut mir leid. Sind Sie verletzt?"

Lena schüttelte erschrocken den Kopf und machte sich energisch von Namarch los, der sie noch immer in den Armen hielt. Sie schnaubte wütend, wirbelte herum und wollte soeben eine Standpauke über die Unvorsichtigkeit der Frau loswerden, als ihr jemand zuvorkam.

"Laii“, ertönte Namarchs Stimme hinter ihr, mit einem sichtlich überraschten Ton. "Ich dachte, du wärst ... ." Er verstummte abrupt mitten im Satz, so als ob er nicht mehr weiter wüßte.

"Sieh mal einer an, der gute alte Tchengo“, rief die Pilotin erfreut und vergaß sogleich Lena und das eben geschehene Missgeschick. "Was machst du denn hier? Ist das hier nicht etwas zu unwürdig für jemanden wie dich?" Sie klopfte ihm in kumpelhafter Manier auf die Schulter und betrachtete ihn musternd.

"Dasselbe könnte ich zu dir sagen“, gab dieser zurück und musterte die junge Frau kritisch. "Was machst du hier?"

"Ich habe hier einen Job zu erledigen. Man hat mich extra von Topa abkommandiert, damit ich Babysitter für ein Junkerchen spiele. Und du?"

Ein kurzes Lächeln huschte über Tchengos Gesicht. Er fasste sich jedoch schnell wieder und hatte seine alte Selbstsicherheit an den Tag gelegt. "Ich schätze, dass ich ebenso zum Babysitter befohlen wurde. Ich fliege mit in der Eskorte."

"Grandios“, rief die Frau etwas zu begeistert. Sie strich ihr langes, blauschwarzes Haar mit einer gekonnten Bewegung zurück. Ihre großen, mandelförmigen Augen strahlten in einem tiefen Blau, eine so intensive Kälte aus, dass es beinahe jeden fröstelte, der ihr etwas zu tief in die Augen blickte. Ihre Wangen zeigten die richtige Röte, ihre Gesichtsform die perfekten Proportionen auf, um eher als schmückendes Beiwerk eines betuchten alten Herren zu sein. Die Fliegeruniform zeigte genug Figur, um erkennen zu lassen, dass sie sich keine Sorgen um bewundernde Männerblicke machen musste. Ihre Bewegungen waren geschmeidig genug, um eher zu einem Laufsteg zu passen, als in eine stinkende Hangarkantine.

"Laii?“, meldete sich Lena endlich zu Wort. "Laii Mingg?"

"Richtig“, nickte die junge Frau. "Und mit wem habe ich die Ehre?" Ihr Ton war arrogant genug, um eine Spur zu frech, ein Quäntchen zu aufmüpfig zu sein.

"Ich bin Lena McKenzie, die Staffelführerin der Babysittertruppe“, gab Lena spitz zurück. Sie war entschlossen, dieser Schönheit die Flügel zu stutzen, und herauszufinden, woher sich die beiden kannten. "Darf ich erfahren, was ein Junkerchen ist?"

"Eine etwas unschöne Bezeichnung für eine hochrangige Person“, erklärte Tchengo, bevor die Pilotin zu einer Antwort ansetzen konnte.

"Ich hoffe nur, dass ihr beide wenigstens während des Dienstes den notwendigen Ernst für euren Auftrag aufbringen könnt." Sie warf den anderen drei Piloten einen auffordernden Blick zu, sodass auch diese betreten den Blick senkten. Soviel Reaktion, soviel Respekt hatte sie nicht erwartet - noch nicht. Dann endlich stieß sie die Türe auf und eilte mit harten Schritten davon.

Sie gehörte sicherlich nicht zu jener Gesellschaftsschicht, die sich über die Oberschicht lustig machen konnte - zumindest nicht ungestraft. Daher musste sie hart bleiben und sich auf keinen Fall, den flapsigen Bemerkungen der beiden Höflinge - offensichtlich gehörte Laii Mingg ebenfalls zu einer höhergestellten Gesellschaftsschicht - anschließen.

 

Mit der erforderlichen Selbstsicherheit betrat Lena den Transporter und konnte rasch den zuständigen Mann für die Brücke des Transporters ausmachen.

Transporter war eine sehr abschätzige Bezeichnung für das Schiff, das sie zu eskortieren hatten. Nach außen repräsentierte es einigermaßen das gutmütige Lastentier, das man nach Herzenslust benutzen und bis unters Deck mit Gütern vollstopfen konnte. Doch im Inneren prangte einem eine ganz andere Welt entgegen. Die Wohnkabinen waren luxuriös ausgestattet, die Brücke spottete gerade noch einem Vergnügungskreuzer und Ladefläche besaß er gerade genug, um ausreichend Gepäck und Habseligkeiten für eine ganze Fußballmannschaft mitführen zu können. Der Transporter war zu einem speziellen Zweck umgerüstet worden - um eine ganz besondere Fracht aufzunehmen, keine Handelsgüter, sondern Lebewesen, die es gewohnt waren, einen gehobenen Standard zu genießen, aber nach außen hin, den Schein zu wahren versuchten.

Lena wurde sich schnell mit dem Kapitän einig, der nichts dagegen hatte, die Eskort-Piloten an Bord zu nehmen. Ihre Argumente waren treffend genug, dass er einfach nichts dagegen haben konnte. Nach seinem geheimnisvollen Passagier zu fragen, wagte sie allerdings nicht. Sie wollte nicht zu neugierig wirken. Außerdem, wenn Namarch Recht besaß, würden sie es ohnehin bald erfahren.

 

Als sie zu den Jagdfliegern zurückkehrte, stöberte sie Tchengo und Laii auf, die sich eng beieinanderstehend, in ein inniges Gespräch vertieft hatten. Lena versuchte, es zu ignorieren. Schließlich besaß sie weder auf den Llomenas noch auf dessen Aufmerksamkeit einen Anspruch und widmete sich dem Check ihrer eigenen Maschine.

Sie war so vertieft, in die Konstruktionspläne der Funkleitanlage, dass sie erschrocken hochfuhr und sich schmerzhaft den Kopf an einen Träger anrempelte, als eine Stimme nahe bei ihrem Nacken ertönte.

"Willst du mich umbringen?“, rief sie erbost und rieb die Beule. Die Konstruktionspläne plumpsten tiefer in den Bauch des Fliegers und sie fluchte im Stillen. Um die Pläne wieder zu bekommen, musste sie Wartungsklappen aufschrauben und sich einen Weg durch ein Gewirr empfindlicher Kabel und Energieträger bahnen.

"Wirklich nicht meine Absicht“, entschuldigte sich Namarch, beugte sich über Lena hinweg in die Öffnung an der Stirnseite des Jägers und fischte mit seinen viel längeren Armen die Planmappe wieder heraus, um sie ihr mit einem entschuldigenden Lächeln zu überreichen. "Ich wollte dir nur etwas erzählen, bevor unser Startbefehl kommt."

"Hat das nicht Zeit, bis wir an Bord des Transporters sind?“, fragte sie genervt, riss die Mappe an sich und warf sie auf den Pilotensitz.

"Es geht um Laii und mich."

"Das hat wirklich Zeit." Sie unterdrückte das genervte Schnaufen. Obwohl sie mehr als darauf brannte, mehr über die beiden zu erfahren, unterdrückte sie ihre Gier mit aller Kraft. Sie musste sich auf den Start und den Flug durch einen belebten Sektor konzentrieren, ehe sie sich den Annehmlichkeiten des umfunktionierten Transporters und eines ruhigen Überlichtgeschwindigkeitsfluges widmen konnten.

"Wir kennen uns schon sehr lange“, begann er, ohne auf ihren sichtlichen Widerwillen zu achten.

"Namarch, bitte. Dafür habe ich jetzt keine Zeit." Sie schubste ihn rücklings die Treppe hinunter, die er hoch geklommen war, um ihr so nahe zu kommen. Dass er nicht das Gleichgewicht verlor und schneller hinunterpurzelte, als er jemals hochklettern konnte, verdankte er lediglich seiner Geschmeidigkeit, die Lena immer wieder fasziniert hatte. Der Kerl konnte sich wie ein Grashalm biegen und beinahe jedem Schlag ausweichen.

"Es ist noch Zeit genug“, entgegnete er unschuldig und machte ein paar Schritte rückwärts, vermutlich mehr aus Vorsicht, als aus Rücksichtnahme. "Ich möchte, dass du es weißt."

"Tchengo!", schnaubte sie entnervt und vergaß die Konstruktionspläne nun endgültig. "Es geht mich nichts an. Es ist allein eine Angelegenheit zwischen euch beiden."

"Es gibt keine Angelegenheit mehr zwischen uns beiden“, widersprach er. "Sie war die Frau, weswegen ich gegen die Prinzipien zweier Welten und zweier Völker verstoßen hätte."

Lena starrte ihn für einen Moment ratlos und verwirrt an. Dann wirbelte er herum, eilte die Treppe hinunter und verschwand zwischen den geparkten Jagdmaschinen, um die immer mehr Mechaniker, Versorgungspersonal und Arbeitsdroiden herum schwärmten. Er hatte sie einfach mit dieser Erkenntnis allein gelassen und die Deutung seines letzten Satzes ihr selbst überlassen. Lena kannte sich trotz ihres intensiven Studiums für die Prüfung in den Sitten und Gebräuchen der meisten Völker und Welten nicht aus, und so konnte sie sich keinen Reim aus dem eben Gesagtem machen.

Achselzuckend widmete sie sich wieder dem Final-Check ihrer Maschine und hatte den Vorfall bald in den Hintergrund gedrängt.

 

* * *

 

Der Start verlief wie im Simulator. Der Flug durch die stärker frequentierten Bereiche der Zentralwelten entpuppte sich beinahe als langweilige Routineangelegenheit. Einzig eine unaufmerksame Frachterkolonne musste darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie vom Kurs abkam und ihren Weg kreuzte und Lena nutzte ihre Stellung als Staffelführerin, den Leitfrachter darum zu bitten, seine Flugkoordinaten zu überprüfen. Den Sprung in die Überlichtgeschwindigkeit würden sie im Inneren des Transporters erleben dürfen und Lena ordnete nach drei Stunden langweiligem Flug, mehr erleichtert als routiniert, die Einkehr in den Hangar des Transporters an.

Sie war die Letzte, die den luftleeren Raum verließ und im Bauch des weitaus größeren Schiffes verschwand. Als sie ihre Motoren abschaltete und für einen Moment dem knisternden Abkühlen des Materials lauschte, entdeckte sie Tchengo, der wartend neben einem Stapel Kisten stand.

"Befürchtest du, etwas zu versäumen, oder warum hängst du dich wie eine Klette an mich?“, rief sie sogleich mürrisch herüber, ehe sie gänzlich aus der Kanzel klettern konnte. Es gefiel ihr nicht, dass Tchengo stets vor ihr da war und ständig auf sie wartete. Dass sie selbst angeordnet hatte, dass sämtliche Staffelmitglieder vor ihr in den Hangar einflogen, bedachte sie in diesem Moment nicht.

"Ich bin die Nummer Zwei“, entgegnete er achselzuckend. "Außerdem soll ich dir ausrichten, dass uns der Pilot des Transporters erwartet. Sein Passagier wünscht, einige Worte mit dem Führer der Begleitstaffel zu wechseln."

"Was will er? Und wer ist es?"

"Ich bin genauso ahnungslos wie du“, gab Tchengo zurück. "Wir werden es schon früh genug erfahren. Immerhin wurden wir zu einem Gespräch geladen, welches sämtliche Fragen aufzuklären verspricht."

"Ich wurde zu einem Gespräch geladen“, erinnerte sie ihn. "Sagtest du nicht, dass er mit dem Führer der Staffel zu sprechen wünscht. Du bist nicht der Führer."

"In gewisser Weise schon“, wusste er es besser. "Laut Vorschrift ist die Nummer Zwei der Stellvertreter des Leiters oder des Anführers irgendeiner Mission. Aus diesem Grund kann ich ebenfalls zur Führungsposition gezählt werden."

Lena seufzte. Dieser Punkt ging an ihn. Insgeheim rechnete sie sich schon aus, dass er ständig die Zuarbeiten für sie erledigte, ohne dass sie ihn jemals darum gebeten hätte.

"Also gehen wir“, schnaufte sie schließlich, bettete ihren Helm auf den Sitz und kletterte endlich die enge Leiter hinunter, um ihre Füße auf den kalten und schmutzigen Boden des Hangars zu stellen.

Raumfahrten genoss sie nicht so sehr, wie die körperliche Konfrontation mit dem Gegner. Sie war jedes Mal glücklich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Zwar stellte der Hangarboden nur ein kleiner Teil eines im Weltraum befindlichen Schiffes dar, dennoch gaukelte schon allein seine Größe und das Fassungsvermögen des Hangars feste Gegebenheiten vor. Wenn man es genau nahm, stellten Planeten ebenfalls nichts anderes dar, als gigantische Weltraumobjekte, die sich durch den luftleeren Raum bewegten.

"Darf ich dich etwas fragen?“, begann sie, als ihre Gedanken plötzlich in eine vollkommen andere Richtung schwenkten.

"Nur zu“, nickte er, während er sie durch die Gänge des Transporters führte, als wäre er hier zu Hause.

"Was hast du vorhin damit gemeint, dass du wegen Laii Mingg gegen die Prinzipien zweier Welten verstoßen hättest?"

Ein Lächeln huschte um seine Mundwinkel. Er schien nur auf diese Frage gewartet zu haben. Scheinbar hatte er vorausgesetzt, dass seine letzten Worte sich irgendwo in Lena verwurzeln und zu treiben beginnen würden.

"Ich meinte damit, dass ich bereit war, gegen alles und jeden zu handeln und jeden vor den Kopf zu stoßen, der nur einen Hauch von Loyalität seiner eigenen Welt entgegen brachte."

"Darin scheinst du ein Spitzenmann zu sein“, bemerkte sie leicht kopfschüttelnd, während sie sich hinter Tchengo verschanzen musste, um eine Gruppe von Technikern vorbeizulassen, die scheinbar zum Hangar wollten. Die Korridore boten lediglich zwei Personen ausreichend Platz, um nebeneinander gehen zu können, ohne mit den Schultern an den Wänden zu streifen. "Wenn man die Sache mit deinen Nachkommen bedenkt. Das muss einen ganz schönen Wirbel verursacht haben."

"Überhaupt nicht“, gab er zurück. "Niemand außer mir, dir, Captain Braun und Botschafter Magalan weiß davon."

"Wie bitte?" Lena beeilte sich, um den kleinen Vorsprung wieder aufzuholen und um ihm ins Gesicht sehen zu können. "Du hast deinem Vater nichts davon erzählt."

"Ich werde mich hüten, es ihm zu erzählen. Ich würde mir damit nur eine Menge Ärger einhandeln."

"Irgendwie hat er ein Recht darauf, es zu erfahren. Immerhin ist er der Großvater dieser drei kleinen ..." Sie fand auf die Schnelle keine Bezeichnung jener Nachkommen, die sie verlassen hatte, ehe sie sich aus der Fruchthülle befreien konnten.

"Bei uns gibt es keine Bezeichnung wie Großvater oder Ähnliches. Wir definieren gerade noch die Abstammung des direkten Vorfahrens, des Erzeugers - wie eigentlich die richtige Bezeichnung lautet. Aber alles, was davor kommt, wird allgemein zur Gesellschaft gezählt und der Obrigkeit der Gleen unterstellt."

"Aha“, machte sie etwas verwirrt. "Wenn da so ist, dann kann dir dein Vater oder dein Erzeuger nicht vorschreiben, was du mit deinen eigenen Nachkommen anstellst."

"Kann er schon. Mein Vater gehört zur Obrigkeit der Gleensherren. Er kann bestimmen, was aus mir oder meinen Nachkommen wird."

"Und vor dieser Willkür läufst du davon“, mutmaßte sie.

"Ich laufe schon mein ganzes Leben vor der Willkür der Gleensherren davon“, gestand Tchengo. "Die Tragschaft hat es nur noch zusätzlich verkompliziert. Ich bin in unserer Gesellschaft ein sogenanntes schwarzes Schaf, das ständig auf den rechten Pfad zurückgeholt werden muss. Mein Vater hat es sich beinahe zur Lebensaufgabe gemacht, mich ständig an Sitte, Anstand, Traditionen und Regeln zu erinnern."

"Und wie kommt Laii Mingg ins Spiel?"

Tchengo Namarch hatte mit einem Knopfdruck den Expresslift gerufen. Ein leises Pling kündigte das Eintreffen der Kabine an. Er wartete kurz, bis sich die Türen geöffnet hatten, dann trat er ein und studierte flüchtig die Funktionstafel.

"Der Tradition von Laiis Volk entsprechend“, fuhr er schließlich fort, als sich die Kabine in Bewegung setzte. "Werden alle heiratsfähigen junge Frauen gegen Höchstgebot an interessierte Herren vergeben. Laii sollte die dritte oder vierte Geliebte eines betuchten, alten Funktionärs werden. Laii und ich kannten uns bereits von Kindesbeinen an. Ich versprach ihr, sie von diesem Schicksal zu befreien und ebenfalls ein Angebot zu machen."

"Du wolltest sie freikaufen?"

"Ich wollte sie heiraten."

"Was?" Lena starrte ihn höchst verwirrt an. "Ich meine, du bist doch ..." Sie räusperte sich. "Du bist doch ..." Aus unbestimmten Gründen konnte sie nicht weitersprechen. Es war ihr mehr als peinlich.

"Wir Llomenas sind in der Lage uns ohne das Zutun einer zweiten Person zu vermehren, da wir beide Geschlechter in uns vereinen“, erklärte er geduldig, mit einem leichten Anflug von Belustigung in seinen grünen Augen. "Dennoch kommt es gelegentlich vor, dass sich einer von uns einer Beziehung zu einem monogeschlechtlichen Wesen hingibt. Es ist aufs Höchste verpönt, geschieht aber trotz allem hin und wieder, was die Gleensherren natürlich mit allen Mitteln versuchen, zu unterbinden. Als bekannt wurde, dass ich sozusagen abtrünnig wurde, versuchte die Obrigkeit, allen voran mein Vater, dies abzublocken. Wir wurden gewaltsam getrennt. Das letzte, was ich von ihr hörte, war, dass sie spurlos verschwunden sei. Laii erzählte mir inzwischen, sie sei damals ausgerissen, bevor sie übergeben werden konnte und es gelang ihr einen Bekannten dazu überreden, das Angebot des Funktionärs zu überbieten. Immer der Höchstbietende erhält den Zuschlag."

"Was geschah mit dir?“, fragte sie neugierig.

"Du solltest meinen Vater inzwischen gut genug kennen, um die Frage selbst beantworten zu können“, wich er mit versteinertem Blick aus. Seine Gesichtszüge entspannten sich jedoch rasch wieder. Er atmete tief ein, lehnte sich gegen die Kabinenwand und betrachtete für einen Moment die Anzeigen der Kontrolltafel. "Seitdem versuche ich, so gut ich kann, meinem Vater und der Willkür der Gleens auszuweichen."

"Hast du vor, die Beziehung zu Laii wieder aufzunehmen?“, wollte sie wissen und biss sich sogleich auf die Lippen. Es stand ihr nicht zu, diese Frage zu stellen. Es ging sie nichts an. Wenn er die Beziehung tatsächlich fortzuführen gedachte, hatte sie sich einen Dreck drum zu scheren.

"Nein“, erwiderte er fest. "Laii ist in festen Händen und würde ihr Versprechen um Nichts brechen. Und ich habe bereits etwas anderes gefunden."

Ein weiteres Pling kündigte das Ende ihrer Reise in der Kabine des Expressliftes an. Die Gleittüren öffneten sich und offenbarten den Blick auf eine Gruppe von Passanten, die nur darauf warteten, den Lift betreten zu können. Lena folgte Tchengo nach draußen in den Korridor und trottete hinter ihm her, wie ein folgsames Schoßhündchen. Erst viele Augenblicke später bemerkte sie dies und straffte ihren Rücken, um mehr Autorität erkennen zu lassen. Sie musste sich dieses Verhalten endlich antrainieren, sonst würde sie ständig von Namarchs stolzer Ausstrahlung untergebuttert werden und nur eine marionettenhafte Nummer Eins abgeben.

"Ich kann dich verstehen“, sagte sie, als sie auf die Passagierkabine ihres hohen Schützlings zugingen. "Der Dienst in der Flotte lässt nicht viel Spielraum für Privatsphären übrig. Es ist aber auch der ideale Platz, um sich zu verstecken."

"Das war es nicht, was ich damit sagen wollte“, gab er leicht enttäuscht zurück.

Eine weitere Gruppe von Passanten, Mitglieder des technisches Personals, bogen um eine Ecke und kamen ihnen fachsimpelnd entgegen. Tchengo, wie auch Lena versagten sich jeden weiteren Kommentar, und als Namarch den Rufknopf an der Seite der Kabinenluke drückte, sah Lena das Gespräch abrupter beendet, als sie es wollte.

Die Türe öffnete sich nur einen Augenblick später und sie ging als Erste in die Kabine - um gleich wieder wie angewurzelt stehen zu bleiben. Krampfhaft unterdrückte sie den Impuls, herumzuwirbeln und ihren Begleiter mit einer schnellen Bewegung wieder hinaus in den Korridor zu befördern. Vor ihnen stand ein Mann in einem unglaublich teuer aussehenden Gewand, ein Gewand, das sich sehr nachhaltig in ihr Erinnerungsvermögen eingeprägt hatte. Der Mann trug seine lange, leicht ergraute Haarpracht wie eine Trophäe des Alters über den Rücken fallend und wand sich in einer beinahe majestätischen, über allem erhabenen Bewegung um, um die Eintretenden mit ausdruckslosem Gesicht und eiserner Miene zu begrüßen - Tchengo Namarchs Vater höchstpersönlich.

Lena schluckte einige Male trocken, wagte es jedoch nicht, sich umzudrehen, sich auf irgendeine Weise zu bewegen, oder auch nur einen krächzenden Ton von sich zu geben. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie musste das dröhnende Rauschen in ihren Ohren gewaltsam unterdrücken, um überhaupt noch etwas hören zu können.

"Offizer McKenzie“, begrüßte sie der Kapitän des Transporters, kam ihr einige Schritte entgegen und riss sie damit aus ihrer Versteinerung. "Darf ich ihnen Gleen Karcho Namarch vorstellen, einer der zwölf Berater des Königs." Er deutete mit einer weitausholenden Bewegung, die die Achtung vor dem hochrangigen Mann mehr als deutlich wiedergab, in Richtung des älteren Llomenas und schien damit eine imaginäre Brücke zwischen beiden bilden zu wollen. "Gleen Namarch wünschte, einige Worte mit Ihnen zu wechseln."

"Ich weiß“, gab Lena krächzend von sich und räusperte sich sogleich. Sie wünschte, sie könnte Tchengo zurückschicken, oder hätte gar nicht erst zugelassen, dass er sie begleitete. Sie wusste selbst, dass sie insgeheim froh darüber war, dass er sich ihr aufgedrängt hatte. Allein einer hohen Persönlichkeit gegenüberzustehen und sich mit ihm unterhalten zu müssen, hätte ihr vermutlich sämtliche Ränge gekostet. Aber vielleicht war sie nun ihren wackeligen Posten ohnehin los. Dass sich Tchengo in ihrer Mannschaft befand, würde sich nach diesem Zusammentreffen nachteilig auf ihren Werdegang auswirken. Sie räusperte sich abermals, straffte ihren Rücken, so als ob sie den weitaus größeren Tchengo hinter sich verbergen wollte, und baute sich selbstbewusst vor dem Junkerchen auf.

"Ich bin die Leiterin der Begleitstaffel. Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie so beiläufig, wie sie nur konnte.

Karcho Namarch hatte bis zu diesem Zeitpunkt mit einem einzigen Merkmal erkennen lassen, dass er die Person in Lenas Rücken überhaupt beachtet hatte. Erst als er sich erneut bewegte und seine aufragende Gestalt und seine stolze Statur in ein anderes Licht rückte, streifte sein Blick das Gesicht hinter der jungen Pilotin. Er riss sich jedoch sofort wieder davon los und fixierte die junge Frau, als sei sie schuld an allem Übel.

"Zunächst einmal möchte ich erwähnen, dass ich meine Position und meine Beziehungen benutzte, um an Bord dieses Schiffes gelangen zu können, was den Einsatz ihrer Begleitstaffel zur Folge hatte“, begann er, mit wohl ausgesuchten Worten und mit wohldurchdachter Stimmlage. Er war die Ruhe in Person.

Lena wagte nicht eine Sekunde daran zu denken, was Tchengo in diesem Moment fühlte.

Natürlich besaß jeder Hochrangige, jede höher gestellte Persönlichkeit, jeder, der etwas auf sich hielt, eine eigene Flotte, zumindest ein eigenes Schiff, das sicherlich besser ausgerüstet war, als der Transporter, auf welchem sie sich befanden. Er musste absichtlich die Reise in einem wesentlich unsicheren und unstandesgemäßen Gefährt antreten, um den Einsatz einer Begleitstaffel zu erwirken. Seine Beziehungen sorgten schließlich für die Zusammensetzung der richtigen Mannschaft, um alle in seiner Nähe zu haben, mit denen er abrechnen wollte.

"Sie gaben mir immerhin Gelegenheit, erste Erfahrungen im Personenschutz zu sammeln“, erwiderte sie gefasst. Sie wollte ihn sogleich darauf hinweisen, dass sie eine blutige Anfängerin war und den ihr anvertrauten Schützling sehr leicht wieder verlieren konnte. Eine Warnung, nicht zuviel Erwartungen in sie zu stecken. "Wenn es Ihnen beliebt, werden die Piloten der Staffel den Flug bis zum Ende des Sprunges an Bord dieses Transporters verbringen. Seien Sie versichert, dass wir uns redlich bemühen werden, Sie in ihrem Komfort nicht zu stören, so unangebracht dieses Schiff für jemanden Ihrer Stellung auch sein mag." Sie konnte sich die gewissen Spitzen, die sie so viele Male mit Tchengo geübt hatte, einfach nicht verkneifen.

"Es geht mir nicht darum, Einschränkungen in Kauf nehmen zu müssen“, entgegnete er beinahe mürrisch. "Oder mich bei irgendjemanden über die Anwesenheit einfacher Kampfpiloten zu beschweren. Wir treffen aufeinander, weil sich in Ihrer Mannschaft eine Person befindet, auf die ich schon seit Langem treffen wollte." Mit diesen Worten nahm er endlich den direkten Kontakt mit seinem Sohn auf und bedachte ihn mit derart scharfen und strafenden Blicken, unter denen Lena sicherlich rasch zu Boden gegangen wäre.

Sie wagte einen kurzen Blick über ihre Schulter. Tchengo stand wie eine Eins, zackig und beinahe im Einklang mit der militärischen Vorschrift. Sein Blick ging stur geradeaus und sie bezweifelte, dass er freiwillig Blickkontakt zwischen ihnen beiden herstellte, solange man ihn nicht dazu zwang, oder Lena ihm nicht etwas anderes befehligte.

Sie sah, wie sich sein Brustkorb heftig bewegte und wie vereinzelte Äderchen auf seiner Stirn pulsierend hervortraten. Sie bemerkte, wie sich seine Hände zu harten Fäusten ballten, sodass sich die Knöchel weiß abzeichneten. Sie entdeckte das kaum wahrnehmbare Zittern seiner Lippen, die blutleer und zu einem dünnen Strich zusammengekniffen, kaum noch zu erkennen waren. Sie fühlte die Aufruhr in ihm, die Angst vor seinem Vater und der stumme Hilfeschrei in seinem bleich gewordenen Gesicht.

"Sämtliche Mitglieder der Begleitstaffel befinden sich im Dienst und somit unter meiner Order“, sagte sie und räusperte sich, als sie bemerkte, ein wenig die Fassung zu verlieren. "Sollten sie Beanstandungen gegenüber eines der Mitglieder haben, müssen sie sich auf dem vorgeschriebenen Weg zunächst an mich richten." Sie hoffte, dass Sie die Vorschriften richtig ausgelegt hatte, und hoffte noch inständiger, dass sich jemand wie der königliche Berater an Vorschriften hielt. Sie handelte sich damit zwar unwillkürlich den Ärger ein, dem Tchengo aus dem Weg zu gehen versuchte, aber aus irgendeinem Grund, den sie in diesem Augenblick nicht näher beschreiben konnte, glaubte sie, es ihm schuldig zu sein. Vielleicht konnte sie dadurch nur etwas des Donnerwetters abblocken, der auf den ungehorsamen Sohn niedergehen würde.

"Es handelt sich um keine Beanstandung, die den Dienst oder Ihre Order betreffen“, erklärte der Ältere mit eisiger Stimme. Ihm schien das Drumherumgerede allmählich auf die Nerven zu gehen.

Lena konnte es ihm aus den Augen ablesen, dass er sie am liebsten auf die Seite geschoben hätte, um seinem Sohn ein paar anständige Ohrfeigen zu verpassen oder eine ganze Schimpfkanonade über ihn auszuschütten.

"Es ist eine reine Privatangelegenheit und ich verlange, dass Sie die betreffende Person bis auf Weiteres freistellen." Der Ton des Vaters war inzwischen wesentlich schärfer geworden. Sein Blick durchbohrte die junge Staffelführerin und schien sie von ihnen heraus auffressen zu wollen.

"Bedauerlicherweise ist es mir nicht möglich, auch nur ein Mitglied der mir anvertrauten Staffel wenn auch nur vorübergehend zu suspendieren. Die Begleitstaffel besteht lediglich aus der Standardeinheit, was bedeutet, dass Sie mit mindestens zwei Mann unterbesetzt ist." Gerade noch im rechten Augenblick war ihr eine entsprechende Klausel der Vorschrift eingefallen. Zwar sollte diese Klausel ursprünglich lediglich Krisensituationen im Kriegsfalle meistern helfen, doch konnte sie auch in Extremsituationen bei normalen Kampfhandlungen eingesetzt werden. "Was auch immer Sie mit Ihrer Handlung beabsichtigt haben, es muss warten, bis die entsprechende Person dienstfrei hat oder von höher gestellter Stelle freigestellt wird." Sie hatte während des Marsches in Richtung der Passagierkabine ein kaum merkliches Vibrieren unter ihren Füßen festgestellt, als der Kapitän die Antriebe hochfahren ließ. Sie befanden sich bereits seit einigen Minuten im funkleeren Raum, in einem Raum, in welchem sämtliche verschickten Nachrichten langsamer vorwärtskamen, als sie selbst. Sie befanden sich auf einer Reise, hundertfach schneller als das Licht. Sie waren abgeschnitten von allen Einflüssen oder Kompetenzen. Dies bedeutete einen kleinen Aufschub für Lena und Tchengo.

"Wollen sie damit andeuten, dass sie sich weigern ..."

"Ich werde mich hüten, jemanden wie Ihnen etwas zu verweigern“, unterbrach sie ihn schroff. Dafür musste sie all ihren Mut zusammennehmen. Ein zweites Mal würde es ihr sicherlich nicht mehr gelingen. Der Gleensherr Namarch und weder der königliche Berater Namarch konnte einer militärischen Person etwas vorschreiben. Ein weiterer Punkt für sie. "Ich halte mich lediglich strikt an die Vorschriften. Es tut mir leid, Ihnen nicht weiterhelfen zu können. Und wenn Sie mich nun entschuldigen, ich muss die Checks für den Wiedereintritt vorbereiten." Sie ließ einen knappen militärischen Gruß sehen, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zielstrebig in Richtung Ausgang.

"Einen Moment“, rief ihr Tchengos Vater hinterher. "Wir sind noch nicht fertig."

"Sollten Sie beabsichtigen, mich an der Ausübung meiner Pflicht zu hindern, werden Sie die Konsequenzen bei einem eventuellen Übergriff aus erster Hand zu spüren bekommen."

"Sie drohen mir?"

Lena blieb stehen und wand sich um. Die Gleittüren hatten sich noch nicht geöffnet. Sie würden es erst tun, wenn sie den Knopf betätigte.

"Ich würde es niemals wagen, irgendjemanden zu bedrohen, der nicht das Gleiche mir gegenüber tun würde“, sagte sie, so sachlich sie nur konnte. Ihre Stimme zitterte leicht. Sie schluckte und hoffte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit ihren Worten beabsichtigte sie auch, Karcho Namarch den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wenn er nicht bedroht werden wollte, durfte er es anderen ebenfalls nicht antun. "Ich bin für Ihre Sicherheit zuständig“, erklärte sie entschlossen. "Das ist meine primäre Aufgabe und auch die Aufgabe aller Mitglieder meiner Staffel. Vernachlässigt auch nur einer von ihnen seine Pflicht, sind Sie im Ernstfall ein toter Mann." Sie biss die Zähne zusammen, um ihm nicht mehr an den Kopf werfen zu können. Es war ihrer Meinung nach genug.

Mit einer entschlossenen Geste wirbelte sie herum, hämmerte auf den Knopf und nickte den beiden fassungslosen Männern abschließend zu. Tchengo hatte sich auf ein stummes Kommando ebenfalls in Bewegung gesetzt und sie erkannte im Augenwinkel, dass er geradezu in den Korridor flüchtete, und gleichzeitig zuckte der Vater, als er seinen Sohn entschwinden sah.

"Halt! Tchengo!“, schrie die Stimme des wütenden Llomenas, doch die Türen schlossen sich bereits wieder hinter ihnen und die beiden eilten mit schnellen Schritten dem Expresslift entgegen.

Als sich endlich die Türen zum Lift öffneten, wobei Lena jede einzelne der verstrichenen Sekunden zählte, hörte sie hinter sich auch das leise Zischen der Lukentüre zur Passagierkabine und hielt den Atem an. Sie floh förmlich in die Liftkabine, hieb viel zu fest auf die Kontrolltafel, vollkommen gleichgültig, welchen Knopf sie dabei traf und sank wie nach schwerer körperlicher Arbeit erschöpft an der Wand entlang zu Boden, als sich die Lifttüren endlich schlossen und sich die Kabine in Bewegung setzte.

Namarch lehnte seine Stirn gegen die kalte stählerne Wandverkleidung der Liftkabine und keuchte, wie nach einem mehrstündigem Martyrium an den Konditionsmaschinen.

"Das wusste ich nicht“, keuchte Lena und strich sich über das fieberheiße Gesicht. Hitzewallungen überschwappten plötzlich ihren Körper. Hatte sie sich zu viel zugemutet?

"Woher solltest du auch“, gab er verständig zurück. Seine Stimme klang heißer, als ob er lange mit sich gekämpft hatte, nicht laut loszuschreien. "Niemand wusste es. Er ist ein Meister darin." Er drehte sich um und lehnte nun den Rücken an die kalte Wand, als müsse er nun den rückwärtigen Teil seines Körpers kühlen. "Danke."

"Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir damit wirklich einen Gefallen getan habe“, schnaufte sie. "Nun ist er noch wütender und du hast es noch schwerer, eine Versöhnung mit ihm zustande zu bringen." Sie rappelte sich auf, strich über ihre Pilotenmontur und wischte noch einmal über ihr Gesicht. Das Fieber hatte sich rasend schnell verflüchtigt. Die Wallungen, die sie nur einen Augenblick zuvor heftig hin und her geworfen hatten, waren so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren. "Wenn ich mit meinem Vater eine Meinungsverschiedenheit hatte, versuchte ich, sie so schnell wie möglich wieder beizulegen. Es hat keinen Sinn, wenn man es lange vor sich her schiebt."

"Zumindest hast du mir damit etwas Aufschub verschafft. Ich kann mich nun darauf vorbereiten." Er seufzte leise, beobachtete für einige schweigende Atemzüge lang, die Anzeige auf der Kontrolltafel und fuhr dann voller Enttäuschung fort. "Er ist ein Meister darin, jemandem etwas aufzuzwängen und seinem Willen zu unterwerfen. Nicht anders dirigiert er den König und dessen ganzen Hofstaat."

"Wir sind zwei ganze Tage auf engstem Raum zusammengepfercht“, erinnerte sie. "Diesmal wirst du es wohl hinter dich bringen müssen. Vielleicht ist es hinterher viel leichter für dich."

"Das bezweifle ich. Sein Gesichtsausdruck deutete bereits darauf hin, dass er nur darauf aus ist, mich zurück in seine Obhut zu holen - mit allem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln."

"Kannst du ihm nicht verständlich machen, dass du dein eigenes Leben leben willst?"

"Seiner Meinung nach besitze ich kein eigenes Leben. Streng den Traditionen gemäß, habe ich mein ganzes Tun und Walten nach der Obrigkeit der Gleensherren auszurichten. Das war schon immer so und das wird immer so bleiben. Zumindest solange Gleensherren wie mein Vater an der Macht sind."

"Es führt kein Weg daran vorbei. Du wirst dich ihm stellen müssen“, bemerkte sie wissend.

Tchengo seufzte verzweifelt. "Genau das fürchte ich."

Der Aufzug blieb stehen und kündigte mit einem leisen Pling an, dass sich bald die Türen öffnen würden. Lena versagte sich jegliche weitere Bemerkung. Zum einen widerstrebte es jeder Faser in ihrem Körper, sich mit dem Problem eines anderen auseinandersetzen zu müssen. Zum anderen war sie heilfroh darüber, die Entscheidung versagt zu bekommen. Doch zu einem anderen Teil wollte sie das Problem gern aus der Welt schaffen, um selbst friedlicher schlafen zu können.

Andererseits, was ging es sie schon an. Es handelte sich immerhin nicht um ihr Problem, sondern dem von Tchengo und seinem Vater. Wie so viele Male versuchte sie sich auch diesmal einzureden, dass sie kein Anrecht auf Tchengo hatte und sich daher auch nicht mit seinen Problemen auseinandersetzen musste.

Die Türen öffneten sich und zwei Mitglieder des Maschinenpersonals traten ein. Zwei Mooreaner, wolfsähnliche Kreaturen auf zwei dünnen Beinen, kurzem dichten Fell und einer langen Schnauze, aus der vier gefährlich aussehende Hauer ragten, welche aber lediglich nur noch zur Abschreckung dienten. Mooreaner waren entgegen ihres Erscheinungsbildes reine Pflanzenfresser. Ihre Hauer benötigten sie, um ihre bevorzugte Nahrung, die Wurzeln eines Faserbaumes aus dem Boden zu ziehen und die harte Schale zu öffnen. Die beiden musterten die zwei Piloten kurz, widmeten sich aber rasch wieder sich selbst und unterhielten sich leise in ihrer eigenen Sprache.

Lena lehnte ihren Kopf an die Wand und suchte sich einen Punkt an der gegenüberliegenden Ecke, den sie fixieren konnte, nur um niemanden ansehen zu müssen. Schon gleich gar nicht Tchengo. Sie wusste wirklich nicht, ob es klug gewesen war, Tchengo vor seinem Vater abzuschotten. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr Zweifel kamen ihr dabei. Und als sich die Kabinentüren nach einigen Minuten mit einem leisen Pling abermals öffneten, war sie fast der Überzeugung, dass sie damit nur noch alles verschlimmert hatte.

Sie verließ den Aufzug mit den Maschinisten, ohne sich von Tchengo zu verabschieden, flüchtete beinahe mit ihnen in den dunklen Korridor hinaus. Sie flüchtete vor ihrer eigenen Tat, wusste nicht, ob sie überhaupt befähigt gewesen war, derartiges zu tun. Sie flüchtete, um Tchengo die Entscheidung über sein weiteres Handeln allein zu überlassen. Schließlich ging es sie nichts an.

 

* * *

 

Als wäre es Vorsehung gewesen, lief sie überraschend Laii Mingg über den Weg, die prompt wie angewurzelt stehen blieb, als sie deren verhageltes Gesicht bemerkte.

"Ist etwas passiert?“, erkundigte sie sich beinahe erschrocken.

Lena verzog nur ihr Gesicht und spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, einfach weiterzugehen und die junge Frau zu ignorieren. Doch sie blieb stehen und blickte einige tiefe Atemzüge lang gedankenverloren vor sich ins Leere. Die junge Frau besaß ebenso ein Anrecht es zu wissen, wie Tchengo oder sie selbst.

"Er ist hier“, sagte sie schließlich und versuchte sich in einem vielsagenden Blick. Ihr war allerdings mehr nach stürmischen Gewitterwolken, oder nach einem gewaltigem Sturm, der sich in Unheil, Naturkatastrophen und Massensterben gipfelte.

"Wer?“, hakte Laii verwirrt nach und wechselte ihre Last, den Überlebenspack aus dem Kampfflieger, unter den anderen Arm.

"Das Junkerchen, das wir eskortieren, es ist Karcho Namarch."

Laii Minggs Miene versteinerte sich ebenso urplötzlich, wie die Kraft aus ihrem Arm wich und den Überlebenspack auf den Boden knallen ließ. Für einen langen Augenblick starrte sie Lena so entsetzt und geschockt an, dass diese es schon beinahe wieder bereute.

"Weiß es Tchengo?“, kam es flüsternd über Laiis Lippen. Ihre Miene lockerte sich kaum. Die Neuigkeit schien sie derart getroffen zu haben, dass sie sicherlich eine Seelentherapie benötigte, um sich davon zu erholen.

"Natürlich“, nickte Lena. "Wir sind vorhin beide vollkommen unvorbereitet hineingestolpert. Ich war zunächst wie gelähmt. Er verlangte, dass ich Tchengo aus dem Dienst entlasse."

"Was hast du getan?“, wollte Laii mehr als interessiert wissen.

"Ich wusste mir im Moment nicht anders zu helfen, als Tchengo Kraft meines Amtes als dessen Vorgesetzte abzuschotten. Das hat den unweigerlichen Zusammenprall aufgeschoben, aber keineswegs aufgehoben."

"Hast du ihm von mir erzählt?"

Lena schüttelte verneinend den Kopf. "Aber ich hege gewisse Befürchtungen, dass Karcho Namarch diesen Einsatz inszeniert hat, um mit allen ungestört abrechnen zu können - einschließlich dir."

Laiis Miene versteinerte sich noch mehr. Sie senkte den Kopf und blickte voller Verzweiflung auf ihre Zehenspitzen. "Ich wusste es“, keuchte sie traurig. "Ich wusste es, dass wir nicht so ungeschoren davon kommen."

"Was meinst du?"

"Tchengo und ich haben seinen Namen und seine Ehre besudelt. Wir haben uns gegen strenge Konventionen gestellt und alle vor den Kopf gestoßen. Am meisten Gleen Namarch." Sie betrachtete Lena fragend. "Ich dachte, Tchengo hat dir davon erzählt."

"Er erwähnte es“, tat es Lena flüchtig ab. "Was würdest du nun an meiner Stelle tun?“, wollte sie ernsthaft wissen.

"Nur du bist in der Position, ihn vor seinem Vater zu schützen. Du musst ihn so weit wie möglich von ihm fernhalten. Schicke ihn auf Dauerpatrouille“, schlug Laii hastig vor.

"Ich will ihn aber nicht beschützen. Ich bin nicht seine Amme“, protestierte Lena energisch. "Wenn Tchengo Manns genug ist, wird er diese Angelegenheit selbst regeln können."

"Das könnte funktionieren, wenn Gleen Namarch ein normaler Vater wäre und wenn die Llomenas ein Volk wie das Deine wären“, wusste Laii. "Tchengo besitzt keine Chance, wenn er keine Unterstützung von dir bekommt. Dabei verdient er es mehr als jeder andere, sich ein Leben nach seinen Wünschen aufzubauen."

"Im Grunde besitze ich nicht die Befugnis, Tchengo mit meiner Position zu schützen. Außerdem handelt es sich um eine reine private und äußerst persönliche Angelegenheit, in die ich mich nicht einzumischen habe."

"Du hast dich bereits eingemischt, indem du Tchengo bei dem ersten Zusammentreffen mit seinem Vater in Schutz genommen hast. Gleen Namarch wird dir das nie verzeihen. Er wird dich ebenso verfolgen und bei jeder Gelegenheit zu denunzieren versuchen, wie er es bei mir tut."

"Es wird weder Tchengo noch dem Streit zwischen ihnen beiden gerecht werden, wenn ich ihn abschotte oder er sein Leben lang vor seinem Vater davonläuft. Mein Vater brachte mir bei, dass man eine Unstimmigkeit sofort aus dem Weg räumen soll, sonst verfolgt und quält sie einem ein Leben lang. Und damit bin ich bislang sehr gut gefahren."

"Wie gesagt, das funktioniert nur, wenn die Llomenas ein Volk wie das deine wären und dein Vater, der von Tchengo wäre. Gleen Namarch lebt strikt nach alten Traditionen und pocht sehr auf die Einhaltung von überlieferten Sitten, Regeln und Riten. Die Llomenas besitzen eine besondere Art, mit ihren Nachkommen und deren Lebensweisen umzugehen. Wenn man nur daran denkt, sich einzumischen, wird man schnell von der Wut der Gleens-Obrigkeit überrollt und zwischen ihren Rädern aufgerieben."

"Deswegen will ich mich nicht einmischen. Ich verstehe viel zu wenig von diesen Dingen."

"Liebe Lena, du befindest dich bereits mitten drin. Dir bleibt nichts anderes mehr übrig, als deinen bereits begonnenen Weg zu weiter zu gehen. Solltest du Tchengo nicht helfen wollen, werdet ihr beide als Einzelkämpfer dastehen und nicht in der Lage sein, euch gegen die Willkür und den Einfluss der Gleensherren zu verteidigen."

"Aber ich bin doch nur ein kleines Rädchen. Was kann ich schon ausrichten?"

"Dein Vorteil ist, dass Gleen Namarch diesen Ort als Zusammenkunft ausgewählt hat. Du bist hier die ranghöchste Person. Militärrecht geht vor Zivilrecht. Somit liegt alle Gewalt bei dir. Du bist sozusagen Alleinherrscher und kannst verfügen, wie es dir passt."

"Kann ich nicht“, wusste es Lena besser. "Der Captain dieses Frachters besitzt die Verfügungsgewalt über alles, was sich hier an Bord zuträgt."

"Er ist auch nur Zivilist. Es ist eine militärische Angelegenheit. Gleen Namarch verlangt, dass du Tchengo aus dem Dienst entlässt. Demnach ist es eine militärische Angelegenheit, über die du das letzte Wort besitzt und mit dem du ihn vor seinem Vater beschützen kannst."

"Wenn wir wieder zurück sind, wird er mich vor ein Kriegsgericht stellen lassen."

"Wie kann er das als Zivilist?"

"Immerhin hat er es geschafft, uns - das heißt, mich, dich und Tchengo - als Eskorte zu erhalten."

"Wenn du es klug anstellst, kannst du dies in einen Vorteil für uns alle umwandeln."

"Für uns drei“, verbesserte Lena.

"Allerdings musst du dich noch entscheiden, auf welcher Seite du stehst."

"Ich gehöre in die Mitte“, entgegnete Lena entschlossen. "Ins Niemandsland."

"Als Prellbock“, wusste Laii. "Als Anlaufschalter für alle Parteien."

"So habe ich das eigentlich nicht gedacht."

"So ist es aber."

"Warum hat Captain Brown dafür ausgerechnet mich ausgesucht? Ich besitze doch die geringsten Fähigkeiten dazu."

"Anscheinend schon“, gab Laii zu bedenken. "Oder er wollte dir eine Chance verschaffen."

"Das ist keine Chance“, gab Lena mürrisch zurück, "sondern eine schier unlösbare Aufgabe."

"Wenn das, was ich über dich gehört habe, wahr sein sollte, dann halte ich dich für fähig, die Angelegenheit so zu lösen, dass sie für alle Beteiligten gut ausfällt."

"Was hast du denn über mich gehört?“, wurde Lena neugierig.

"Genug, dass ich dich mit Respekt als meine Anführerin anerkenne."

"Ich würde zu gerne wissen, was man über mich erzählt“, erwiderte Lena, ohne das Kompliment oder die Ehre, die ihr soeben zuteilgeworden war, entsprechend zu würdigen und anzuerkennen.

"Darf ich erst noch das Ende dieser Angelegenheit abwarten, damit ich mir ein abschließendes Urteil bilden kann?“, wollte Laii wissen und hob ihr Überlebenspack wieder auf die Arme. "Vorher mit dir darüber zu reden, wäre dir gegenüber unfair. Später können wir uns gerne zusammensetzen und Neuigkeiten austauschen."

Lena blieb nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Laii besaß einen gewissen entschlossenen Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht, der ihr mehr als deutlich gemacht hatte, dass sie nicht zu etwas anderem zu überzeugen war.

"Was wirst du nun tun?“, wollte Laii wissen und wechselte den schweren Pack erneut unter den anderen Arm.

"Das wirst du noch erfahren“, gab sich Lena plötzlich kurz angebunden. Zum einen verletzte es ihren Stolz, dass offensichtlich über sie geredet wurde. Zum anderen sollte sie sich eigentlich geehrt fühlen, da es sich offenbar nicht um gewöhnlichen, verleumderischen Tratsch handelte. Und zu einem Weiteren hatte sie vor wenigen Nanosekunden einen Entschluss gefasst und wollte diesen sogleich in die Tat umsetzen, bevor sie sich eines anderen besann und jemanden, wie Laii Mingg womöglich enttäuschte. "Ruf die anderen zu einer Besprechung in unsere Unterkunft."

"Klar, Chef“, rief Laii zackig, ohne weiter auf die auch für sie heikle Angelegenheit und Lenas Entschluss einzugehen.

Lena machte auf dem Absatz kehrt und betätigte den Rufknopf für den Lift. Obwohl sie selbst wusste, dass Tchengo nicht mehr in der Kabine sein konnte, war sie enttäuscht, dass die Kabine leer war, als sich die Türen öffneten. Denn genau ihn wollte sie als nächstes sprechen, um ihn von ihrem Entschluss in Kenntnis zu setzen. Denn genau ihn betraf ihr Entschluss unmittelbar.

 

Wie ein kleines undefinierbares Häufchen Elend kauerte Tchengo auf der Pritsche seiner Schlafkoje, die Beine eng an die Brust gezogen, die Stirn müde auf die Knie abgelegt und die Arme fest um seine Beine geschlungen. Erst als sich Lena zu ihm auf die Pritsche setzte, verwandelte sich die versteinerte Plastik in ein lebendiges Wesen. Sein Kopf hob sich nur gemächlich, und als Lena sein mehr als verzweifeltes Gesicht erkannte, geriet ihre Entschlusskraft bereits wieder ins Wanken. Sie musste tief Luft holen, um wieder zu jener Lena zu finden, die sich so energisch und bestimmt von Laii Mingg getrennt hatte und wieder jene Selbstsicherheit an den Tag zu legen, den sie noch im Expresslift geübt hatte.

"Entschuldige bitte, wegen vorhin“, sagte sie und zögerte, ihre Hand auf die seine zu legen. "Vorhin dachte ich noch, ich würde zerquetscht werden. Ich brauchte unbedingt etwas Abstand zu dir und dieser unliebsamen Überraschung."

Tchengo schwieg und blickte sie nur an. In seinen Augen war die Enttäuschung deutlich zu lesen, ebenso auch das Entsetzen und die Verzweiflung, hervorgerufen durch das Zusammentreffen mit seinem Vater.

"Ich bin zu einem Entschluss gekommen und ich möchte, dass du dich daran hältst. Ich kann und will mich nicht in die Angelegenheit zwischen deinem Vater und dir einmischen. Aber offenbar stecke ich bereits bis zum Hals mitten drin. Ich weiß nicht, ob ich dazu befugt bin, aber ich werde versuchen, dich so weit ich es ermöglichen kann, von deinem Vater fernzuhalten. Das heißt, dass du dich die nächste Zeit, bis wir an unserem Ziel angekommen sind, in Dauerbereitschaft befindest. Es wird eine harte Zeit, aber das ist die einzige Möglichkeit, um dir etwas Bedenkzeit zu verschaffen. Dafür verlange ich aber, dass du dich auf diesem Einsatz, noch bevor wir angekommen sind, mit deinem Vater aussprichst und die Angelegenheit bereinigst. Es ist für keinen von euch fair, wenn ihr euer ganzes Leben lang ein Katz-und-Maus-Spiel treibt. Irgendwann wisst ihr nicht mehr den Grund, warum ihr ständig versucht, euch zu kompromittieren. Ich werde dir die Zeit lassen, die du brauchst, um dich darauf vorzubereiten, aber es muss bis zum Ende dieses Einsatzes erledigt sein. Ist das für dich akzeptabel?"

"Wirst du mich begleiten?“, wollte Tchengo wissen.

"Wenn du es wünschst, werde ich dich begleiten“, nickte sie. "Aber ich werde mich nicht in die Unterredung einmischen. Das musst du mit deinem Vater selbst klären."

Tchengo schnaufte tief und senkte für einen Moment seinen Kopf auf die Knie zurück. "Ich wusste selbst, dass ich mich nicht ewig vor ihm verstecken kann“, sagte er, als er wieder Lenas Blick fand. "Aber ich dachte, ich könnte den Zeitpunkt des Aufeinandertreffens, den Zeitpunkt dieses Gespräches selbst bestimmen und auch erst dann, wenn ich innerlich dazu bereit bin. Ich halte mich nicht für bereit dazu."

"Vielleicht ist das genau der richtige Zeitpunkt, um herauszufinden, wie stark du wirklich bist“, merkte Lena an. "Auch für mich. Ich weiß nicht, ob ich dem Druck standhalten kann. Aber ich werde es wohl müssen, denn sonst verliere ich einen Freund."

Der Ausdruck in seinem Gesicht fiel derart undefinierbar und unbeschreiblich aus, dass Lena das Gefühl überkam, etwas Falsches gesagt zu haben. Sie dachte jedoch, dass sie das mit dem Freund nicht hätte sagen dürfen, schwieg jedoch, aus Angst, es nur noch zu verschlimmern.

"Ich halte mich selbst für einen Feigling“, sagte Tchengo, nach einer gewissen Zeit des Schweigens, im Grunde nur, um die unangenehme Ruhe zu zerstören. "Sonst hätte ich mich längst gegen meinen Vater behauptet."

"Ich halte mich nicht für Wert eine Uniform zu tragen“, setzte Lena dagegen an "Dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin und dass ich nach all den Geschehnissen überhaupt noch eine tragen darf, klingt für mich wie aus einem irrwitzigen Hirngespinst entsprungen. Irgendwo muss jemand Einflussreiches sitzen und sehr viel Geduld mit dir haben."

"Und an dich glauben“, fügte Tchengo hinzu.

"Dein Niveau werde ich jedenfalls niemals erreichen."

"Es ist mehr als ich verlange“, bemerkte er mit einem unschuldigen Tonfall und ließ denselben Gesichtsausdruck erkennen, den sie vorhin schon an ihm gesehen hatte.

Lena zog die Augenbrauen zusammen und setzte zu einer Antwort an, versagte es sich jedoch selbst, als die Türe zu ihrer gemeinsamen Unterkunft aufging und der Rest der Staffelcrew hereinplatzte. In deren Gesichtern war eine Ahnung dessen zu erkennen, was die Staffel für die nächsten paar Tage zu erwarten hatte.

"Setzt euch“, verfügte sie und verwies auf die leeren Pritschen, die eng an die Wände gestellt worden waren. "Nicht dass ich euch beunruhigen, oder gar den Verdacht einer außerplanmäßigen Übung aufkommen lassen möchte“, begann sie, als sich zu ihrer Überraschung alle Mitglieder der Staffel brav auf die Pritschen niedergelassen hatten. "Aber ich möchte dennoch einen Rund-um-die-Uhr-Wartungscheck-und-Bereitschaftsmodus einführen. Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Es gibt keinen aktuellen Hintergrund dafür. Ich möchte nur, dass ihr nicht vergesst, wachsam zu werden, oder aus der Übung kommt. Vielleicht klingt das etwas unkonventionell, aber ich habe meine Gründe dafür und das Letzte was ich will, ist darüber diskutieren. Also bitte erspart es mir."

"Ist es wegen dem hohen Tier, das wir begleiten sollen?“, wollte Mast Azaron wissen. "Willst du ihm imponieren?"

"Ganz im Gegenteil“, gab Lena zurück. "Ich ärgere ihn mit dieser Maßnahme vermutlich nur noch. Nein, ich will ihm einfach aus dem Weg gehen und das können wir nur, wenn wir ständig beschäftigt sind."

"Du bist der Boss“, nickte Mast Azaron zustimmend und akzeptierte ihre Begründung und ihre Stellung.

"Wer ist dieses hohe Tier?“, erkundigte sich Stingrizzo Corttes neugierig.

"Jemand, dem ihr besser aus dem Weg gehen solltet“, erwiderte Lena. "Und ich warne euch, lasst euch von niemandem überreden oder bestechen, die Schicht eines Anderen zu übernehmen."

"Das klingt alles etwas sehr merkwürdig“, merkte Dere LoBayy mit einem misstrauischen Blick an.

"Schiebt es einfach auf meine Unerfahrenheit“, tat es Lena mit einer unschuldigen Geste ab. "Ich will nur Unstimmigkeiten innerhalb der Truppe vermeiden. Jeder bekommt eine feste Zeit und einen fest definierten Aufgabenbereich zugewiesen, welche er auch möglichst einzuhalten hat. Normalerweise bedeuten solche Eskorten für gewöhnlich Urlaub für die Begleitstaffel, besonders wenn sie für den Sprung und die lange Reise im Hyper im Hauptschiff untergebracht wird. Normalerweise wäre dies hier auch nicht anders abgelaufen, doch gewisse Umstände zwingen mich zu dieser Maßnahme."

"Der Umstand, dass eine bestimmte Person an Bord ist, richtig?“, erriet LoBayy. "Wer auch immer es ist, ich denke wir sollten es wissen. Denn scheinbar kann er uns Schwierigkeiten machen."

"Nur einigen von euch“, gab Lena zu. "Und ich hoffe - ich plädiere vielmehr an die anderen - dass ihr euch an die Anweisungen haltet und mich und die betreffenden Personen nicht bloßstellt. Außerdem sind es nur zwei Tage, die wir durchzustehen haben."

"Wer ist es?“, ließ LoBayy nicht locker.

"Einer der königlichen Berater."

"Wow“, machte Corttes überrascht. "Dessen Urteil wirkt sich sicherlich auf die künftige finanzielle Bezuschussung der Kampfstaffeln aus, was?"

Lena zuckte mit den Achseln. "Ich denke nicht. Dennoch wäre es nett, wenn niemand aus der Reihe tanzen würde."

"Okay“, nickte LoBayy. Corttes folgte seinem Beispiel, gleichzeitig mit Azaron. Laii Mingg und Namarch tauschten nur stumme Blicke aus.

"Im Vier-Stunden-Takt. Die jeweiligen Einsätze werde ich euch noch zukommen lassen. Den Anfang machen Namarch und Azaron. Ihr beginnt mit Wartungschecks an allen Kampfjägern."

"Ay, Boss“, salutierte Azaron, erhob sich und winkte den Llomenas mit sich, worauf sich dieser mühselig erhob und hinter drein trottete, als wäre es ihm gar nicht recht.

"Tchengo“, rief Lena ihn zurück, bevor er die Kabine verlassen konnte. "Sag es mir, wenn du soweit bist."

Tchengo nickte nur und verschwand wieder.

"Ihr anderen, legt euch aufs Ohr. Und Laii, du bist mir dafür verantwortlich, dass die Kabine zu jeder Zeit verschlossen ist und nur der Staffel zugänglich ist."

"Ay, Boss“, salutierte auch Laii Mingg und ließ sich sogleich wieder auf die Pritsche zurückfallen. In ihren Augen ließ sich jedoch erkennen, dass sie darauf brannte, das Ergebnis zu erfahren - wie sie sich bezüglich Tchengo Namarch und seinem Vater entschieden hat.

"Ich stimme mit dem Navigator den Austrittsvektor ab, damit wir keine unliebsamen Überraschungen erleben." Sie verließ die Kabine, lehnte sich draußen erst einmal gegen das kalte Metall und schnaufte einige Male durch. Sie hatte nicht erwartet, derart entschlossen auftreten zu können, und vor allem, nahezu anstandslos akzeptiert zu werden. Sie hatte mit wesentlich mehr Schwierigkeiten und Erklärungen gerechnet. Vermutlich hatte dies mit ihrer leitenden Position zu tun. Wäre sie den anderen gleichgestellt, hätte sie sicherlich mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen.

 

* * *

 

Karchos Namarchs Nachricht hatte sie schon vor Stunden erreicht, doch Lena versuchte, die Zusammenkunft so weit wie möglich hinauszuschieben. Sie hoffte, dass sie genug Begründungen dafür würde erfinden können - trieb sie sich die meiste Zeit doch auf der Brücke beim Kartenmeister oder dem Navigator herum, oder verbrachte ihre wenigen Ruhestunden in der Abgeschiedenheit ihrer engen Kabine, in die Laii niemanden hereinließ, der nicht eine Fliegeruniform trug. Doch irgendwann konnte sie es nicht mehr länger verzögern. Sie strich ihre Uniform glatt, um sie jedoch sogleich wieder zu zerzausen. Es sollte nicht so aussehen, dass sie genug Zeit besaßen, sich um ihre Garderobe zu kümmern. Sie hatte die Crewmitglieder während der gesamten Zeit ständig durch den Frachter gescheucht und ihnen beinahe keine Minute des Verschnaufens gegönnt. Sich selbst durfte sie dabei nicht ausschließen. Karcho Namarch sollte auf keinen Fall den Eindruck gewinnen, die Kampfpiloten taten nichts.

Die Tür zur Unterkunft des Gleensherr öffnete sich und Lena trat selbstbewusst ein. Sie reckte ihr Kinn und trat dem Mann entschlossen entgegen, der sie mit äußerst mürrischem Blick bedachte.

"Ich dachte schon, sie wollen sich bis in alle Ewigkeit vor mir verstecken, so wie sie es mit meinem Sohn handhaben." Er stellte eine Tasse auf einen niederen Tisch und platzierte sich gekonnt erhaben und seiner Wirkung ebenso seiner Ausstrahlung bewusst in einen Sessel.

"Ich verstehe nicht ganz“, gab sie sich etwas verwirrt. "Warum sollte ich ihn verstecken? Er absolviert seinen Dienst, so wie es alle anderen tun."

"Diesen kurzen Stundentakt benutzt man für gewöhnlich nur im Kriegsfalle, bei Alarmstufe Rot, wenn der Feind schon vor der Türe steht und im Begriff ist, in der nächsten Zeit anzugreifen. Aber dies ist hier nicht der Fall. Daher ist es schon ungewöhnlich, dass kein einziger der Piloten der Eskorte zu sprechen ist."

"Wir haben zu tun“, gab Lena kurz angebunden von sich. "Darf ich fragen, weswegen sie mich zu sich baten?"

"Meine Forderung kennen sie bereits, Offizer McKenzie. Ich möchte, dass sie meinen Sohn freistellen."

"Dazu bin ich leider nicht befugt. Außerdem hat sich Offizer Namarch persönlich und aus eigenem Willen für vier Jahre Dienst verpflichtet. Dieses Gelöbnis kann nur ein Gremium aufgrund eines triftigen Grundes aufheben."

"Es war ihm strikt verboten, dieses Gelöbnis einzugehen. … aber was diskutiere ich mit ihnen." Er erhob sich wieder und begab sich einige Schritte auf Lena zu, worauf diese vage mit dem Gedanken spielte, zurückzuweichen. Doch sie blieb stehen. "Ich verlange, dass sich mein Sohn zu mir begibt und mir persönlich Rede und Antwort steht."

"Wir befinden uns in ständiger Bereitschaft. Ich kann von keinem Soldaten verlangen, dass er bewusst seine Pflichten vernachlässigt, um private Angelegenheiten zu klären - was auch strikt gegen die Vorschriften ist."

"Wissen sie eigentlich, wer ich bin?“, erboste sich der Berater leicht.

"Ich bin informiert“, nickte sie wissend. "Leider erlaubt es mir die Vorschrift nicht, Sonderkonditionen für zivile Passagiere einzuräumen. So leid es mir tut, ich kann ihren Wunsch nicht erfüllen. Und wenn sie mich nun entschuldigen würden."

"Ihr unverschämtes Verhalten auf diesem Flug wird ihrer Dienststelle gemeldet“, versuchte er sie einzuschüchtern.

"Ich kann sie nicht daran hindern“, gab sie sich unbeeindruckt. "In knapp fünf Stunden werden wir den Hyperraum verlassen und zum Ladeanflug ansetzen. Sie sollten sich vorbereiten." Damit drehte sie sich um und verließ die speziell für den Gleensherr luxuriös ausgestattete Unterkunft.

Im Korridor atmete sie einige Male tief durch, drückte den Rufknopf für den Lift und lehnte sich an die kalte Wand, als sich die Türen wieder hinter ihr geschlossen hatten.

Sie brachte es nicht fertig, zu ihrer Arbeit zurückzukehren und begab sich daher in ihre Kabine, um etwas auszuspannen. Laii Mingg und Stingrizzo Corttes waren zu Wartungschecks eingeteilt. LoBayy, Azaron und Namarch hielten sich vermutlich in der Kantine auf. Sie verspürte selbst Hunger, doch sie erhob sich nicht wieder, als sie an die anderen Mitglieder der Staffel dachte, und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Sie wollte einfach nur ein paar Minuten ausspannen, ohne an irgendwelche Pflichten oder Schwierigkeiten zu denken. Als sie die Türe zu ihrer Kabine vernahm, keimte ein kleines Fünkchen Ärger in ihr auf.

"Lena“, vernahm sie die Stimme von Tchengo Namarch. "Darf ich dich stören?"

"Aber sicher“, entfleuchte es ihren Lippen, obwohl ihr eher das Gegenteil zumute war.

"Ich hörte, du bist bei meinem Vater gewesen. Was wollte er?"

Lena nahm einen tiefen Atemzug, öffnete die Augen und starrte für einige weitere Atemzüge lang an die glatt polierte Decke der Kabine. "Du weißt selbst, was er von mir wollte." Sie erhob sich und blickte ihn fordernd an. "Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. In drei Stunden beginnen die abschließenden Checks für den Wiedereintritt. Und du hast mir versprochen, es bis dahin erledigt zu haben."

"Es ist nicht einfach für mich."

"Das kann ich mir denken. Aber du musst es tun. Sonst scheuchst du es immer vor dir her und irgendwann wird es dir im Nacken sitzen und dich auffressen. Und es wird nicht leichter werden, wenn es dich verfolgt, ganz im Gegenteil."

"Du hast versprochen, mich zu begleiten. Wirst du mitkommen?"

"Du hast nun drei Schichten hintereinander absolviert. Meinst du nicht, du solltest noch eine Stunde schlafen, bevor du dich in den großen Kampf wagst?"

"Jetzt oder nie."

Sie schnaufte. Nach einem kurzen Moment der Überlegung schwang sie ihre Beine über die Kante und stellte sie auf den Boden. "Bringen wir es hinter uns“, sagte sie schließlich und erhob sich. "Ich werde mich aber nicht einmischen. Ich werde den Mund halten und mich diskret im Hintergrund halten."

"In Ordnung“, nickte er beinahe erleichtert.

"Willst du dich nicht waschen? Du bist voller Schmieröl."

"Nein“, entgegnete er entschlossen. "So ist es wenigstens gewährleistet, dass er es nicht wagt, mich zu berühren."

"Ein Mann wie er wird deinen Anblick empörend wenn nicht sogar kränkend empfinden."

"Das ist mir nur recht."

"Wäre es nicht besser, bereits im Vorfeld für ein mildes Klima zu sorgen?“, gab Lena zu bedenken.

"Er würde sich sicherlich wundern, dass ich nicht irgendetwas täte, um ihn zu diffamieren."

"Wie du meinst“, gab sie sich schließlich geschlagen. "Du musst damit klarkommen."

Tchengos grüne Augen begannen in einem seltsamen Glimmer zu leuchten, als er sie für einen Moment betrachtete. Auf seinem Gesicht erschien derselbe Ausdruck, den sie schon zwei Mal an ihm gesehen hatte und allmählich fragte sie sich ernsthaft, was dies zu bedeuten hatte. Doch noch ehe sie nachfragen konnte, wirbelte er herum und öffnete die Türe, um zu seinem schwersten aller Gänge zu gehen.

Lena wollte in diesem Moment wahrlich nicht mit ihm tauschen. Karcho Namarch war ein mehr als übermächtiger Vater und es war äußerst schwer, sich ihm gegenüber zu behaupten. Sie konnte Tchengo sogar verstehen, warum er ständig versucht hatte, seinem Vater aus dem Weg zu gehen, ihn belogen und getäuscht hatte, warum er sich dagegen sträubte, eine Aussöhnung zu erwirken, oder gar seinen eigenen Standpunkt darzulegen und ihn gegen die Argumente und Überzeugungskraft seines Vaters beizubehalten. Sie selbst hatte mit ihrem eigenen Vater Ähnliches erlebt, doch ihr Vater gehörte nicht zu jenen Leuten, die nur ihre eigene Überzeugung und ihre eigenen Vorstellungen gelten ließen. Ihr Vater war zu überzeugen gewesen und er besaß die wundervolle Gabe, einen Fehler einzugestehen oder seine Tochter walten zu lassen, wie sie es gern wollte, obwohl er wusste, dass dies nicht ganz richtig war.

Tchengo zögerte, als er vor der Türe zur Unterkunft seines Vaters stand. Seine Hand glitt nur zögerlich auf den Rufknopf zu und zog sich wieder zurück, als er ihn beinahe berührt hatte. Er wandte sich langsam um und suchte Lenas Blick, die ihn verständnisvoll aber etwas ungeduldig und strafend ansah.

"Mein Vater ist nicht zimperlich“, begann er. "Er versteht es ebenso gut, einen mit Worten zu verletzen, wie er es mit kräftigen Handstreichen kann."

Lena nickte nur.

"Ich möchte, dass - was auch immer dort drin gesprochen oder getan wird - dass sich zwischen uns beiden nichts ändert."

"Warum sollte es auch?“, fragte sie unschuldig zurück.

"Versprichst du es mir?"

Sie wusste nicht, was dagegen sprechen konnte, daher versprach sie es ihm.

Tchengo bedachte sie abermals kurz mit jenem merkwürdigen Blick, wandte sich schließlich um und hämmerte beinahe wütend auf den Klingelknopf, worauf sich nur einen Augenblick später die Türe ins Unheil öffnete.

Karcho Namarch hob überrascht eine Augenbraue und stellte ebenso graziös seine Tasse beiseite, wie er es wenige Minuten zuvor getan hatte, als Lena hereingekommen war. Doch diesmal saß er bereits in seinem Sessel und richtete sich nur etwas gerader. Sein strenger Blick schien seinen Sohn förmlich durchbohren zu wollen. Lena bereute es bereits, dass sie sich bereit erklärt hatte, der Zusammenkunft als Tchengos psychische Stütze beizuwohnen.

"Hast du nun endlich den Mut gefunden, vor mein Antlitz zu treten“, sprach er seinen Sohn mit barschem Ton und in donnerndem Llomenisch an. Als Tchengo jedoch näher als erwartet herangetreten war, erhob er sich aus seinem Sessel und baute sich vor ihm auf.

"Es ist notwendig, damit endlich Ruhe einkehrt“, antwortete Tchengo in Standard.

"Es ist mehr als eine bodenlose Frechheit, was du dir bislang geleistet hast“, erwiderte der Vater erbost und wieder in Llomenisch. "Die Gleensobrigkeit ist empört. Der König blickt mit Hohn auf die Gleen herab."

"Meinst du tatsächlich die Gleen, oder nur dich?“, fragte Tchengo zurück, wobei er strikt bei Standard blieb.

Die beiden standen nahe genug beieinander, sodass sie sich die Hand hätten reichen können. Stattdessen holte die Hand des Vaters aus und versetzte dem Sohn eine schallende Ohrfeige. Lena wich erschrocken einen Schritt zurück und schluckte einen dicken Kloß hinunter. Tchengo hingegen wischte die Blutspur, die aus seinem Mundwinkel rann, mit seinem ölverschmierten Overall ab und reckte trotzig sein Kinn hoch. Die Handschrift seines Vaters war schon immer hart gewesen, und wenn er sich dabei nicht auf die Zunge biss, schnitten seine Zähne schmerzhaft in die weichen Schleimhäute seines Mundinnenraumes. Aber Blut floss dabei stets.

"Du weißt, wo dein Platz ist“, sagte der Vater herrisch. Er weigerte sich beharrlich, die Standardsprache zu nutzen. "Du bist zu Höherem geboren, als zu diesem unwürdigen Helden-Spiel. Es war dir strikt verboten, dich anwerben zu lassen. Versprechen, die man nicht halten kann, soll man nicht geben. Ebenso sollte man keine Unwahrheiten äußern." Er machte einige Schritte im Raum auf und ab und blieb wieder vor seinem Sohn stehen, um ihn vorwurfsvoll anzusehen. "Ich muss zugeben, dass ich annahm, du würdest die Aufnahmeprüfung nicht schaffen und war überrascht, dass es dir trotzdem gelungen ist. Im Nachhinein erfuhr ich jedoch Gegenteiliges. Mich anzulügen, sein eigen Fleisch und Blut anzulügen, ist eines der größten Sünden unseres Volkes. Dafür gebührt dir das Rad, wenn diese Art der Strafe nicht schon längst abgeschafft worden wäre."

"Mir blieb keine andere Wahl“, entgegnete Tchengo unberührt. "Außerdem bist du selbst es gewesen, der dem König riet, mehr Rekruten anzuwerben, um die Besatzungen aufstocken zu können. Ich fühlte mich dazu berufen. Das hier ist das, was ich will."

"Einem Namarch gebührt es nicht, im Schmutz zu wühlen und sein Leben in leichtsinnigen Manövern zu riskieren. Sieh dich nur an. Du bist eine Schande für deinen Namen."

"Ich fühle mich wohl."

Lena blickte aufmerksam von einem zum Anderen. Da nur Tchengo eine ihr verständliche Sprache nutzte, bekam sie nur die Hälfte des Gespräches mit, konnte aber aus den Antworten weitgehend die entsprechenden Gegenargumente vermuten.

"Du bist verwirrt. Geblendet von Abenteuerlust und Gier nach Ruhm“, warf ihm sein Vater an den Kopf. "Dinge, nach denen es einen Namarch nicht dürsten sollte. Dein Geist ist verdorben und verwirkt."

"Mein Geist fühlt sich mehr als wohl. Er hat sich losgesagt von strengen Protokollen und altüberlieferten Traditionen. Er ist frei, ungehemmt und glücklich. Er kann fliegen und die Welt sehen. Er kann Leben retten, und wenn es sein muss, auch nehmen. Er kann sich frei entfalten und entwickeln, wie es ihm passt."

"Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, dass du dich nicht mehr an Protokoll und Tradition zu halten hast. Es ist wichtig, dass man weiß, was man zu tun hat, dass man weiß, wo sein Platz ist."

"Und das gleiche langweilige Leben führt, wie meine Vorfahren vor mir?“, fuhr ihm Tchengo ins Wort, noch ehe sein Vater seinen Passus zu Ende bringen konnte. "Ich sterbe, wenn du mich zurückbringst. Ich verwelke wie eine zarte Luaoloblüte. Ich werde erdrückt von all den strengen Sitten und Riten. Ich werde wahnsinnig in all dem ganzen Hofgeplänkel. Das ist kein Leben für mich."

"Es ist das Leben eines Namarch, das auch du zu führen hast."

"Ich kann meinen Namen ablegen, wenn dir das lieber ist." Tchengo widerstand dem bösen Blick seines Vaters beinahe mühelos. Seine Hände, die er vor seinem Schoss ineinander gefaltet hatte, verkrampften sich jedoch immer mehr.

"Ich will, dass du mit diesem Unsinn aufhörst“, donnerte Karcho wütend. Das harte Llomenisch unterstrich seine laute Stimme nur noch. "Nicht genug, dass du mich unentwegt angelogen hast, es ist dir offenbar gelungen, sämtliche Kommissionen von dir zu überzeugen, sodass sich keine einzige mit deinem Entlassungsbescheid beschäftigen will. Daher wirst du selbst das Gesuch einreichen. Und du wirst das tun, noch bevor wir Noreaga Fünf erreichen."

"Das werde ich nicht tun“, widersprach Tchengo energisch. "Ich werde mich weder deinem Willen, noch irgendwelchen Traditionen oder Protokollen beugen. Ich werde tun, was mein Herz mir rät."

"Dein Herz?“, wiederholte der Vater verächtlich. "Du meinst wohl etwas Derartiges, wie deine unzüchtige Beziehung zu dieser Eingeschlechtlichen?"

"Das hat nichts damit zu tun."

"Und ob es das hat. Seitdem bist du geblendet. Du gehörst geläutert. Du solltest Opfer bringen und dich selbst quälen, damit du auf den richtigen Pfad zurückkehrst."

"Ich habe meinen Pfad gefunden, meinen ganz persönlichen - und den werde ich verfolgen, solange ich es für nötig empfinde."

Lena gab es auf, über die Argumente des königlichen Beraters nachzudenken. Die beiden wechselten sich in ihrem immer energischer und hektischer werdenden Streitgespräch immer schneller ab, sodass ihr kaum Zeit blieb, über eine Antwort nachzudenken, bevor die nächste kam. Sie gab es auf, nahm einen tiefen Atemzug und begnügte sich im Beobachten der beiden Streithähne.

"Das kann und will ich nicht dulden“, setzte der Vater ebenso energisch dagegen. "Ich kann und will es nicht zulassen, dass mein eigen Fleisch und Blut ins Verderben läuft, seinen erhabenen Namen mit Schmutz besudelt und sein Leben mit Gewöhnlichen in leichtsinnigen Abenteuern riskiert. Du bist zu Besserem und Höherem geboren. Du wirst dein Gesuch auf der Stelle einreichen und dann etwas Ordentliches anziehen. Wenn dich ein anderer Gleensherr in diesem Aufzug sehen würde, fiele er vor Entsetzen in Ohnmacht."

"Ich denke nicht daran“, blieb Tchengo widerspenstig.

"Muss ich dich erst züchtigen, wie einen kleinen ungehorsamen Zögling?“, drohte der Ältere böse, während er seine Hände in die Hüften stemmte und seinen weiten Kaftan dabei aufbauschte, sodass er wie ein ausgewachsener Dämon wirkte.

Doch Tchengo ließ sich nicht davon einschüchtern. "Was auch immer du gedenkst zu tun, ich werde mich nicht fügen. Das habe ich lange genug getan. Jetzt ist es an der Zeit, mein eigenes Leben fern ab vom Einfluss der Gleen und von deiner Herrschaft zu führen."

"Wie kannst du es wagen?" Karcho Namarch plusterte seine unheimliche Gestalt vor Wut nur noch mehr auf. "Du bist ein Llomenas und hast dich demnach an Traditionen und dem Wort der Gleen zu halten. Wie kannst du nur daran denken, dich von deinem eigenen Blut, von deinem eigenen Volk lossagen zu wollen?"

"In meinen Adern fließt das Blut der Llomenas, aber mein Herz weigert sich, sich den Gleen zu unterwerfen."

Ein gewaltiger schwarzer Schatten, wie der Flügel eines gigantischen Raubvogels, fuhr durch die Luft, und drohte Tchengo niederzumähen, doch dieser schien den Angriff vorausgesehen zu haben und duckte sich geschickt unter seines Vaters herumfahrenden Arm hindurch. Nur die langen Ärmel des schwarzen Kaftans streiften ihn und beschmutzten sich an den Ölflecken in Tchengos Gesicht.

"Dir hätte schon damals klar sein müssen, dass ich anders bin“, fuhr Tchengo fort, als er einige Schritte zurückgewichen war. "Ich bin nicht wie du. Ich kann nicht darauf warten, dass sich mein Schicksal irgendwann von selbst erfüllt. Ich will mein Leben selbst in die Hand nehmen und es gestalten, nach meinem eigenen Gutdüngen."

"Das ist unmöglich. Die Tradition schreibt vor..."

"Zum Henker mit der Tradition“, brach Tchengo seinem Vater barsch ins Wort. "Ich lebe nicht nach der Tradition. Ich lebe nicht nach dem Wort der Gleensobrigkeit. Ich kann es nicht - weil ich anders bin - und das solltest du endlich akzeptieren - oder mich vergessen“, fügte er hinzu, als sein Vater ihn mit wütendem Blick fixierte.

"Du bist ein Namarch. Du bist in diesen Namen hinein geboren und du wirst es dein Leben lang bleiben. Daran wird weder dein unsittlicher Lebenswandel, noch deine verwirrten Ansichten etwas ändern können. Deswegen hast du dich entsprechend zu benehmen. Ich will es nicht länger zulassen, dass..." Er verstummte, als irgendwo im Zimmer ein Komm-Gerät summte.

Lena lief puterrot an, als sie bemerkte, dass es ihr Komm-Piepser gewesen war. Sie versuchte ein entschuldigendes Lächeln.

"Verzeihung, dürfte ich ihr Interkom benutzen?" Sie deutete auf ein Gerät, das auf einer Wandkonsole stand. Als der Bewohner dieser Unterkunft mehr missmutig, als zustimmend nickte, tippte sie schnell die auf dem Piepser angegebene Nummer ein und wartete mehr als ungeduldig auf eine Reaktion am anderen Ende der Leitung. "Was gibt es?“, fragte sie hastig ins Mikro.

"Endlich“, kam es ebenso ungeduldig zurück. "Ich versuche schon eine ganze Weile, dich zu erreichen." Mast Azarons Stimme verriet, dass er sich über etwas große Sorgen machte.

"Was ist denn los?“, fragte sie besorgt.

"Irgendetwas mit dem Hyper-Navigator stimmt nicht. Es wäre besser, wenn du auf die Brücke kommst."

"Ich habe ihn doch vorhin noch abgecheckt. Was soll damit nicht stimmen?"

"Komm her und sieh es dir selbst an."

"Ich komme“, entgegnete sie schließlich, beendete das Gespräch und entschuldigte sich abermals mit einem Lächeln. "Es tut mir leid, doch wir haben zu tun. Offizer Namarch, würden sie mich begleiten?"

"Wir sind noch nicht fertig“, murrte der Vater, diesmal in Standard und bedachte Lena mit einem äußerst missmutigen Blick.

"Das war keine Bitte, sondern ein Befehl“, entgegnete Lena energisch. "Officer Namarch befindet sich immer noch im Dienst. Daher hat er sich an sämtlichen Aktionen zu beteiligen. Sollte er das nicht tun, oder ohne triftigen Grund nicht erscheinen, wird er mit sofortiger Wirkung unter Arrest gestellt. Und ich denke, das wollen sie am Wenigsten. Außerdem verfügen wir an Bord nur über eine einzige Kampfstaffel, daher wird jeder Mann gebraucht. Ihr Diskus wird auf später vertagt werden müssen. Würden sie uns nun bitte entschuldigen?" Sie begab sich einfach in Richtung Ausgang, betätigte den Öffnungsknopf, worauf sich die Gleittüren zischend in die Seitenwände zurückzogen und verließ das geräumige Zimmer des Gleensherren.

"Tchengo, wirst du wohl hierbleiben!", donnerte es bis in den Korridor.

"Nein“, kam es zurück. "Ich habe einen Eid geschworen. Du kannst mir vieles nachsagen, doch eines bestimmt nicht: Dass ich ein Versprechen breche." Damit wirbelte er herum, ließ seinen Vater einfach stehen und eilte hinter Lena her.

Erst in der Aufzugskabine wagte er es, einen tieferen Atemzug zu nehmen.

"Danke“, sagte er, als er sich wieder einigermaßen im Griff besaß.

Lena zuckte unschuldig mit den Achseln. "Wofür? Das war nichts weiter gewesen, als ein Streit zwischen Vater und Sohn."

"Wir waren noch lange nicht fertig“, wusste Tchengo. "Er hat sich noch zurückgehalten. Sonst prügelt er beinahe gleich auf mich ein."

"Als ob handfeste Argumente die besseren wären“, gab Lena leicht sarkastisch von sich. "Ich halte nicht viel davon, obwohl ich auch nicht ohne Prügel aufgewachsen bin."

Tchengo verzog kurz sein Gesicht, strich sich mit den Händen übers Gesicht und suchte wieder Lenas Blick, als hätte er mit dieser Geste sämtliche Aufregung und Sorgen hinfort gewischt. "Was ist denn passiert? Seit wann kannst du keinen Nav-Computer mehr programmieren?"

"Ich kann mir das auch nicht erklären“, schüttelte Lena den Kopf. "Erst vorhin habe ich ihn noch einmal überprüft."

"Und wozu brauchst du mich?"

Lena verzog ihre Mundwinkel zu einem breiten Lächeln. "Vielleicht hat sich doch ein Fehler eingeschlichen, und wer sonst außer dir, könnte ihn herausfinden?"

"Aha“, machte er wissend und erwiderte das breite Lächeln.

Lena musterte ihn forschend. "Du erweckst irgendwie den Eindruck, als wäre die Angelegenheit mit deinem Vater nicht die Aufregung wert, die darum gemacht wurde. Ich hatte erwartet, dass du wesentlich aufgelöster bist."

"Du weißt nicht, wie es in meinem Inneren aussieht."

"Laii bekam fast einen Herzinfarkt, als ich es ihr erzählte."

"Warum hast du das getan? Es wäre besser gewesen, sie hätte es niemals erfahren."

"Ich hielt es für richtig, sie darüber zu informieren." Sie räusperte sich. Auf Mandereth hatte sie einige Male nach ihren Instinkten gehandelt und war beinahe jedesmal auf die Nase gefallen oder hatte eine Katastrophe heraufbeschwört. Eigentlich hätte sie auf diese Erfahrungen hören und entscheidender abwägen sollen, bevor sie ihren Gefühlen entsprechend handelte. Aber es war nunmal geschehen und sie dachte nicht, dass dies ein Fehler gewesen sein soll. "Außerdem hätte sie es sicherlich irgendwann aus einer anderen Quelle erfahren, oder wäre ihm gar über den Weg gelaufen“, fuhr sie rechtfertigend fort. "Ich habe sie nur vorgewarnt."

Abermals betrachtete Tchengo sie mit diesem merkwürdigen Blick, aus dem Lena so gar keine Schlüsse ziehen konnte. Mit jedem Mal, wo er diesen undefinierbaren Ausdruck erkennen ließ, wurde Lenas Neugierde größer. Obwohl sie in ihrem Innersten wusste, dass es sie nichts anging, wollte sie den Grund dafür wissen.

"Ist noch irgendetwas?“, erkundigte sie sich beiläufig. "Du machst hin und wieder so ein merkwürdiges Gesicht. Bedrückt dich noch etwas anderes?"

"Wie man es nimmt“, gab er ausweichend von sich und drehte den Kopf zur Seite, so als wolle er die Anzeigetafel studieren.

"Du willst damit sagen, es geht mich nichts an“, versuchte sie zu erraten und kämpfte gegen einer gewissen, verlegenen Röte an. "Ich habe schon verstanden."

"Ich denke nicht“, erwiderte er, während sein Blick noch immer die Anzeigetafel betrachtete.

"Was meinst du damit?"

Tchengo interessierte sich mehr für die Leuchtanzeigen, als auf Lenas Frage zu antworten.

"Wenn es etwas mit mir zu tun hat, sollte ich es wissen“, sagte sie, beinahe gleichzeitig mit dem Pling des Aufzuges. "Ist es, weil ich die Leitung für diesen Auftrag bekam?"

"Ganz bestimmt nicht“, erwiderte er und schob sich in den Korridor hinaus, noch bevor sich die Türen gänzlich öffnen konnten.

"Was ist es dann?" Lena sah ihre Worte sinnlos in den Raum hinaussprudeln. Tchengo gab keine Antwort, sondern machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg in Richtung Brücke.

"Tchengo!" rief sie ihn zurück.

Er blieb tatsächlich stehen, schien einen Moment lang überlegen zu müssen, ob er dieser energischen Aufforderung überhaupt Folge leisten sollte, und wandte sich schließlich doch um. "Ich halte es für besser, erst darüber zu reden, wenn wir mehr Zeit haben."

"Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag es mir. Eine psychische Belastung kann sich auch nachteilig auf deine Arbeit auswirken."

Wieder ließ Tchengo jenen seltsamen Ausdruck erkennen, schnaufte tief und wirbelte herum, um seinen Weg fortzusetzen.

 

Mast Azaron saß mit dem Navigator des Frachters und Corttes am Navigationspult, in ein hitziges Gespräch vertieft.

"Was ist hier los?“, ging Lena dazwischen und brachte damit die Streithähne zum Schweigen.

Azaron nahm einen tiefen Atemzug, bevor er zu seiner Erklärung ansetzte. "Der Navigator behauptet, er hätte unsere Anweisungen bezüglich des Austrittsvektors korrekt ausgeführt. Dennoch ergeben sich Abweichungen - das heißt, der Computer spuckt andere Werte aus, obwohl die Koordinaten stimmen. Corttes und ich haben es mehrmals per Hand nachgerechnet. Ich vermute, dass im Navigationsprogramm ein Fehler sitzt – oder ..." Er verstummte, vergewisserte sich mit einem kurzen bestätigenden Blick zu Corttes, dass er seine bzw. ihre Vermutung laut werden lassen konnte. "Oder jemand hat den Computer manipuliert, sodass er uns an einem ganz anderen Ort aus dem Hyperraum austreten lassen wird, als wir eigentlich wollen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, wir werden geradewegs in eine Falle hineingeführt."

"Kann man das wieder korrigieren?“, erkundigte sich Lena und blickte sich flüchtig um. Außer dem Navigator befand sich von der Frachter-Crew nur noch ein Maschinist auf der Brücke, welcher damit beschäftigt war, eine Umluftdüse zu reinigen. Während eines Hyperfluges gab es wenig auf der Brücke zu tun, sodass es nicht zu beanstanden sei, wenn die Brücke verwaist war.

"Wohl kaum“, erklärte Tchengo. "Während des Hyperfluges können keine Änderungen am Computer vorgenommen werden. Dazu müsste man anhalten, den Computer umprogrammieren und wieder starten. Dazu müsste man aber auch wissen, an welchem Punkt man aus dem Hyperraum austritt. Eine Neuberechnung würde über eine Stunde kosten."

"Was ist schon eine Stunde im Vergleich zu einer Falle“, gab Lena mit schiefem Grinsen dazu. "Lasst uns diese Kiste an den Straßenrand fahren und grundüberholen. Schafft ihr drei das?" Als diese nickten, wandte sie sich an Tchengo. "Hol' Laii und Dere aus den Betten. Sie sollen die Kampfjäger bereit machen. Und du selbst legst dich schlafen, damit du wenigstens ein paar Stunden Ruhe findest, wenn der Spuk losgeht - falls er überhaupt losgeht."

"Ay, Boss“, sagte Tchengo zackig und war auch schon verschwunden.

"Dann halte den Kahn an, Mast."

"Einen Moment." Mast Azaron machte sich über die Tastatur her. "Leider verfügt dieses Model über keinen Notknopf. Den könnte ich kurzerhand drücken und die Johle hält einfach an." Er kratzte sich kurz am Kopf, zerzauste sich damit sein gestriegeltes Haar und studierte flüchtig eine Meldung, die aufgrund seiner Eingaben auf dem Anzeigemonitor erschienen war. "Er verlangt einen Berechtigungscode."

"Der Captain soll unverzüglich auf der Brücke erscheinen“, instruierte Lena den Navigator eindringlich. "Unverzüglich“, wiederholte sie energischer, als der Mann ratlos um sich blickte.

"Bist du dir mit dem Notknopf sicher?“, wollte Lena wissen, als der Navigator aufgesprungen und davongeeilt war.

"Um Produktionskosten zu sparen, wurde auf eine luxuriöse Ausstattung wie den Notknopf verzichtet. Wir könnten aber auch einfach einen Anker werfen, oder ein Schwerkraftfeld vorauswerfen, das uns aus dem Hyperraum katapultiert."

"Hältst du die Zeit für geeignet, um Witze zu reißen?“, gab Lena anklagend zurück. "Apropos Zeit, wie viel Zeit bleibt uns noch, bevor wir in die Falle rasen?"

"Keine Ahnung“, zuckte Azaron mit den Schultern.

"Wenn man den Werten, die der Computer angibt, Glauben schenken darf, das heißt, wenn man diese Werte nimmt und damit den neuen Kurs ausrechnet, würde ich sagen, innerhalb der nächsten halben Stunde“, wusste Corttes.

"Dann ist höchste Eile geboten." Lena wirbelte herum und deutete auf den Maschinisten. "He, du da“, rief sie. "Die Besatzung soll sich aus ihren Kojen bemühen. Diese Mühle besitzt sicherlich eine Abwehreinrichtung."

"Abwehreinrichtung?“, wiederholte der Maschinist ungläubig.

"Waffen“, erklärte Lena. "Die Männer sollen sich an die Waffensysteme bemühen. Es ist gut möglich, dass wir angegriffen werden."

"Denkst du, dass eine Ladung Spinnstoffe für die Minenarbeiter einen Überfall wert wären?“, wollte Corttes wissen.

"Die Ladung vielleicht nicht, aber der Passagier."

Beinahe im selben Moment ertönte eine Alarmsirene und das eintönige Schwarz hinter den Sichtfenstern verwandelte sich zunächst in ein flammendes Funkenmeer, dann in ein von glitzernden Sternen dicht besiedeltes Gebiet. Etwas hatte sie aus dem Hyperraum geschleudert - entweder die sabotierenden Eingaben im Nav-Computer, oder der gigantische Stahlkoloss, der beinahe das ganze mittlere Sichtfenster einnahm und auf den sie unweigerlich zugerast wären, hätte sein großes Schwerkraftfeld den Frachter nicht aus dem Hyperraum geworfen.

"Es geht los“, rief Lena und machte auf dem Absatz kehrt. "Alles, was schießen kann, an die Waffensysteme. Begleitstaffel in die Kampfflieger."

"Sollten wir nicht erst fragen, was sie wollen?“, gab Azaron zu bedenken.

"Dieses Schiff und der Fehler im Nav-Computer können keine zufällig aufeinandertreffende Ereignisse sein. Bewege deinen Hintern. Wir haben das Leben eines Junkerchens zu schützen."

„Es wäre besser, unsere Trümpfe nicht gleich zu Anfang auf den Tisch zu legen“, rief Azaron.

„Ich will vorbereitet und gewappnet sein, bevor es zu spät ist.“

„Bevor das andere Schiff nicht seine Waffensysteme aktiviert und ganze Wolken aus Kampfflieger ausspuckt, besteht kein Anlass dazu.“ Er betrachtete sie vielsagend. „Wenn sie in friedlicher Absichtung und nur zufällig dort waren, könnten wir einen schlechten Eindruck hinterlassen. Außerdem wissen wir gar nicht, wer das ist.“

In diesem Moment traf der Captain des Frachters ein und sah sich verwirrt um. „Was ist hier los?“, wollte er wissen.

„Jemand hat uns aus dem Hyperraum geholt, und wie ich vermute, mutwillig“, erklärte Lena und deutete auf das Sichtfenster, wo ein gigantischer Koloss zu sehen war. „Sie sind der Kapitän dieses Schiffes. Fragen sie ihn, was er hier zu suchen hat.“

„Ich denke, das erübrigt sich“, wandte Corttes ein und deutete ebenfalls auf das Sichtfenster. Aus mehreren Öffnungen des Stahlkolosses entwichen kleinere Schiffe, kleine Ein- höchstens Zwei-Mann-Flitzer, ein Dutzend Kampfjäger, die sich in breit gefächerter Formation vor dem Frachter aufbauten, als wollten sie ein Schutzschild vor ihrem Schützling aufbauen.

„Fragen sie ihn“, forderte Lena.

„Hier spricht Captain Driggs DanHarden von Frachtransporter V47 der konföderierten Transportgesellschaft KTG“, sagte er laut in den Raum. „Wir befinden uns auf einem regulären Versorgungsflug nach Noreaga Fünf. Darf ich fragen, wer sie sind und warum sie uns aufhalten?“

„Fragen dürfen sie“, kam es aus den Lautsprechern der Brücke zurück. „Aber Antworten erhalten sie keine, jedenfalls keine, die sie zufriedenstellt. An Bord ihres Schiffes befindet sich eine bestimmte Fracht, die wir gerne übernehmen würden. Lassen sie ihre Waffen deaktiviert und schalten sie den Antrieb ab. Dann werden meine Männer an Bord kommen und es sich holen.“

„Wir haben nur Spinnseide für die Schutzanzüge der Minenarbeiter geladen“, erwiderte der Kapitän achselzuckend. „Das ist keine Ware von besonderem Wert.“

„Wieso muss sie dann von einer voll ausgerüsteten Kampfstaffel begleitet werden?“, kam die zwangsläufige Frage. „Verhalten sie sich ruhig und unauffällig und lassen sie sämtliches Personal, einschließlich der Piloten der Kampfstaffel im Hangar versammeln. Die Waffen bleiben selbstverständlich stecken, sonst werden sie, ihr schrottreifer Frachter und ihre wertlose Fracht vernichtet.“

„Was wollen sie von uns?“, erkundigte sich DanHagen. „Von was für einer Fracht reden sie?“

„Sie werden es schon noch erfahren.“

„Versuchen sie ihn hinzuhalten“, flüsterte Lena dem Kapitän ins Ohr. „Wir müssen einiges vorbereiten.“ Sie winkte den beiden Mitgliedern ihrer Staffel und eilte in Richtung Expresslift.

„Die wollen tatsächlich unseren Passagier“, gab Azaron kopfschüttelnd von sich. „Aber was können die mit dem königlichen Berater vorhaben, und wer sind die?“

„Wir sollten unseren Passagier warnen“, schlug Corttes vor.

„Keine Zeit“, winkte Lena ab, während sie den Knopf drückte, der sie in der richtigen Etage zum Hangar aussteigen ließ. „Außerdem denke ich, wird er sich dann auch nicht anders verhalten. Wir sollten einen Plan schmieden. Haben wir Ersatz-Fliegermonturen dabei?“

„In der Regel eigentlich immer“, nickte Azaron. „Warum?“

„Weil wir sie kurzzeitig entleihen. Die da draußen wollen eine Kampffliegerstaffel sehen und das sollen sie auch. Nur dass nicht die Richtigen in den Klamotten stecken werden.“

„Und was machen wir?“

„Wir werden uns im Hintergrund halten und abwarten was passiert. Es muss zudem gewährleistet sein, dass wir starten können. Solange aber die ganzen Leute im Hangar stehen, ist ein Start unmöglich. Also müssen wir vorerst abwarten und beobachten.“

„Als Mechaniker oder Bordpersonal?“

„Zum Beispiel.“

„Okay“, nickte Azaron.

Die Lifttüren öffneten sich und entließ die drei in den Hangar. Laii Mingg und Dere LoBayy schlossen eben die letzten Checks ab, als Lena sie zu sich rief und voran in die Sozial- und Umkleideräume ging. Dort fand sie zu ihrer Überraschung Tchengo Namarch, wie er eben in einen Fliegeroverall kletterte. Entweder hatte er ihre Anweisung ignoriert, oder noch gar nicht ausgeführt. Jedenfalls war es nun zu spät dafür.

Etwas anderes aber, ging durch sie hindurch und ließ sie einen Augenblick lang erstarren. Zum zweiten Mal sah sie den Llomenas beinahe unbekleidet, nur mit seinem Lendenschurz und bis zu den Knien im Fliegeranzug, und musste diesmal gegen eine unbekannte Kraft in ihrem Inneren ankämpfen. Irgendetwas war mit ihr geschehen, als sie seinen Anblick sah, obwohl an ihm nichts Ungewöhnliches, oder gar anderes wäre, als an jedem anderen Mann - selbst für einen Llomenas, einem zweigeschlechtlichen Wesen. Dennoch - irgendetwas war passiert.

Sie schüttelte den Kopf, um ihre wirren Gedanken loszuwerden und nahm einen tiefen Atemzug, während sie die übrigen Mitglieder der Staffel mit einer Geste einlud, sich um sie zu versammeln. Sie brauchte zu diesem Zeitpunkt mehr als zu jedem anderen, einen klaren Kopf und durfte sich weder von ihren Gefühlen, noch von ihrem Inneren leiten und verwirren lassen. Sonst würde sich dieselbe Katastrophe anbahnen, wie auf Mandereth - und hier würde es sicherlich keinen netten alten Opa geben, der ihr gerade noch im letzten Moment aus der Patsche half.

„Wir haben ein Problem“, sagte sie. „Zieht Mechanikeroveralls über eure Fliegermonturen an, damit wir wie Bordpersonal aussehen.“ Sie schnappte sich einen blauen Maschinistenoverall und begann bereits hineinzusteigen. Währenddessen erklärte sie mit wenigen knappen Worten die Sachlage und ihren Plan, der ihr noch auf der Brücke eingefallen war, noch während DanHagen mit dem unbekannten Piraten sprach.

 

* * *

 

Als vier der fremden Kampfjäger im Hangar landeten, war die gesamte Besatzung des Frachters im hinteren Teil des Hangars versammelt und erwartete mehr oder weniger gespannt das nun Kommende. Captain DanHagen hatte wenig Erfahrung mit Piraten oder ähnlich kriminell gesinnten Gruppen, sodass er nervös wurde und zu schwitzen begann. Dass sich im Hintergrund die komplette Staffel, in Mechanikerkluft verkleidet, in Bereitschaft hielt, beruhigte ihn nur wenig. Und als aus den eben gelandeten Jagdmaschinen auch noch bewaffnete Gestalten stiegen, war ihm die Unruhe mehr als deutlich anzusehen.

Die vier Gestalten, die aus den Jägern stiegen, trugen allesamt Helme mit undurchsichtigen Visieren, dunkle Fliegeroveralls ohne jegliche Abzeichen oder Erkennungsmerkmale und vollautomatische Lasergewehre, die bereits beim kleinsten Fingerzucken ihre tödliche Ladung entsandten. DanHagen wechselte nervös von einem Bein auf das Andere und wischte sich immer wieder die schweißnassen Hände an der Hosennaht ab. Als einer von den Vieren direkt auf ihn zugelaufen kam, wäre er am Liebsten in Grund und Boden versunken.

„Sind alle versammelt?“, wollte der Pirat wissen und als DanHagen bestätigend nickte, gab er seinen Kumpanen ein Zeichen, worauf diese durch die Reihen der versammelten Besatzungsmitglieder gingen, als wollten sie noch einmal alle genauestens inspizieren. Sie beäugten sämtliche Personen, insbesondere, die in Fliegeroveralls gesteckten Mechaniker, die Lena dazu angestiftet hatte, und sonderten sie sogar von den anderen ab, um sie noch genauer in Augenschein zu nehmen.

„Was suchen die eigentlich?“, flüsterte Azaron Lena hinter vorgehaltener Hand zu.

„Die Ladung jedenfalls nicht“, raunte Corttes von der anderen Seite zurück. „Und dass sich ein königlicher Berater sicherlich nicht unters gemeine Volk mischt, müsste sogar diesen Galgenvögeln klar sein.“

„Ich befürchte, dass sie gar nicht den Berater suchen“, flüsterte Lena und suchte Tchengos Blick.

„Sie suchen jemanden ganz bestimmten unter den Piloten der Begleitstaffel“, erriet Laii. „Hat sich einer von euch mit einem Verbrecherlord angelegt?“ Corttes und Azaron schüttelten beinahe unmerklich die Köpfe und verfielen in Apathie, als sich ihnen einer der vier Piraten näherte. Er musterte Corttes, Lena und Azaron genau, als müsse er sich deren Gesichtszüge bis an sein Lebensende einprägen. Eben als er zu Laii Mingg übergehen wollte, rief eine laute Stimme von der anderen Seite des Hangars, seine Aufmerksamkeit zu sich.

Eine kleine Gruppe, in bodenlange, dunkle Gewänder gehüllte Gestalten betrat den Hanger. Allen voran Gleen Namarch, in seiner gewohnt erhabenen Art, mit hoch erhobenem Kinn, nahezu schwebendem Gang und einem Gesichtsausdruck, mit dem man Nüsse knacken konnte. Seine Hände vor dem Bauch gefaltet, schritt er mit weiten Schritten näher, die neuen Gäste ebenso missmutig betrachtend, wie den Captain des Frachters und dessen versammelte Besatzung.

„Was ist hier los?“, erkundigte er sich streng. „Warum wurde die Reise unterbrochen?“

„Das nenne ich ein Beispiel vollkommener Sorglosigkeit“, raunte Corttes leise und räusperte sich, als sich der Pirat zu ihm umdrehte, um ihn misstrauisch zu beäugen.

Zwei der Piraten gingen aufeinander zu und unterhielten sich in gedämpfter Tonlage, noch während der Gleen hereinmarschierte, gänzlich unbeeindruckt und unbesorgt, aufgrund des Aufmarsches der Mannschaft und der zur Schau getragenen Waffen der Piraten.

„Was wollen sie hier? Und wer sind sie?“, fuhr der Gleensherr einen der Männer an, worauf sich dieser wortlos umdrehte und zu den Zweien ging, die sich bereits über Funk mit ihrem Mutterschiff zu unterhalten schienen.

„Ich wusste es“, flüsterte Lena und suchte abermals Tchengos Blick. Sie machte eine versteckte Handbewegung, die diesem zu verstehen gab, dass er sich klammheimlich zu verdrücken hatte. Nach einer kurzen, stummen Auseinandersetzung mit Blicken und knappen Gesten, gehorchte Tchengo schließlich und schob sich allmählich rückwärts, bis er zu einem Stapel leeren Kisten gelangt war, um sich in einem unbedarften Moment dahinter zu verschanzen.

Lena gab den anderen ein Zeichen, worauf sich diese gleichmäßig in der Masse verteilten und schob sich selbst unbemerkt näher an die drei Diskutierenden heran. Der vierte Mann war zwischen der Frachterbesatzung stehen geblieben und hatte seine Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe seiner Kameraden gewidmet, sodass es ihm nicht auffiel, als hinter ihm plötzlich niemand mehr stand. Erst als er sich in einem erwachenden Moment umdrehte, erkannte er plötzlich, dass sich etwas getan hatte, fand aber in seiner unmittelbaren Nähe eines der zuvor eingeprägten Gesichter und zeigte sich zufrieden.

Lena stahl sich näher an die Dreiergruppe heran, um wenigstens einige Fetzen der Unterhaltung mitzubekommen. Aus dem, was sie vernehmen konnte, reimte sich schnell eine Bestätigung dessen zusammen, was sie bereits vermutete. Den Piraten ging es weder um die nicht sonderlich kostbare Ladung, noch um ihren feudalen Passagier, sondern um einen bestimmten Piloten der Begleitstaffel. Den Grund dafür würde sie sicherlich noch erfahren, doch vorerst musste sie zusehen, dass die Eindringlinge abgewimmelt und Tchengo in Sicherheit gebracht wurden.

Sie wandte sich kurz zur Seite und machte Laii und Dere mit einer flüchtigen Handbewegung deutlich, dass sie sich noch weiter um die Gruppe herum schleichen sollten, um sie einzukesseln. Mast deutete sie, dass er sich um den vierten in seiner unmittelbaren Nähe kümmern sollte. Lena und Stingrizzo würden sich die Dreiergruppe von rechts vornehmen, während Laii und Dere sie von links bedrängten.

Währenddessen marschierte Gleen Karcho Namarch weiterhin unbedarft auf die Piraten zu und stellte unentwegt seine Fragen, von denen keine einzige beantwortet wurde. Er wagte es sogar, einen von ihnen auf die Schulter zu tippen, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Wie als hätten sie nur auf diese Berührung gewartet, fuhren alle drei herum und deuteten mit den Mündungen ihrer Waffen auf den Gleensherr, worauf dieser etwas erschrocken, aber so erhaben, wie seine Art war, leicht die Hände in die Luft streckte, zum Zeichen, dass er unbewaffnet war.

„Sollten sie nicht in Dorous bei einer Sitzung sein?“, sagte einer der Männer und machte einige Schritte auf ihn zu.

„Die wurde kurzfristig verschoben“, erklärte der königliche Berater abermals etwas überrascht, ohne jedoch seine gebieterische Miene zu verlieren. „Aber woher wissen sie davon?“

„Sie hätten besser dafür sorgen sollen, dass diese Sitzung zum vereinbarten Termin stattfindet“, entgegnete der Mann mit einem gefährlichen Klang in seiner Stimme. „Denn dann hätten sie rechtzeitig unsere Forderungen erfüllen können.“

„Welche Forderungen?“ Gleen Namarch betrachtete ihn leicht verwirrt, nahm seine Hände herunter und faltete sie in gewohnter Weise vor dem reichlich bestickten Gürtel.

„Sie sind dafür verantwortlich, dass die Yaalotta-Gesellschaft geschlossen und dass sämtliche Betroffenen mit kläglichen Ablösen abgespeist wurden. Und sie werden nun dafür sorgen, dass die Yaalotta ihre Rechte zurückerhält und ihren Betrieb wieder aufnehmen kann.“

„Die Yaalotta agierte mit unlauteren Mitteln, beutete ihre Mitarbeiter aus und machte Geschäfte mit Schwarzhändlern, Schmugglern und Betrügern. Mein dringender Rat an den König wurde zu Recht angenommen. Die Yaalotta darf nicht weiter bestehen.“

„Indem sie die Schließung bewirkten, verurteilten sie ein ganzes Sternsystem zum allmählichen Sterben. Sechzehn verschiedene Völker auf sieben ganzen Welten und fünfundzwanzig bewohnten Monden profitierten seit Generationen von Yaalotta und ihren Einkünften. Über hundert Billionen Wesen sind nun der Ausrottung verdammt. Sie werden dafür sorgen, dass die Yaalotta ihre Konzession zurückerhält, sonst ...“ Der Mann verstummte, als wollte er seine unausgesprochene Drohung der Fantasie des Zuhörers überlassen.

„Sonst was?“, forderte der Gleen streng.

„Sonst werden wir mit ihnen machen, was sie mit uns angestellt haben. Wir werden ihre sämtlichen Nachkommen auslöschen.“

Für einen kurzen Moment vergaß Karcho Namarch seinen sonst so strengen und gebieterischen Gesichtsausdruck. Er fasste sich jedoch schnell wieder, rückte seine gefalteten Hände zurecht und blickte den Mann trotzig an.

„Die Entscheidung lag allein beim König, nicht bei mir“, sagte er sachlich, als wolle er gleich einen Vortrag über Versicherungskonditionen halten. „Meine Person ist nur dafür zuständig, Ratschläge zu verfassen. Demnach besteht keine Veranlassung zu ihrem Vorhaben.“

„Aufgrund ihres Ratschlages wurde die Konzession gestrichen“, blieb der Mann beharrlich. „Hundert Billionen Wesen saßen buchstäblich auf der Straße, vor dem Nichts. Ihr ganzes Leben war mit einer Unterschrift zertrümmert worden. Aber wenn sie unbedingt auf diesen Ratschlag beharren, so bin ich auch nur jemand, der auf den Rat eines anderen hört. Mir wurde geraten, ihre Söhne hinzurichten, falls sie sich nicht kooperativ zeigen.“

„Ich soll dem König raten, eine kriminelle Gesellschaft wie die Yaalotta wieder zum Leben zu erwecken? Niemals!“ Karcho Namarch blieb trotz der massiven Drohung ungerührt. Er schien keine Sekunde lang daran zu glauben, dass diese Männer ihre Drohung wahr machen könnten.

„Dann sind ihre Nachkommen ebenso zum Sterben verdammt, wie es unsere Generation durch ihren Ratschlag wurde. Zwei ihrer Söhne, die sich am königlichen Hof aufhalten, werden von uns ständig überwacht. Unsere Agenten sind bereit jederzeit ihren Auftrag auszuführen. Ein Dritter soll sich hier an Bord befinden, und ich würde ihm raten, sich zu erkennen zu geben, sonst werden wir drei seiner Brüder, die sich gegenwärtig in der Obhut eines Verwandten befinden, eliminieren lassen.“

Lena schielte aus ihrem Augenwinkel heraus nach Tchengo, der sich hinter den Kisten versteckt hielt. Sie betete, dass er sich nicht dazu verleiten ließ, herauszutreten und sich dem Willen des Schurken zu beugen. Zu ihrer Erleichterung blieb er in seinem Versteck. Sie bemerkte jedoch, dass er seine Waffe zog, als sein Ellbogen beim Ziehen für einen kurzen Moment hinter der Kante hervorlugte.

„Denken sie, dass sie damit durchkommen werden?“, wollte der königliche Berater streng wissen.

„Vielleicht“, kam es unter dem Visier hervor. „Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls steht eines fest. Das Schicksal ihrer Familie ist an das unsere gekettet. Wenn wir untergehen, wird es die ihre auch tun. Retten sie uns, wird auch die ihre weiter existieren können.“

Gleen Namarch spielte gedankenverloren mit einem Edelstein an seinem Gürtel, während er ungläubig den Kopf schüttelte. Seine Finger liebkosten den Stein, als handelte es sich dabei um sein liebstes Gut und umfuhren sorgsam sämtliche Konturen und Riefen.

„Die Yaalotta ist ebenso kriminell wie sie, mein Freund“, begann er schließlich, als er seine Finger schützend auf den Stein gelegt und den Blick seines Gegenüber wiedergefunden hatte. „Ein solches Unternehmen darf einfach nicht mehr weiter existieren. Wenn eine ganze Welt, gar ein ganzes Sternsystem ihr Schicksal an ein solches Unternehmen geknüpft hat, ist es ebenso wenig wert. Hätten sie sich legale Einkünfte und Beschäftigungsarten gesucht, stünde es nun nicht vor ihrem Untergang. Ich kann ihrer Bitte leider nicht nachkommen. Ich werde dem König nicht dazu raten, die Konzession der Yaalotta zurückzugeben. Damit würde ich mich ebenso an den kriminellen Machenschaften der Yaalotta strafbar machen.“

„Dann werden ihre Nachkommen sterben müssen.“

„Nein, das denke ich nicht. Jedenfalls nicht so bald und nicht durch ihre Hand“, erwiderte Namarch absolut sicher. Sein Daumen strich wieder liebevoll über den Stein und blieb auf ihm ruhen,

„Sie sind viel zu überheblich, um sich ernsthaft um das Schicksal ihrer Nachkommen zu sorgen.“ Er betätigte einen Knopf an einem Gerät an seinem Handgelenk und hielt es dem Berater demonstrativ hin. „Sie werden alle sterben, noch ehe sie etwas dagegen tun können.“

Karcho Namarch schüttelte nur erhaben den Kopf und drückte mit dem Daumen auf den Edelstein, als wolle er damit seine aufgewiegelten Emotionen unter Kontrolle halten. Es war mucksmäuschenstill im Hangar geworden, sodass man selbst die heftigen Atemzüge der erregten Anwesenden vernehmen konnte. Irgendwo im hinteren Teil des Hangars, dort wo man einige Verladekisten und Container gestapelt hatte, ertönten zwei grelle Pieptöne, die von den kahlen Wänden mehrfach zurückgeworfen wurden und selbst bis in die hinterste Ecke zu hören gewesen waren.

Lena stieß einen Fluch aus, murmelte ein äußerst missmutiges „Was für ein Idiot!“ und riss ihre unter dem Overall versteckte Waffe heraus, um das Feuer auf die Vier zu erwidern, welche sich nur eine Nanosekunde zuvor entschieden hatten, dem Piepen hinter den Kisten auf den Grund zu gehen. Während sie auf den Sprecher zueilte, eilten Azaron, Corttes, LoBayy und Mingg zu den Anderen. Es entstand schnell ein Handgemenge. Der eine oder andere Schuss löste sich, doch außer ein paar blauen Flecken und eine Schürfwunde waren keine weiteren Verletzungen zu beklagen gewesen. Was geschah, als sie die Vier dingfest gemacht und gefesselt hatten, bereitete ihnen wesentlich mehr Kopfzerbrechen. Die anderen entsandten Kampfflieger aus dem Kriegsschiff, die sich bislang als drohende Unheilswespen in der Nähe herum getrieben hatten, begannen nun, den Frachter und gezielt den Hangar zu beschießen.

„In die Jäger“, brüllte Lena und musste auch schon in Deckung gehen, als in ihrer Nähe eine Feuersalve durch das klaffende Loch der Start- und Landerampe herein raste und in einen Schwebetransporter einschlug. Sie sah noch, wie Tchengo aus seiner Deckung sprang und zu ihr rannte. Nur wenige Schritte hinter ihm, tauchte sein Vater auf und rief etwas in die entstandene Aufruhr, was jedoch im allgemeinen Tumult unterging. Dann wurde sie von irgendetwas getroffen und Dunkelheit umhüllte sie.

Als Tchengo sah, wie Lena von einem Trümmerteil im Rücken getroffen zusammensackte und leblos liegen blieb, beschleunigte er seine Schritte, nahm sie hoch und trug sie rasch aus der Gefahrenzone. Vorsichtig legte er die bewusstlose junge Frau hinter der rechten Strahlenschutzwand nieder, untersuchte sie rasch nach ihren Verletzungen und atmete erleichtert auf, als er lediglich Prellungen feststellen konnte. Lenas Atem ging flach. Er strich ihr sanft übers Gesicht und rief ihren Namen, um sie aus ihrer Bewusstlosigkeit zu holen. Dass ihn sein Vater währenddessen genauestens beobachtete, bemerkte er nicht.

Mit flatternden Augenlidern kehrte Lena in die Wirklichkeit zurück und fand sich in Tchengo Namarchs Arme. Ihr erster Impuls war, sich davon zu befreien, doch sie blieb liegen und blickte verwirrt in seine grünen Augen. Erst ein Einschlag in der Nähe der Wand, erinnerte die beiden an ihre derzeitige Lage.

„Sie werden den Frachter in Stücke schießen, wenn wir nicht ausschwärmen“, sagte sie mit heißerer Stimme und erhob sich leicht. Tchengo schien sich zu weigern, sie wieder in den Kampf ziehen zu lassen, geschweige denn, sie aus seinen Armen zu entlassen.

„Bist du in Ordnung?“, wollte er besorgt wissen. „Kannst du klar sehen?“

„Mit meinen Augen ist alles in Ordnung“, versicherte sie und blinzelte den kläglichen Rest von Benommenheit fort. „Aber das bequeme Anlehnen werde ich mir wohl eine Weile verkneifen müssen.“

„Stell dich hin.“ Er half ihr auf die Füße und musterte sie genau. Zwei Kampfjäger starteten in kurzen Abständen und verbreiteten einen ohrenbetäubenden Lärm, der von den kahlen Wänden immer und immer wieder zurückgeworfen wurde, während zwei weitere die Antriebsaggregate auf Höchsttouren trieben. Die Wände zitterten unter der Druckwelle der Abgasausstöße und den Lasersalven, die immer wieder durch die Öffnung herein preschten. Der Boden bebte. Die Luft roch nach Rauch und verbranntem Schmieröl. „Wir sind dran“, rief er, als die nächsten zwei Jäger in einer Feuerpause in den schwarzen Weltraum rasten, nahm Lenas Hand und zerrte sie mit sich.

„Halt, warte!“ Lena bremste Tchengo und hielt ihn davon ab, die Stufen zu seinem Kampfjäger hinauf zu eilen. „Flieg mit meiner Maschine.“

„Warum? Du bist doch der Staffelcaptain.“

„Ja, richtig“, nickte sie. „Aber wenn die Typen wussten, dass du bei der Staffel bist, werden sie auch wissen, welchen Jäger du fliegst. Nimm meine Maschine.“

„Kommt nicht infrage“, gab Tchengo energisch zurück. „Damit gerätst du unnötig in Gefahr.“

„Ich habe die besseren Noten im Simulator. Erinnere dich. Ich werde schon damit fertig.“

„Auf gar keinen Fall.“ Er machte einige Schritte höher. „Du kannst meinetwegen meinen Schutzengel spielen, aber tauschen werden wir nicht. Und jetzt sollten wir endlich starten, sonst fallen die ganzen Lorbeeren den Anderen zu.“

„Tchengo!“, riefen Lena und Karcho Namarch beinahe gleichzeitig. Sie wand sich um.

„Du bleibst gefälligst hier“, verfügte der Vater mit strengem Blick. „Das ist viel zu gefährlich.“

„Das kommt ebenfalls nicht infrage“, erwiderte Tchengo fest entschlossen. „Ich habe einen Eid geleistet, ein heiliges Versprechen. Ich muss es tun.“

„Tchengo, nein“, rief Karcho, doch sein Sohn hatte bereits die letzten Stufen erklommen und war mit einem Satz in seinen Sitz gesprungen. Er setzte den Helm auf, als wolle er damit einen Schlussstrich unter die Konversation setzen und begann mit dem Aufwärmen der Antriebsaggregate.

Lena eilte zu ihrer Maschine und drückte die notwendigen Knöpfe und Tasten, um ihre Motoren anzuwerfen, während sie sich den Helm überstülpte, die Systeme abcheckte und die Kanzel verschloss. Wenig später raste sie hinter Tchengo in die bereits begonnene Schlacht hinein.

 

* * *

 

Als die letzten beiden Angehörigen der Staffel zur Schlacht trafen, war diese bereits im vollen Gange. Kampfjäger Drei und Vier, Azaron und LoBayy prügelten sich in der Nähe des Yaalotta-Schiffes mit vier Gegnern, während sich Fünf und Sechs, Corttes und Mingg, mit den anderen Vier eine Verfolgungsjagd durch die Weiten des Universums lieferten. Der Koloss spuckte weitere Kampfflieger aus, die im schnellen Tempo näher kamen, um sich in einem breiten Fächer auf die Staffel zu stürzen.

„Hier Eins“, rief Lena in ihr Mikro, das im Helm integriert, dicht vor ihren Lippen hing. „Wie kommt ihr zurecht?“

„Bestens“, gab Azarons Stimme zurück. „Schön, dass ihr euch auch noch blicken lasst.“

„Wir wollen schließlich auch ein paar der Lorbeeren abbekommen“, gab sie spitz zurück.

„Es kommen noch weitere Jäger aus dem Mutterschiff“, berichtete Corttes.

„Die übernehmen wir. Wimmelt ihr inzwischen die anderen ab. Vielleicht könnt ihr näher an das Yaalotta-Schiff herankommen. Ich will nicht, dass es die Party vorschnell verlässt.“

"Das sind zwei weitere Staffeln. Braucht ihr Hilfe?"

"Wir melden uns", gab Lena zurück und überprüfte die Angaben auf ihren Monitoren. Zwei Kampfjäger gegen zwölf wild entschlossene Angreifer, das hatte ihr bereits im Simulator einige Schwierigkeiten bereitet. "Zwei!", rief sie in ihr Mikro. "Wir dürfen uns nicht trennen lassen. Bleib dicht bei mir."

"Zu Befehl", kam es zurück. "Ich schlage vor, wir nehmen sie uns von der Seite vor. Oder hast du einen anderen Vorschlag?"

"Im Moment nicht. Auf mein Kommando scheren wir nach rechts aus.“

„Zu Befehl“, antwortete ihr Flügelmann.

Lena blickte aus dem Sichtfenster. Auf dem Monitor blinkten ihre Ziele bereits als rote Leuchtpunkte, aber durch das Sichtfenster waren sie kaum mit bloßem Auge zu erkennen. Sie schaltete ihre Feuersysteme auf Bereitschaft und überprüfte die Energieladung ihrer Abwehrschilde. Ihr Schiff war, wie auch die übrigen fünf, in einem optimalen Zustand. Die Energiereserven standen auf Voll und die Treibstofftanks schwappten über, wenn sie nicht ein geschlossenes System wären. Lena überprüfte dennoch sämtliche Angaben und nickte sich im Stillen zu. Die Wartezeit bis zu ihrer Ankunft beziehungsweise ihrem Einsatz war ebenfalls optimal genutzt worden.

„Hier Zwei“, meldete sich Tchengo, ihr Flügelmann. „Die feindlichen Staffeln lösen sich in zwei Formationen auf und versuchen uns zu umzingeln. Wenn wir nicht zwischen den beiden Fronten zerrieben werden wollen, sollten wir uns eine Strategie einfallen lassen.“

Lena hatte wahrlich nicht erwartet, dass die Angreifer in einer dicken Traube zusammenbleiben würden. Sie wusste selbst, dass einem das Leben selten etwas freiwillig schenkte. Man musste es sich nehmen, nach eigenen Gutdüngen zurechtbiegen oder das Beste daraus machen. Etwas anderes blieb einem nicht übrig. Sie überprüfte noch einmal die Anzeigen ihrer Instrumente und nahm einen tiefen Atemzug.

„Auf mein Kommando, ein harter Schwenk zwanzig Grad nach rechts“, sagte sie und überflog die Positionen der Leuchtpunkte auf ihrem Strategiemonitor. Die feindliche Armada rot leuchtender Punkte kam schnell näher, und wenn sie nun aus dem Sichtfenster blickte, konnte sie beinahe jeden einzelnen Jäger aus der näher rückenden Wolke erkennen. Noch fünf Sekunden, dann hatten sie sich soweit genähert, dass ein nervöser Finger auf einem Auslöserknopf einen verheerenden Zufallstreffer geben könnte. Mit einem letzten Blick versuchte sie sich die Positionen ihrer eigenen Leute einzuprägen, dann zuckte auch schon der erste Blitz auf sie zu und sie musste ihre gesamte Konzentration für die bevorstehende Schlacht sammeln.

Ein weiterer Blitz zuckte auf sie zu, verfehlte Lenas Formationspartner nur um Haaresbreite.

„Jetzt!“, rief sie und riss den Steuerknüppel herum. Beinahe im selben Moment fluchte sie, denn ihr Flügelmann vollführte eine Kurve, die geradewegs in eine andere Richtung ging. Tchengo hatte, um einem Treffer zu entgehen, eine leichte Kippbewegung ausgeführt, sodass der Laserblitz nur knapp an seinem Tragflügel vorbeischoss. Als Lenas Kommando kam, schwenkte er befehlsgemäß zwanzig Grad nach rechts, bedachte in der Hektik jedoch nicht, dass er noch immer leicht zur Seite gekippt flog, sodass sich die enge Formation nun auflöste und die beiden Schiffe auseinanderstoben. Noch ehe er seinen Fehler rückgängig machen konnte, drängten sich die Angreifer zwischen sie und verhinderten, dass sie sich gegenseitig schützen konnten.

Tchengo drehte seinen Jäger auf den Rücken, flog einen engen Bogen nach links und eröffnete das Feuer auf spontan auf seinem Zielmonitor erscheinende Ziele. Der erste preschte nur knapp über das Cockpit des Angreifers, bohrte sich jedoch geradewegs durch den Bauch eines folgenden Jägers und verwandelte es nur Sekundenbruchteile später in einen orangeroten Feuerball aus explodierendem Sauerstoff und Wrackteilen. Er wendete den Blick ab, um Lena auf dem Monitor zu suchen und fand sie an der Spitze von vier roten Leuchtpunkten, die ihr durch ein unsichtbares Labyrinth folgten.

Lena vollführte komplizierte Ausweichmanöver, Drehungen, schnelle Wendungen, Schraubbewegungen und plötzliche Haken, doch ihre Verfolger wollten sich nicht abschütteln lassen. Eigentlich war es die Aufgabe des Flügelmannes, ihren Rücken freizuhalten, doch da Tchengo nicht an seinem Platz war, musste sie zusehen, wie sie selbst zurechtkam. Aufgrund fehlender Verteidigungsanlagen im Heck ihres Schiffes, blieb ihr nur die Flucht nach vorn. Sie leitete sechzig Prozent ihrer Energie in die Heckschilde, die unter jedem Treffer hell aufflackerten, und bahnte sich einen hartnäckigen Weg durch die Wolke aus Angreifer, die sich ihr wütend und zu allem entschlossen entgegen stellten. Nur einen Atemzug später war sie durch die Wolke hindurch geprescht, noch immer die vier Verfolger auf den Fersen, die sie wie ein Hase auf dem Feld jagten, dann erkannte sie die Strategie der Yaalotta-Piloten. Als sie durch die dichte Wolke aus Kampfjäger flog, hatten nur wenige das Feuer auf sie eröffnet. Die meisten ignorierten sie im Vorbeiflug und schienen sich auf ein anderes Ziel zu konzentrieren.

Lena blickte auf ihren Monitor und entdeckte den einzelnen grünen Leuchtpunkt inmitten einer Traube von roten Punkten und wendete kurzerhand ihr Schiff, um sich ebenfalls ins Getümmel zu werfen. Durch Tchengos Fehler war den Yaalotta ein entscheidender Vorteil geradewegs in den Schoss gefallen. Nun lag es an Lena, ihnen diesen Vorteil wieder abzujagen. Wenn Tchengo nicht ihr Flügelmann sein konnte oder wollte, dann musste sie eben seiner sein.

Ihr Daumen kreiste nur wenige Augenblicke über den Auslöser und ungeachtet ihrer Verfolger, die sich hartnäckig in ihrem Schlepptau befanden, sandte sie eine Mehrfachsalve in die dicke Traube und schickte zwei Jäger in die ewigen Jagdgründe. Getroffen von einem zufälligen Schuss, der sich durch eine Lücke im Schutzschild schummelte, trudelte ein weiterer aus dem Schlachtfeld hinaus. Ein nächster Lichtblitz aus ihrem Trommelfeuer bohrte sich in die Kanzel eines anderen Jägers, worauf dieser zunächst führerlos weiterflog und sich dann in eine Wolke aus Feuer, Wrackteilen und sofort gefrierendem Sauerstoff verwandelte. Tchengos Jäger war umzingelt von Angreifern und er musste in seinem Schutzanzug bereits schweißgebadet sein. Mit einer Schraube und einem Vollschub auf ihre Heckaggregate sprang Lena geradewegs zwischen Tchengos Heck und drei Jägern, die sich hartnäckig an seine Fersen heftet hatten, um die Parteien energisch auseinander zu drängen. Dabei hatte sie selbstverständlich bedacht, dass sie selbst Anhängsel besaß, die jede ihrer Bewegungen mitmachten, als wollten sie sie studieren, oder nur solange in Schach behalten, bis sie begann, Dummheiten zu machen. Ihre Verfolger folgten ihr beinahe auf dem Fuß. Zwei Maschinen prallten chancenlos in ihre Kameraden. Ein weiterer streifte nur knapp den Rücken eines anderen. Der Letzte, noch in der drehenden Bewegung vertieft, schaffte es gerade noch, mit einem harten Haken einer Kollision zu entgehen, vollführte jedoch sofort eine Kurve, um sich wieder der Verfolgung anzuschließen und prallte schließlich mit einem anderen Kollegen zusammen, der ihm entgangen sein musste.

Lena riss ihren Steuerknüppel an sich und heftete sich an Tchengos Tragflügelspitze.

„Was zum Henker, machst du eigentlich?“, rief sie erbost in ihr Mikro. „Wenn du eine bessere Idee hast, dann kläre mich bitte rechtzeitig auf.“ Ihr Daumen hämmerte auf den Auslöser, eine Mehrfachsalve aus ihrem Trommelprojektil bohrte sich durch das Schutzschild eines auf Kollisionskurs herannahenden Jägers und sie musste die Augen schließen, als es sich knapp vor ihrem Sichtfenster in einem grell leuchtenden Feuerball verwandelte.

„Es tut mir leid“, kam es zurück. „Ich war für einen Moment unaufmerksam.“

„Das hätte dir das Leben kosten können.“

„Ich weiß. Danke!“

„Keine Ursache“, gab sie zurück. „Ist dir eigentlich schon etwas aufgefallen?“

Tchengo wich fünf Jägern aus, die sich ihm mit feuernden Rohren näherten, und ließ ihre Salven leer an sich vorbeigehen. Lena folgte dieser Bewegung, betätigte einige Male den Auslöser und schickte drei der fünf vom Spielfeld. Während sich Tchengos Schiff in einer rotierenden Bewegung ausrollte, blieb Lena starr und schoss durch die Tragflächen, um zwei weitere unschädlich zu machen. Tchengo, der nun die anführende Rolle besaß, erledigte selbst ein Yaalotta-Schiff, ehe er die Rotierbewegung mit einem Schwenk beendete und in eine weite Kurve überging.

„Du meinst, dass sie es auf mich abgesehen haben“, erschall es in ihrem Helm. „Das habe ich bereits gemerkt. Vorsicht, Eins! Da nähern sich dir drei Jäger von unten.“

„Sind bereits gesichtet“, gab sie wissend zurück. Ihr Strategiemonitor besaß Augen in alle Richtungen - zumindest solange, wie die Außenkameras noch intakt waren. Die drei, sich von unten heranstehlenden Yaalotta-Piloten hatte sie wohl gesehen, obwohl der Sichtmonitor, der nur ein zweidimensionales Bild erzeugen konnte, sie eher von der Seite annähernd zeigte. Ihre Erfahrungen im Simulator, hatte ihre Sinne jedoch geschärft und sie die Gefahr erkennen lassen.

„Sturzflug und Frontalangriff“, verfügt Tchengo, der nun die Führungsrolle besaß.

„Nein“, widersprach Lena. „Dafür sind sie zu nahe. Wir trennen uns, nach oben und nach unten und nehmen sie in die Mangel.“

„Das ist zu riskant. Immerhin sind wir nicht allein auf dem Schlachtfeld.“ Er raste geradewegs durch einen grellen Feuerball, als einer seiner Treffer einen Yaalotta-Jäger in Weltraumschrott verwandelt hatte.

„Das müssen wir riskieren. Jetzt!“ Sie riss den Steuerknüppel an sich und setzte zu einem harten Steigflug an, während Tchengo sich todesmutig in die Tiefe stürzte, um ihre Ziele zu umrunden und sich in ihren Rücken zu setzen. Geistesgegenwärtig preschten die drei Jäger auseinander, sodass sie ihre Ziele nun einzeln aussuchen musste. Tchengos Kanonen schoss einen der Angreifer die rechte Tragfläche vom Torso, worauf dieser vermutlich für immer in einer Trudelbewegung verfangen blieb, während Lenas Schuss ihr Ziel verfehlte und sich nur knapp hinter ihrem Ziel in Nichts auflöste. Der Dritte hatte sich schlauer aus der Affäre gezogen. Mit einer engen Kurve und einigen kleinen Kurskorrekturen gelang es ihm, Lenas Heck in Zielposition zu bekommen. Ein kleiner Tip auf den Auslöser verwandelte ihre Heckschilde in aufloderndes Feuer, und als sie nur für einen Sekundenbruchteil zusammenbrachen, bohrte sich ein Laserblitz in ihren Rücken, worauf sämtliche Systeme erloschen und sie weder steuern, noch beschleunigen, geschweige denn über Funk Hilfe rufen konnte. Der Laser musste punktgenau ihre Hauptenergieversorgung getroffen und außer Betrieb gesetzt haben. Schnell rückte sie ihre Atemmaske zurecht und hämmerte den Code für die Notenergieversorgung ein. Normalerweise sprang die Notversorgung automatisch ein, doch wenn die Zuleitungen zum Zentralcomputer ebenfalls gekappt worden waren, wusste der entsprechende Chipsatz nichts von Lenas Notlage und sie musste die Eingaben manuell ausführen. Ehe die Leuchten und Monitore wieder aufblinkten, vergingen wertvolle Sekunden, die ein anderer Jäger dazu benutzte, ihre nun ungeschützte Flanke zu beschießen - da auch mit dem abgestürzten Bordcomputer auch ihre Schilde ins Nirwana gewandert waren - und ihre Seitenstabilisatoren in geschmolzenes Metall zu verwandeln. Sie fluchte, rüttelte am Steuerknüppel, erhielt jedoch keinerlei Rückmeldungen mehr von ihren Seitentriebwerken. In ihrem Helm war Funkstille eingetreten, als die Hauptstromversorgung versiegt war, und keimte nicht mehr wieder auf, nachdem die Notversorgung die überlebenswichtigen Geräte mit Strom versorgte. Offenbar war auch die Funkanlage hinüber.

Mit einem flüchtigen Blick sah Lena zum Sichtfenster hinaus. Dort wo sich eine dicke Beule an ihrem Tragflügel hätte befinden sollen, erkannte sie nur noch ein undefinierbares Gebilde, das man glatt für abstrakte Kunst hätte halten können. Seitentriebwerke und Funkanlage bildeten eine in einer bizarren Form erstarrte Schlacke. Sie fluchte abermals.

„Drei und Vier stehen zur Verfügung“, hörte Tchengo Azarons Stimme in seinem Helm. „Braucht ihr Hilfe?“

„Bewegt euren Hintern hierher“, befahl er barsch, riss den Steuerknüppel herum und blickte aus dem Sichtfenster. Mit einem stillen Aufschrei in seinem Inneren hatte er das plötzliche Erlöschen des grünen Punktes miterleben müssen, welcher bislang als Symbol für Lenas Jäger gestanden hatte. Mit zu engen Schlitzen zusammengekniffenen Augen suchte er Lenas Schiff im dem Wirrwarr durcheinander fliegender Schiffe. Es hatte mit dem Erlöschen des Leuchtpunktes keine Explosion gegeben, demnach musste der Jäger noch existieren, aber offensichtlich außer Funktion sein.

„Fünf und Sechs folgen ebenfalls“, tönte Minggs Stimme in seinem Helm. „Aber ich kann die Eins nicht entdecken.“

„Sucht sie, Fünf und Sechs. Ich bin zu beschäftigt dafür.“ Er musste den Steuerknüppel hart herumreißen, um nicht geradewegs in einen Feuerstrahl zu rasen. Noch in seinem scharfen Schwenk betätigte er selbst den Auslöser und traf den Schützen am Bug. Die Lasersalve wurde jedoch von dessen Schutzschild abgelenkt und verging in der energiegeladenen Außenhülle in einem farbenfrohen Wetterleuchten. „Außerdem wäre ich sehr dankbar für etwas rasche Hilfe“, fügte er schnell hinzu.

„Drei und Vier sind zur Stelle“, kam es zurück und beinahe zeitgleich detonierte der Yaalotta-Jäger in einem Feuerball. „Eigentlich finde ich das etwas unfair. Während wir uns mit Kleinkram abgeben dürfen, spielst du das richtig große Spiel.“

„Für ein Spiel halte ich das wahrlich nicht. Die haben es auf mich abgesehen.“ Tchengo tauchte blitzschnell nach unten ab, als sich ein Verfolger an seine Fersen heftete und ihn bereits in seinem Visierkreuz besaß. Ein Alarm ließ Tchengo rechtzeitig handeln und flüchtete aus der Zielpeilung, noch ehe der Schütze die Koordinaten festhalten konnte. Er vollführte eine Drehung nach links, riss seinen Jäger in einem harten Steigflug hoch und ließ ihn nach wenigen Sekunden wieder abschmieren, wobei er leichten Schub auf die Seitenstabilisatoren gab und damit sein Schiff in eine Drehbewegung versetzte, doch sein Verfolger blieb hartnäckig an seinem Heck kleben.

Ein zweiter folgte dessen Beispiel und flog beinahe Flügelspitze an Flügelspitze hinter Tchengo her, während ein Dritter von der Seite heranpreschte und Tchengos Flanke mit stetigen Salven eindeckte. Tchengo hatte alle Hände voll zu tun, sich aus dieser Misere herauszuwinden, und wenn nicht einer seiner Staffelkameraden einen der Verfolger ausgebremst und abgedrängt hätte, hätte es böse für ihn ausgehen können.

„Ich habe Eins gefunden“, tönte Laii Minggs Stimme aus Tchengos Helm. „Sie schießt im vollem Schub auf den Planeten zu. Ihre Hecktriebwerke sehen beschädigt aus. Ihre Funkanlage ist ebenfalls zerstört. Offenbar besitzt sie keine Kontrolle mehr über ihren Jäger.“

„Bleib an ihr dran“, befahl Tchengo. „Verliere sie nicht aus den Augen.“

„Ay, ay, Sir“, gab Mingg zackig von sich.

„Sechs, komm her und hilf mir, diese Schmeißfliegen loszuwerden.“

„Mit Vergnügen, Zwei“, kam es von Corttes zurück. „Sonst noch einen Wunsch?“

„Was macht das Yaalotta-Schiff?“, erkundigte sich Tchengo.

„So wie es aussieht, versucht es abzuhauen. Wir sind zu wenig, um es aufhalten zu können.“

„Es hätte sich gut in meiner Akte gemacht. Aber was soll’s. Versuchen wir erst einmal mein Leben zu retten.“

„Zu Befehl, Zwei“, ertönte Corttes Stimme und im selben Moment raste ein Spiegelbild von Tchengos Jäger an seinem Sichtfenster vorbei, die Yaalotta-Jäger aus rotierenden Bugkanonen beschießend und mit einer eleganten Drehbewegung, sodass er gleich hinter Tchengo abrollen und, einem ausweichendem feindlichen Jäger folgen konnte.

„Hier Fünf“, meldete sich Laii Mingg zu Wort. „Eins rast der Atmosphäre entgegen. Kontakt in ungefähr fünf Minuten. Sie wird verglühen, wenn sie nicht abbremst. Soll ich versuchen, die Geschwindigkeit mit meinem Traktorstrahl zu dämpfen?“

„Negativ“, gab Tchengo zurück. „Wenn der Fangstrahl nicht richtig sitzt, reißt es euch beide in den Abgrund. Lena ist eine gute Pilotin. Sie wird damit schon zurecht kommen. Sieh du nur zu, dass du sie nicht verlierst.“

„Okay!“

„Hey, das ist unfair!“, rief Corttes erzürnt. „Ich bin doch gerade erst angekommen. Warum ziehen die schon wieder ab?“

Tchengo blickte erst durchs Sichtfenster, dann auf seinen Strategiemonitor und bemerkte lächelnd, dass sich die Yaalotta-Jäger zu einer Formation zusammenrotteten und zurückzogen. Offensichtlich hatte das Mutterschiff die verbliebenen Jagdpiloten zurückgepfiffen, bevor es zum Sprung in den Hyperraum ansetzte.

„Drei und Vier, seht zu, ob ihr es verfolgen könnt“, verfügte Tchengo augenblicklich. „Sechs, du kehrst zum Frachter zurück.“

„Was hast du vor?“, wollte Azaron wissen.

„Ich versuche, unsere Staffelführerin zu retten“, erklärte Tchengo. „Wir bleiben in Kontakt. Der Frachter soll auf jeden Fall in der Nähe bleiben, so sehr die Termine unseres Passagiers auch drängen, verstanden?“

„Verstanden“, erwiderte Corttes. „Viel Glück!“

„Danke!“ Tchengo legte den Steuerknüppel auf die Seite und steuerte geradewegs auf den Planeten zu. „Fünf, kannst du mich hören?“

„Hier Fünf, laut und deutlich. Obwohl es allmählich etwas ungemütlich wird. Ich befinde mich in Sichtweite hinter Eins, die bereits in die oberen Schichten der Atmosphäre eingetaucht ist.“

„Wie macht sie sich?“

„Bis jetzt noch vorschriftsmäßig“, kam es zurück.

„Gib mir die Koordinaten, dann kehrst du zum Frachter zurück.“

„Auf keinen Fall.“

„Was auf keinen Fall?“

„Mich schickst du nicht weg.“

„Corttes braucht einen Partner.“

„Corttes kommt schon allein zurecht“, wusste sie. „Ich werde mich auf jeden Fall nicht einmal mit Gewalt in die Höhle des Löwen begeben und zu einem Mann zurückkehren, der mein Leben in Schutt und Asche verwandelt hat. Außerdem sehen vier Augen immer noch mehr als zwei. Ich könnte es niemals mit meinem Gewissen vereinbaren, jenes Wesen im Stich zu lassen, nach welchem sich dein Herz verzehrt.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Du solltest mich besser kennen, mein Lieber. Ich kenne auch nach all den Jahren, in denen wir uns aus den Augen verloren haben, noch jenen bestimmten Gesichtsausdruck, mit dem du mich stets bedacht hattest. Du kannst mir nichts vormachen, Tchengo.“

Für einen Moment herrschte Schweigen.

„Sie hat keinen Schimmer, richtig?“, erriet Laii Mingg. „Du solltest es ihr sagen.“

„Das hatte ich bereits versucht, doch ich denke, dass sie es nicht richtig begriffen hat.“

„Oh, Mann“, stöhnte Laii. „Oh je“, kam es schnell hinterher. „Sie trudelt zur Seite. Offensichtlich sind die Seitenruder außer Funktion. Bei der Geschwindigkeit wird es nicht lange dauern, bis die Außenhülle durchgeschmolzen ist.“

„Vielleicht solltest du es doch mit deinem Traktorstrahl versuchen, um sie wenigstens wieder in die richtige Position zu bringen“, schlug Tchengo vor und tippte einige Anfragen in seinen Computer. Sein Auge konnte die beiden Jäger noch nicht ausmachen, doch seine Scanner hatten die beiden als leuchtende Punkte erfaßt.

„Negativ“, kam es leicht mit Störgeräuschen vermischt zurück. „Die Reibung ist zu stark. Ich kann keine effektiven Berechnungen anstellen.“ Gegen Ende wurde ihre Stimme immer leiser und ihre letzten Worte gingen gänzlich im Rauschen der Störgeräusche unter.

„Fünf, hörst du mich?“, rief Tchengo besorgt in sein Mikro. „Fünf!“

„Ich höre dich“, vernahm er Laii Minggs Stimme, zwischen lautem Rauschen und quietschenden Rückkopplungen. Er blickte angestrengt aus dem Sichtfenster und entdeckte vor sich zwei winzige silberne Punkte. „Hat sie dich gesehen? Weiß sie, dass du in der Nähe bist?“

„Ich denke schon. Aber ihr wird halt keine Zeit zum Winken bleiben. Ihre Maschine kippt immer mehr zur Seite. Ich kann höchstens versuchen, sie mit dem Tragflügel zurechtzurücken.“

„Keine Experimente, Fünf.“

„Soll ich sie nun retten, oder nicht?“

„Ja!“, gab Tchengo nach einem kurzen Augenblick der Überlegung von sich. Er hatte nicht darüber nachgedacht, ob er Lena zugunsten Laii Minggs Leben opfern sollte, sondern ob Laiis Manöver unter günstigen Umständen Erfolg haben könnte. So etwas hatte er auch schon mal im Simulator gemacht. Von fünf mal war es vier mal daneben gegangen. Die Maschine, die er umzudrehen oder aufzurichten versuchte, war jedesmal in ein Luftloch geraten oder hatte plötzlich die Kontrolle über die Steuerung verloren oder war von einer plötzlichen heftigen Böe hinfort gewischt worden. Viermal war er ebenfalls abgestürzt. Bei dem einem glücklichen Versuch, hatte er die Windverhältnisse besser im Auge behalten und eher auf einen plötzlichen Wechsel der Ereignisse reagieren können.

„Achte auf Luftlöcher oder Wind“, riet er.

„Ich mach das schon“, gab Laii angestrengt von sich.

Er tauchte selbst in die Atmosphäre ein und musste seine Aufmerksamkeit für einige Augenblicke lang auf seine eigenen Aktivitäten konzentrieren. Sein Jäger wurde durchgerüttelt. Der Knüppel in seinen Händen begann immer stärker, zu vibrieren. Unter normalen Umständen hätte er rechtzeitig soweit abbremsen müssen, dass der Luftwiderstand gering genug war, um Vibrationen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der derzeitige Umstand verlangte jedoch, dass er Laii und Lena einholte und sie nicht aus den Augen verlor. Auch eine solche Situation war im Simulator immer wieder geübt worden, sodass es für ihn keine Schwierigkeiten bedeutete.

„Wie sieht es aus?“, wollte er wissen, als die Vibrationen abnahmen und er seine Geschwindigkeit immer mehr drosselte.

„Bis jetzt einigermaßen stabil. Ich frage mich nur, wie lange das Material aushält. Oh, oh!“

„Was ist?“

„Das Material hält es nicht mehr länger aus. Mein Seitenruder hat etwas abbekommen. Ich muss einen Abstand wahren, sonst ramme ich sie noch. Ihr Sinkflug entspricht nicht ganz der Vorschrift, etwas zu forsch. Aber wenn keine weiteren Probleme auftauchen, müsste sie es bis zum Boden schaffen, ohne über einige Kilometer weit über das Terrain verteilt zu sein.“

„Ich befinde mich noch knapp zweihundert Kilometer hinter euch. Bleibe bei ihr, bis ich herangekommen bin.“

„Es ist ziemlich stürmisch hier. Oh, nein!“

„Was?“

„Eine Böe hat sie erwischt und ihren Jäger auf die Seite gekippt.“

„Sie muss aussteigen. Mach ihr begreiflich, dass sie aussteigen soll.“

„Sie ist noch zu hoch zum Aussteigen. Sie wird auseinanderplatzen wie ein alter Hochdruckkessel.“

„Sie trägt einen Druckanzug. Der müsste sie selbst bei einem Ausstieg im Vakuum am Leben erhalten. Sie muss unbedingt aussteigen.“

„Sie wird das sicherlich selbst wissen. Sonst wäre sie bestimmt längst ausgestiegen. Offenbar funktioniert der Katapultsitz nicht.“

„Ich bin gleich bei euch.“

 

Lena nahm die Hände vom Steuerknüppel und schlug sie vor ihr Gesicht. Es war vollkommen gleichgültig, ob sie versuchte, das störrische Ruder zum Gehorsam zu zwingen, oder den Jäger sich selbst überließ. Insgeheim hatte sie sich bereits abgeschrieben: Als sämtliche Systeme ausfielen und selbst die Notversorgung nur zögerlich ansprang – als sie zwei weitere Treffer in ihr ungeschütztes Heck einstecken musste und als einer der Yaalotta-Jäger auf Kollisionskurs auf sie zukam und sie mit seinem breiten Bauch rammte, wovon die Pilotenkanzel einen Riss von der linken vorderen Ecke bis zum rechten hinteren Ende davontrug – als sie mit einem gewaltigen Ruck in die Atmosphäre eintrat und feststellen musste, dass keine ihrer Instrumente funktionierte, nicht einmal die Steuerung – als eine heftige Böe sie einfach zur Seite warf und sie nun so schwerfällig und plump, wie ein Stein der Oberfläche des Planeten entgegen fiel.

Die Nähe eines Staffelkollegen hatte sie für eine Zeit lang Hoffnung aufkeimen lassen. Doch was hätte dieser Kollege - wer auch immer das war - auch tun können. Lenas Jäger besaß zu viel Schub, als dass ein Fangstrahl sie einfangen und den Absturz auf den Planeten hätte verhindern können. Der letzte Treffer in ihr Heck hatte offenbar ihre Schubaggregate aktiviert, welche sich aufgrund des fehlenden Leitstromes und der durchgetrennten Kabelverbindungen nicht mehr abstellen ließ. Dass ihr noch vor dem Eintritt in die Atmosphäre der Treibstoff ausgehen würde, war ebenso unwahrscheinlich, wie der wage Gedanke, dass von irgendwo her ein Rettungsengel kam und sie aus ihrer Misere half. Zunächst hatte sie den Staffelkollegen für den ersehnten Rettungsengel gehalten, doch als dieser untätig neben ihr herflog und sie nur beobachtete, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Auch als der Kollege versuchte, sie mittels dezenter Antippversuche mit seinen Tragflächen in die richtige Position zu bringen, ließ die Hoffnung auf einen Retter nicht mehr aufkeimen. Lena wusste, dass sie abstürzen würde. Sie besaß keinerlei Kontrolle über ihren Jäger. So heftig sie auch an den Kontrollen rüttelte und auf die Instrumente hämmerte, kein Einziges wollte sich an seine ursprüngliche Funktion erinnern und seinen Dienst wieder antreten - nicht einmal die Sprengkapsel für das Absprengen des Kanzeldaches, damit sie sich mit dem Katapultsitz in Sicherheit bringen konnte.

Ihre Hände pressten sich auf ihr Gesicht, als ihr Schiff immer heftiger herumwirbelte und ihr Magen begann, gegen die ständig wechselnden Andruckkräfte zu rebellieren. Es war vollkommen gleichgültig, ob sie nun mit den Händen vor dem Gesicht starb, oder ihrem Schicksal mutig ins Gesicht sah. In Anbetracht ihrer prekären Lage musste sie sich eingestehen, dass sie nicht mutig genug war, ihrem nahen Tod ins Auge zu sehen.

Noch ehe sie ihren letzten Gedanken zu Ende formuliert hatte, gab es einen gewaltigen Schlag, der sie hart gegen das Cockpit zu ihrer linken schleuderte. Metall knirschte hart auf Metall und verursachte dabei ein markerschütterndes quietschendes Geräusch.

Lena nahm die Hände von ihrem Gesicht und blickte sich vorsichtig um. Zunächst dachte sie, dass sie gegen einen Flugkörper geprallt war, dem sie aufgrund der fehlenden Steuerung nicht ausweichen konnte und aufgrund der Hände vor ihren Augen nicht gesehen haben konnte, und welcher ebenfalls vollkommen überrascht des fliegenden Objektes gewesen sein musste, das unversehens vom Himmel stürzte. Sie blickte aus dem Sichtfenster und konnte außer Wolkenfetzen und tief blauem Himmel nichts erkennen. Dennoch war sie getroffen worden. Die Rotation ihres Schiffes wurde langsamer, während es allmählich einen flacheren Winkel zur Oberfläche ansetzte. Sie fragte sich, wie das vonstatten gehen konnte, da ihre Hände weder den Steuerknüppel berührten, noch irgendein Computerprogramm lief, geschweige denn der Autopilot sich selbsttätig eingeschaltet haben konnte. Da hörte sie rhythmisches Klopfen unter ihren Füßen und erkannte sie sofort als Morsezeichen.

Für einen Augenblick erstarrte sie, dann reckte sie sich und drückte ihre Nase - so gut es mit der Atemmaske ging - an das Kanzelglas. Sie musste laut lachen, als sie die Flügelspitzen eines Jägers entdeckte, der sich bäuchlings an das führerlose Schiff festgesaugt hatte und nun sozusagen die Funktion des Autopiloten übernahm. Auf der anderen Seite, in ihrer unmittelbaren Nähe, nur knapp fünf Meter von ihr entfernt, also auf Sichtweite - ein riskantes Manöver aufgrund der Windverhältnisse - hielt sich tapfer ihr Staffelkollege und versuchte ihr mit Handzeichen Anweisungen zu geben. Lena erkannte in dem Piloten Laii Mingg und biss auf die Lippen.

Die Morsezeichen bedeuteten ihr, dass sie den Ausstieg benutzen sollte. Sie blickte sich um und konnte nichts entdecken, was sie zum Hämmern benutzen konnte. Also versuchte sie Laii begreiflich zu machen, dass dies unmöglich sei, da die Sprengkapsel außer Funktion war.

Dann folgte eine lange Reihe von Klopfzeichen und Lena schüttelte den Kopf. Das, was der waghalsige Pilot des anderen Jägers vorhatte, war glatter Wahnsinn. Er wollte sie beide - Lenas Schiff als Last an seinem Traktorstrahl - bis beinahe auf den Boden bringen und sie ausklinken, wenn Lena zu einer Notlandung ansetzen konnte. Das Risiko dabei war, dass der andere Jäger dabei die ganze Zeit auf dem Rücken fliegen musste. Selbst wenn er knapp über die Oberfläche jagte, um einen geeigneten Platz zu suchen, auf welchem er einigermaßen getrost Lenas führerloses Schiff von den Kräften des Luftwiderstandes, der Trägheit, des Zufalls und des Glücks leitend zu einer Notlandung bringen lassen konnte. Ein weit größeres Risiko konnten die unbekannten Bodenverhältnisse darstellen; Vorsprünge, Felsen, sogar hohe Bäume, konnten sich ihnen in den Weg stellen. Auf dem Rücken fliegend, sah die Umgebung außerhalb des Sichtfensters gänzlich anders aus und das Auge ließ sich leicht über Entfernungen und Gegebenheiten täuschen.

Lena schüttelte heftig den Kopf und winkte mit beiden Händen zum Sichtfenster hinaus, wo noch immer Laii Mingg an ihrer Seite flog. Wer auch immer der waghalsige Pilot war, der sie vor dem magenumstülpenden Absturz bewahrt hatte, ein solcher Flug, wie er ihn vorhatte, würde für beide ein zu großes Risiko darstellen. Laii hob ihr den gestreckten Daumen entgegen, ehe sie abdrehte und aus dem Sichtfeld verschwand. Offenbar war der zweite Pilot zu allem entschlossen.

 

„Lena scheint von deiner Idee nicht sonderlich begeistert zu sein“, sagte Laii in ihr Mikro und besah sich die beiden Schiffe mit deutlicher Skepsis. „Bist du dir wirklich sicher? Ich meine, das ist äußerst riskant. Du müsstest ziemlich nahe über den Boden fliegen, damit ihr Jäger nach dem Ausklinken auf dem Bauch aufsetzen kann. Jedoch könnte jeder Meter mehr Bodenabstand den Jäger umkippen.“

„Was bleibt uns für eine andere Wahl?“, kam es zurück. „Anstatt meine Rettungsmaßnahme noch zu kritisieren, könntest du dich vielleicht nach einem geeigneten Gelände umsehen.“

„Dieses Rettungsmanöver ist eigentlich nur für den Weltraum gedacht“, wusste Laii. „Hast du es schon einmal in Atmosphäre durchgeführt?“

„Ja“, kam es zurück. „Einmal, im Simulator.“

„Und? Hat es funktioniert?“

„Nein. Wir sind beide abgestürzt. Weil ich einen Funkmast übersah. Das hat mich über zweihundert Punkte gekostet.“

„Und du denkst, du könntest hier die Punkte wieder aufholen?“ Laiis Stimme klang anklagend.

„Hast du schon ein geeignetes Gelände gefunden?“, gab er erbost und genervt von sich.

„Habe ich. Zweihundert Meilen in südlicher Richtung liegt ein breites Sumpffeld, das nach örtlichen Angaben eine geringe Tiefe von höchstens einen halben Meter besitzt. Das wäre ideal.“

„Okay, nehmen wir. Führe mich - und“, fügte er schnell an, verstummte jedoch sogleich.

„Was und?“

„Und warne mich bitte vor Funkmastantennen.“

„Geht in Ordnung. Wenn sie mir bitte folgen würden, Sir.“

Laii drehte ihren Jäger nach rechts ab, platzierte sich leicht unterhalb des merkwürdigen Fluggespannes und übernahm die Führung. Nach ein paar Minuten erreichten sie eine weitreichende Ebene, auf der niedriges Sumpfgras im seichten Wind tanzte, sodass die Masse der Grasspitzen wie die Oberfläche eines dunkelgrünen Meeres wirkte. Windböen zauberten wellenförmige Muster auf die Oberfläche und täuschten so Strömungen und heftigen Seegang vor. Doch wenn man so knapp darüber hinweg flog, fegte die Bugwelle, die die dahinbrausenden Jagdmaschinen verursachten heftige Strudel und Flutwellen und man konnte durch das durchgerüttelte Gras hin und wieder den schwarzen Sumpfboden erkennen.

„Entspricht das deinen Vorstellungen?“, wollte Laii wissen.

„Ist in Ordnung. Ich klinke aus. Versuche du sie im Auge zu behalten. Ich muss mich erst wieder aufrichten.“

„Geht in Ordnung. Bereit für ausklinken.“

„Ist ausgeklinkt“, kam es zurück. Während das auf dem Bauch fliegende Schiff geradeaus weiter flog, vollführte das darunter fliegende Schiff auf dem Rücken liegend eine leichte Kurve nach links, ehe der Pilot den Steuerknüppel an sich zog und seine Maschinen in den Sturzflug, beziehungsweise in den Steigflug brachte. Noch während er an Höhe gewann, versuchte er sich wieder in die richtige Position zu drehen, unterschätzte dabei jedoch den gewonnen Abstand zum Boden und streifte mit den äußeren Flügelspitzen das Sumpfgelände. Die Wende wurde abrupt abgebremst. Dadurch entriss es Tchengo den Steuerknüppel, und ehe er ihn sich wieder angeln konnte, klatschte der Jäger mit dem Rücken nach unten hart auf den Sumpfboden. Riesige Fontänen aus Morast und herausgerissenen Sumpfpflanzen stieben wie Flutwellen nach allen Seiten davon, als der Jäger noch einige hundert Meter weiterschlidderte. Das Plastahlkuppeldach knirschte und ächzte unter dem Druck, hielt der Belastung jedoch stand. Vom Schwung stetig weiter getrieben, richtete sich die Maschine wieder auf, bohrte seine Nase tief in den schwarzen Morast und klatschte nun bäuchlings auf, wo es nach einigen weiteren Metern über das Sumpfgras schlitternd endgültig zum halten kam.

Tchengo hatte noch, als er mit dem Kopf voran in den Sumpf klatschte, die Hände schützend über den Kopf geschlagen und war in dieser Stellung verharrt. Er wusste selbst, dass ein Rütteln und Zerren an den Kontrollen nichts gebracht hätte - ganz im Gegenteil. Er hätte sich womöglich noch Prellungen und Abschürfungen geholt, wenn er versucht hätte, sich an irgendwelchen starren Teilen festzuhalten.

„Tchengo!“, rief es in sein Helmkommsystem. „Noch alles dran an dir?“

„An mir schon“, gab er zurück, noch während er seine Knochen abtastete. „Wie die Maschine aussieht, sehe ich mir lieber nicht an.“

„Mir kannst du die Schuld nicht geben. Da war kein Antennenmast.“

„Ich weiß. Ich habe mich nur etwas verrechnet. Was macht Lena?“

„So ungefähr dasselbe wie du. Sie kam mit dem Bauch auf, drehte sich einige Male um ihre Achse und bohrte schließlich ihre Nase in den Dreck.“

Tchengo schnallte sich aus dem Sitz und hämmerte gegen das Kanzeldach, um die verklemmte Mechanik etwas zu lockern. Als dies nicht fruchtete, zündete er die Sprengkapsel zum Absprengen des Daches. Es gab ein ohrenbetäubendes Zischen, dann einen eben solchen Knall und die Plastahlkuppel flog mehrere Hundert Meter in die Luft. Dann erst konnte er aus dem Cockpit kriechen.

„Du wirst ein ganzes Jahr keinen Sold mehr bekommen, um den Schaden, den du da angerichtet hast, wenigstens einigermaßen wieder auszugleichen“, sagte Laii in sein Helmkom.

„Kannst du Verbindung mit dem Frachter aufnehmen?“, wollte Tchengo wissen, während er über die Cockpit-Instrumente auf die Nase seines Jägers kletterte. Dabei musste er äußerst vorsichtig vorgehen, denn die gesamte Oberfläche war nahezu einbalsamiert mit Morast, schlierigen Sumpfgräsern und schlackigem Wasser, das nun an sämtlichen heilgebliebenen oder durch den Aufprall verbogenen Vorsprüngen schmatzend abtropfte.

„Leider nein“, erwiderte Laii nach einer Weile. Ihr Jäger schwebte einige Meter von Tchengo entfernt in der Luft, als harrte er einfach der Dinge, als wartete er geduldig auf weitere Kommandos. „Ich empfange nur Störgeräusche.“

„Dann kehre zum Frachter zurück und ordere ein Bergungsteam an.“ Er rutschte über die Nase ab und versank augenblicklich bis zur Hüfte in Sumpfgras und Morast. Seine Füße standen auf schlüpfrigen, aber festem Untergrund und er begann sogleich sich zu Lena vorzuarbeiten, die einige hundert Meter von ihm entfernt lag. Sie hatte sich bislang weder gerührt, noch durch Klopfzeichen bemerkbar gemacht, oder die Kanzel abgesprengt. Er befürchtete, dass sie durch die Wucht des Aufpralles ohnmächtig geworden war und daher kein Lebenszeichen von sich geben konnte. Sie könnte sich aber auch den Kopf gestoßen, bewusstlos sein und dringend Hilfe benötigen. Ein Grund mehr, sich zu beeilen.

Laii schwebte hinter ihm her, als er sich einen Weg durch das hüfthohe Sumpfgras zu Lenas Jäger bahnte. Obgleich er ihr befohlen hatte, Hilfe zu holen, akzeptierte er ihr Zögern. Bevor sie zum Frachter zurückflog, wollte sie noch erfahren, wie es um Lena stand. Gegebenenfalls musste sie auf dem Rückweg ein Sanitätsteam oder gar einen Leichensack mitbringen. Von ihrem Cockpit aus beobachtete sie, wie Tchengo auf die schlüpfrige Oberfläche des nach vorn gebogenen Tragflügels kletterte. Der vordere Teil des Flügels bestand nur noch aus einem Brocken Metalles, das unter dem Laserbeschuss dahin geschmolzen war wie Wachs. Der Llomenas musste die Verriegelung des Kanzeldaches manuell entsichern. Dafür musste er erst einmal eine fingerdicke Schicht Dreck abkratzen, eine Luke öffnen und einen Hebel ziehen, worauf das Plastahldach einen Spalt breit aufsprang. Schnell riss er das Kanzeldach auf und kletterte halb ins Cockpit, um die bewusstlose Pilotin zu untersuchen. Dann drehte er sich nach dem schwebenden Jäger um und hielt ihr den gestreckten Daumen entgegen.

„Sie ist am Leben. Keine sichtbaren Verletzungen“, berichtete Tchengo per internes Komm. „Es wäre aber trotzdem nicht schlecht, wenn du dich beeilen würdest.“

„Wenn ich nicht in den Feierabendverkehr gerate, könnte ich in vier Stunden zurück sein.“

„Flieg endlich los, Laii!“

„Okay. Bis später.“ Sie wendete ihren Flieger und brauste geradewegs in den hellblauen Himmel davon. Wenige Minuten später waren die beiden allein.

Tchengo nahm einen tiefen Atemzug, nahm den Helm ab, den er nur noch aufbehalten hatte, um mit Laii in Verbindung zu bleiben und öffnete die Schnallen an Lenas Sauerstoffdruckmaske. Mit einem Zischen löste sie sich von ihrem Helm und gab den Blick auf die scheinbar schlafende Pilotin frei.

„Lena!“, rief Tchengo sie bedacht an, doch die junge Frau antwortete nicht. „Lena!“ Er hob seine Stimme leicht an, doch auch dies entriss Lena nicht ihrem unfreiwilligen Traumland. Nun schüttelte er sie sanft und rief unentwegt ihren Namen. Nur zögerlich kam sie schließlich wieder zu sich.

„Bin ich im Himmel oder in der Hölle?“, fragte sie mit schwerer Zunge, als sie das bekannte Gesicht von Tchengo vor dem ihren entdeckte.

„Es kommt ganz darauf an, für was du mich hältst“, erwiderte er amüsiert und erleichtert und half ihr dabei, den Helm abzunehmen. „Wir sind am Boden, wenn auch nicht ganz heilen Bleches, aber wir sind am Boden - und wir leben.“

„Ich eigne mich nicht als Staffelführerin. Ich habe gänzlich versagt.“

„Und ich weiß, warum ich niemals Staffelführer geworden wäre. Ich habe mich zweimal kurz hintereinander gründlich verkalkuliert.“

Lena blickte ihn verwundert an. „Zweimal?“

„Das erste Mal, weißt du ja. Und das zweite Mal ...“ Er drehte sich leicht um und deutete mit dem Daumen auf das Wrack seines eigenen Jägers. „Es fehlte nur ein halber Meter. Ich dachte, es genügt für eine Rolle zurück in die Standardposition. Aber dann bin ich mit der Flügelspitze in den Boden eingetaucht."

Mit einem erschrockenen Blick betrachtete sie das Bild der Verwüstung, das Tchengos Absturz im Sumpfgelände hinterlassen hatte und das Wrack, dessen Oberfläche wie zu einem Schlammbad einbalsamiert war und dessen eine Tragfläche in einem unnatürlichen Winkel am Torso in die Luft hinausragte.

„Und was jetzt?“, erkundigte sie sich besorgt.

„Laii ist unterwegs, um Hilfe zu holen“, beruhigte er sie. „Die wird in frühestens vier Stunden eintreffen. Wir sollten, trotz der Gefahr einer Treibstoffentzündung in der Nähe der Wracks bleiben.“

„Dachtest du, ich würde in der Zwischenzeit auf eine Sight-Seeing-Tour gehen?“

„Nein!“ Er räusperte sich. Für einen Moment hatte er vergessen, dass Lena die Führung besaß. Seine Rolle in der Rettungsaktion und die Initiative, die er spontan ergriffen hatte, ließen es ihm allzu leicht vergessen. „Ich ...“ Er verstummte. „Eigentlich wollte ich damit sagen, dass ich keine Ahnung besitze, wo wir uns befinden. Ich weiß nicht, wie der Planet heißt und ob dieser Platz, dieses Sumpfgelände hier, irgendwelche Gefahren birgt. Laii hat mich hierher gelotst.“

„Sie muss die Auskunftskarten ihres Informationscomputers benutzt haben“, wusste Lena und blickte sich um, bevor sie zu Tchengo zurückkehrte. „Wie ging es aus?“, erkundigte sie sich interessiert.

„Wir konnten noch die meisten erledigt, bevor sie sich zurückzogen“, erklärte er. „Azaron und LoBayy hefteten sich an die Fersen der Yaalotta-Schiffes. Ich weiß nicht, wie weit sie gekommen sind. Corttes versucht, meinen Vater zu besänftigen, während Laii und ich versuchten, dich einigermaßen heil auf Grund zu setzen.“

„Dann bist du dieser Wahnsinnsknabe gewesen, der mich an seinem Bauch hier runter brachte.“

„Leichtsinnsknabe wäre eine treffendere Bezeichnung.“

„Aber es hat funktioniert - wenn auch mit einem Haufen Schrott - aber wie sagtest du vorhin? Wir sind am Boden und wir leben.“

Tchengo versuchte sich in einem milden Lächeln. Dabei setzte er wieder jenen Gesichtsausdruck auf, der Lena schon einige Male aufgefallen war. Sie wandte den Blick von ihm ab und ließ ihn über die Ebene gleiten.

„Wir sind am Boden und wir leben“, wiederholte sie - diesmal etwas melancholischer. „Dass gleich mein erster offizieller Einsatz in einem solchen Fiasko endet, hätte ich niemals erwartet. Ich sollte mein Rücktrittsgesuch einreichen. Ich eigne mich nicht als Kämpferin.“

„Vorhin während des Kampfes erhielt ich einen anderen Eindruck. Du hast dich ganz schon verbissen zu mir durchgekämpft und den Fehler, den ich begangen hatte, wieder ausgebügelt.“

„Mag sein“, pflichtete sie ihm nickend bei. „Aber lange konnte ich es nicht durchhalten. Die erste Tücke des Feindes erwischte mich eiskalt und warf mich aus dem Rennen.“

„So schlimm würde ich es nicht sehen. Wenn du nicht so eisern gewesen wärst, müsste mein Vater einen Nachkommen betrauern.“

„Apropos“, fiel ihr plötzlich ein. „Was war das mit dem Piepser? Tragt ihr alle dieses Ding?“

Tchengos Hand glitt an seine Brust, wo er den verräterischen Piepser unter seiner Uniform verbergen musste. Er nickte traurig und verkrampfte seine Hand zu einer Faust. „Ich verspüre das große Verlangen, es ihm vor die Füße zu werfen“, sagte er schließlich, mit einem Hauch von Verärgerung und Verbissenheit. Er öffnete die Uniform ein wenig und zog ein Amulett an einer Kette hervor. Jenes Amulett, das er den verdutzten Wachen auf Mandereth gezeigt hatte, nachdem ihre Fähre von ihnen abgeschossen worden war. „Ich redete mir bislang ein, es sei ein Symbol des Vertrauens und der Zugehörigkeit. Aber das war es nie gewesen. Mein Vater denkt manchmal - das heißt oft - besser gesagt eigentlich immer - etwas eigensinnig, fast schon kompromisslos. Er denkt nicht darüber nach, welchen Schaden sein Handeln bei anderen anrichten könnte. Er musste wissen, dass ich mich in der unmittelbaren Nähe aufhielt. Trotzdem drückte er auf den Knopf.“

„Und was bezweckte er damit?“

„Das ist ein Hypersignal - ein Zeichen für uns Namarch-Nachkommen, uns unverzüglich in Sicherheit zu begeben.“

„Oder euch erst recht zu verraten“, schloss Lena an. „Dieses Ding könnte dir für künftige verdeckte Ermittlungen zum Verhängnis werden.“

„Wenn es mir gelingen sollte, mir meine Freiheit zu erkämpfen.“

„Daran hege ich keine Zweifel.“ Sie betrachtete ihn musternd, dann wandte sie ihren Blick wieder von ihm. Tchengos Gesicht hatte für einen Moment abermals jenen Ausdruck angenommen, den Lena nirgendwo einordnen konnte. „Geht es dir eigentlich gut?“, wollte sie daher wissen. „Ich meine, geht dir etwas durch den Kopf? Offenbar haben wir jede Menge Zeit, bis wir wieder abgeholt werden. Wenn dir etwas auf dem Herzen liegt, ist es besser, man spricht darüber.“

Tchengo verzog sein Gesicht und versank für einige Augenblicke in Schweigen.

„Ist es wegen Laii?“, versuchte Lena zu erraten.

Er schüttelte nur den Kopf.

„Machst du dir deines Vaters wegen Gedanken?“

Wieder schüttelte er den Kopf.

„Was bedrückt dich dann?“

„Ich ...“, begann Tchengo zögerlich und verstummte sogleich, als Lena sich abrupt gerader rückte und in die Ferne lauschte.

„Hast du das eben auch gehört?“, wollte sie wissen.

Tchengo lauschte, konnte aber nichts Beunruhigendes ausmachen.

„Es hörte sich an, als wäre etwas ins Wasser gesprungen.“

Tchengo musste den Kopf schütteln, als er nichts dergleichen vernehmen konnte. „Diese Sumpfebene besitzt zwar einen niedrigen Wasserspiegel, aber ich bezweifle keineswegs, dass dort auch etwas reinspringen kann. Wir befinden uns in der Wildnis.“

„Hoffentlich sind dessen Zähne nicht länger als die meinen“, seufzte Lena hoffnungsvoll und lehnte sich wieder zurück. „Wo waren wir stehen geblieben? Du wolltest mir etwas erzählen.“

„Ich denke nicht, dass ich dich damit belasten sollte“, entgegnete er ausweichend.

„Warum nicht? Ich dachte, wir wären Freunde.“

„Freunde, richtig“, pflichtete Tchengo ihr nickend bei und senkte traurig den Blick.

„Nun erzähle schon. Was bedrückt dich?“

Tchengo schüttelte den Kopf. Beinahe im selben Moment schnalzte etwas dünnes, schwarzes hinter ihm hoch, wickelte sich um seinen Hals und riss ihn mit sich in die Tiefe. Den Blaster aus ihrem Halfter reißen und auf das Sitzpolster springen, war für Lena eine einzige Bewegung. Sie schoss noch, bevor sie eine richtige Zielpeilung vornehmen konnte in das dichte Sumpfgras, wo Tchengo und dieses schwarze Etwas beinahe spurlos verschwunden waren. Auch auf die Gefahr hin, den Llomenas zu treffen und zu verletzen oder gar zu töten. Ein solcher Tod war besser, als von einer unbekannten Bestie gefressen zu werden. Lena schoss auf die Bewegungen im Sumpfgras, auf aufsteigende Luftblasen und Wirbel zwischen auseinandergebogenen Gräsern. Adrenalin verdrängte ihr Blut und ließ ihr Herz bis zum Hals klopfen. Für einen Moment malte sie sich aus, was sie unternehmen sollte, wenn Tchengo nicht wieder auftauchte - vor allem, was sie Karcho Namarch sagen sollte. Doch dann, kaum, drei Minuten nachdem die Bestie sich ihre Beute geschnappt hatte, tauchte der Llomenas wieder aus dem Sumpfgras auf, keuchend und hustend und schleppte sich zum Wrack zurück.

„Alles in Ordnung, Tchengo?“, rief ihm Lena besorgt zu, während sie die Oberfläche nach dem schwarzen Etwas absuchte und ihm zu sich herauf half. „Noch alles dran an dir?“

„Ich denke schon“, hustete er, ließ sich vornüber in die Pilotenkanzel fallen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. „Ein Gutes hatte dieses Abenteuer eben“, brachte er keuchend hervor. „Nun weiß ich wenigstens, wo wir uns befinden.“ Er rappelte sich wieder hoch, rutschte in den Pilotensitz, steckte ein Messer in die dafür vorgesehene Haltung im Stiefelschaft zurück und schüttelte kurz das Wasser aus seinem nassen Haar.

„Wie meinst du das?“

„Das war ein Iccex“, wusste er. „Ein unter Artenschutz stehendes Reptil, das es ausschließlich auf Commelarr gibt - Yaalotta-Gebiet.“ Er hustete die letzten Tropfen Wasser aus seinen Lungen, streifte etwas triefende Feuchtigkeit aus seinem Anzug und gönnte sich einen tiefen Atemzug. „Die Yaalotta betrieben intensiven Handel mit Iccex-Häuten, unter anderem auch für die uns bereits bekannten Sklavenpeitschen. Da die Preise für Iccex-Häute beinahe astronomisch hoch sind, dachte ich, sie seien längst ausgerottet. Ich hatte mich sichtlich getäuscht.“

„Offensichtlich“, pflichtete ihm Lena bei.

„Danke für die Lebensrettung“, sagte er und unterstrich seine Worte mit einem aufrichtigen Lächeln.

„War doch selbstverständlich“, gab sie zurück, obgleich sie nicht wusste, ob tatsächlich sie es gewesen war, der ihm aus der Klemme half. Das violettfarbene Blut an seinen Händen sprach etwas anderes. Sie ignorierte es jedoch und schenkte ihm dankbar für diese ungerechtfertigte Ehre ein Lächeln. „Außerdem, was hätte ich gemacht, wenn es dich gefressen hätte. Und wie hätte ich das deinem Vater erklären sollen? Von einem ausgestorbenen Vieh gefressen...“ Sie lachte kurz und überflog die Ebene mit einem prüfenden Blick. "Ganz abgesehen davon, muss ich mich bei dir ebenfalls bedanken. Du hast dein eigenes Leben riskiert, um das meine zu retten. Das war mehr, als ich eben für dich tun musste.“

„Hören wir auf, die gegenseitige Lebensschuld auf eine Waagschale zu legen. Wir sind doch Freunde, oder?“, erwiderte Tchengo und besaß wieder jenen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.

Lena entschloss sich spontan, dies künftig einfach zu ignorieren. Was auch immer Tchengo belastete, er schien es nicht mit ihr teilen zu wollen. Was ihr aber mehr Kopfzerbrechen bereitete, war der Tonfall, den er bei dem Wort Freunde nutzte - so als ob er selbst nicht so recht daran glauben konnte, als ob er insgeheim bezweifelte, dass sie beide jemals eine richtige Freundschaft entwickeln könnten.

Lena seufzte innerlich und stimmte ihm zu. Obwohl sie sich eigentlich gut verstanden und sie zugeben musste, hin und wieder sehnsüchtige Gedanken an ihn zu verschwenden, entstammten sie zwei vollkommen verschiedenen Welten, gehörten zwei so weit auseinanderklaffenden Ebenen an, dass sie unmöglich mehr als Kameraden sein konnten, geschweige denn Freude oder gar ... Lena seufzte abermals. Wunschdenken, sagte sie sich. Die gewagten Träume eines vereinsamten alten Mädchens.

„Vorsicht!“, rief Tchengo plötzlich, schnellte von seinem Sitz hoch und riss Lena wieder mit sich in den Sessel. Ein dünner schwarzer Arm verfehlte sie nur knapp und schnalzte um Haaresbreite über Lenas Kopf hinweg. Lena plumpste hart auf den Llomenas, da sie auf eine derartige Attacke nicht vorbereitet war. Sie wollte sich rasch wieder hochrappeln, doch Tchengo hielt sie fest. Der Arm des Reptils kam erneut über den Rand des Cockpits zum Vorschein und angelte blindlings nach seiner Beute. Ebenfalls blind, da Tchengo ihr Gesicht an seine Brust drückte, fingerte Lena nach ihrem Blaster. Er glitt ihr jedoch aus der Hand, als Tchengo eine rasche Bewegung machte und die Waffe fiel mit einem dumpfen Scheppern auf den Kabinenboden. Ihr zweiter Griff war nach der Waffe von Tchengo, doch dieser hatte ihn selbst gezogen. Als sie ihren Ellenbogen zurückzog, stieß sie an seinen Arm und ließ seinen Schuss ins Leere gleiten.

„Wir müssen hier raus“, wusste Lena und rutschte leicht zur Seite, sodass sie nun auf Tchengos linkem Oberschenkel und den Kontrollen links neben dem Sitz saß. „Hier sitzen wir wie Ratten in einem Käfig.“

Tchengo visierte neu an, als sich der schwarze Arm erneut zeigte, und traf diesmal ungestört und haargenau die empfindliche Spitze des Tentakels, worauf sich dieses blitzschnell zurückzog.

„Soweit ich weiß, können sich Iccex aufgrund der besonderen Beschaffenheit ihrer Haut auf eine Länge von bis zu hundert Metern strecken“, erklärte Tchengo. „Und ich hörte auch, dass ein jeder der Arme stark genug ist, einen Menschen zu zerquetschen.“

„Keine sehr guten Aussichten“, fügte Lena an. „Irgendwelche Schwächen oder Abneigungen?“, wollte sie schließlich wissen.

„Feuer“, entgegnete Tchengo als hätte sie ihn erst auf eine Idee gebracht. Er griff hinter sich, wo Lenas Überlebenspack war und brachte eine Leuchtpistole zum Vorschein.

„Wie willst du inmitten all dieses Wassers und Feuchtigkeit ein Feuer entzünden?“, erkundigte sich Lena vorsichtig.

Tchengo deutete mit der Leuchtpistole auf seinen Jäger. „Wenn die Treibstofftanks hochgehen, müssen wir so schnell wie möglich laufen. Ich nehme deinen Ü-Pack. Du kümmerst dich um unsere Waffen und um das Intercom, damit wir mit Laii Verbindung aufnehmen können, wenn sie zurück ist.“

Nickend angelte Lena ihre Waffe vom Kabinenboden, nahm den Blaster von Tchengo entgegen und entkoppelte ein kleines Kästchen aus dessen Konsole, um es in ihre Tasche zu stecken. Indessen entsicherte Tchengo die Leuchtgranaten und zielte auf das Heck seines Jägers. Der erste Schuss prallte an der Metallverkleidung ab und verging in einer leuchtendroten Sternschnuppe im hohen feuchten Gras. Der zweite Schuss verfing sich in der Ausstoßöffnung, glühte dort eine Weile und vermittelte dort den Eindruck, als würden die Antriebe auf vollen Schub geschaltet. Der dritte Schuss rutschte tiefer in die Ausstoßöffnung und war einige Sekunden lang nur noch als schwaches Glimmen zu erkennen. Doch im Inneren des Jägers begann es zu knacken und knistern. Ein Zeichen, dass das Material durch die glühende Granate überhitzt wurde und bald auch den Treibstoff entzündete. Als der Bauch des Jägers aufplatzte, feuerte Tchengo die vierte und letzte Granate ab, welche geradewegs durch den Riss schoss und dem kochenden Treibstoff den Rest gab. Eine spektakuläre Feuersäule raste gen Himmel. Wrackteile wurden in alle Richtungen davon geschleudert und beinahe zeitgleich, sprangen Tchengo und Lena auf der anderen Seite von Lenas Jäger in den Sumpf und rannten so schnell sie konnten in Richtung der hohen Bäume, die am Rand der Ebene zu erkennen waren.

Trotz des Lärmes, den die kochenden Treibstofftanks verursachten, dem Krachen der überlasteten Wände und das Aufplatschen der davongeschleuderten Wrackteile, konnte Lena das aufgeregte Platschen der Iccex hören, die vom Explosionsknall, der Hitze und des grellen Blitzes des Feuers aufgescheucht worden waren. Rings um sie schien das Wasser zu kochen. Und sogar nur wenige Meter von ihnen entfernt sprangen schwarze Tentakel vor Schreck aus dem Wasser, um mit einem Platschen wieder unterzutauchen.

So schnell sie durch das hüfthohe Wasser waten konnte, arbeitete sich Lena vorwärts. Der Waldrand schien viel weiter entfernt, als sie zunächst dachte. Mit jedem Schritt glaubte sie, der Untergrund würde schlüpfriger werden. Mit jedem Schritt dachte sie, der Waldrand würde seinerseits zwei Schritte zurückweichen. Mit jedem Schritt wurde die Erkenntnis wacher und wacher, dass die Iccex die Flüchtenden immer mehr wahrnahmen.

Tchengo befand sich keine zwei Schritte hinter ihr. Mit nur zehn Schritten mussten sie den Waldrand und somit festen und sicheren Boden erreicht haben, als sich plötzlich ein schwarzes Ungetüm hinter ihnen erhob. Eine Kreatur, größer als der Hangar eines Kriegsschiffes, größer als der Lastkran im Hafen, den ihr Vater ihr einmal als Kind erlaubte zu bedienen und so breit, dass ein ganzer großer Zirkus darin hätte, Platz finden können, wenn man dessen Haut abgezogen, getrocknet und über ein Gerüst gespannt hätte. Eine Kreatur, dessen Inneres aus komprimiertem schwarzen Nebel zu bestehen schien. Seine Haut war ledern und halb durchsichtig und ermöglichte so den Blick auf sein Inneres. Überall aus seinem unförmigem Körper, der an eine stark überdimensionierte Qualle erinnerte, stießen dünne Tentakel hervor und schossen auf die beiden Flüchtenden zu.

Lena schrie Tchengo eine Warnung zu. Dieser fuhr herum und ließ sich geistesgegenwärtig ins Wasser fallen, sodass das Tentakel ihn knapp verfehlte. Der schwere Überlebenspack drückte ihn rasch tiefer und versank bald mit seinem Träger irgendwo unterhalb der Wasseroberfläche. So schnell sie konnte, rannte Lena zum Waldrand, legte dort ihre Last nieder und wirbelte wieder herum. Das Seil hing am Überlebenspack, war somit unerreichbar und für eine Rettungsaktion nicht verfügbar.

Das Ü-Pack tauchte mit Tchengo wieder auf. Schwer atmend schwang sich der Llomenas herum und nutzte die Fliehkraft des schweren Rucksacks, um sich einen Meter weit von ihm wegschleudern zu lassen. Lena schoss auf das schwarze Tentakel, das seine Beute bereits im Visier hatte. Ein tiefes Grollen ging durch die Kreatur, die sich von Schmerz geplagt noch größer und bedrohlicher aufbaute. Der Boden bebte unter ihren Füßen und einige Tentakel schossen nun auf sie zu. Lena warf sich im letzten Moment auf den Boden, sodass die Fangarme sie nur knapp verfehlten. Eines entwurzelte mühelos einen Baum, dessen Stamm so dick wie ein Oberschenkel war. Ein anderes bohrte ein tiefes Loch nur wenige Handbreit von ihrem Kopf entfernt in den Boden. Ein weiteres ließ ein ohrenbetäubendes Knallen über ihrem Rücken ertönen.

Lena warf sich zur Seite, dort wo der Arm den Baum entwurzelt hatte und schoss im Herumwerfen auf die Kreatur. Es besaß weder erkennbare Augen, noch Mund oder sichtbare Membran, auf die sie schießen und es empfindlich verletzen konnte. Die Kreatur war einfach ein gewaltiger Fleischklumpen, der sich soweit dehnen konnte, dass man ein ganzes Einkaufszentrum darin hätte unterbringen können. Bis zu hundert Meter, erinnerte sich Lena.

Der Boden bebte, als es abermals das tiefe Grollen ausstieß. Offenbar hatte Lena ein empfindliches Teil getroffen, doch sie vermochte es auf anhieb nicht wieder zu finden. Ihr Magazin war fast leer. Die Energieanzeige stand auf fünfzehn Prozent. Sie bezweifelte, dass ihr genug Zeit bleiben würde, um in ihren Taschen nach einem Reservemagazin zu suchen. Eine winzige Gedankensekunde später wusste sie auch, dass eine eventuelle Suche in ihren Taschen ergebnislos bleiben würde. Ersatzmagazine gab es nur in den Taschen des Ü-Packs.

Sie sprang auf ihre Beine, versuchte dabei, stets auf dieselbe Stelle zu schießen, in der Hoffnung, die offensichtlich für Laser undurchdringliche Panzerhaut in irgendeiner Weise zu schädigen und watete wieder ins Wasser, um Tchengo zu helfen. Das Gewicht des Ü-Pack und die stetigen Attacken der Tentakel schienen seine Kräfte zu übersteigen. Er befand sich mehr unter Wasser, als darüber, zeigte sich aber zu keiner Sekunde bereit, den schweren Rucksack aufzugeben. Er wusste ebenso, dass der darin enthaltene Proviant, die Überlebensausrüstung und die Erste-Hilfe-Packs ihre einzige Chance bedeuteten, zu überleben - falls sie den Iccex überstanden.

Beinahe wäre Lena von dem Ü-Pack erschlagen worden, als Tchengo sich mit dem Rucksack herumwarf, um so einem Angriff eines langen schwarzen Armes zu entkommen. Sie stolperte, rutschte auf dem durchweichten Untergrund aus und spürte auch schon, das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlagen. Sie warf sich herum, ehe der Rucksack sie unter sich begrub und prallte gegen etwas Hartes. Vor Schreck hätte sie den Mund geöffnet und mit einem Schrei das trübe, aufgewühlte Wasser geschluckt. Doch dann verschwand das harte Etwas und sie kam irgendwie wieder auf die Beine. Reflexartig schnellte sie hoch, wirbelte herum und wollte eigentlich abermals auf den Iccex schießen, doch zwischen ihnen hatte sich plötzlich ein anderes schwarzes Etwas, dass wie eine verkohlte Backsteinwand aussah, aufgebaut und brüllte den Iccex mit einem so lauten gurgelnden Geräusch an, dass die Luft flackerte.

Dann wurde sie am Kragen gepackt und herum gezerrt. Sie sah nur noch, wie Tchengo seine Hand nach ihr ausgestreckt hatte, dann schoss eine dicke schwarze Linie auf sie zu und traf den Llomenas hart im Rücken. Er wurde einige Meter durch die Luft geschleudert und prallte höchst unsanft in die dichte Krone des entwurzelten Baumes, den der Iccex achtlos in Ufernähe hatte fallen lassen. Das Herumzerren hatte bewirkt, dass auch Lena zurück ins Wasser fiel und die Wellen über ihrem Kopf zusammenschlugen.

Eiligst versuchte sie, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen und sich die letzten Meter bis zum Ufer an Land zu schleppen. Offensichtlich war der Iccex bei seiner Jagd nach den beiden kleinen Happen unvorsichtig gewesen und auf einen Widersacher gestoßen. Die beiden Giganten brüllten sich wütend an, wobei abwechselnd der Boden und die Luft bebte und die Tentakel des Iccex viele Meter weit in alle Richtungen davonschnalzten. Für die beiden kleinen Wesen schien sich keiner mehr zu interessieren.

Lena arbeitete sich eiligst zu der Baumkrone hinüber, deren Blätterkopf halb unter Wasser lag. Sie musste eine Weile suchen, ehe sie eine regungslose Gestalt zwischen den schwarzgrünen Blättern entdeckte. Tchengo lag mit dem Kopf nach unten bis zur Hüfte im Wasser und zwischen zwei starke Äste eingeklemmt. All ihre Kräfte aufbietend, stemmte sich Lena gegen die Äste, vermochte sie jedoch nicht auseinander zu biegen. Daher nahm sie ihre Waffe und schoss ihr Magazin leer - auch auf die Gefahr hin, dass das Zischen und der Knall des verdampfenden Gehölzes die Aufmerksamkeit der beiden Rivalen wieder auf sie lenkte. Zu ihrem Glück waren die beiden so mit sich beschäftigt, sodass sie einen der beiden Äste in Fetzen schießen und Tchengo befreien konnte.

Sie zerrte die schwere reglose Gestalt des Llomenas aus der Baumkrone heraus und legte sie einige Meter vom Ufer entfernt nieder. Tchengo regte sich nicht. Sein Gesicht sah bleich aus. Aus seinem Mundwinkel rann Blut. Lena legte ihr Ohr auf seinen Brustkasten und lauschte nach dem Klopfen seines Herzens, vermochte jedoch nichts auszumachen. Schnell wandte sie Erste-Hilfe-Maßnahmen an, bearbeitete rhythmisch seinen Brustkorb und hauchte ihm Atemluft ein - solange bis er sich endlich regte.

Erst als er einen Schwall Wasser ausspuckte und hustend und würgend wieder zu sich kam, wurde sie von einer Besorgniswelle überschwappt, die sie beinahe selbst ohnmächtig werden ließ. Ihr Kreislauf drohte zu kippen. Tränen schossen in ihre Augen. Ihr Körper zitterte und ihre Hände verkrampften sich zu festen Fäusten. Sie schluckte hart. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrem Hals verklemmt und sie musste ebenfalls husten und würgen. Im Zeitraffer schossen ihr Bilder durch den Kopf, die pures Adrenalin in ihre Adern entweichen ließen. Bilder, die grenzenlose Trauer über den möglichen Tod von Tchengo zeigten und sie in ein so tiefes Gefühlsloch katapultierten, dass sie drohte, niemals mehr wieder an die Oberfläche zu gelangen.

Gerade noch rechtzeitig, wie ein Rettungsanker in stürmischer See, fiel ihr der Ü-Pack ein und sie erhob sich, um ins Wasser zu waten und den Rucksack herauszuzerren, ehe die beiden Widersacher von ihnen Notiz nahmen. Dabei erholte sie sich einigermaßen und war beinahe wieder sie selbst, als sie sich neben den Llomenas niederkniete.

„Wir müssen weiter vom Ufer weg“, sagte sie und betrachtete ihn besorgt. Er spuckte Blut und konnte die Würg- und Hustenkrämpfe nicht unter Kontrolle bringen. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihm etwas von dem Beruhigungsmittel in ihrem Erste-Hilfe-Pack verabreichen sollte, doch dann fiel ihr ein, dass es ihr Ü-Pack war und sämtliche Medikamente auf ihren Organismus abgestimmt waren. Dennoch riss sie den Rucksack auf, entnahm die zu Rollen zusammengeschnürten Packs, wickelte sie in Windeseile auf und steckte auch schon eine Patrone in den Injektor, um ihn einen Atemzug später an die Halsschlagader an Tchengos Hals zu halten und abzudrücken.

Er erholte sich beinahe sofort. Röchelnd und keuchend kam er zur Ruhe, drehte sich mühsam auf Hände und Knie und richtete sich ebenso mühsam, gequält und in aller Gemächlichkeit auf. Seine grünen Augen suchten den Blick von Lena. Ein Ausdruck undefinierbarer Gedanken stand in seinem Gesicht geschrieben. Seine Lippen öffneten sich, brachten jedoch keinen Laut hervor.

Lena wickelte die Rollen eiligst wieder zusammen und verstaute sie in dem Rucksack.

„Wenn die beiden miteinander fertig sind, werden wir vielleicht doch noch ein Mittagessen.“ Sie hielt inne und musterte ihn besorgt. „Glaubst du, du könntest ein Stück weiter in den Wald gehen?“

Bedachtsam drehte Tchengo den Kopf von einer Seite zur anderen, darauf achtend, sich bei dieser gemütlichen Bewegung nicht allzu große Schmerzen zuzufügen.

„Na schön!“, gab Lena in aufkeimender Unruhe von sich und blickte sich flüchtig um. Sie befanden sich gut hundertfünfzig Meter von den beiden Streithähnen entfernt, die sich noch immer in Drohgebärden und lautstarkem Anbrüllen übten. „Ich werde ein lauschiges Plätzchen suchen. Lauf in der Zwischenzeit nicht fort.“ Sie schulterte das schwere Ü-Pack, schnappte sich noch an Waffen und anderes Material, was sie tragen konnte und eilte davon. Nur knapp fünfhundert Meter entfernt, entdeckte sie eine kleine mit moos- und farnähnlichen Gewächsen überwucherte Lichtung und legte ihre Gepäckstücke nieder.

Als sie zurückkehrte, kniete Tchengo noch immer in derselben Stellung, in der sie ihn verlassen hatte. Besorgt ließ sie sich zu ihm nieder.

„Ein paar Rippen gebrochen?“, fragte sie und beäugte ihn kritisch. Sein Gesicht war bleich und seine Augen glasig. Offenbar konnte er sich nur das Medikament einigermaßen gerade halten. Lena hoffte, dass noch genug davon im Ü-Pack war, um die Wartezeit bis zu Laiis Eintreffen zu überbrücken. „Ich kann versuchen dich zu stützen“, sagte sie, als Tchengo mit einem mehr als gemütlichen Nicken geantwortet hatte. „Vielleicht wäre es aber besser, die gebrochenen Rippen mit ein paar Stricken zu fixieren.“ Sie sah sich um, doch am Uferrand befanden sich weder Stricke, noch Wurzeln oder Lianen, die als solches verwendet werden konnten. Zudem befand sich das Ü-Pack mit dem Strick bereits auf der Lichtung.

„Versuchen wir es einfach.“ Entschlossen schob sie sich unter den linken Arm des Llomenas und half ihm auf die Beine. Vor Schmerz verzog er das Gesicht, hievte sich aber tapfer hoch und ließ sich von Lena mehr zerren und schleppen, als dass er aus eigener Kraft vorwärtsging.

Entkräftet und zitternd vor Erschöpfung fielen beide endlos lange Minuten später in das hohe Farngras der Lichtung und blieben eine ganze Weile schwer atmend liegen. Lena bewegte sich als erste, setzte sich auf ihre Fersen und beäugte Tchengo, der offenbar den Kampf gegen Schmerzen, Kraftlosigkeit und Ohnmacht verloren hatte. Das erklärte womöglich, warum er auf halbem Wege plötzlich enorm schwer wurde. Noch nie war ihr eine so kurze Strecke so lang und schier unbezwingbar vorgekommen. Einige Augenblicke lang hatte sie sogar daran gezweifelt, die Lichtung je zu erreichen. Tchengo war schwer auf ihren Schultern gehangen und konnte kaum einen Fuß vor den anderen tun.

Nun lag er mit geschlossenen Augen neben ihr. Sein Atem ging ruhig und regelmäßig, aber flach und hin und wieder setzte er für Bruchteile von Sekunden aus. Ein kleines Blutrinnsal rann ihm aus der Nase, was für Lena nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Vorsichtig öffnete sie seine Uniformjacke und das Hemd und stutzte kurz, als ihre Fingerspitzen wie zufällig über seine nackte Brust strichen. Ein kribbelndes Gefühl machte sich in ihr breit, doch sie schüttelte den Kopf und zwang sich, sachlich zu bleiben. Tchengo würde nichts davon haben, wenn ihre Gefühle die Oberhand über ihr Tun übernahmen. Dennoch konnte sie nicht umhin, vorsichtig seine Brustrippen abzutasten und über den Bauch zu streichen, eigentlich, um seine Atmung zu fühlen, doch die hart trainierten Muskeln, die seinen Bauch wie einen Panzer selbst im entspannten Zustand schützten, faszinierten sie und so strich sie abermals darüber. Als ihr ihre Unseriosität bewusst wurde, zog sie ihre Finger zurück und drehte ihn mit aller Vorsicht auf den Bauch.

Ein breiter blutunterlaufener Striemen zierte seinen Rücken von der Hüfte bis zur rechten Schulter. Einige der gebrochenen Rippen standen in einer unnatürlichen Haltung zur Wirbelsäule. Sie vermutete auch, dass eine der Rippen ein inneres Organ quetschte, was die enormen Schmerzen und die Husten- und Würgkrämpfe erklären konnte.

Mit aller Behutsamkeit versuchte sie die Rippen mit sanfter Massage in ihre ursprüngliche Stellung zurechtzurücken. Sie wusste nicht, ob es richtig war, was sie tat. Immerhin war sie keine ausgebildete Sanitäterin oder Krankenschwester. Vermutlich tat sie auch das gänzlich Falsche. Ihr Instinkt hatte ihr dazu geraten. Wenn sie die Rippen zurückschob, würden vielleicht die Schmerzen etwas erträglicher werden.

Tchengo zuckte zusammen, als sie etwas fester über den roten Striemen strich. Er öffnete die Augen, hob leicht den Kopf und drehte ihn, sodass er Lena erkennen konnte. Erleichtert sank er zurück.

„Von außen sieht es nicht so schlimm aus, wie es sich vielleicht anfühlt“, gab sie sanftmütig von sich und wies sich an, noch vorsichtiger zu sein. Da Tchengo aus seiner Ohnmacht erwacht war, spürte er jede Berührung von ihr - und manche vielleicht als besonders schmerzvoll. "Hast du starke Schmerzen?“, wollte sie wissen.

Schweigen antwortete ihr, sodass sie zunächst dachte, er sei wieder besinnungslos geworden. Doch als er abermals zusammenzuckte und diesmal lediglich ein kaum hörbares Stöhnen von sich gab, erkannte Lena, dass er sich nur der offensichtlich wohltuenden Massage hingab.

„Ich dachte immer, Iccex seien so etwas Ähnliches wie Schlangen“, murmelte er kraftlos und schwer verständlich.

„Jetzt bist du sicherlich um einiges klüger“, entgegnete Lena. „Das Biest hätte dir auch das Rückgrat zerschmettern können. Du kannst von Glück reden, dass es dir nur einige Rippen brach.“ Sie unterbrach ihre Arbeit und beugte sich leicht zur Seite, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können. „Wie geht es dir?“, fragte sie interessiert. „Ist das in Ordnung, was ich tue? Ich meine ...“

„Wenn du aufhörst, werfe ich dich zu dem Iccex zurück“, entgegnete er und versuchte sich in einem schelmischen Lächeln. Es misslang, als Lena auf eine empfindliche Stelle traf und sein Lächeln wurde eher zu einer schmerzerfüllten Fratze.

„Ich sollte mich mehr mit fremden Kulturen befassen“, sagte sie und strich vorsichtig über eine gerötete Stelle, worauf Tchengo leise stöhnte. „Es gibt glaube ich Welten, in denen ist derartiger Kontakt zum anderen Geschlecht strikt verboten.“ Sie verstummte, als ihr klar wurde, was für einen Unsinn sie redete. Tchengo gehörte nicht zu jenem anderen Geschlecht. Der Llomenas war ein Zwitterwesen, ein drittes Geschlecht, wie er sich einmal selbst bezeichnete, daher wusste sie erst Recht nicht, wie sie verfahren sollte.

„Wir sind doch Kameraden“, fuhr sie fort. „Ich bin quasi deine Vorgesetzte und du bist verletzt. Ich musste es tun.“

„Für was versuchst du dich zu entschuldigen?“, erkundigte er sich verwirrt und hob leicht den Kopf. „Ich bin kein Mönch, wenn du das meinst.“

Verlegen musste Lena einen Kloß hinunterschlucken. Sie kaute auf ihren Lippen herum und wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Einerseits wollte sie jenen Abstand zwischen ihnen beiden bewahren, der sich des Anstandes halber auch gehört hätte. Andererseits wünschte sie sich nichts Sehnlichster, als ihm so nahe zu sein, wie sie es nur jenem anderen Geschlecht ihrer Spezies sein konnte - aber Tchengo gehörte nicht zu jenem Geschlecht, das ein Mensch wie Lena als ihr Gegenstück ansehen konnte. Sie seufzte innerlich und zog ihre Hände zurück.

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll“, gestand sie aufrichtig. Die Entscheidung, sich ihm zu offenbaren, war ihr kurz entschlossen gekommen. „Ich meine auf sozialer Ebene, nicht auf der Kameradschaftlichen oder der Befehlslinie.“

„Was verstehst du unter sozialer Ebene?“, wollte er interessiert wissen.

„Na, ja!“, machte sie verlegen und betrachtete unentschlossen ihrer Erklärung ihre Hände. „Es ist so...“ Sie wusste nicht so recht, wo und wie sie beginnen sollte. „Wir sind Kameraden“, fand sie endlich den Anfang. „Wir haben bereits einiges miteinander erlebt und sind dadurch irgendwie miteinander verbunden. Wir stehen uns näher, als sich Kameraden im Grunde einander stehen. Wir wissen mehr voneinander, als andere Kameraden. Irgendwie ...“ Sie verstummte, als sie nicht mehr weiter wusste. „Ich bin unter Menschen aufgewachsen, wusste, wer sie sind, was sie sind und wie ihnen zu begegnen ist. In meinem Gegenüber fand ich stets ein klares, eindeutiges Bild.“

„Was mit mir nicht der Fall ist?“, versuchte Tchengo endlich auf den Punkt zu kommen. „Du solltest lernen, Wesen anderer Art als solches zu akzeptieren. Wenn du in ihnen kein klares Bild erkennen kannst, solltest du dir eines definieren.“

„Ja, richtig!“, nickte sie zustimmend. Ihrem Gesichtsausdruck jedoch war zu entnehmen, dass sie damit trotz allem noch ein Problem besaß. „Bei allen anderen funktioniert es auch, aber nicht bei dir. Ich weiß nicht warum. Vermutlich stehe ich dir einfach zu nahe."

„Willst du mir nicht nahe stehen? Ist dir das peinlich?“

Lena sog den Atem in ihre Lunge, hielt ihn einen Augenblick dort fest und stieß ihn ungenutzt wieder aus. „Ich befürchte nur“, begann sie nach einer Weile, in der sie in tiefgründiges Grübeln versunken war. „Dass wenn ich das zulasse, ich in Dinge hineingezogen werde, von denen ich lieber keine Ahnung haben möchte.“

„In was denn?“, fragte er etwas zurückhaltend.

„In das mit deinem Vater zum Beispiel. Irgendwie ist mir das eine Nummer zu groß.“

Diesmal versank Tchengo in nachdenkliches Schweigen.

„Das soll nicht heißen, dass ich dich am Liebsten allein lassen möchte“, erklärte sie schnell. „Ich habe nur Angst, wieder einen so fatalen Fehler wie auf Mandereth zu begehen.“

„Dann wirst du wohl nie erfahren, ob du zu Höherem geboren bist“, entgegnete er trocken. „Wer nicht wagt, kann niemals gewinnen, sagt man. Wenn du Angst vor den Folgen deiner Entscheidungen hast, solltest du dich in deinem Zimmer einsperren und es niemals wieder verlassen.“

Lena betrachtete ihn mit einem überraschten, aber auch betroffenen Ausdruck im Gesicht. Sie wusste, dass er recht hatte und sie wusste auch, dass sie sich selbst schon einige Gelegenheiten durch die Lappen hat gehen lassen, aus Angst, den höheren Erwartungen nicht mehr entsprechen zu können.

Kraftlos sank sie in sich zusammen, ließ den Kopf auf die Brust sinken und verstrickte sich für einige Atemzüge lang in Grübeleien. Dann riss sie sich spontan wieder davon los, nahm einen tiefen Atemzug und reckte ihren Körper gerader.

„Du hast recht“, sagte sie schließlich. „Das wäre ein ziemlich langweiliges Leben. Da würde ich einen Riesenspaß wie den von vorhin glatt verpassen.“ Sie rieb ihre Hände aneinander und überflog den zerschundenen Rücken des Llomenas prüfend. „Soll ich weitermachen?“

Tchengo ließ statt einer Antwort den Kopf auf das Farnpolster zurücksinken und verfiel in gefügiger Bewegungslosigkeit. Nur hin und wieder, wenn Lena eine besonders empfindliche Stelle traf, zuckte er etwas zusammen, ließ aber weder einen Ton, noch ein schmerzerfülltes Stöhnen verlauten.

 

* * *

 

Wie ein aufgescheuchter Hahn lief Gleen Karcho Namarch auf der Brücke des Frachttransporters auf und ab. Seine Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick starr zu Boden gerichtet und mit einem so verbitterten Gesichtsausdruck, dass selbst der härteste Stein hätte weich werden können, marschierte er tief in Gedanken versunken ständig zwischen Captain DanHarden und dessen Kapitänssessel hin und her. Ab und zu bewegten sich seine Lippen, doch kein Laut drang hervor. Und stets, wenn einer aus der Brückencrew etwas lauter sprach, wurden seine Schritte harscher, ansonsten ließ er keinerlei Gefühlsregung erkennen.

Dan Harden beobachtete die Arbeit seiner Leute, ebenfalls nervös, wie die Mitglieder seiner Crew. Der Gleensherr hatte ihnen eine Standpauke gehalten, die sich gewaschen hatte, als bekannt geworden war, dass zwei Jäger hinter dem Mutterschiff herjagten und drei weitere Jäger auf den Planeten gestürzt waren. Bei Letzteren musste der Sohn des Gleen dabei gewesen sein. DanHarden hatte bis zu dieser Standpauke nicht gewusst, dass der Adjutant der Staffelführerin der Sohn seines hohen Gastes war. Er schnaufte innerlich und hoffte, dass sich bald ein positives Zeichen ergab.

Zu seiner Rechten stand Stingrizzo Corttes. Er schien als Einziger mit keiner Faser nervös zu sein. Eher gelangweilt sah er der Brückencrew bei ihrer hektischen Arbeit zu und sorgte sich offenbar keine Sekunde lang um das Leben seiner Kameraden. Wie es in seinem Inneren aussah, vermochte allerdings nur er zu sagen. Innerlich bangte er genauso um die Vermissten. Innerlich malte er sich schon die gesalzene Rede aus, die der gestrenge Herr über ihm ausschütten würde. Nicht dass er vor dem Gleen Angst besaß. Die lautstarke Standpauke, die er ebenso über sich hatte ergehen lassen müssen, wie alle anderen, hatte ihm lediglich etwas Respekt gelehrt. Der Gleensherr war nicht zu unterschätzen. Corttes hatte bei dieser Standpauke eines genauestens festgestellt, Karcho Namarch bediente sich ausgiebig der Macht seiner Stellung und dachte nicht viel über sein Handeln nach. Hätte er nämlich nachgedacht, wäre er zu dem Schluss gekommen, dass die Männer und Frauen, die er mit hochrotem Kopf anschrie, gar nichts für das Verhalten und das Verschwinden seines Sohnes zu tun gehabt hatten.

„Captain“, meldete sich einer der Männer zu Wort. Namarch blieb abrupt stehen und DanHagen fuhr herum, als hätte er nur auf dieses Signal gewartet. „Ein Jäger kehrt zurück. Identifiziert als 19-5/20.“

„Die von Tchengo?“, wollte der Gleensherr streng wissen und fixierte den Mann mit stechendem Blick.

„Nein, Sir. 19-5/20 ist der Code für Flight Officer Laii Mingg.“

„Wo sind die anderen?“

„Keine Ahnung, Sir.“ Der Funkingenieur strich sich nervös über seine Nase.

„19-5/20 ist mit eurem Sohn in Richtung des Planeten verschwunden. Wir werden sicherlich einen Bericht von ihr erhalten“, wusste DanHarden.

„Sie?“ Namarch beäugte ihn argwöhnisch, tat dies aber sofort mit einem Kopfschütteln ab. „Sie soll sich unverzüglich auf der Brücke melden“, verfügte er, als besaß er das Kommando über den Transporter.

„19-5/20, hier Frachttransporter V47, bitte melden!“, rief der Funkingenieur in sein Mikro, das ihm nahe vor den Lippen hing. Er betätigte eine Taste und die Antwort der Pilotin war auf der ganzen Brücke zu hören.

„Hier 19-5/20“, ertönte es über die Lautsprecher. „Erbitte die sofortige Zusammenstellung einer Bergungscrew. Mein Jäger muss unverzüglich aufgetankt werden, damit ich mit der Bergungscrew zurückfliegen kann.“

„Wo sind ihre Begleiter, 19-5/20?“

„Auf unbekanntem Terrain abgestürzt.“

Der Gleensherr erstarrte vor Schreck und auch DanHarden bekam ein kreidebleiches Gesicht.

„Zwei war wohlauf, als ich die Absturzstelle verließ. Eins war ohne Reaktion.“

„Wer ist Eins und Zwei?“, wollte Namarch verärgert wissen.

„Eins ist Flight Officer Lena McKenzie, die Staffelführerin. Bei Zwei handelt es sich um Flight Officer Tchengo Namarch“, erklärte der Captain.

„Also ist Tchengo wohlauf. Wo ist er jetzt?“

„Irgendwo dort unten. Warten wir, bis die Pilotin hier ist“, riet DanHarden.

Namarch blickte zum Sichtfenster, wo eine schwarzgrüne Kugel wie eine überdimensionale Murmel am schwarzen Himmel stand. Dann wanderte sein Augenmerk auf eine der Anzeigemonitore und überflog die dort angezeigten Angaben.

„Das ist Commelarr“, erkannte er folgerichtig. „Absolutes Yaalotta-Gebiet. Dort unten wimmelt es nur von kriminellen Yaalotta. Wir müssen nicht nur ein Bergungsteam, sondern auch ein schwerbewaffnetes Bombenkommando hinunter schicken.“

„Warten wir es erst einmal ab“, versuchte ihn DanHarden zu beruhigen.

„Bis jetzt scheinen die Yaalotta noch nichts davon mitgekommen zu haben, dass sie zwei ungebetene Gäste haben“, warf Corttes ein. „Zumindest zeigen die Sensoren keine erheblichen Veränderungen. Daher sollten wir nicht gleich die Türe einreißen, wenn wir nur einen entlaufenen Hund zurückholen wollen.“

„Einen entlaufenen Hund?“ Der Gleen musterte ihn mit bösem Blick. Er schien ihn mit seinen Augen förmlich durchbohren zu wollen.

„Wir werden den ganzen Planeten aufwecken, wenn wir mit einer Armada anrücken“, wusste Corttes. „Dann sind Tchengo und Lena vielleicht erst recht in Gefahr. Im Übrigen plädiere ich für den Vorschlag von Captain DanHarden. Warten wir erst einmal ab, bis Laii da ist.“

Mit einem wütenden Schnaufen riss sich Namarch von Corttes los und fixierte wieder den Flugingenieur.

„Wie weit ist sie noch entfernt?“, wollte er wissen.

„Zwei weitere Jäger sind aufgetaucht. 19-3/20 und 19-4/20.“

„Mast und Dere“, wusste Corttes. „Die waren hinter dem Mutterschiff her.“

 

Laii konnte nicht verstehen, dass sie nicht sofort wieder starten konnte, sondern sich erst auf der Brücke melden sollte. Jede Minute oder Stunde, die sie mit Berichterstattung oder Lagebesprechung verschwenden müsste, könnte für Tchengo und Lena zum Verhängnis werden. Dennoch kam sie der Aufforderung nach, jedoch nicht ohne die Leute im Hangar zur Eile anzuspornen.

„Flight Officer Mingg meldet sich wie befohlen“, sagte sie und nahm eine einigermaßen korrekte Haltung an. Man sah ihr deutlich an, dass sie viel lieber sofort wieder verschwinden würde. Und erst recht, als die den hochgewachsenen schwarz gekleideten Mann mit dem überaus strengen Blick entdeckte.

„Wie ist die Lage? Wo befinden sich die beiden abgestürzten Jäger? Besteht Hoffnung auf Rettung?“, überfiel Captain DanHarden sogleich die junge Frau mit seinen besorgten Fragen.

„Die beiden Jäger sind nur noch Schrott wert“, erklärte sie, ihren Blick starr auf DanHarden fixiert. „Die beiden Piloten sind vermutlich wohlauf - wobei ich mir mit Eins nicht ganz sicher bin. Ich hatte die beiden vor knapp zwei Stunden verlassen. Lena McKenzie schien besinnungslos gewesen zu sein.“

„Wo ist mein Sohn?“, fragte Namarch donnernd.

Laii schluckte und suchte sich einen fixen Punkt an DanHardens Uniform, nur um den Mann, der ihr ihre Jugendliebe genommen und ihr Leben zerstört hatte, nicht ansehen zu müssen.

„Tchengo brachte Lena mit seinem Traktorstrahl bis auf die Oberfläche“, berichtete sie. „Leider geriet er beim Aufrichten mit der Tragflügelspitze dem Boden zu nahe und stürzte ab. Es ist ihm, soweit ich es beurteilen konnte und soweit Tchengo berichtete, nichts geschehen.“

„Ich werde das Bergungsteam begleiten“, verfügte der Gleensherr erhaben.

Corttes stieß sich von der Konsole ab, an der er die ganze Zeit gelehnt war. „Ich halte das für keine gute Idee. Sie könnten verletzt werden, wenn die Yaalotta das Bergungsteam angreift.“

„Die wollen etwas von mir“, wusste Namarch. „Also werden sie mir nichts anhaben. Wenn ich mit diesem Umstand meinen Sohn retten kann, werde ich das verdammt noch mal ausnutzen.“ Er wirbelte herum, sodass sein schwarzes Gewand um seine Beine flatterte und wehte mitsamt seiner ihn ständig begleitenden Schar zur Türe hinaus.

„Tchengo hätte es uns ruhig sagen können“, gab Corttes beinahe beleidigt von sich. „Dann hätten wir uns einige Unannehmlichkeiten ersparen können.“

„Lass ihn in Ruhe“, zischte Laii gereizt.

„Patrouille 4-1-9 an Transporter, bitte kommen!“, ertönte es plötzlich aus den Lautsprechern.

„Hier Frachttransporter V47“, antwortete der Captain in den Raum. „Hier spricht Captain Driggs DanHarden. Was kann ich für sie tun?“

„Das wollte ich sie gerade fragen“, kam es zurück. „Sie befinden sich auf einem außerplanmäßigen Stop in höchst unsicherem Terrain. Außerdem konnten unsere Sensoren Kampfaktivitäten aufnehmen. Ist alles in Ordnung mit ihnen?“

„Vielleicht ist das das Bombenkommando, dass sich unser besorgter Vater wünscht“, sagte Corttes leise. „Wenn wir ihn und die Patrouille sich gegenseitig beschäftigen lassen, können wir in Ruhe die Bergung vornehmen.“

„Gleen Namarch wird sich nicht davon abhalten lassen, in vorderster Reihe zu stehen, wenn wir seinen Sohn aufsammeln“, wusste Laii bestimmt. „Er würde für ihn alles tun.“ Selbst das Leben eines anderen zerstören, fügte sie im Stillen an.

„Wir wurden tatsächlich angegriffen“, berichtete DanHarden der Patrouille. „Wir konnten sie jedoch zurückschlagen. Leider stürzten zwei unserer Piloten auf Commelarr ab. Wir organisieren gerade eine Bergung.“

„Benötigen sie Unterstützung oder medizinische Hilfe?“

„Ein wenig Hilfe wäre nicht schlecht“, flüsterte Laii ihm zu. „Allein schon um die Wracks zu bergen.“

„Für Unterstützung wären wir dankbar“, antwortete DanHarden etwas lauter.

„Ein Shuttle mit medizinischen Ersthilfe-Geräten und Bergungsmaterial kann ungefähr in zwei Stunden bei ihnen sein. Halten sie ihre Position.“

„In Ordnung!“, entgegnete der Captain und nickte den Jägerpiloten zu.

Laii schüttelte den Kopf. „Es ist zu gefährlich, noch zwei weitere Stunden zu warten. Ich werde vorausfliegen und sehen, ob noch alles in Ordnung ist.“

„Ich begleite dich“, stellte sich Corttes sogleich zur Verfügung.

„Der Transporter kann nicht ohne Schutz zurückbleiben“, wusste DanHarden. „Nicht solange diese Yaalotta-Brüder es auf unseren Gast abgesehen haben.“

„Mast Azaron und Dere LoBayy befinden sich bereits im Anflug. Sobald sie hier sind und ihre Maschinen wieder aufgetankt und einsatzbereit sind, werden wir aufbrechen.“

Damit gab sich der Captain einverstanden. Er setzte sich in seinen Kommandosessel und legte erhaben die Hände auf die Armlehnen. Laii und Stingrizzo nickten dem Mann zu, dann verließen sie die Brücke, um sich im Hangar um das Auftanken ihrer Jagdmaschinen zu kümmern.

Während sie die Arbeiten an ihren Maschinen überprüften und überwachten, reparierten emsige Mechaniker, Ingenieure, Techniker, Arbeiterroboter und anderes Last-, Transport- und Technikgerät die Schäden im Hangar aufs Eiligste. Wo sonst Transporter, ein paar Ladekisten und kürzlich auch sechs Jäger gelangweilt herumgestanden waren, herrschte nun reges Treiben. Ein Geräuschpegel herrschte im Hangar, der nur vom Tosen der Antriebsdüsen eines startenden Jägers übertroffen wurde.

Laii und Stingrizzo absolvierten die letzten Checks, als zwei Jagdmaschinen des Typs 19 zur Landung im Hangar ansetzten. Sie unterbrachen ihre Arbeit und warteten geduldig darauf, dass Mast und Dere ihre Antriebe abschalteten und zu ihnen herüber kamen, was sie auch prompt taten.

„Habt ihr etwas erreicht?“, wollte Stingrizzo Corttes sogleich wissen.

Azaron lachte kurz auf, fasste sich aber schnell wieder und verschränkte seine Arme vor der Brust. „Wir hatten unwahrscheinliches Glück“, begann er. „Nachdem das Mutterschiff einfach davon sprang, setzten wir uns kurzerhand auf die Fährte ihres Sprungvektors, in der Hoffnung am Ende förmlich auf sie zu prallen oder von ihrem Masseschatten aus der Bahn geworfen zu werden. Kaum hatten wir den Normalraum verlassen, wurden wir auch schon wieder hineinkatapultiert und wären tatsächlich dem Yaalotta-Schiff buchstäblich auf das Heck geknallt. Dabei hatten wir ein zweites Mal ungehöriges Glück. Ihre Antriebe waren ausgeschaltet, sonst wären wir vom Feuerwerk in ein Inferno geraten. Wir befanden uns direkt an ihrem Auspuff, konnten unsere Position bestimmen und die Gegend betrachten.“

„Wir befanden uns noch im selben Sonnensystem, nur ein paar Monde weiter entfernt“, fuhr Dere LoBayy fort. „Das Mutterschiff machte eine leichte Wende und steuerte auf einen Mond auf der anderen Seite des Planeten zu. Wir schalteten sämtliche Systeme ab und ließen uns mit all dem Schrott, das dort herum flog treiben, bis sich das Yaalotta-Schiff außer Reichweite befand und wir zurückfliegen konnten.“

„Was machen Tchengo und Lena?“, erkundigte sich Mast besorgt, als er nach einem kurzen Überblick über das hektische Treiben im Hangar weder die Staffelführerin noch den Llomenas entdecken konnte.

Laii wischte ihre Hände an ihrer Uniform ab. „Die beiden sind noch immer auf Commelarr. Ein Bergungstrupp wird gerade organisiert. Stingrizzo und ich fliegen runter. Ihr beide solltet den Transporter beschützen, für den Fall, dass die Yaalotta zurückkommen.“

Dere rieb sich den Bauch. „Ich würde gerne noch etwas essen. Ich sterbe vor Hunger.“

„Es täte dir nicht schlecht, die eine oder andere Mahlzeit auszulassen“, frotzelte Azaron und bedachte das kleine Bäuchlein seines Kameraden mit einem spöttischen Blick. Die enge Fliegermontur ließ sämtliche Körperformen deutlich erkennen, ob nun ansehnliche frauliche Kurven oder ein gut genährtes Wohlstandsbäuchlein.

Dere schenkte seinem Flügelmann eine Fratze und widmete sich wieder der Pilotin. „Wie auch immer, ich würde gerne mit runter gehen und die beiden auffischen.“

Laii schüttelte den Kopf. „Damit erregen wir zu viel Aufsehen. Es genügt schon, wenn zwei Jäger, ein Shuttle und vielleicht noch ein Bergungstransporter dort unten auftauchen. Die Einwohner sind gegenüber Fremden, besonders gegen unangemeldete Fremde äußerst misstrauisch.“

„Woher weißt du das?“, erkundigte sich Stingrizzo leicht besorgt, da er sich freiwillig bereit erklärt hatte, Laii zu begleiten und sich damit womöglich unwissentlich in Gefahren begab.

„Auf Commelarr existiert die einzige Verarbeitungsanlage für Iccex-Häute“, berichtete Laii. „Sie ist illegal, weil die Iccex-Jagd verboten ist. Die Anlage wird von einem Onkel meines Gatten geleitet. Nach unserer Vermählung verbrachten wir einige Zeit auf Commelarr. Daher kenne mich dort aus und weiß, wie die Leute da unten auf unangemeldeten Besuch reagieren.“

„Das bedeutet, wir können uns auf Schwierigkeiten einrichten, sobald sie merken, dass wir uns in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten“, wusste Stingrizzo. „Na, wunderbar!“

„Was ist los?“, fragte Mast. „Bist du nicht wegen dieses Nervenkitzels in die Armee eingetreten? Wenn du es einfacher haben wolltest, hättest du dich nicht für die Flotte bewerben sollen.“

Diesmal schnitt Corttes eine Fratze. „Ich meinte damit eigentlich nur, dass wir dann zwei Leute gegen wer weiß wie viel sein werden. Die Schlacht von vorhin hatten wir nur für uns entscheiden können, weil in den anderen Maschinen Stümper oder schlecht ausgebildete Piloten saßen.“

„Wenn das Mutterschiff zu diesem Planeten - Commelarr - gehört, wirst du es mit denselben Stümpern zu tun haben“, wusste Mast.

„Ich hatte nicht vor, zu kämpfen“, schaltete sich Laii ein und machte ein leicht beleidigtes Gesicht. „Immerhin stand ich einmal auf der Seite dieser Stümper.“

„Entschuldige“, sagten Mast und Stingrizzo beinahe gleichzeitig.

„Wie kommt es, dass du nicht mehr zu ihnen gehörst?“, wollte Dere wissen.

„Mein Gatte starb an einer tödlichen Infektion“, berichtete sie mit einem Hauch von Trauer. „Der Onkel meines Gatten mochte mich nicht sonderlich. Wir besaßen keine Kinder und daher hielt mich nichts auf Commelarr. Ich suchte mir ein neues Leben und fand meine Erfüllung hinter dem Steuerknüppel einer Jagdmaschine.“

„Flight Officer Mingg“, ertönte es von irgendwo her aus dem Hangar durch den Lärm der Reparaturarbeiten. Laii fuhr herum und entdeckte Gleen Namarch mit wehendem schwarzen Umhang und seiner obligatorischen, ihn ständig begleitenden Schar auf sie zukommen. Instinktiv wollte sie sich ducken und davonschleichen, doch er hatte sie bereits gesehen und ihren Namen mit lauter donnernder Stimme ausgerufen.

„Was kann ich für sie tun?“, fragte sie höflich, als der Gleensherr nahe genug herangekommen war, um sie trotz des Lärmes zu verstehen.

„Ist das Shuttle bereit?“, erkundigte er sich streng. „Können wir endlich aufbrechen, um meinen Sohn zu retten?“

„Soweit ich weiß, wird das Shuttle noch mit den letzten medizinischen und technischen Geräten beladen“, berichtete Laii mit einem Blick in Richtung des Shuttles, das noch immer mit offener Bugklappe und in vollkommen abgeschaltetem Zustand da stand. „Es kann sich aber nur noch um wenige Minuten handeln.“

„Commelarr ist eine Brutstätte für illegale und zwielichte Kreaturen. Wir können nicht früh genug aufbrechen.“

„Den Computerauszügen zufolge ist Commelarr aber auch eine äußerst gefährliche Welt mit gefährlichen Kreaturen“, konterte Laii selbstsicher. „Wenn wir wegen der Eile auch nur ein wichtiges Gerät zurücklassen müssen, welches später das Leben ihres Sohnes hätte retten können, sind sie sicherlich der Erste, der das zuständige Personal dafür bestraft. Ich denke, es ist besser, die fünf Minuten abzuwarten, bis das letzte Gerät an Bord geschafft ist. Meinen sie nicht auch, Gleen Namarch?“

Überrascht über soviel Selbstsicherheit, blickte er sie zunächst sprachlos an, dann fasste er sich rasch wieder und ließ wieder seinen gewohnten strengen Blick erkennen.

„Beeilen sie sich!“, herrschte er und wollte herumwirbeln. Doch er hielt in seiner Bewegung inne, ehe er sie ausführen konnte, und fixierte sie musternd. „Kennen wir uns von irgendwo her?“

Laii schluckte trocken. „Ich habe schon einige Begleitflüge absolviert“, entgegnete sie leichthin. „Schon möglich, dass wir uns begegnet sind. Leider kann ich mich nicht an alle meine Schutzbefohlenen erinnern.“

Gleen Namarch knurrte verhalten, wirbelte herum und dampfte davon. Laii drehte sich ebenfalls um und versuchte nicht, herauszufinden oder daran zu denken, was der Llomenas als Nächstes tat.

„Bewundernswert!“, gab Mast anerkennend von sich. „Ich hätte nicht soviel Mut aufgebracht, ihn derart zurechtzuweisen.“

„Übung“, gab Laii achselzuckend von sich und nahm einen tiefen Atemzug, um sich von ihrer Erregung und Anspannung zu verabschieden und wieder Herr ihrer Nerven zu werden. „Los, Jungs!“, rief sie zum Aufraffen auf. „Wir müssen zwei Freunde retten.“

 

* * *

 

Die Streithähne hatten inzwischen erkannt, dass es nichts brachte, wenn sie sich gegenseitig anschrien. Ihre Beute war ohnehin längst verschwunden. So ließen sie sich wieder in das halbhohe Wasser gleiten und verschwanden aus den Augen jeden Betrachters. Einzig das plötzliche Verschwinden einer großen Fläche von Sumpfgrashalmen zeugte von deren Anwesenheit.

Lena hatte sich zurückgelegt und beobachtete das Spiel der Baumwipfel und der Wolken. Ein leichter Wind säuselte durch das hohe Gehölz und erzeugte ein stetiges, ermüdendes Raunen. Sie zwang sich jedoch, ihre Augen offen zu halten und auf andere Geräusche zu achten. Schließlich befanden sie sich in einer fremden Welt und wussten nichts von den Gefahren, die dort noch auf sie lauern konnten - bis auf die Iccex, die hatten sie bereits kennengelernt.

Sie nahm sich einen Proteinriegel und horchte auf die gleichmäßigen Atemzüge des Llomenas, der während ihrer Massage seiner Erschöpfung erlegen war und nun friedlich schlummerte. Eine Weile hatte sie ihn beobachtet, seine Züge und das Muskelspiel beobachtet, das er unwillkürlich im Traum ausführte. Sie hatte seine friedliche Gestalt betrachtet, jede noch so kleine Falte und Form eingeprägt und gelächelt, als sein Gesicht sich entspannte und sogar freundlich wurde, so als wusste er, dass sie ihm beim Schlafen zusah. Sie vermochte selbst nicht zu sagen, warum es ihr gefiel. Sie vermochte sich selbst nicht zu begreifen, warum ihre Gefühle verrückt spielten, wenn sie nur an ihn dachte, oder sich jenen Moment in ihre Erinnerung zurückholte, in welchem sie ihn fast nackt gesehen hatte. Sie wusste selbst nicht mit dem Wirrwarr ihrer Empfindungen umzugehen, das ein jedes Mal entstand, wenn er sie nur ansah. Es begann in ihren Nervenenden zu kribbeln, wenn er sie berührte oder ihren Namen aussprach. Und etwas tief in ihrem Inneren schürte ein kleines Feuer an, wenn er sie mit seinem merkwürdigen Gesichtsausdruck ansah.

Um von diesem ganzen Gefühlsdurcheinander, das sie selbst nicht zu entwirren vermochte, loszukommen, hatte sie sich irgendwann zurückgelegt und den Himmel durch das Blätterdach hoch über ihnen beobachtet. Sie ließ ihre Sinne baumeln und ihre Gedanken schweifen. Sie dachte an ihren Vater, ihre Familie, die Geschehnisse in jüngster und nicht ganz so jüngster Vergangenheit, an ihre Ausbildung, an die Abenteuer, die sie bislang erlebt hatte, auch die mit Tchengo und fand sich unversehens wieder bei dem Llomenas.

Doch plötzlich hielt sie den Atem an, als das Raunen in den Baumwipfeln einem leisen Sirren wich. Sie lauschte einen Moment nach dem neuen Geräusch und als sie erkannte, dass es näher kam, fuhr sie herum und weckte Tchengo.

„Da kommt jemand“, zischte sie gedämpft, drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam, blieb aber die Deckung des Farnes ausnutzend am Boden liegen.

Tchengo rieb sich die Augen und horchte aufmerksam. Als auch er das näherkommende Geräusch bemerkte, verspannte sich sein Gesicht etwas.

„Klingt nach Triebwerke“, sagte er feststellend.

„Aber nicht nach unseren“, wusste Lena. „Offensichtlich blieb unser Feuerwerk nicht ganz unbemerkt.“

„Das könnten auch Iccex-Jäger sein.“

„Oder Yaalotta“, fügte Lena an und betrachtete ihn eingehend. „Wie sieht es mit dir aus? Könntest du im Ernstfall mit anpacken?“

„Wenn ich nicht gerade akrobatische Höchstleistungen vollbringen muss, sehe ich kein Problem.“

Lena zog ihre Waffe aus dem Halfter und entsicherte sie. Wer auch immer die Kerle waren, die auf sie zukamen, sie wollte vorbereitet sein. Im besten Falle flogen sie einfach über sie hinweg und ignorierten die beiden Wracks im Sumpfgrasfeld.

Doch diesen Gefallen taten ihnen die Herankömmlinge nicht. Vier Luftgleiter leichter Bauart hielten neben den abgestürzten Jagdmaschinen an und musterten die Schrotthaufen aus der sicheren Schale der Gleiter und in angemessenem Abstand zur Oberfläche des Sumpfes. Offensichtlich wussten sie um die Gefahr in den Gewässern. Ihre Bugkanonen, die an der vordersten Kante unter dem Bug angebracht waren, rotierten nach einem Ziel suchend einige Male um ihre Achse und verharrten schließlich mit der Mündung auf den Wracks.

„Wir sollten uns zurückziehen, bevor sie auf die Idee kommen auszusteigen und die nähere Umgebung abzusuchen“, sagte Tchengo und erhob sich leicht. Dabei verzog er sein Gesicht, als ihn pochender Schmerz durchbohrte, schaffte es aber, sich steif auf Händen und Knien aufzurichten und sich mit kerzengeradem Oberkörper in aufrechter Position zu bringen. Er wollte schon nach dem Ü-Pack greifen, als Lena ihm zuvorkam und ihm den schweren Rucksack einfach unter den Händen weg schnappte. Mit einem stummen Blick deutete sie auf die Waffen, die kleine Kommeinheit und Tchengos Helm, mit dem sie mit Laiis Fliegerkommsystem Verbindung aufnehmen konnten, sobald sie nahe genug war, und ging voran, tiefer in den Wald.

Die Gleiter begannen tatsächlich mit dem Ausschwärmen. Das nahezu unversehrte Cockpit des einen Jägers musste sie auf die Idee gebracht haben, dass zumindest noch einer der Piloten am Leben war. Sie zerstreuten sich entlang des Sumpfes und über die naheliegende Waldgrenze, flogen zunächst weit an die im Unterholz verborgenen Eindringlinge vorbei und kehrten wieder zurück, als wollten sie ihre Suche abermals beginnen.

„Hoffen wir, dass die keine Biosensoren benutzen“, bemerkte Lena hoffnungsvoll und sah einem der Gleiter nach. Als der kehrt machte und seine Bugkanone rotieren ließ, geriet ihr Blut vor Aufregung in Wallung.

„Iccex suchen die sicherlich nicht“, wusste Tchengo und verzerrte sein Gesicht, als er das Gewicht des Gewehrs auf die andere Schulter verlagerte. „Es wird schwierig für Laii sein uns zu finden, wenn wir uns zu weit von der Absturzstelle entfernen.“

„Was schlägst du demnach vor?“

„Das wir schnellstens ein Loch finden, in das wir uns verkriechen können“, antwortete er und blickte sich um. Der Waldboden war dicht mit kniehohen Farngewächsen und Moossträuchern bedeckt. Die einigermaßen plan verlaufende Oberfläche der Pflanzen deutete auf kein Loch oder einen Spalt hin. Die Bäume ragten glatt und blattlos viele Meter in den Himmel und bildeten erst in hundert Metern Höhe ein dichtes, schützendes Dach, durch das Sensoren wie Bioscanner natürlich hindurchsehen konnten.

„Ich glaube, die Frage nach einem Loch erübrigt sich“, sagte Tchengo und deutete auf ein silbernes Etwas, das durch winzige Lücken im Blätterdach abrupt kehrt gemacht hatte und geradewegs auf sie zuschoss. Er riss das Gewehr von der Schulter, entsicherte es und beugte ein Knie, um einen besseren Stand zu bekommen. Die Bugkanone des Gleiters brannte kleine Löcher in das Blätterdach und verdampfte auf dem Boden kraterweise Farnbüschel, Waldboden und loses Blätterwerk, das im Todeskampf hoch spritzte und zischend und brennenden Sternschnuppen gleich wieder zu Boden sank. Verglühendes, trockenes Blätterwerk regnete auf sie nieder, als eine Salve ganz in ihrer Nähe einschlug. Lena ging in Deckung, sprang jedoch sogleich wieder heraus, als die Salve an ihr vorbei gerast war und schoss durch das Blätterdach auf den Gleiter. Ihre Handfeuerwaffe vermochte keinen allzu großen Schaden anzurichten. Aber ihre Hoffnung war groß, dass sie ein bedeutendes Teil erwischte, oder zumindest die Bugkanone zerstören konnte. Die Laserblitze aus Tchengos Gewehr fraßen sich tiefer in den Gleiter und nach einem offensichtlichen Treffer, ertönte beinahe sofort ein lauter Knall. Wrackteile brachen durch das Blätterdach und drohten die beiden unter sich zu begraben. Lena brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Der Llomenas ließ sich neben einen Baumstamm fallen, sodass das brennende Teil, das geradewegs auf ihn herunterfiel, am Stamm abprallte, davonschleuderte und einige Meter weiter auf den Boden plumpste, wo es sofort das trockene Blätterwerk in Brand setzte.

„Los, weg hier!“, rief Lena, hievte sich so schnell sie mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken aufspringen konnte, hoch und winkte Tchengo mit sich. Dieser stellte sich umständlich auf die Beine, musste sich dabei sogar am Baum, hinter welchem er sich in Sicherheit gebracht hatte, abstützen, um Lenas Aufforderung nachkommen zu können.

Sie rannten geduckt tiefer in den Wald hinein, doch bereits nach ein paar Metern hatten sie die anderen Gleiter erreicht, die alarmiert durch den Abschuss ihres Kollegen, zurückkehrten und nun ihrerseits das Blätterdach mit massiven Lasersalven beschossen. Lena und Tchengo kamen nur zögerlich voran. Die drei verbliebenen Gleiterpiloten bombardierten sie unaufhörlich und mit verbissener Härte, sodass ihnen nur wenig Ausweichmöglichkeiten blieben. Nicht selten regnete es außer verglühendem Blätterwerk auch brennende Zweige und ganze Äste. Einige Bäume wurden durch einen Volltreffer förmlich in Fetzen gerissen und dessen Krone bahnte sich bei ihrem Sturz einen verheerenden Weg durch den Wald, um alles unter sich zu begraben, was sich ihm in den Weg stellte.

Die Gleiter verfügten offenbar über Biosensoren, denn sie begannen, die Flüchtenden mit ihrem Laserbombardement systematisch einzukreisen und wie Fische in ein Netz zu treiben. Schließlich versammelten sich die drei über ihren Köpfen und bestraften jeden Fluchtversuch mit einer gezielten Salve aus ihren Bugkanonen. Lena und Tchengo waren gestellt.

Eine laute Stimme dröhnte über einen Außenlautsprecher zu ihnen herunter. Lena konnte weder den Wortlaut, geschweige denn eine einzige Silbe verstehen.

„Was wollen die?“, fragte sie und blickte nach oben.

„Die wollen, dass wir stehen bleiben, bis uns das Bodenkommando aufnehmen kann“, übersetzte Tchengo. Er lehnte sich an einen Stamm, sichtlich erschöpft und von Schmerzen geplagt.

Lena sah sich flüchtig um. Es gab keinen Ausweg mehr. Die Gleiterpiloten besaßen die beiden in ihrem Visier und hatten sie unter sich festgenagelt. Dabei entdeckte sie ein Aufblitzen in ihrem Augenwinkel und drehte den Kopf. Als Tchengo sich etwas bewegte, fiel ein kleiner Lichtstrahl geradewegs auf sein Amulett, dass nun sichtbar auf seiner nackten Brust hing. Seine Uniformjacke und sein Hemd waren noch immer offen. Mit einer schnellen Handbewegung zuckte Lenas Hand vor und riss es ihm vom Hals. Erschrocken blickte er sie an, und als sie es auch noch weit von sich in den Wald warf, sah er dem Amulett entsetzt hinterher.

„Warum hast du das getan?“, wollte er entrüstet wissen.

„Abgesehen davon, dass du das schon längst hättest tun sollen, ist es wohl besser, wenn sie an dir nichts finden, was irgendwie auf deine Herkunft hindeuten könnte, oder?“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Wir sind nur zwei Piloten, die das Pech hatten, bei dem Kampf beschädigt zu werden.“

Tchengo blickte dem Amulett hinterher, als vermisste er es bereits jetzt schon. Dann riss er sich davon los und fixierte Lena.

„Du brauchst mich gar nicht so anklagend anzusehen“, erwiderte sie seinen entsprechenden Gesichtsausdruck. „Wenn du es wirklich ernst gemeint hast, dich davon zu trennen und ein eigenständiges Leben zu beginnen, ist wohl nun die beste Gelegenheit dazu. Meinst du nicht auch?“

Sein Nicken kam etwas zögernd. Dann raschelte und knackte es in ihrer näheren Umgebung und ein Dutzend Leute mit schwerer Bewaffnung tauchten zwischen den Bäumen auf. Sie umstellten die beiden, durchsuchten sie nach Waffen und versteckten Sendern und fesselten ihnen die Hände auf dem Rücken. Tchengo verzog sein Gesicht, als mit ihm nicht gerade sanft umgesprungen wurde. Es kam jedoch kein Laut über seine Lippen. Widerstandslos ließen sich die beiden abführen - es blieb ihnen auch keine andere Wahl mehr.

 

* * *

 

Als Laii an der Absturzstelle eintraf, konnte sie weder von Tchengo noch von Lena etwas erkennen. Der Jäger der Pilotin sah nahezu unverändert aus, was man von Tchengos Maschine allerdings nicht mehr behaupten konnte. Das Wrack war ausgebrannt, offensichtlich durch eine Detonation aus seinem Inneren in tausend Fetzen gerissen und in alle Richtungen verstreut. Etwas abseits am Ufer lag ein erst kürzlich entwurzelter Baum und davor schienen sich große Tiere eine Schlammschlacht geliefert zu haben. Mehrere hundert Meter tief im Wald lagen über mehrere Quadratmeter verstreut verbrannte und verkohlte Pflanzen, aufgewühlter Boden, von Lasersalven zerfetzte Bäume und ein weiteres ausgebranntes Wrack und Laii hielt den Atem an, als sie es erkannte.

Gleen Namarch hatte es sich, wie es Laii vermutet hatte, nicht nehmen lassen, persönlich auf die Oberfläche zu kommen und seinen Sohn abzuholen - wie er zunächst vermutet hatte. Doch dass er ihn diesmal wieder verpassen würde, hätte selbst er nicht gedacht. Wie das drohende Unheil persönlich marschierte er durch den zerstörten Wald, beäugte rauchende Überreste von Bäumen, Sträuchern und Waldboden und gesellte sich mit einer erhabenen Geste neben Laii, die noch immer auf das ausgebrannte Wrack starrte.

„Und?“, fragte er fordernd. „Wo ist Tchengo?“

„Wie es aussieht, ist er von Wächtern geschnappt worden“, sagte sie noch etwas gedankenverloren. Sie nahm einen tiefen Atemzug und drehte sich um.

„Was für Wächter?“

„Yaalotta-Wächter“, erklärte Laii wissend. „Wächter, die die Fanggründe der Iccex-Jäger sichern sollen.“

„Iccex-Jäger?“ Gleen Namarch blickte sie finster an. „Das ist illegal.“

„Deswegen gibt es hier Wächter“, gab sie leichthin von sich und drehte sich um.

Corttes hatte die Gegend abgescannt und näherte sich ihnen. Er hielt etwas in seinen Händen und ließ es vor seinem Gesicht baumeln.

„Seht mal, was ich hier gefunden habe. Was kann das sein?“ Er betrachtete das juwelenbesetzte Medaillon interessiert.

Gleen Namarchs Gesicht war sogleich von Entsetzen gepackt. Seine Hand fuhr vor und entriss dem Piloten das Fundstück.

„Das gehörte Tchengo“, wusste der Llomenas.

„Kluger Bursche“, gab Laii erhaben von sich. Sie kannte das Medaillon ebenso wie der Gleen. „Das Ding hätte ihn eindeutig als Namarch-Abkömmling identifiziert. Es war klug von ihm, es fortzuwerfen.“

„Das war höchst unklug“, widersprach der Gleensherr energisch. „Wie soll er sich dann in Schutz begeben, wenn er das Signal nicht mehr empfangen kann?“

„Vielleicht braucht Tchengo Ihren Schutz nicht.“ Laii widerstand dem stechenden Blick des Llomenas. „Ich denke, sie sollten endlich einmal kapieren, warum Tchengo ständig vor ihnen davonläuft.“

„Wie können Sie es wagen?“, entrüstete sich der Gleensherr. „Ich werde Sie ...“

„Sie werden gar nichts“, unterbrach sie ihn schroff. „Das haben sie schon getan.“

Karcho Namarch stutzte kurz. „Was habe ich schon getan?“

„Mein Leben zerstört.“ Sie baute sich entschlossen vor ihm auf. „Ich bin Laii Mei Amdah Ahman - oder zumindest war ich es einmal vor langer Zeit. Erinnern sie sich daran?“ Sie ließ ihn einfach mit dieser Frage allein, winkte Corttes mit sich und begab sich zu den Shuttlepiloten, die sich anschickten, ihr bereits ausgepacktes medizinisches Gerät wieder einzuräumen.

„Sie sind diese ... diese ...“

„Diese was?“, fuhr Laii herum und funkelte ihn mit bösem Blick an. „Diese Hure, die ihren Sohn beinahe abgöttisch liebte? Dieses Flittchen, die ihn dazu gebracht hatte, endlich einmal an sich selbst zu denken? Diese Göre, die alles für ihn getan hätte, wenn nicht sein übermächtiger Vater davon überzeugt gewesen wäre, dass Tchengo sein persönliches Besitztum sei, das er nach seinen eigenen Vorstellungen zurechtbiegen konnte? Meinen sie diese?“

Karcho Namarch konnte sie nur wortlos anstarren.

„Im Leben zerstören sind sie einfach grandios“, fuhr sie fort. „Und wenn sie sich nicht bald zusammenreißen, werden sie Tchengos Leben auch noch zerstören. Dann können sie wirklich stolz auf sich sein.“

„Die Tradition gebietet ...“

„Tradition“, äffte Laii ihn verächtlich nach und unterbrach ihn damit abermals schroff. „Haben sie schon einmal erlebt, dass Traditionen Platz für persönliches Glück lassen? Wenn sie Tchengo mit Gewalt in diese von ihnen so heiß geliebte Tradition zwingen, werden sie sich bald um einen Abkömmling weniger sorgen müssen.“

„Was soll das heißen?“

„Denken sie zur Abwechslung doch einmal nach“, warf sie ihm an den Kopf. „Vielleicht kommen sie noch darauf, ehe sich Tchengo selbst ein Messer in den Leib rammt.“ Damit wirbelte sie erneut herum und öffnete ihre Uniformjacke.

„Was hast du vor?“, wollte Corttes wissen.

„Erinnerst du dich daran, was ich euch erzählt hatte? Ich bin so ziemlich die einzige, die sich der Nähe von Stysmo, der Hauptstadt von Commelarr, sehen lassen kann. Ich werde Tchengo und Lena suchen und zurückbringen.“ Sie entledigte sich ihrer Uniform und schlüpfte in ein weißes, weit ausgeschnittenes Kleid, dessen Saum knapp über ihrem wohlgeformten Hintern endete, welches sie in einem Beutel unter ihrer Uniform verborgen hatte, als wusste sie, dass sie es benötigen würde.

„Wenn ihr in zwölf Stunden nichts von uns hört, könnt ihr euren Frontalangriff starten“, sagte sie, schnappte sich ihre Laserwaffe und schnallte sie sich mit einem flexiblen Gurt um ihren Oberschenkel.

„Wie willst du Verbindung mit uns aufnehmen?“

Sie präsentierte ihm ein kleines Commgerät. „Bitte rufe mich nicht an, bevor ich dich anrufe“, sagte sie und versteckte es ihrem tiefem Ausschnitt. „Ich melde mich.“ Damit nickte sie Corttes zu und wollte gehen.

„Laii!“, hielt Corttes sie zurück. Die Art, mit der er ihren Namen aussprach, ließ sie innehalten und sich langsam umdrehen. Etwas verlegen, versuchte sich Corttes in einem aufrichtigen Lächeln. „Es wäre schade, wenn du nicht mehr zurückkämest“, sagte er.

Die junge Frau erwiderte das Lächeln, warf ihm eine Kusshand zu und verschwand endgültig.

Karcho Namarch blieb wortlos stehen und blickte ihr hinterher. Erst als sie längst verschwunden war, riss er sich aus seiner Lethargie heraus und begab sich an Bord des Shuttles.

 

* * *

 

Die Männer, die Lena und Tchengo im Wald gestellt und in einem der Gleiter fort gebracht hatten, gingen nicht gerade zimperlich mit den beiden um. Mehrmals musste der Llomenas auf die Zähne beißen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien, wenn heftig an seinen Fesseln herumgerissen und er in Position gedrückt wurde, oder wenn ihn jemand unsanft in den Rücken stieß, um ihn zum schnelleren Gang anzuspornen. Er wollte keinen Laut über seine Lippen dringen lassen, um den Leuten, dessen Gefangene sie nun waren, nicht eine Gelegenheit zu geben, ihn mehr als nötig quälen zu können. Er musste die Torturen und die Schmerzwellen über sich ergehen und sich nicht anmerken lassen, dass ein paar seiner Rippen gebrochen, oder wenigstens angebrochen waren. Lenas Massage hatte die geborstenen Knochen weitgehend an die richtige Stelle zurück gedrückt und die Prellungen insoweit beruhigt, sodass er sie kaum noch spürte - wenn er sich vorsichtig bewegte. Doch sobald die Mündung eines Gewehres hart auf jene Stelle gedrückt oder gestoßen wurde, erinnerte ihn die Verletzungen schmerzhaft an ihre Anwesenheit.

Lena beobachtete Tchengo und hoffte, dass er durchstand, wie lange ihre Gefangenschaft auch immer andauern würde. Sie hoffte, dass er in einem Verhör nicht auf seinen Stolz pochte und seine wahre Identität preisgab. Sie hoffte, dass bald Rettung nahte und sie aus dieser Misere erlöste. Das war schließlich das erste Mal, dass sie in Gefangenschaft geriet.

Der Gleiter hielt auf einem großen Platz vor einem zweistöckigen Gebäude, leichter Fertigbauweise. Die gesamte Stadt bestand aus Fertigbauelementen, schnell errichtet und ebenso schnell wieder abgebaut. Selbst die Fabrik, aus dessen in der Sonne silbern glänzenden Schornsteinen grauschwarzer Rauch quoll und sich in dicken Säulen gen Himmel reckte, bestand aus solchen Elementen. In Ernstfall konnte die ganze Anlage, nebst Wohn-, Sozial-, Lager- und Wartungsgebäuden binnen weniger Tage oder gar Stunden komplett abgebaut, zusammengelegt und fortgeschafft werden, so als sei an diesem Platz niemals eine Stadt gestanden. Lediglich die niedergetretenen Wiesen, eigens gewalzten Straßen, betonierten Landeplätzen und die mit leichtem Ruß bedeckte Vegetation rings um die Anlage konnte noch von dessen Anwesenheit zeugen.

Lena und Tchengo wurden unsanft aus ihren Sitzen gezerrt und aus dem Gleiter auf die Betonfläche gestoßen. Tchengo konnte den Sturz aus ungefähr einem halben Meter zwischen Bordkante und Boden noch abfangen. Lena prallte auf einen Wachposten, der die Ausstiegsluke flankierte und mit dem Gleichgewicht ringen musste, als er einen urplötzlichen Rempler erhielt. Er stieß Lena von sich, dadurch kam sie erst recht ins Straucheln und fiel auf ihre Knie. Sie wurde sofort wieder hochgezerrt und vorwärts gestoßen.

Vor dem zweistöckigen Gebäude warteten weitere bewaffnete Männer, die sich dem Trupp anschlossen, als er das Gebäude betrat. Sie wurden einen breiten Korridor entlang gestoßen und mussten schließlich vor einem Mann, der sich bei ihrem Eintreten aus einem Sessel erhob, niederknien. Der Mann musste seinem Aussehen und seiner Erscheinung nach der Anführer sein. Lena schätzte ihn auf fünfzig oder sechzig Jahre. Dessen Haar war leicht an den Schläfen ergraut. Falten überzogen sein ganzes Gesicht. Seine leicht gedrungene Körperhaltung entsprach die eines Mannes, der auf die sechzig zuging. Der Glanz in seinen Augen bewies jedoch, dass er den Elan und die Entschlossenheit eines jungen, starken Mannes besaß.

Es entstand ein schneller Wortwechsel, von dem Lena nichts mitbekam. Einzig an Tchengos Mienenspiel erkannte sie, dass die Unterhaltung nichts Gutes zu bedeuten hatte. Sie wagte es jedoch nicht, ihn um eine Übersetzung zu bitten, aus Angst die höhere Bildung des Llomenas zu verraten.

Der Mann schickte mit barschen Worten die Hälfte der Männer hinaus und baute sich in seiner vollen Größe vor den Gefangenen auf. Erst beäugte er sie eingehend, als könne er deren wahren Absichten von ihren Gesichtern ablesen. Dann zog er seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, so als wolle er tiefer in ihr innerstes eindringen.

„Was wolltet ihr in den Sümpfen?“, war seine erste Frage. Er gab einem seiner Männer ein Zeichen, worauf sich dieser in Bewegung setzte und zu Tchengo begab. Er vergrub seine Finger in dessen Haar und zerrte den Kopf hart in den Nacken. „Seid ihr Spione des Zentralbundes? Etwa vom König persönlich ausgesandt?“

„Nein“, erwiderte Tchengo. „Wir gehören zum Begleitschutz für einen Frachter und wurden angegriffen. Unsere Jäger wurden im Kampf beschädigt und wir stürzten auf den Planeten.“

„Gleich beide?“, gab der Mann äußerst misstrauisch von sich.

„Ich versuchte, meinen Kameraden mit dem Traktorstrahl vor dem Absturz zu bewahren und wurde mit hinuntergerissen.“

Ein weiterer äußerst skeptischer Blick traf den jungen Piloten. Dann fixierte er sich auf die Frau.

„Ihr gehört zu dem Frachter“, wiederholte der Mann wissend, worauf für Lena und Tchengo spätestens in diesem Moment feststand, dass er längst über die Herkunft der beiden Bescheid wusste.

Er begann vor den beiden in kniender Position festgehaltenen Piloten gemächlich auf und ab zu marschieren und blieb stehen, als er offenbar seine nächste Frage fertig formuliert hatte.

„Sagt euch der Name Namarch etwas?“, wollte er wissen und deutete dabei auf die Frau. Eine harte Mündung bohrte sich in ihren Rücken.

„So hieß der Passagier, den wir zu eskortieren hatten“, antwortete Lena. Leugnen wäre das fatalste gewesen, das sie hätte tun können. Wenn er über den Frachter Bescheid wusste, dann musste er voraussetzen, dass die Piloten wussten, wen oder was sie beschützten.

„Ihr gehört zu den sechs Kampfpiloten, die als Eskorte eingesetzt worden waren“, wusste der Mann. „Demnach musste es unter diesen Sechsen einen mit diesem Namen gegeben haben. Kennt ihr ihn?“ Er deutete mit einem Blick auf Tchengo, worauf der Mann, der noch immer sein Haar festhielt und damit den Kopf in den Nacken drückte, seinen Druck verstärkte.

„Wo befindet er sich jetzt?“

„Ich schätze, wieder auf dem Frachter“, erwiderte Tchengo und verbiss sich ein Stöhnen. Die Haltung unterstützte nicht gerade die Schmerzfreiheit in seinem Rücken. Im Gegenteil. Er musste sich mehr als nötig verkrampfen, was seine Rippen mit stechenden Schmerzen bestraften.

„Wie ist dein Name?“, erkundigte sich der Yaalotta-Mann streng.

Da bekannt war, dass eine Staffel als Eskorte eingesetzt worden war und sicherlich auch die Namen der Piloten nicht im Verborgenen geblieben waren, konnte Tchengo nur einen dieser Namen benutzen. „Azaron“, sagte er daher. „Flight Officer Mast Azaron.“

Der Mann beäugte die Abzeichen an Tchengos Uniform genauer, konnte sich aber offenbar aus den Streifen keinen Reim machen. Zum Glück trugen die Uniformen nur die Rangabzeichen, nicht aber den Namen des Besitzers, sodass sich der Yaalotta-Mann vorerst mit dieser Auskunft zufriedengeben musste.

Lena fragte er nicht nach seinem Namen, was für sie bedeutete, dass die Yaalotta ebenfalls wussten, dass der Nachkomme männlicher Natur war oder zumindest wie ein normaler menschlicher Mann aussah - demnach jemand wie Lena nicht in Frage kam.

„Durchsucht ihn“, befahl der Yaalotta barsch, worauf sich ein weiterer Mann zu Tchengo niederkniete und dessen sämtliche Taschen durchwühlte. Er fand jedoch nichts und schüttelte ergebnislos den Kopf. Tchengo hatte keine Zeit gehabt, die Taschen des anderen Overalls zu leeren und die persönlichen Dinge vor allem die ID-Card, die man stets bei sich tragen musste, in seine Fliegermontur zu packen.

Welch ein Glück, dachte sie bei sich.

„Und nun sie!“

Der Kerl, der Tchengo durchsucht hatte, wühlte auch in Lenas Taschen herum, ohne dass sie etwas dagegen hätte, unternehmen können und brachte einige persönliche Stücke und die ID-Card zum Vorschein. Er legte die Beute in die Hände seines Bosses.

„Sollte die nicht euer ständiger Begleiter sein?“, wusste der Yaalotta und legte die ID-Card in ein Lesegerät ein. Nach eingehendem Studium der Daten riss er sie wieder aus dem Schlitz und warf sie Lena mitsamt ihren Habseligkeiten vor die Füße.

„Als das Yaalotta-Schiff auftauchte, war ich gerade zum Checkdienst eingeteilt“, hatte Tchengo erklärt, während der Mann Lenas ID-Card studierte. „Ich hatte keine Zeit, lange nach dem richtigen Overall zu suchen und schnappte mir einfach meine Ersatzmontur.“

„So?“, machte er ungläubig, schien es jedoch zu akzeptieren.

Lena wünschte sich in diesem Moment, ebenfalls ein Mann zu sein, denn dann würde sich die Argwohn des Yaalotta-Mannes auf sie beide entladen.

„Bringt sie in die Kammer“, verfügte der Yaalotta-Führer in seiner Sprache und setzte sich wieder in seinen Sessel. Die beiden Gefangenen wurden auf die Beine gestellt und davon gezerrt.

Die Kammer war ein Container in derselben Leichtbauweise wie die übrige Stadt, nur dass er weder Fenster, noch Mobiliar besaß. Ein Raum, fünf auf fünf Meter groß und gut zwei bis zweieinhalb Meter hoch, ohne Lichtquelle, Sitz- oder bequeme Liegegelegenheiten und ohne Erfrischungsmöglichkeiten oder ein Platz um seine Notdurft verrichten zu können. In der Kammer roch es modrig und nach Aas, was durch die knapp ein Meter breite, nicht verglaste Gittertüre keineswegs kompensiert wurde. Durch die Ritzen der einzelnen Bauelemente drang etwas Licht ins Innere. Durch eine Ritze quoll grünliche Flüssigkeit ins Innere und floss durch eine andere wieder heraus. Unangenehme Feuchte und ein schmieriger Film bedeckten Boden und Wände.

Als Lena in die Kammer gestoßen wurde, rutschte sie aus und fiel seitlich auf den schmierigen Boden. Sie erhob sich schnell und traute sich nicht, weder den Schmutz von ihrer Kleidung zu wischen, noch sich niederzusetzen.

„Kein gastlicher Ort“, stieß sie angewidert von sich und wischte ihre beschmutzten Hände an ihrer ebenso beschmutzten Uniform ab. „Hier stinkt es. Besitzen die kein Gefängnis?“

„Was hast du denn erwartet?“, fuhr er sie ungewöhnlich barsch an. „Etwa ein First-Class-Hotel?“

Lena verzog nur ihr Gesicht. Ihre Fratze war in der Halbdüsternis jedoch nicht zu erkennen.

Tchengo beruhigte sich rasch wieder und blickte sich flüchtig um. „Das sieht nach einem Transportcontainer aus“, mutmaßte er wesentlich sanfter. „Vermutlich lagern sie hier die erbeuteten Iccex-Häute.“

„Was geschieht nun mit uns?“

„Ich weiß es nicht“, gestand der Llomenas. „Das war jedenfalls nicht der Kerl aus dem Yaalotta-Mutterschiff - der, der uns auf dem Frachter besuchte. Ich schätze, die werden nun Kriegsrat halten und uns eventuell gegen ... Namarch eintauschen.“

Lena registrierte die kleine Pause vor seinem Namen und begriff sofort. Tchengo wollte seine Deckidentität bewahren, solange es ging. Wer wusste schon, wer hinter den dünnen Wänden mithörte. Sie nickte daher.

Mit einem kaum hörbaren Seufzer ließ sich Tchengo ungeachtet des schlierigen Schmutzes, das Wände und Boden bedeckte, an der Wand entlang zu Boden gleiten. Besorgt beobachtete Lena ihn durch die Halbdüsternis. Sie selbst wagte es nicht, sich zu setzen oder gegen die Wand zu lehnen.

„Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt.

„Ich könnte ein paar Tage Urlaub gebrauchen“, kam es müde zurück. Seine Hände strichen über seine Brust und seinen Bauch, um offenbar seine verkrampften Muskeln, die Lena vorhin so bewundert hatte, zu besänftigen und zu entspannen. Er reckte seinen Oberkörper gerader und atmete einige Male tief durch.

„Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee“, entfleuchte es Lena, die sich gewaltsam von der Erinnerung wegreißen musste, in der sie seine harten, wie einen Panzer wirkenden Muskeln streichelte. Das in ihr aufkeimende Kribbeln würgte sie energisch nieder. „Wenn wir das überstehen sollten, würde ich gerne den alten Großvater besuchen. Dann könntest du mir zeigen, wie deine Kleinen ...“ Sie verstummte, als sie sich ihrer eigenen Worte bewusst wurde. Sie räusperte sich verlegen. Wie sie plötzlich auf die Idee käme, Namarchs Nachkommen gingen sie etwas an. Unwirsch schüttelte sie den Kopf und begab sich zu der Gittertüre. Dass Tchengos Kopf hochgeschnellt war und sie erst überrascht und dann mit jenem undefinierbaren Ausdruck im Gesicht ansah, entging ihr dadurch.

„Es wäre mir eine Ehre“, hörte sie ihn sagen, bekam es jedoch nicht richtig mit.

„Scht!“, machte sie und wies ihn mit einer Handbewegung an zu schweigen. „Da ist Laii“, zischte sie kaum hörbar. „Was macht sie in diesem Aufzug hier?“

Äußerst mühsam hievte sich Tchengo wieder auf die Beine, die Hände vor seinen Bauch pressend und schlurfte ebenfalls zur Gittertüre, um hindurch zu spähen. Er entdeckte die junge Frau in den extrem kurzen Kleidchen und nickte wissend.

„Wenn du noch lauter brüllst, wird ihr verzweifelter Versuch, uns zu befreien, bereits im Keim erstickt“, flüsterte er sehr leise und kehrte wieder zu seinem Ruheplatz zurück.

Lena folgte der Pilotin, bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwand, dann begab sie sich zu Tchengo und ging vor ihm in die Hocke.

„Du weißt, was sie vorhat“, schlussfolgerte Lena. „Könnte das von Erfolg gekrönt sein?“

„Könnte“, nickte er müde. „Wenn wir uns ruhig verhalten.“

Lena blickte zur Türe und wieder zurück. „Weißt du ...“, begann sie und unterbrach sich selbst mit einem tiefen Atemzug, der aber rasch in einem erstickten Hüsteln verkam, als ihr der modrige Geruch tief in die Nase stieg und ihre Atemwege reizte. „Manchmal bin ich ganz schön neidisch auf euch beide“, sagte sie leise unter verkrampftem Hüsteln.

„Warum?“, wollte er wissen.

„Ihr wisst soviel voneinander und wisst genau, wie und wann der andere reagiert und was er denkt.“

„Wir hätten beinahe geheiratet.“

„Das werde ich wohl nie können“, fuhr sie fort. „Einen Menschen so genau zu kennen, dass ich weiß, was er denkt.“

„Wir konnten viel Zeit miteinander verbringen.“

„Ihr müsst euch sehr geliebt haben.“

Tchengo sah sie einige Augenblicke lang schweigend an, doch sein Gesichtsausdruck blieb in der Düsternis verborgen. Dann senkte er den Blick und besah sich offenbar seine Hände, die noch immer vor seinem Bauch lagen. „Liebe ist schon etwas Bemerkenswertes“, begann er schließlich. „Sie lässt einen vergessen, was man ist und öffnet die Augen nur füreinander. Unter dem Einfluss von Liebe verschwinden Konfessionen, Abstammungen, Traditionen, Sorgen, Nöte oder Wünsche. Sie lösen sich einfach in Nichts auf. Da gibt es nur die Liebe zu dem geliebten Wesen.“

Lena räusperte sich verlegen. Ein Kloß hatte sich bei Tchengos geflügelten Worten in ihrem Hals gebildet. „Das hört sich an, als wenn du die wahre Liebe erlebt hättest.“

„Du nicht?“, gab er unschuldig zurück.

Wieder räusperte sie sich und wandte den Blick ab. „Ich glaubte das mal“, gestand sie heißer und räusperte sich abermals, als sei ihr dieses Thema peinlich geworden. „Aber ich erkannte noch rechtzeitig, dass ich mich damit zum Narren gemacht hätte.“

Tchengo legte den Kopf schief. In der Halbdüsternis sah es aus, als sei er plötzlich eingeschlafen. „Wer war der Glückliche?“, erkundigte er sich ungeniert.

Abermals räusperte sich Lena. Sie erhob sich und drehte sich um. „Ich möchte nicht darüber reden“, sagte sie leise. „Es ist mir schon unangenehm genug. Ich habe es immer noch nicht ganz überwunden.“ Sie schnaufte genervt und begab sich zur Gittertüre zurück.

„Weiß er es?“

„Was?“

„Dass du ihn immer noch liebst?“

Lena senkte den Kopf und betrachtete gedankenverloren eine Scharniere. Dann drehte sie sich langsam zu Tchengo um und suchte sein Gesicht in der Halbdunkelheit. „Nein“, gestand sie. „Und das soll er auch nie erfahren.“

„Warum?“, bohrte der Llomenas hartnäckig.

Sie seufzte genervt. „Weil es nicht richtig ist“, gab sie missmutig von sich. „Weil er aus einer vollkommen anderen Welt stammt. Weil er genug eigene Probleme besitzt und weil es vollkommen absurd ist, dass er und ich ..." Sie verstummte, und biss sich auf die Lippen. „Ich will nicht mehr darüber reden“, fügte sie unwirsch hinzu.

„Du wirst als verbitterte alte Jungfer enden und dich maßlos darüber ärgern, dass du es ihm nicht wenigstens gesagt hast. Vielleicht überrascht er dich und ...“

„Nein!“, rief sie energisch und fuhr ihm damit schroff ins Wort. „Ich will es nicht.“

„Ich würde dich nicht zurückweisen.“

„Ha!,“ machte sie und drehte sich wieder um. „Du bist ein ...“ Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, das letzte Wort ihres Satzes auszusprechen. Nahe der Gittertüre stand ein Wächter, der offenbar sehr interessiert dem persönlichen Gespräch aus dem Inneren der Kammer folgte.

„He!“, machte Lena. „Verstehst du mich?“

Der Wächter bewegte sich, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sie sehr wohl verstand.

„Könnten wir etwas Wasser bekommen?“, fragte sie höflich.

Der Wächter drehte sich um, schöpfte einen Becher Wasser aus einer neben ihm stehenden Tonne und schüttete den Inhalt geradewegs durch die Gittertüre. Hämisch lachend trottete er von dannen und ließ die Gefangene sprichwörtlich wie begossen zurück.

„Eine etwas andere Art von Zimmerservice“, sagte Tchengo etwas amüsiert.

„Er hätte mich vorwarnen können, dann hätte ich rechtzeitig den Mund aufgemacht.“ Sie strich über ihr nasses Gesicht und leckte sich dann die Finger ab. Angewidert spuckte sie aus. „Schmeckt fast so, wie das Zeug hier drinnen riecht.“

„Würde mich wundern, wenn dem nicht so wäre.“

„Du kennst dich ja bestens aus.“ Lena zog ihm eine Grimasse, die jedoch mangels Lichtverhältnisse nicht das bewirkte, was sie sollte.

„Ich mache nur meine Schlussfolgerungen“, gab er unbeeindruckt von sich. „Es ist ein unbekannter Planet, auf dem illegale Geschäfte getätigt werden. Hygiene und Vorsorgemaßnahmen sind sicherlich nicht die wichtigsten Dinge, mit denen sich die Leute hier beschäftigen.“

Lena ging wieder vor ihm in die Hocke. „Deine Gelassenheit möchte ich haben.“

„Wir beide sind derzeit zur Untätigkeit verdammt. Und ich kann mich nicht einmal richtig bewegen.“ Er reckte seinen Oberkörper gerader und verzog vor Schmerz das Gesicht. Ein leiser Laut entkam seinen Lippen.

„Soll ich noch mal massieren?“, fragte sie besorgt.

„Nein danke. Es reicht schon, wenn das schleimige Zeug auf meiner Kleidung ist. Es muss nicht auch noch auf meiner Haut sein. Ein andermal gerne.“

Lena verkniff sich ein Kichern. Zugerne hätte sie ihn abermals massiert und seine Haut berührt. Zugerne hätte sie seine Muskeln gestreichelt und seinen harten Bauch liebkost. Sie räusperte sich, erhob sich wieder und begab sich zur Gittertüre zurück. Inzwischen war auch draußen eine beginnende Düsternis über die Siedlung herein gebrochen. Das geschäftige Treiben um die Kammer herum, löste sich allmählich auf. Offenbar war es Feierabend geworden und in den Leichtbauhütten rund um die Kammer, brannte Licht und raunten Stimmen. Als sich Lena nach einer ganzen Weile wieder umdrehte, vernahm sie aus der Dunkelheit ein gleichmäßiges Atmen: Tchengo war eingeschlafen. Lächelnd lehnte sie sich an die Gittertüre, die als einzige weitgehend von dem stinkenden Schleim verschont geblieben war, und sank auf ihre Fersen nieder. Ganz in den Schlamm wollte sie sich beim besten Willen nicht setzen. Vielleicht sollte sie sich ein Beispiel an dem Llomenas nehmen und sich ein wenig Schlaf gönnen. Wer wusste schon, was noch alles passieren sollte.

 

* * *

 

Laii hatte sich zu keiner einzigen Sekunde der Annahme hingegeben, ihr Auftauchen sei unbemerkt geblieben. Um den Aufenthaltsort von Lena und Tchengo ausfindig zu machen, musste sie die Stadt aber betreten und sich umsehen. Somit war es unumgänglich, dass sie gesehen und erkannt wurde. Sie tat so, als wolle sie sich mit Proviant und Ersatzteilen eindecken. Nicht einmal eine Stunde nachdem sie an dem Container vorbeigegangen war, in welchem sie Lena entdeckt hatte, stand plötzlich Orgess Matgijen – der Onkel ihres verstorbenen Gatten – hinter ihr.

„Du hast wirklich Mut, Mädchen“, sagte er mit seiner tiefen, ihr immer schon unangenehm gewesenen Stimme.

Laii zwang sich, keine übermäßige Reaktion sehen zu lassen. In aller Ruhe legte sie die Früchte beiseite, die sie prüfend in die Hand genommen hatte, und drehte sich um.

„Das war schon immer mein Markenzeichen“, gab sie selbstsicher zurück. „Du hättest dich wegen mir nicht extra aus deinem pompösen Palast bemühen müssen, Orgess. Ich wollte auch nicht weiter stören. Ich brauchte nur ein paar Vorräte.“

„Dein Auftauchen hier macht mich immer stutzig.“

„Warum?“, fragte sie unschuldig und blickte ihn herausfordernd an. „Hast du etwas ausgefressen? Oder ein großes Ding am laufen? Wie ich hörte, ist der Handel mit Iccex verboten worden. Das muss dir doch einen gewaltigen Schlag ins Gesicht versetzt haben.“

„Und dennoch bist du hier, Laii. Das macht mich extrem stutzig. Du hast noch nie etwas getan, ohne einen Eigennutzen davon zu ziehen. Und soweit ich mich erinnern kann, sagtest du kurz vor deiner Abreise, du wolltest Commelarr nie wieder betreten.“

„Es gibt Zeiten und Gegebenheiten, da muss man seine Entschlüsse ändern.“

„Und wie ich weiterhin hörte, seist du den Streitkräften beigetreten.“

„Richtig!“, pflichtete sie ihm bei. „Aber da gab es ein kleines Problem mit dem Verständnis gegenüber Vorgesetzten.“ Sie nahm ihre Tasche auf und schob sich an Orgess Matgijen vorbei. „Ich bin jetzt wieder freischaffend.“

„Wieso kommst du ausgerechnet hierher?“

„Es lag auf dem Weg. Und wenn du mich nun entschuldigen würdest. Ich muss noch einige Besorgungen tätigen, dann bin ich auch schon wieder weg.“

Der Yaalotta-Führer war nicht gewillt, Laii so einfach wieder gehen zu lassen. „Ich konnte dich gut genug kennenlernen, um nun genau zu wissen, dass dein Auftauchen hier, etwas zu bedeuten hat.“

Laii, die den Laden eben verlassen wollte, blieb stehen, drehte sich langsam um und fixierte den Mann mit halb zusammengekniffenen Augen. „Hör mir zu, Orgess. Wenn mein Proviant und mein Treibstoff bis Gattban gereicht hätten, hätten mich keine zehn Iccex dazu bringen können, auch nur einen Fuss auf deinen dreckigen, stinkenden Planeten zu setzen. Mir gefällt es auch nicht, ausgerechnet hier stranden zu müssen, wo die Preise so astronomisch hoch sind, dass ich anderswo für denselben Betrag mein Schiff total überladen könnte. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe. Ich bin schon viel zu lange hier.“ Sie wirbelte herum und stapfte davon.

„Ich trau dir nicht, Laii“, rief er ihr hinterher.

„Da haben wir ja etwas gemeinsam. Ich dir auch nicht.“ Sie betrat den nächsten Laden und besah sich einige Stoffe eingehender. Der Yaalotta-Mann war ihr gefolgt und gesellte sich abermals zu ihr.

„Wo ist dein Schiff?“, erkundigte er sich beinahe beiläufig.

„Hältst du mich für so dumm?“, gab sie unbeeindruckt zurück.

„Niemand kann sich unbemerkt auf Commelarr einschleichen.“

„Ich dachte, du kennst mich, Orgess. Im Umgang mit dir habe ich gelernt, dass man dann die Initiative ergreifen muss, wenn der Gegner abgelenkt ist.“ Sie durchsuchte nachlässig einen Ständer mit Hemden und Hosen und widmete sich dann einem mit Kleidern. „Zu meiner Belustigung musste ich feststellen, dass du nun nach dem Handelsverbot zur Piraterie übergegangen bist. Habt ihr bei dem Frachter fette Beute gemacht?“

„Bist du an einem Anteil interessiert?“

„Wirklich nicht. Das ist unter meinem Niveau.“

„Was willst du dann auf Commelarr?“

Sie hielt inne und musterte ihn kurz. „Sagte ich bereits“, bemerkte sie beinahe lehrmeisterhaft. „Vorräte auffüllen. Ich hatte nicht vor, mich länger als nötig in diesem stinkenden Loch aufzuhalten. Also lass mich endlich meine Besorgungen tätigen. Dann hast du mich auch recht bald wieder los.“

„Ich werde dich im Auge behalten“, ermahnte Matgijen sie.

„Tu, was du nicht lassen kannst“, murrte sie zurück, drehte sich um und widmete sich wieder dem Kleiderständer. Sie bemerkte, wie der Yaalotta noch eine Weile stehen geblieben war, um sie zu beobachten, doch sie ignorierte ihn einfach. Schließlich gab er es auf und marschierte davon.

Darauf hatte Laii nur gewartet. Sie schulterte die Tasche mit den Einkäufen und verließ die Stadt. Sie folgte einige Zeit der staubigen, unbefestigten Straße, dann bog sie vom Weg ab und ging geradewegs in den Wald hinein. Nach einigen hundert Metern, duckte sie sich schnell hinter einen ungekippten Baumstamm und kroch daran entlang von ihrem ursprünglichen Pfad weg. Schließlich blieb sie reglos liegen und lauschte in die Stille des Waldes hinein. Nach wenigen Augenblicken vernahm sie leise knisternde Schritte, Füße, die das welke Laub am Boden zertraten. Sie war verfolgt worden. Ein Umstand, den sie erwartet hatte. Vorsichtig spähte sie über den Baumstamm hinweg und entdeckte zwei Wächter, die sich nach allen Seiten blickend und den Boden nach Spuren absuchend zwischen die Bäume hindurch schlichen. Einer von ihnen sah in ihre Richtung, doch Laii bewegte sich nicht und tauchte nicht blitzschnell unter. Der Wirrwarr von verschiedensten Farben, das trügerische Lichtspiel von Schatten und Licht, die vom Wind bewegten Blätter verbargen das winzige Etwas, das noch von ihr zu sehen war. Sie beobachtete die beiden Männer, bemerkte mit einem selbstherrlichen Lächeln, dass die beiden vermeintlichen Spuren tiefer in den Wald folgten. So leicht hatte sie noch nie Verfolger abgeschüttelt, dachte sie lächelnd und glitt wieder lautlos hinter ihren Baumstamm.

Da wurde sie gepackt und herumgerissen. Harter Stahl traf sie am Kopf. Doch Laii war geistesgegenwärtig zur Seite getaucht, sodass der eiserne Knüppel sie nur streifen konnte. Ihre Hand schnellte flinker zu ihrer Waffe an ihrem Oberschenkel, als ihr Gegner sie daran hindern konnte. Ein Schuss löste sich und ein grellroter Blitz durchzuckte die beginnende Nacht im Wald. Ein Mann schrie auf. Ein anderer trat ihr schmerzhaft in die Brust. Laii plumpste hart auf den Baumstamm, rollte geschickt darüber hinweg und tauchte in die Deckung des Stammes. Ein schwerer Körper prallte nur knapp neben ihr auf den weichen Waldboden. Sie riss ihre Waffe herum. Ein weiterer roter Blitz zischte durch die Halbdüsternis, tauchte ein wütendes Gesicht in glutrotes Feuer und entzündete welkes Laub am Boden. Funken stoben hoch und wirbelten wirr durch die Luft. Der zweite Schuss hatte sein Ziel verfehlt und so stürzte sich der Mann abermals auf sie. Sie wehrte seine Schläge beinahe mühelos ab. Das harte Training und die rüde Zeit inmitten dieser Iccex-Jäger hatten sie einiges gelehrt. Sie versetzte ihrem Gegner zwei harte Hiebe in die Brust, setzte mit einem gestreckten Bein hinterher und beendete diese Rangelei mit einem gezielten Schuss. Nur leicht außer Atem richtete sie sich wieder auf und blickte sich um. Der andere Mann hatte mittlerweile zu schreien aufgehört und war in klägliches Wimmern übergegangen. Sie steckte ihre Waffe wieder in den Schenkelhalfter, begab sich zu dem Verletzten und untersuchte ihn kurz. Er war schwer verletzt, aber nicht so schwer, dass er es nicht mehr zurück in die Stadt schaffen könnte.

„Sag Orgess, er sollte mich inzwischen besser kennen“, zischte sie missmutig. Dann schulterte sie ihre Tasche und machte sich auf den Weg in Richtung Straße.

 

Lena war tatsächlich eingenickt. Ein leises Geräusch in ihrer unmittelbaren Nähe weckte sie schließlich wieder und sie brauchte einige Augenblicke, um sich wieder an ihrer derzeitigen Situation zu orientieren. Etwas berührte sie durch die Gittertüre an ihrer Schulter und sie fuhr erschrocken herum. Als sie die vagen Umrisse von Laiis Kopf erkannte, zwang sie ihren Schreck nieder.

„Geh von der Türe weg!“, säuselte kaum hörbar eine Stimme von draußen herein. Lena erhob sich und trat beiseite. Ein leises Knacken ertönte, ein Zischen, dann stoben schwache Funken ins Innere des Containers und letztendlich gab die Verankerung der Willkür des Schweißbrenners nach. Lena war inzwischen nach hinten gegangen und suchte im Dunkeln nach Tchengo, um ihn zu wecken, doch kaum war sie herumgewirbelt, war sie auch schon auf ihn geprallt. Ein dumpfer Laut entfleuchte ihm.

„Sachte!“, zischte es leise an ihr Ohr.

„Noch alles dran an euch?“, erkundigte sich Laii flüsternd.

„Wie man es nimmt. Wir hatten eine unliebsame Begegnung mit einem Iccex. Tchengo hat es ziemlich erwischt.“

„Ich lebe noch“, meldete er sich zu Wort. „Und wenn wir hier noch länger herumdiskutieren, können wir gleich einen Daueraufenthalt buchen.“

„Los, kommt!“ Laii schlich voran, ihre Sinne nach allen Richtungen ausrichtend. Immer wieder blieb sie stehen, lauschte in die Nacht hinein und winkte dann die beiden weiter.

Sie schlichen sich wie Katzen die stockdunklen Straßen und Gassen entlang in Richtung Waldgrenze. Tchengo bewegte sich manchmal etwas steif und ungelenk und nutzte jede Gelegenheit aus, um inne zu halten und zu verschnaufen, konnte aber ansonsten mühelos mit den beiden Frauen mithalten. Gerade als sie die Waldgrenze erreicht hatten, gellte ein schriller Pfiff durch die Nacht und die drei verharrten bewegungslos.

„Euer Ausflug ist entdeckt worden“, zischte Laii und winkte ihre Begleiter zu größerer Eile. „Wir müssen Dystin erreichen, ehe es hell wird.“

„Was ist das – Dystin?“, wollte Lena wissen.

„Eine kleine Siedlung auf der anderen Seite des Waldes“, erklärte Laii hastig. „Wenn wir die große Lichtung erreichen, werde ich Corttes anfunken und ein Shuttle anfordern. Dann müsste er dasein, wenn wir in Dystin eintreffen.“

„Du kennst dich hier sehr gut aus“, bemerkte Lena feststellend.

„Zwangsläufig“, gab Laii achselzuckend von sich. „Ich habe hier einige Jahre gewohnt.“ Sie drehte sich nach Tchengo um. „Wie sieht es aus? Hältst du ein paar Stunden Fußmarsch durch?“

„In der Not wächst man über sich hinaus“, entgegnete er und kletterte steif und umständlich über einen Baumstamm. Dabei presste er einen Arm vor seinen Bauch. „Wenn die einzige Alternative heißt, auf diesem unwirtlichen Planeten zugrunde zu gehen, werde ich die Zähne zusammenbeißen und laufen.“

„Witzig wie immer“, höhnte Laii kichernd. „Scheu dich nicht davor, es zu sagen, wenn du eine Pause brauchst.“

„Und mir eine Blöße bieten?“

„Sind Männer eigentlich immer so arrogant?“

Tchengo zog nur eine Fratze, die allerdings wegen den düsternen Lichtverhältnissen im verborgenen blieb. Abgesehen davon hatte die in den Raum gestellte Frage auch gar keine Antwort verlangt.

Schweigend marschierten sie weiter. Irgendwann kamen sie an einer großen Lichtung an. Während Laii versuchte Verbindung mit Corttes aufzunehmen, ließ sich Tchengo ins weiche Farngras sinken und blickte nach Fassung ringend in die Sterne. Lena sank neben ihn auf den Boden nieder.

„Vielleicht hilft es dir, wenn ich noch mal massiere“, sagte sie und streckte ihre Hände bereits nach seinen Rippen aus. Doch der Llomenas stieß sie unwirsch weg. Erschrocken über diese heftige Reaktion zuckte sie wieder zurück und starrte ihn verwirrt an.

Laii sank neben die beiden ins Farngras nieder. „Corttes kommt mit einem Shuttle. Er wird ungefähr zwei Stunden benötigen.“

„Sofern sie uns nicht auf den Fersen sind“, keuchte Tchengo.

„Er kommt hoffentlich nicht allein“, sorgte sich Lena, die sich entschlossen hatte, die Reaktion ihres Adjutanten einfach zu ignorieren.

„Wenn du damit den Gleen meinst, das wird sich wohl nicht vermeiden lassen“, entgegnete Laii. „Azaron und LoBayy eskortieren ihn selbstverständlich.“ Sie wandte sich an Tchengo. „Wir haben Zeit, wir müssen nicht hetzen. Du kannst dich noch ein paar Minuten ausruhen. Wie viele Rippen sind es eigentlich?“

„Zwei mindestens“, antwortete Lena.

„Die Rippen sind nicht das Problem“, keuchte Tchengo atemlos.

„Was dann?“, wollten die beiden Frauen wissen.

„Es geht wieder los.“

Noch ehe der Llomenas seine Antwort näher erörtern konnte, ertönte ein merkwürdiges Geräusch, geradewegs aus jener Richtung, in der Laii ihre Flucht weitergehen lassen wollte. Das Geräusch von Triebwerken rauschte immer näher auf sie zu.

„Offensichtlich ist Orgess endlich drauf gekommen, was hier abläuft. Sie schneiden uns den Weg ab.“ Sie stellte sich auf die Beine. „Das wollte ich eigentlich vermeiden. Jetzt müssen wir durch den Sumpf. Kommt! Wir müssen hier weg.“

Lena blickte sie erschrocken an. „Sumpf? Du meinst doch nicht etwa zu den Iccex?“

„Euch beiden werden sie nichts tun“, wusste Laii. „Euch kann man schon von Gattgan aus gegen den Wind riechen.“

Lena schnüffelte an sich. Sie roch wirklich nicht besonders. Das lag an dem Zeug in ihrem Gefängnis, mit dem sie zwangsläufig in Kontakt gekommen war.

„Los, kommt!“ Laii half Tchengo auf die Beine und hetzte die beiden von der Lichtung herunter. Sie legte ein beachtliches Tempo hin, als sie nun Richtung Sumpf eilte, vergewisserte sich jedoch immer wieder, dass ihre Begleiter ihr folgen konnten.

Langsam brach die Morgendämmerung über den Wald herein, und als die drei endlich den Sumpf erreichten, war der Himmel erfüllt von Feuer und farbenfrohem Lichtspiel. Vom Horizont her wurde der Morgenhimmel von einem Spektakel überflutet, das allein eine Reise nach Commelarr hätte wert sein können. Doch die drei Flüchtigen besaßen keinerlei Sinn für dieses Schauspiel. Sie waren beinahe eine dreiviertel Stunde ohne Pause durch den Wald gehetzt, immer von dem unheilvollen Geräusch herannahender Triebwerke fort.

Am Ufer des ersten schlammigen Tümpels, dem sie begegneten, ließ sich Tchengo niedersinken. „Stop!“, keuchte er atemlos, krümmte sich auf allen Vieren auf dem weichen Boden und rang beinahe verzweifelt nach Fassung.

„Kann uns Corttes nicht aus den Sümpfen fischen?“, fragte Lena, der Tchengos Zustand betroffener machte, als sie sich insgeheim eingestehen wollte. „Ich glaube nicht, dass Tchengo noch weit kommt.“

„Er kann hier nicht landen, ohne einzusinken oder von Iccex angegriffen zu werden“, wusste Laii. „Das wird schwierig werden.“

Das Geräusch der Triebwerke kam näher. Laii sank neben dem Llomenas auf die Ballen nieder. „Wir müssen über die Fiju-Straße auf die andere Seite des Sumpfes, solange die Dämmerung noch nicht vollständig vorüber ist. Reiß dich noch ein wenig zusammen, Tchengo.“

Er richtete sich tapfer auf. „Danach brauche ich dringend einen langen Urlaub“, presste er mühsam hervor und stellte sich umständlich auf die Beine.

„Den kriegst du auch, sobald uns Corttes aufgesammelt hat.“

Laii marschierte voran. Erst am Ufer entlang, dann bog sie geradewegs zwischen zwei hochgewachsenen Sumpfgrasweiden hinein und folgte einem befestigten Weg, der sich zwischen morastigen Tümpeln, stinkenden Pfützen und blubbendern Moorsenken hindurchschlängelte. Hin und wieder ragten kleine Gruppen von hohen Bäumen in den Himmel, an welchen sich Tchengo für einen Moment klammerte und verschnaufte. Lenas Angebot, sich auf ihn zu stützen, lehnte er mürrisch ab. Es verwirrte und schmerzte sie, dass er sie auf diese wenig sympathische Art und Weise zurückwies. Insbesondere noch mehr, als er etwas später strauchelte und sich bereitwillig von Laii unter die Arme greifen ließ. Für Lena bewahrheitete sich immer mehr ihre eigene Vermutung, dass Tchengo keinerlei Interesse an ihr besaß. Verletzt und traurig entschloss sie sich dazu, ihn einfach als Kameraden, als ihren Flügelmann, ihren Adjutanten anzusehen und sich von ihm nicht noch weiter in seine persönlichen Probleme hineinziehen zu lassen. Er benötigte sie nur, weil er nicht mutig genug war, sich allein seinem übermächtigen Vater zu stellen. Danach war sie wertlos für ihn. Abgesehen davon, fragte sie sich gleichzeitig, warum sie überhaupt darüber nachdachte. Tchengo entstammte einer Spezie, die keine zweite Person dafür benötigten, den Sinn ihres Lebens zu erfüllen – und schon gar kein monogeschlechtliches Wesen aus einer anderen Spezies.

„Noch ein Stückchen, dann können wir wieder eine kleine Rast machen“, sagte Laii, als der Llomenas immer häufiger stolperte und schnaufte, als hätte er gerade einen anstrengenden Kampf mit einer Konditionsmaschine hinter sich.

„Ich brauche was zu trinken“, japste er und sank auf die Knie nieder.

„Damit kann ich dir leider nicht dienen“, gab Laii ebenfalls abgehetzt von sich. „Aber hier können wir nicht bleiben.“ Sie winkte Lena zu sich und schob sich unter einen seiner Arme. „Für verletzten Stolz haben wir jetzt keine Zeit“, murrte sie, als sich Tchengo von beiden Frauen freimachen wollte, und ignorierte seine Einwände einfach.

Lena hatte einen Moment lang überlegt, ob sie Laiis Aufforderung nachgehen sollte. Denn offenbar war es dem Llomenas unangenehm von ihr berührt zu werden. Zu gerne hätte sie ihn sich selbst überlassen, doch andererseits schrieh alles in ihr danach, ihm zu helfen und sämtliche Not und Schmerzen abzunehmen. Sie genoss seine unmittelbare Nähe. Sie genoss seinen schweren Atem und das von Erschöpfung und Schmerzen gezeichnete Zittern seiner Muskeln. Sie genoss die Hitze, die von ihm ausging und sie genoss den schweren Druck seines Armes auf ihrer Schulter. Beinahe hätte sie die Augen geschlossen, wenn nicht das unheimliche Sirren der Jäger-Triebwerke in ihrem Rücken sie an ihre prekäre Situation erinnert hätte. Beinahe wäre sie in einen romantischen Tagtraum abgeglitten, in welchem sie sich an Tchengos Seite einen farbenprächtigen Sonnenuntergang besah. Sie schob sich noch weiter unter seine Schulter und zog seinen Arm fester um ihren Hals, um noch mehr von dieser angenehmen Berührung zu erleben. Mit der anderen Hand umfasste sie seine Hüfte und drückte ihn an sich, so als wolle sie sein eigenes Gewicht auf das ihre übertragen. Deutlich spürte sie seine Erschöpfung, konnte mitfühlen, wie ihm jeder Schritt Flutwellen von Schmerzen durch den Körper jagte. Es tat ihr selbst weh und zu gerne hätte sie sich tröstend an ihn geschmiegt. Sie konnte fühlen, wie er kämpfte, wie er sich Schritt für Schritt vorwärts arbeitete, wie er darum rang, aufrecht zu bleiben, nicht der Ohnmacht nachzugeben, wie sein Atem immer heftiger ging, wie sich sein ganzer Körper verkrampfte. Sie blickte zur Seite. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Selbst die feuerrote Morgendämmerung vermochte ihm nicht die Glut des Lebens ins Antlitz zu hauchen. Er war bleich wie Kalk. Sein Haar hing ihm kraftlos, strähnig und verschwitzt ins Gesicht. Seine Augen hatten längst jene Glut verloren, die sie an ihm so bewundert hatte. Fast so als ob ...

Lena schüttelte innerlich den Kopf. Das konnte nicht sein. Wenn das passiert wäre, was sie wage vermutete, hätte er ihr sicherlich etwas davon erzählt. Es konnte einfach nicht sein. Doch dann erinnerte sie sich an seine schroffen Zurückweisungen und die Geheimniskrämerei, die er beim ersten Mal darum gemacht hatte. Das Gefühl verstärkte sich immer mehr, je länger sie ihn beobachtete und je länger sie versuchte, sich das auszureden.

„Halt! Stop! Nicht weiter!“ Tchengo wurde auf einmal sehr schwer. Plötzlich jeglicher Kraft beraubt, sackte er in sich zusammen und riss dabei die beiden Frauen mit sich, sodass nun alle drei auf dem Boden lagen. „Ich kann nicht mehr“, keuchte er vollkommen kraftlos.

„Tchengo?“, meldete sich Lena vorsichtig zu Wort und rappelte sich unter dem Llomenas hervor. „Kann es sein, dass du ...?“ Sie biss sich auf die Lippen. Es war ihr unangenehm, wenn nicht gar peinlich, darüber zu sprechen.

„Verdammt blöder Zeitpunkt“, knurrte er verhalten.

„Von was sprecht ihr?“, wollte Laii missmutig wissen.

„Tchengo ist ... schwanger“, erklärte Lena wissend.

„WAS?“ Laii starrte ihn entgeistert an. Es dauerte endlos lange Momente, bis die einstige Beinahegemahlin des Llomenas wieder reagierte. Sie schien jedoch keinen Augenblick lang Lenas Worte anzuzweifeln. „Bist du dafür nicht ein wenig zu jung?“

„Das ist nicht das erste Mal“, entgegnete Lena kundig. „Seit wann weißt du es?“, erkundigte sie sich an Tchengo gerichtet.

Er musste einige Mal durchschnaufen, ehe er antworten konnte. „Seit gestern – während ich die Antriebe durchcheckte. Auf einmal merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Es war wie beim ersten Mal. Ich wusste sofort, was los war.“

„Das war, sicherlich kurz bevor du zu mir gekommen bist, damit ich mit dir zu deinem Vater gehe, richtig?“

Er nickte. „Ich musste dieses Gespräch hinter mich bringen, bevor es offensichtlich wurde.“ Er packte Lena an der Uniform und zog sie an sich. „Er darf mich nicht so sehen. Sonst weiß er sofort Bescheid. Und dann habe ich überhaupt keine Chance mehr, mich von ihm loszusagen.“ Er zog sie noch näher an sich. „Bitte!“

„Ich tu, was ich kann“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Er blickte sie so flehend an, dass sie nicht anders konnte, als es ihm zu versprechen.

„Als wir beide noch zusammen waren“, begann Laii mit einem sehnsüchtigen Gesichtsausdruck. „Habe ich diesem Moment immer entgegen gefiebert.“ Dann schien sie wieder klarer im Kopf zu werden. „Nicht das erste Mal, sagtest du? Wie war das denn?“

„Ein Erlebnis, das ich nicht noch mal durchmachen möchte“, schnaufte Tchengo, während er seine Arme um den Bauch legte. „Die ersten drei bis vier Tage muss sich der Organismus umstellen. Das kostet enorm viel Energie. Mein ganzer Körper verhärtet und versteift sich und ich bin sehr schnell außer Puste.“

„Das erklärt einiges“, nickten die beiden Frauen.

„Tja“, machte Laii anschließend. „Das Problem ist, dass wir noch ein ganzes Stück zu laufen haben. Zurücklassen können wir dich auch nicht, denn hinter dir sind sie her.“

„Wir schleppen dich eben mit, soweit wir können“, versprach Lena, mit einem bestätigungserheischenden Blick Richtung Laii, worauf diese nickte.

„Ich wäre zu gerne dabei gewesen“, schloss Laii an das vorhergehende Thema wieder an. „So etwas hätte ich gerne erlebt.“

„Ich war dabei“, sagte Lena. „Und ich war ganz schön erschrocken. Ich hatte vorher ja keine Ahnung, dass Tchengo... Ich meine, dass er ... Ich wusste ja nicht einmal genau, was ein Llomenas war.“

„Da hast du dir genau die Richtige ausgesucht“, kicherte Laii und knuffte Tchengo feixend in die Schulter. „Nichtsdestotrotz, versprich mir bitte, dass ich diesmal dabei sein darf. Bitte!“

„Du kannst mir das gerne abnehmen.“

„Typisch Männer“, murrte sie belustigt. „Sonst große Sprüche auf Lager, aber wenn es darum geht, Schmerzen auszuhalten, dann benehmen sie sich wie die Kinder.“

„Ich weiß nicht, wie ich reagiere, wenn es mal bei mir soweit sein sollte“, gab Lena nachdenklich hinzu.

„Warum sollte es das? Dafür sorgt doch er schon.“

Lena brauchte eine Weile, um den Sinn dieser Worte zu verstehen. Tchengo unterbrach ihre Gedanken, ehe sie zum Ende kam, indem er sich auf die Seite drehte und auf die Beine hievte.

„Wir sollten weitergehen, ehe sie uns hier entdecken“, sagte er und streckte sein steifes Kreuz vorsichtig.

„Du bist ein jämmerlicher Feigling, Tchengo“, schimpfte Laii und stellte sich ebenfalls auf die Beine.

„Das ist keine Angelegenheit, mit der du dich befassen solltest“, ermahnte er sie.

„Ich habe dich sehr gern“, brauste Laii auf, sich durch irgendetwas in Kampfstimmung bringend. „Es verging in den Jahren, seit wir gewaltsam getrennt wurden, kein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht hatte. Aber weißt du, warum meine Wahl letztendlich nicht auf dich gefallen ist, als man sie mir ließ? Warum ich Pietr gewählt habe, anstatt dich? Er bot mir an, dich zu holen, dich einfach zu entführen, damit wir wieder vereint werden konnten. Doch ich lehnte ab. Und weißt du warum?“

Tchengo blickte sie verwirrt an. Dann schüttelte er den Kopf.

„Weil du, wenn es wirklich brenzlig wird, nicht den Mut besitzt, es bis zum Schluss durchzustehen. Als dein Vater unser Versteck fand und uns auseinanderriss, hast du aufgegeben, anstatt zu kämpfen und für das Recht auf dein eigenes Leben einzustehen. Du hast es kein weiteres Mal versucht. Du hast einfach aufgegeben und dich deinem Schicksal gefügt. Ich hätte dich unser Leben lang vor ihm beschützen müssen und das wollte ich nicht. Wir hätten stets ein Leben auf der Flucht führen müssen und das war nicht das, was ich mir für meine Zukunft vorgestellt hatte. Und wenn du dich jetzt nicht endlich zusammenreißt und ihr die Wahrheit sagst, wirst du dein Leben lang vor deinem Vater auf der Flucht sein und für immer allein bleiben.“ Sie schnaufte tief, als sie geendet hatte, und blickte ihn herausfordernd an.

Hinter Tchengos Stirn arbeitete es gewaltig. „Du bist unfair“, sagte er ihr auf den Kopf zu.

„Ich bin wenigstens fair zu mir selbst“, gab sie kämpferisch zurück. „Aber du betrügst dich selbst, indem du dir einredest, dass du Mitleid verdienst. Aber dem ist nicht so. Du verdienst einen Tritt in den Hintern, damit du endlich aufwachst.“

„Ich stelle fest, dass du nach wie vor der Meinung bist, man könne alles mit entsprechender Waghalsigkeit und Selbstüberschätzung bewerkstelligen. Manches geht einfach nicht so, wie man es sich vorstellt oder wünscht. Die Dinge des Lebens gehen eben nicht immer auf die eigenen Bedürfnisse ein und schon gar nicht auf gegenseitige.“

„Du bist ein verdammter Idiot“, schimpfte Laii und hieb ihm in den Bauch, worauf er mit einem erstickten Schrei wieder zu Boden sackte. „Blind wie ein Tumpfisch und taub wie eine Vrossel. Sag mal in welcher Sphäre, lebst du eigentlich? Das muss doch selbst so ein selbstgefälliger Hofzögling wie du sehen, dass ...“ Weiter kam sie nicht. Tchengo hatte sich mit einem wütenden Laut auf sie gestürzt.

„Noch ein weiteres Wort und ich drehe dir den Kragen um“, drohte er böse.

„Du hast dich um keinen Deut verändert, Tchengo“, zischte Laii ebenso erzürnt und machte sich energisch von ihm frei. „Du tust dir lieber selbst weh, als dich endlich von deinem eigenen Stolz zu befreien. Vielleicht ist Mitleid doch das Beste, was man dir entgegen bringen kann.“ Damit stieß sie ihn heftig von sich, ungeachtet der Schmerzen, die sie ihm mit dieser heftigen Bewegung antat, und klopfte sich Schlamm und Staub vom Leib. „Und jetzt kommt endlich. Ich habe keine Lust, hier noch länger rumzustehen.“

„Und was ging es denn?“, wollte Lena fragen, doch ihren Satz brachte sie nicht mehr ganz zu Ende. „Achtung!“, rief sie und schaffte es gerade noch, Laii einen Stoß zu versetzen, sodass sie erneut auf Tchengo fiel. Wie aus dem Nichts war ein dicker Tentakel geschossen und langte blindlings nach seiner Beute. Hätte Lena Laii nicht umgeworfen, hätte der Iccex sie erwischt. Dann erhob sich über ihnen ein gewaltiger Moorberg, der sich wie ein dicker breiter Teppich aus dem Sumpf erhob und sich über sie beugte. Tchengo und Laii lagen im Schilfgras und duckten sich so tief sie konnten in das Gras, doch der Iccex hatte sie entdeckt. Mehrere Tentakel aus seiner breiten morastigen Brust tasteten suchend nach den beiden. Einige weitere schienen Lena bemerkt zu haben, denn auch auf sie schossen sie zuckend und nach Beute lechzend zu. Tchengo langte nach dem Messer in seinen Stiefeln, doch es war nicht mehr da. Zu spät erinnerte er sich daran, dass es ihm bei der Gefangennahme abgenommen wurde. Beinahe gleichzeitig erinnerte er sich daran, was Laii gesagt hatte – die Iccex würden Lena und ihm nichts tun. Zu sehr rochen die beiden nach der Substanz, die im Inneren des Containers überall an Wänden und Boden klebte.

„Lena!“, rief er laut. „Komm sofort her!“ Er selbst rollte sich auf Laii und verbarg sie unter sich. Er sah im Augenwinkel, wie die Pilotin zögerte, näher auf den gewaltigen Iccex-Körper zu zugehen. Sie duckte sich unter einem Tentakel weg, das ohnehin kein großes Interesse an ihr zu haben schien, und ging erst ein paar Schritte rückwärts. Dann blieb sie stehen. „Komm her, Lena. Sofort!“ Einige der Tentakel betasteten seinen Körper und schienen von ihm zurückzuzucken, als glaubten sie, sich an ihm zu verbrennen. „Lena!“, schrie er, als sie immer noch zögerte. „Es tut dir nichts. Aber Laii wird es umbringen. Also komm her.“ Endlich setzte sich Lena in Bewegung, duckte sich unter einem suchenden Tentakel hinweg und kroch schließlich auf allen Vieren näher. „Bedecke ihre Beine!“, rief er, während er versuchte, eine suchende Tentakel davon abzuhalten, Laiis nackte Unterschenkel zu erwischen. Noch ehe er das eine Tastorgan wegtreten konnte, hatte sich ein zweites angepirscht und umschloss Laiis Fußknöchel mit festem Griff. Laii stieß einen angsterfüllten Schrei aus. Lena machte einen Satz vorwärts, warf sich bäuchlings auf Laiis Beine und grub ihre Zähne in das Tentakel. Sie schmeckte bitteres Salz und kaltes, hartes fast schon knorpeliges Fleisch und spuckte angewidert aus, als es endlich von Laiis Knöchel ließ. Dann verbarg sie die nackten Beine ihrer Staffelkameradin unter sich. Die Tentakel tasteten suchend auf ihr herum, stupsten sie hart in den Rücken und ließen schließlich von ihr ab. Es gab ein lautes Schmatzen und Gurgeln, als das Iccex enttäuscht wieder in den Sumpf verschwand. Die drei blieben noch einen Moment so liegen, bis sich Tchengo endlich wieder auf die Seite rollte.

„Verdammt“, keuchte er atemlos. „Das Ding hat mir bestimmt eine weitere Rippe gebrochen. Verdammt, tut das weh!“

„Besser deine Rippe, als Laii“, gab Lena noch immer aufgewühlt zurück, hievte sich auf allen Vieren und sah nach Laii, die die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Ihr Körper wurde von Weinkrämpfen durchgeschüttelt. „Es ist weg, Laii.“

Die junge Frau zuckte hoch und wischte sich hektisch die Tränen aus dem Gesicht. „Ich hasse diese Biester“, schluchzte sie aufgelöst. „Sie haben Pietr umgebracht. Mit ihrem giftigen Blut. Er war verwundet ...“

Lena wirbelte herum und erbrach sich augenblicklich. Sie vermochte selbst nicht zu sagen, woher dieser plötzliche Impuls kam. Vermutlich hatte ihr Körper das Gift rechtzeitig bemerkt und es loswerden wollen, ehe es Schaden anrichten konnte. Ihr Magen verkrampfte sich, bis sie nur noch Galle spuckte. Ihr tat alles weh, doch sie fühlte sich erleichtert. Keuchend und hustend sank sie auf die Knie und beruhigte sich allmählich wieder.

„Je schneller wir von hier weg kommen, desto besser“, röchelte sie und spuckte abermals aus. „Wie lange noch, bis Corrtes mit dem Rettungstrupp eintrifft?“

Laii wischte sich den Rest ihrer Tränen aus dem Gesicht und schluckte den Rest ihrer Bestürzung tapfer hinunter. „Eine knappe Stunde noch“, sagte sie.

„Schaffen wir das in dieser Zeit noch bis Dystin?“, wollte Lena wissen.

„Wenn wir uns ranhalten“, zuckte sie mit den Achseln.

„Dann sollten wir keine Zeit verschwenden.“ Sie drehte sich nach Tchengo um, der noch immer im Schilfgras lag und mit seinem zerschundenen Knochengerüst kämpfte.

„Helft mir bitte hoch“, bat er.

Anstatt ihm hochzuhelfen, drehte Lena ihn um, zog den Fliegeroverall über den Rücken und betastete die betroffene Stelle vorsichtig. Wieder musste sie gegen ein aufkeimendes Kribbeln in ihrem Inneren ankämpfen. Doch sie bemühte sich routiniert zu sein und sich nur um seine Verletzung zu kümmern.

„Ein gewaltiger Bluterguss, aber gebrochen scheint nichts zu sein“, sagte sie feststellend. Sie zog den Overall wieder hoch. „Vielleicht hat Laii doch recht. Ihr Männer benehmt euch bei Schmerzen wie Kinder.“

„Von dir hätte ich das nicht gedacht“, keuchte er verbissen, als die beiden Frauen ihm auf die Beine halfen.

„Was hast du denn erwartet? First-Class-Service?“ flachste sie und zwinkerte Laii aufmunternd zu. „Und jetzt sollten wir uns beeilen, unseren Zug nicht zu verpassen.“

 

* * *

 

Gleen Karcho Namarch hatte es sich wahrlich nicht nehmen lassen, bei der Rettungsaktion dabei zu sein. Selbst entgegen den entschiedenen Widersprüchen seiner Begleiter, ließ er sich neben dem Staffelpiloten in den Sitz fallen und ignorierte sämtliche weiteren Einwände. Schließlich musste sein Korps das Shuttle verlassen und er flog mit einigen Bergungsspezialisten, Sanitätern und ein paar Scharfschützen in Richtung von Commelarr, um seinen Sohn aus den Klauen von Gaunern und Betrügern zu retten. Kurz bevor der Pilot ablegen konnte, kam jedoch eine Meldung für ihn über das Kommgerät herein.

„Dringende Nachricht an Gleen Namarch“, ertönte es von irgendwo aus dem Cockpit. „Vom königlichen Hof.“

„Stellen Sie durch“, gab sich Namarch gelangweilt und lehnte sich zurück. Es ärgerte ihn, kurz vor der Rettungsaktion noch gestört und aufgehalten zu werden. Dennoch strich er etwas nervös über seine Gürtelschnalle, die zugleich auch ein Sender für ein Signal war, das für sämtliche seiner Söhne bedeutete, sich unverzüglich in Sicherheit zu begeben. Er erinnerte sich an die Schrecksekunde, die ihn selbst durch Mark und Bein gegangen war, als er dieses Signal im Hangar gehört hatte. Ihm war erst in diesem Moment in den Sinn gekommen, dass Tchengo ebenfalls im Besitz eines Empfängers war und dass auch sein Signal ertönen müsste. Ein Signal, das diesen Möchtegern-Entführern von Commelarr die Bestätigung dafür gab, dass sich einer der Söhne auf dem Frachter befand. Er schalt sich für seine eigene Dummheit, doch zugegeben hätte er es keine Sekunde lang.

„Gleen Namarch“, hörte er eine ihm bekannt vorkommende Stimme, die etwas verzerrt und entfremdet klang. Doch er erkannte sie nach sehr kurzem Überlegen, als die eines der Betreuer, die sich um seine jüngeren Söhne kümmern sollten. „Ich bitte aufrichtig um Vergebung. Ich weiß, ich soll sie nicht kontaktieren, solange sie sich auf dieser besonderen Mission befinden. Doch während ihrer Abwesenheit hat sich hier einiges zugetragen. Wir haben ihr Warnsignal erhalten und uns umgehend in die Schutzräume begeben. Doch zwei ihrer Nachkommen – Norch und Sattches – waren nicht auffindbar gewesen. Nach deren letzten nachzuvollziehenden Aufenthaltsortes sind sie spurlos verschwunden. Eine Suchaktion wurde bereits eingeleitet. Doch bislang vergebens. Ich befürchte nichts Gutes. Eine Forderung ging im königlichen Hause ein, welche verlangt, eine Organisation namens Yaalotta wieder zu legalisieren. Anderenfalls würden sämtliche Namarch-Nachkommen eliminiert werden. Gleen Namarch, ihre sämtlichen Nachkommen sind in großer Gefahr. Der König verlangt ihre unverzügliche Rückkehr an den Hof und beraumte bereits Beratungssitzungen ein. Dariuzswol Ende.“ Damit kehrte wieder Ruhe im Cockpit ein. Gleen Namarch musste tief durchatmen. Gelassen lehnte er sich in den Sessel zurück und starrte einige Augenblicke lang an die Decke.

„Tölpel“, entkam es schließlich seinen Lippen. „Nichtsnutzige Tölpel. Ich habe den beiden, Norch und Sattches schon so oft befohlen, die Camino-Residenzen zu meiden.“

„Möchten sie lieber mit einer Fähre an den Hof zurückkehren, Gleen Namarch?“, erkundigte sich Stingrizzo Corttes, der nur noch den Startknopf für das Zünden der Antriebsdüsen drücken musste.

„Nein! Die beiden können ruhig noch eine Weile zappeln. Ich muss mich erst um Tchengo kümmern. Starten sie endlich!“

„Wie Sie meinen.“ Damit betätigte Corttes den Knopf und ein Dröhnen ging durch die Fähre. Wenig später rasten sie im stockdunklen Weltall einer kleinen Kugel entgegen, im Schlepptau zwei Jagdmaschinen.

 

Auf einer kleinen Bergkuppe angekommen, musste sich Tchengo wie so oft in den letzten Minuten zu einer kleinen Verschnaufpause auf den Boden niederlassen. Sein Atem ging schwer und rasselnd. Nicht minder schwer hatten die beiden Frauen mit ihrer Fassung zu kämpfen, die den Llomenas die meiste Zeit mit sich schleppen mussten.

„Dort unten ist Dystin“, erklärte Laii hastig und zeigte auf eine kleine Siedlung am Fuße der Bergkuppe. Es war inzwischen hell geworden und die strahlende Morgensonne ließ die weißen Gebäude dort unten im Tal glänzen und glitzern, als bestünden sie aus Kristallen. Einige Bewohner eilten bereits durch die Straßen. „In zehn Minuten sollte Corttes kommen.“ Sie suchte den Himmel ab, ob sie schon etwas von ihm entdecken konnte, doch der Himmel war makellos weißblau. Nicht einmal ein Wölkchen schwebte über das Firmament zu ihnen herüber.

Lena schnaufte und folgte Laii, die sich anschickte, den Abstieg zu wagen. „Es ist schon bemerkenswert, wie problemlos wir hierher gelangen konnten. Ich hätte mit wesentlich mehr Schwierigkeiten seitens der Yaalotta gerechnet.“

„Oh!“, machte Laii. „Orgess wird kommen. Da kannst du drauf wetten. Er kennt mich sehr gut. Dystin ist von Pietr und mir ins Leben gerufen worden. Wenn er mich sucht, dann weiß er genau, wo er mich finden kann.“

„Dann ist es mehr als verantwortungslos, wenn du uns dorthin lotst“, bemerkte Lena und schob sich wieder unter Tchengos Arme, da dieser über einen Felsen strauchelte.

„Ich habe noch ein paar Freunde in Dystin“, erklärte Laii selbstsicher. „Die werden uns helfen. Einige von ihnen haben mit Orgess noch eine Rechnung offen. Dystin ist so ziemlich der einzige Ort auf Commelarr, in dem Orgess nicht gerne gesehen ist.“

„Warum?“

„Weil er sie um Jagd-Rechte und um eine Menge Profit gebracht hat“, erklärte Laii und half Lena und Tchengo eine kleine Böschung hinunter.

„Wir bräuchten ein paar Waffen“, gab der Llomenas zu bedenken.

Laii nickte und den Rest des Weges gingen sie schweigend. Erst als sie an einem runden, steinernen Gebilde ankamen, hielt sie an, ließ Tchengo dagegen lehnen und beugte sich über den Rand des Gebildes. Einen Augenblick später hielt sie Tchengo einen kleinen verbeulten Eimer mit Wasser hin, den dieser mehr als dankbar annahm und gierig trank. Als auch Lena ihren Durst gestillt hatte, gingen sie weiter.

Kaum hatten sie den Brunnen umrundet und waren auf die Straße getreten, wurden sie auch schon von einem Bewohner entdeckt.

„Laii Mingg!“, rief dieser überrascht aus. Ein Lächeln breitete sich von einer Wange bis zur anderen aus. „Was für eine Überraschung. Was machst du denn hier?“

„Hallo, Torg“, begrüßte sie ihn freundlich. „Ich bräuchte eure Hilfe. Ich habe ein paar Probleme mit Orgess.“

„Na klar, komm mit!“ Der Mann wischte sich seine Hände an der schmutzigen Jacke ab und winkte die drei mit sich. „Uääh“, rief er und rümpfte die Nase, als Tchengo und Lena ihm so nahe gekommen waren, dass ihm deren Duft in die Nase stieg. „Habt ihr in Iccex-Schleim gebadet?“

„Ich habe keine Ahnung, was das für ein Zeug war, in das man mich warf“, antwortete Lena und verzog vor Ekel das Gesicht. „Aber es half, diese ekligen Biester aus dem Sumpf von uns fernzuhalten.“

„Deswegen dürfen Häuter auch nicht mit auf die Jagd“, entgegnete Torg wissend. „Der Geruch des Todes verjagt die Beute, bevor sie gesichtet werden kann. Folgt mir. Im Waschhaus könnt ihr euch ein wenig sauber machen.“

Er führte sie zu einem der glitzernden Häusern, in dessen Innerem mehrere Waschbecken, Badewannen und Duschgelegenheiten darauf warteten, von heimkehrenden Jägern oder von Häutern benutzt zu werden, die ihre Tagesarbeit vollendet hatten. Tchengo ließ sich an einen der Wannen niedersinken, schloss für einen Moment die Augen und genoss die Ruhepause.

„Was führt dich nach Commelarr, Laii“, wollte Torg wissen. „Sagtest du nicht, du wolltest nie wieder hierher kommen?“

„Wir sind über Commelarr von Yaalotta angegriffen worden und abgestürzt“, berichtete Laii. „Jeden Moment müsste unser Rettungstrupp eintreffen und ich befürchte Orgess Mannen ebenfalls.“

Lena wusch Hände, Gesicht und Unterarme säuberlich und kümmerte sich dann um Tchengo, der nicht imstande war, seine Uniform zu öffnen, geschweige denn sich selbst zu waschen.

„Kein falscher Stolz,“ wehrte sie seine Gegenwehr ab und zog die Fliegermontur über seine Schultern. So vorsichtig sie auch vorging, er verzog dennoch sein Gesicht. „Ich helfe dir. Sag mir, was ich tun soll.“

Laii beobachtete Lena und Tchengo kurz, dann widmete sie sich wieder dem Freund aus längst vergangenen Tagen.

„Eigentlich sollte ich mich die ersten drei oder vier Tage hinlegen und nichts tun“, keuchte Tchengo und versuchte sich in einem wenig gelungenen Lächeln.

Lena schüttete eine Schüssel Wasser über den Kopf des Llomenas und rieb die Reste des stinkenden Schleimes aus seinem Haar und seinem Gesicht. Sie musste ihre Gedanken krampfhaft zurückhalten. Sie musste ihre Finger routiniert arbeiten lassen, ohne lange darüber nachzudenken. Jede einzelne Berührung ließ sie innerlich wanken und in ihrer Standhaftigkeit schliddern. Was in ihr vorging, konnte sie beim besten Willen nicht deuten. Tchengo war kein richtiger Mann, er war ein zweigeschlechtliches Wesen und als solches für sie und ihre Zukunft nicht angebracht. Dennoch geriet ihr Innerstes in Aufruhr. Sie schalt sich selbst für ihre wirren Gefühle. Erst als sie sich selbst eine Schüssel kaltes Wasser über den Kopf goss, war sie in der Lage wieder normal zu handeln, zu denken und konnte ihr Zittern im Zaum halten.

„Wann kommt Corttes?“, fragte sie beinahe herausfordernd und musste sich räuspern, um sich und ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Er sollte schon längst hier sein“, erwiderte Laii und blickte auf ihr Chronometer.

„Was ist mit ihm?“, erkundigte sich Torg besorgt.

„Als wir abstürzten, wurden wir von Iccex angegriffen“, berichtete Lena und wandte sich wieder an Laii. „Wenn Corttes jeden Moment eintreffen müsste, dann solltest du ihn über das Komm erreichen können.“

Die Pilotin nickte und aktivierte ihr Kommgerät. „Fünf an sechs, bitte kommen“, sagte sie laut. Schweigen antwortete ihr. „Hier spricht neunzehn-fünf. Sechs bitte antworte.“ Abermals blieb das Gerät stumm. Laii zuckte mit den Achseln. „Er sagte, er wollte planmäßig starten. Keine Ahnung, was ihn aufgehalten hat.“

„Versuche es weiter. Irgendwann muss er dich hören können.“

„Du hast es demnach doch geschafft, in die Streitkräfte zu kommen“, erriet Torg und strahlte über das ganze Gesicht, als sei er selbst stolz auf Laiis Leistung. „Wir hatten Wetten abgeschlossen.“

„Wie sind die Quoten?“, wollte Laii wissen und erwiderte das schelmische Grinsen.

„Fünfundvierzig zu sieben, dass du es nicht schaffst.“ Er richtete sich wieder auf. „Ich habe soeben eine Menge Geld gewonnen.“

Lena nahm eine der Tücher, die auf einem Ständer hingen, tränkte sie mit frischem, kühlem Wasser und legte es Tchengo auf den Bluterguss auf seinem Rücken. Dieser schloss für einen Moment die Augen und ließ die kühlende Wirkung auf sich eindringen.

„Du musst mit Tamee reden, damit er das glaubt und ich mein Geld bekomme.“ Er schickte sich an, das Waschhaus zu verlassen.

„Bei der Gelegenheit könntest du doch mal nachsehen, ob Orgess in der Nähe ist.“

Torg nickte und verschwand.

„Ob je ein Zweifel bestanden hätte, dass ich es nicht schaffe“, schimpfte sie nachlässig und begann nun ebenfalls, sich verkrusteten Schlamm, stinkenden Iccex-Schleim und Staub abzuwaschen. Dann nahm sie wieder das Funkgerät zur Hand und versuchte es einige Male, Corttes zu kontaktieren, doch vergeblich. „Wo ist dieser Kerl nur?“, schimpfte sie. „Wenn man mal einen Mann braucht, sind die anderweitig beschäftigt.“

Indessen half Lena Tchengo wieder auf die Beine. Sie krallte ihre Finger zu beiden Seiten seiner Hüfte in den Gürtel der Fliegermontur und zog ihn hoch. Dabei kamen sie sich so nahe, dass beide fast schon erschrocken darüber innehielten. Lena sog seinen Duft genussvoll in sich ein. Den immer noch an ihnen haftenden Gestank des Iccex nahm sie nicht mehr wahr. Sein nackter Oberkörper war ihr so nahe, dass sie sich nur ein klein wenig auf ihn zu bewegen musste, um sich an ihn zu schmiegen. Sie hörte das Rasseln seines Atems, spürte die Hitze seines Lebenshauches auf ihrem Gesicht, fühlte die Glut seiner Hände in ihrem Rücken. Nur wenige Zentimeter trennte sie voneinander. Beinahe vollkommen bewegungslos verharrten sie voreinander, unfähig den letzten Schritt zu tun. Nur langsam hob Lena ihr Kinn an, wagte es seine Augen zu suchen, wagte einen auf sehr wackeligen Beinen stehenden Gedanken daran zu verschwenden, sich eine Zukunft mit Tchengo vorzustellen. Leuchtend grüne Augen empfingen sie. Für einen Moment glaubte sie, ein Echo ihrer eigenen Gefühle in ihm zu erkennen. Glaubte, mit offenen Armen empfangen zu werden, hätte sie ihre Gedanken nur laut werden lassen. Seine Lippen waren zu einem schmalen Spalt zusammengepresst, ebenso wie die ihren. Sie war nicht fähig, mehr zu tun, als ihn anzusehen. Sie konnte ihn nur festhalten und ansehen – einfach nur dastehen und seinen Blick erwidern.

Da stürmte Torg ins Waschhaus herein. „Wir bekommen bald Besuch“, rief er aufgebracht und riss damit die beiden schroff auseinander.

„Verdammt blödes Timing“, schimpfte Laii, die Lena und Tchengo genau beobachtet und ihnen die Zeit gegeben hätte, zueinanderzufinden. Sie hatte sich zurückgehalten, abgewartet und es ihnen überlassen. Doch nun war dieser Augenblick zerstört. „Hättest du nicht fünf Minuten warten können?“

„Verzeihung!“, gab Torg etwas verwirrt von sich. „Aber Matgijen ist im Anmarsch. Mit einem ganzen Aufgebot an Maschinerie. Es dauert höchstens zehn Minuten, ehe er hier ist. Das wolltest du doch wissen.“

„Ja, richtig!“, nickte Laii und schielte nach den beiden Turteltäubchen, die sich inzwischen so weit voneinander getrennt hatten, dass es schwer sein würde, sie wieder zusammenzufügen.

„Ich werde mir das Mal ansehen“, gab Lena heißer von sich, wischte sich die Hände an ihrer Montur ab und verließ eilends das Haus.

„Feigling!“, zischte Laii Tchengo entgegen. „Es war so knapp!“ Sie presste Daumen und Zeigefinger zusammen und hielt es ihm hin. „Warum hast du es nicht getan? Warum hast du sie nicht geküsst?“

Tchengo räusperte sich. „Sie will mich nicht.“

„Das ist eine der blödesten Ausreden, die du je von dir gegeben hast“, rief Laii entrüstet.

Er nickte heftig. „Das hat sie mir gesagt, als wir im Container eingesperrt waren.“

„Ihr seid beide so verklemmt“, gab sie verächtlich von sich. „Also wenn das eben nicht eindeutig war. Jede einzelne Faser ihres Körpers verzehrt sich nach dir. Hast du das denn nicht gemerkt?“

Tchengo senkte den Kopf und zog sich schließlich die Montur hoch, als er es bemerkte. Laii kam schnell näher und half ihm dabei, als er sich etwas unbeholfen anstellte.

„Also wenn du es ihr nicht sagst, werde ich es tun“, sagte sie, während sie den Reißverschluss zuzog. „Denn ich kann das nicht mehr länger mit ansehen. Es tut richtiggehend weh, euch zu beobachten, wie ihr euch quält.“

„Das wirst du nicht tun“, grollte er ermahnend.

„Versuche mich davon abzuhalten“, entgegnete sie herausfordernd. Dann wirbelte sie herum und verließ ebenfalls das Waschhaus.

Gerade als sie den Türstock passierte, ertönte es von ihrem Komm-Gerät.

„Hier Sechs. Fünf bitte kommen.“

„Hier Fünf“, antwortete Laii sofort. „Mann, wo bleibt ihr?“

„Es gab eine kleine Verzögerung.“

„Wir bekommen hier bald höchst unangenehmen Besuch. Sieh zu, dass du einen Zahn zulegst und uns hier rausholst, ehe der Tanz losgeht.“

„In ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten kann ich euch auflesen.“

„Das ist zu spät. Sag den anderen, sie sollen schon mal ihre Geschütze warmlaufen lassen.“

„Nein, das werde ich nicht über Funk sagen“, kam es zurück.

„Was ist denn da los bei dir?“

„Nichts“, entgegnete Corttes knapp. „Drei und Vier können in fünfzehn Minuten bei euch sein – wenn sie jetzt nicht augenblicklich ihren Mund halten, setze ich sie eigenhändig vor die Türe – vollkommen gleichgültig, wie hoch wir uns noch über der Oberfläche befinden.“

„Klingt nach interessanter Gesellschaft“, kommentierte Laii amüsiert.

„Ignoranter würde ich eher sagen. Ich werde noch Verstärkung anfordern. Haltet derweilen die Ohren steif.“

„In Ordnung, Fünf Ende.“

„Sechs Ende.“

Laii steckte das Gerät in ihren Ausschnitt zurück und drehte sich zu Tchengo um.

„Dein Vater kommt höchstpersönlich, den verlorenen Sohn aufzulesen“, sagte sie trocken.

Tchengo nickte. „Habe ich mitbekommen.“

„Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen, um dich vor ihm zu verbergen.“

„Ich könnte eine der Maschinen zurückfliegen.“

Laii blickte ihn fragend an. „In deinem Zustand?“

„Solange ich keine flugtechnische Akrobatik vollbringen muss, werde ich das wohl noch schaffen.“

„Mal sehen“, entgegnete sie nachdenklich.

Lena kehrte inzwischen zurück. „Schon was von Corttes gehört?“, erkundigte sie sich atemlos.

Laii nickte. „LoBayy und Azaron können in knapp fünfzehn Minuten hier sein. Corttes fordert noch Verstärkung an. Wie seht es bei Matgijen aus?“

„Offensichtlich will er auf Nummer Sicher gehen“, schnaufte Lena. „Wenn wir nichts ordentliches zu erwidern haben, wird es uns bitter ergehen.“ Sie beäugte Tchengo fachmännisch. „Es wird unweigerlich zu einem Kampf kommen. Fühlst du dich imstande dazu?“

Dieser nickte. „Eine Waffe wäre nicht schlecht, um mir meine Gegner auf Distanz zu halten.“

„Torg besorgt uns welche. Dann können wir nur hoffen, dass wir durchhalten, bis die Kavallerie kommt.“

Von draußen ertönten Rufe und Schreie. Die ganze Siedlung war auf den Beinen, rannte wild durcheinander, verbarrikadierte sich in ihren Häusern, oder schuf eilends Wälle, hinter denen sie sich verschanzten.

„Hier!“, rief Torg, der atemlos und im Laufschritt herannahte, und drückte Lena ein paar Lasergewehre in die Hand. „Wir sind bereit, Orgess Matgijen gebührend zu empfangen. Ein paar von uns Jungs sind ganz wild darauf, diesem Kerl endlich das zu geben, was er verdient. Insofern sind wir euch dankbar für diese Gelegenheit.“ Er zwinkerte Laii und Lena zu und verschwand wieder.

Lena reichte zwei der Gewehre an ihre Staffelkameraden weiter, überprüfte das ihre auf Funktionalität und Energiestand und blickte kurz nach draußen.

„Die rüsten sich für einen Krieg“, bemerkte Laii trocken. „Endlich haben sie ihn.“

„Wollen wir hoffen, dass sie nicht zu viel Federn lassen müssen“, entgegnete Lena vorsichtig.

„Und wenn sie bis zum letzten Mann aufgerieben werden, sie haben endlich die Gelegenheit, sich für das zu revanchieren, was ihnen angetan wurde.“

„Aber jetzt hat die Yaalotta auch nichts davon. Die Organisation wurde doch verboten.“

„Wir gehören auch nicht zur Yaalotta“, erklärte Laii geduldig. „Wir haben damit angefangen, gezielt Iccex zu fangen, mit beschränkten Fangquoten, um den Bestand nicht zu gefährden. Wir sind sogar dazu übergegangen, sie zu züchten, als die Bestände stark zurückgingen, wodurch wir gute Erfolge erzielen konnten. Doch das war Orgess mit seiner Yaalotta ein Dorn im Auge. Er überfiel immer wieder unsere Iccex-Teiche, legte unsere mühsam angelegten Becken trocken und verwüstete sie. Wie oft haben wir die Teiche wieder ausgeschachtet, nachdem Orgess sie hatte, durch seine Wächter in Schutthalden schießen lassen. Wir tarnten sie schließlich und legten Teiche inmitten der Wälder an, doch Orgess fand sie immer wieder, raubte die gezüchteten Iccex und zerstörte die Anlagen. Früher war das hier eine große Siedlung, beinahe so groß wie Stysmo. Ist nicht mehr viel übrig geblieben. Viele sind vermutlich fortgezogen oder zu Orgess übergelaufen.“

„Es wäre demnach legal gewesen“, wusste Tchengo.

Laii nickte. „Pietr hatte bereits Verhandlungen mit diversen Handelsföderationen und dem königlichen Magnat geführt. Es war schwer sie davon zu überzeugen, dass wir nicht zur Yaalotta gehörten, dass wir eine eigenständige Organisation waren. Pietr wäre es sicherlich gelungen, wenn es nicht zu diesem Unglück gekommen wäre.“ Laii schniefte, als sie daran denken musste. „Dieser verdammte Orgess ist daran schuld. Hätte er die Anlagen nicht zerstört und beschossen, wäre es nicht passiert. Ein paar der Iccex sind geflohen. Es regnete stark. Das aus den Anlagen laufende Wasser schwemmte in unsere Siedlung und mit ihnen die Iccex. Pietr versuchte, sie aufzuhalten, doch ...“ Sie senkte den Blick und wischte sich eine Träne von der Wange.

„Mein Vater weiß sicherlich darüber Bescheid“, bemerkte Tchengo. „Er muss es wissen.“

„Er war einer derjenigen, die sich dagegen aussprachen. Er meinte, die Abschlachtung von Iccex sei generell verboten, auch wenn sie speziell gezüchtet wurden.“

„Das sieht ihm wieder mal ähnlich“, knurrte Tchengo.

Der Lärm wurde plötzlich lauter und beinahe gleichzeitig ertönte auch das erste Krachen. Orgess Wächter schienen die Siedlung erreicht zu haben und begannen nun die weiß-glitzernden Häuser zu beschießen.

„Es geht los!“, rief Laii, entsicherte ihr Gewehr und blickte nach draußen.

„Lena!“, rief Tchengo sie zurück, als diese sich den Kampfhandlungen anschließen wollte. „Ich wollte dir noch etwas sagen.“

Lena kehrte neugierig zum Waschhaus zurück, wo Tchengo noch immer unter dem Türstock stand. Sie blickte ihn fragend an, doch der Llomenas hatte offenbar noch mit der Wortwahl zu kämpfen. Er öffnete seine Lippen. Es kam jedoch kein Laut. Einen Augenblick blieben sie schweigend voreinander stehen, dann nahm er einen tiefen Atemzug.

„Viel Glück!“, sagte er schnell, zuckte vor, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund und eilte Laii hinterher.

„Feiger Waschlappen“, hörte Lena noch Laii schimpfen, dann krachte es in ihrer Nähe und die beiden waren aus ihrer Hörweite und ihrem Sichtfeld verschwunden.

Etwas verwirrt blieb Lena zurück und blickte in die Richtung, in die Tchengo entschwunden war. Sie schüttelte ratlos den Kopf, zuckte mit den Achseln und tat dies als nichts Außergewöhnliches ab. Vielleicht war ihm einfach danach gewesen, sie kurz vor einem Kampf zu küssen und ihr Glück zu wünschen. Es war nichts dabei. Sie sollte sich nichts dabei denken, redete sie sich ein. Insgeheim jedoch hatte dieser flüchtige Kuss, der ihre Lippen nur sehr kurz berührt hatte, sie tiefer getroffen, als sie sich selbst eingestehen wollte. Sie ertappte sich auch dabei, wie sie hinauslief und dabei in Gedanken immer noch bei Tchengo und seinem Kuss verweilte. Energisch schüttelte sie den Kopf und konzentrierte sich krampfhaft auf das Geschehen. Sie brauchte einen klaren Kopf und all ihre Gedanken für die Kampfhandlungen. Leichtsinnsfehler konnte sie sich nicht leisten. Schließlich war sie Staffelführerin – wenn zu dieser Zeit auch ohne Staffel.

 

* * *

 

Lena zählte erst fünf fliegende Wächter, dann wurden es immer mehr. Als sie bei fünfzehn angelangt war, wurde der erste bereits wieder von einem bodenstationierten Raketenwerfer zerschmettert. Für eine kleine Siedlung von Iccex-Züchtern waren sie ziemlich gut ausgerüstet, sagte sich Lena und feuerte auf einen Wächter, der mit einem Laserlichtgewitter geradewegs auf sie zugeflogen kam. Sie musste sich auf die Seite werfen, um seinem Dauerfeuer nicht zum Opfer zu fallen und sandte dem Wächter sogleich einige Salven hinterher, verfehlte ihn aber. Wenig später konnte sie das Sirren von Triebwerken vernehmen, die ihr bekannt vorkamen. Zwei Jagdmaschinen warfen sich wütend in das Gewirr von Wächtern und ließen sie auseinanderpreschen wie aufgeschreckte Hühner. Gegen das Geschick und der Feuerkraft der Profis hatten die proviziellen Kampfflieger nur wenig Chancen und so wurden die Wächter schnell um einige ihrer Kameraden dezimiert. Die Wächter entschieden sich rasch für eine andere Taktik und konzentrierten sich fast gänzlich auf die beiden Jäger. Offensichtlich glaubten sie, da sie sich in der Überzahl befanden, mit den beiden Jägern leichtes Spiel zu haben, wenn sie sich zusammentaten, doch LoBayy und Azaron ließen sich davon nicht beirren. Die Zahl der Wächter schrumpfte schnell auf einige wenige, die schließlich versuchten, sich zwischen den Häusern zu verstecken oder in Aufgebot von blinder Tötungs- und Zerstörungswut beganngen, blindlings auf alles zu feuern, was ihnen vor die Zieloptik geriet.

Das Shuttle landete sicher und unbehelligt auf einem großen Platz gerade neben dem Waschhaus und spuckte zunächst einige bewaffnete Bodentruppen aus, dann folgten Sanitäter, die sich sogleich um die Verwundeten kümmerten. Lena arbeitete sich bis zu dem Shuttle durch, als ihr auf halben Wege Laii begegnete und sie aufhielt.

„Tchengo sollte mit einem der Jäger zurückfliegen, ehe er seinem Vater über den Weg läuft“, riet sie und überreichte ihrer Staffelführerin das Commgerät.

„Gute Idee!“, nickte Lena und zuckte zusammen, als in ihrer unmittelbaren Nähe ein Wächter eines der ohnehin schon stark beschädigten Häuser zerschoss. „Wo ist er?“

„Dort hinten“, schrie Laii gegen den Lärm an, den eine überfliegende Jagdmaschine verursachte und deutete auf einen Berg von Schutt und qualmender Asche. Hinter einem großen Mauerstück hatte sich Tchengo verschanzt und feuerte auf einen herannahenden Wächter.

„Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Lena.

„Ein Sturkopf, du kennst ihn doch“, gab Laii zurück. „Ich werde den Gleen aufhalten, während du ihm eine Heimreisegelegenheit organisierst.“

„Danke!“ Lena aktivierte das Comm. „Eins an Vier. Ich brauche deine Maschine.“

„Hier Vier“, kam es zurück. „Was hast du damit vor, Eins?“

„Da ist jemand, der nicht mit dem Shuttle zurückfliegen kann.“

„Verstanden, Eins. Ich stehe gleich zur Verfügung.“

„Verstanden.“ Lena steckte das Gerät ein und machte sich auf den Weg zu Tchengo, der sich noch immer hinter der Mauer versteckte. Sie musste zur Seite springen, als ihr eine Lasersalve zu nahe kam, und rappelte sich sogleich wieder hoch. „LoBayy überlässt dir seine Maschine“, rief sie gegen den Lärm der Flugmaschinen ankämpfend. „Damit folgst du dem Shuttle und verbarrikadierst dich anschließend in unserer Kabine.“

„Danke!“, gab er aufrichtig zurück. „Ich liebe dich.“

Lena nickte und schenkte ihm ein wenig ernst gemeintes Lächeln. „Ja, ich weiß.“ Sie sah sich flüchtig um und entdeckte Gleen Namarch auf sie zukommen. „Verdammt!“, fluchte sie und wirbelte herum.

„Ich meine es ernst“, sagte Tchengo mit jenem seltsamen Gesichtsausdruck, den sie bereits mehrmals an ihm gesehen und stets nie richtig hatte deuten können. „Ich liebe dich und ich möchte mit dir zusammen sein.“

„Was?“ Sie sah ihn verwirrt an. „Ich ... Dein Vater ...“, stammelte sie. „Er kommt.“

„Ich liebe dich.“ Er richtete sich etwas auf, zog Lena an sich und gab ihr einen weiteren, wesentlich intensiveren und längeren Kuss. Dann schob er sich rückwärts.

„Tchengo!“, donnerte die Stimme des Gleen entsetzt.

Der junge Llomenas hievte sich auf die Beine und wollte hinter der Mauer verschwinden. Doch in diesem Moment brauste einer der Wächter über ihnen hinweg und pflügte den Boden mit einer Salve um. Die Mauer zersprang in Fetzen. Rauch, Staub und Gesteinsbrocken flogen ihnen nur noch so um die Ohren. Lena hatte sich geistesgegenwärtig herumgeworfen und rappelte sich nun hustend und keuchend wieder auf. Als erstes entdeckte sie den Gleen, der sich ebenfalls reflexartig zu Boden geworfen hatte. Von Tchengo keine Spur. Hastig wühlte sie in den Gesteinsbrocken, dort wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, warf größere Stücke einfach hinter sich und grub mit bloßen Händen in dem Schutt herum. Dann entdeckte sie auf ihn. Die Salve hatte ihn und die Mauer voll erwischt. Die Überreste der Mauer waren bereits rot getränkt, als sie die letzten Brocken zur Seite warf.

„Tchengo!“, rief sie entsetzt. Doch der Llomenas reagierte nicht. „TCHENGO!“ Schnell überprüfte sie seinen Pulsschlag und hätte vor Freude aufgeschrien, als sie einen schwachen Puls bemerkte. Überall war Blut. Es sah aus, als hätte es ihn in der Körpermitte zerfetzt. „Sanitäter!“, schrie sie beinahe panisch und hob Tchengos Kopf an. „Tu mir das bitte nicht an“, schluchzte sie. „Bleib bei mir. Ich liebe dich auch und ich möchte sehr gerne mit dir zusammen sein. Aber du musst durchhalten. Kannst du mich hören?“ Sie gab ihm einen zaghaften Kuss auf den Mund, er blieb jedoch reglos. Sein Gesicht war bleich und vollkommen entspannt. „Halte durch, Tchengo!“

Laii war inzwischen ebenfalls angelaufen und sank neben dem Bewusstlosen nieder.

„Scheiße!“, hatte sie nur zu sagen.

Wenig später waren auch die Sanitäter da, hievten den Verletzten vorsichtig auf eine Bahre und transportierten ihn ab.

Lena nahm das Comm in die Hand. „Vier hier Eins. Kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Immer gerne“, kam es gepresst zurück.

„Hol mir bitte diesen Bastard vom Himmel.“

„Ay“, ertönte es aus dem Comm. Wenig später verging der letzte Wächter in einer Feuerwolke am Himmel.

Tapfer wischte Lena ihre Tränen fort und folgte den Sanitätern in das Shuttle.

 

Im Shuttle bemühte sich sogleich ein ganzes Team von Notärzten um den Schwerverwundeten. Lena, Laii und selbst Gleen Namarch hatten nichts anderes zu tun, als sich in ihre Sitze fallen zu lassen und zu warten.

„Wir konnten ihn stabilisieren“, sagte nach einer Weile einer der Ärzte. „und bringen ihn nun auf das Lazarettschiff.“

„Wie schwer ist seine Verwundung?“, wollte der Gleen wissen.

„Das können wir leider erst im Lazarettschiff genauer definieren.“ Damit widmete sich der Arzt wieder seinem Patienten.

Auf dem Lazarettschiff folgte Lena den Ärzten mit Tchengo und musste sich ebenso wie Gleen Namarch gedulden, bis weitere Ergebnisse bekannt wurden. Nervös lief sie vor der Türe zur Intensivstation auf und ab, machte sich allerhand Vorwürfe, verwarf sie wieder und entsann neue. Beim letzten Mal war sie beinahe panisch geflüchtet, hatte ihn einfach allein gelassen. Doch diesmal würde sie bleiben. Nichts und niemand, nicht einmal ein Abmarschbefehl würde sie dazu verleiten können, von Tchengos Seite zu weichen. Sie dachte darüber nach, was Tchengo ihr noch kurz vorher gesagt hatte und was sie in ihrem Entsetzen und in ihrer Panik ihn zu verlieren gesagt hatte. Letztendlich kam sie zu dem Schluss, dass sie es nicht nur einfach so dahin gesagt hatte. Sie liebte Tchengo wirklich – und er liebte sie.

Sie schrak zusammen, als die Türe aufging, an der sie noch eben vorbeigegangen war und fuhr herum.

„Flight Offizer McKenzie“, wandte sich der Arzt an Lena.

„Wie geht es ihm?“, sprudelte es sogleich aus ihr heraus.

„Sein Zustand ist bedenklich, aber nicht mehr bedrohlich“, begann der Arzt mit einem sichtlich erleichterten Gesichtsausdruck.

„Was ist mit seinen Nachkommen?“, erkundigte sich Lena. „Er ist tragend.“

Der Arzt nickte. „Er ist ein Llomenas.“ Ein Seitenblick traf den Gleen. Dann verfinsterte sich seine Miene. „Leider konnten wir das Leben der Embryonen nicht retten.“

„Was?“, meldete sich Gleen Namarch zu Wort. „Was habe ich da eben vernommen? Tchengo ist tragend?“ Er blickte herausfordernd von einem zum anderen.

„Die Verletzung seines Bauchraumes und der inneren Organe ist so massiv, dass er vermutlich nie wieder Nachkommen bekommen kann. Vielleicht könnte das ein Spezialist ...“

„Dann machen sie ihn transportfähig“, verfügte der Gleen schroff. „Ich bringe ihn zu einem Spezialisten.“

„Nein!“, sprach sich Lena entschieden dagegen aus. „Sie bringen ihn nirgendwo hin.“

Der Gleen holte entrüstet Luft. „Sie können sich nicht anmaßen, mich das Leben meines Sohnes retten zu lassen“, gab er in höchster Empörung von sich.

„Das Leben ihres Sohnes ist gerettet“, blieb Lena ruhig. „Sie werden es unweigerlich entgültig zerstören, wenn sie ihn zu diesem Spezialisten bringen.“

„Das zu entscheiden unterliegt nicht ihrer Obrigkeit.“

„Und ob“, gab sie kämpferisch zurück und wandte sich endlich gänzlich zu ihm. Sie baute sich vor ihm auf. Obwohl Gleen Namarch gut einen Kopf größer war als sie und mit seinem wallenden, schwarzen Umhang den Eindruck eines Dämons vermittelte, war sie nicht gewillt, sich von ihm einschüchtern zu lassen. „Tchengo Namarch verpflichtete sich mit dem Ablegen des Eids freiwillig für einen vierjährigen Dienst bei den vereinten Streitkräften. Er ist ein Mitglied meiner Staffel. Ich bin seine Vorgesetzte und als solches entscheide ich darüber, wie mit ihm weiter verfahren wird. Tchengo würde es nicht wollen, dass sie ihn zu einem Spezialisten bringen. Falls sie es noch nicht gemerkt haben sollten, hat er ein großes Problem mit der Zukunft, die sie für ihn verfügt haben. Wenn sie ihren Sohn wirklich behalten wollen, dann lassen sie ihn endlich sein Leben selbst in die Hand nehmen. Er ist schließlich volljährig.“

„Unsere Tradition ...“

„In ihrer Tradition gab es sicherlich schon ein oder zwei dieser Fälle. Habe ich Recht?“ Sie funkelte ihn herausfordernd an. Dann drehte sie sich wieder zu dem Arzt um und schnaufte tief durch, um ihre aufgewühlten Emotionen wieder in den Griff zu bekommen.

„Tun sie, was für die Erhaltung seines Lebens wichtig ist. Tchengo besteht sicherlich nicht auf weitere Nachkommen.“

Der Arzt nickte und verschwand wieder hinter der Türe der Intensivstation.

„Wissen sie eigentlich, wer ich bin?“, fragte der Gleen ruhig, mit seiner tiefen Stimme.

„Ich weiß sehr genau, wer sie sind“, erwiderte Lena gelassen. „Aber sie können mich weder mit ihrem Namen noch mit ihrer einprägsamen Stimme und schon gar nicht mit ihrer einflussreichen Stellung beeindrucken.“

„Ich kann sie degradieren oder aus den Streitkräften hinauswerfen lassen.“

„Das haben sie nicht einmal bei ihrem Sohn geschafft.“ Sie festigte ihre Haltung, indem sie ihr Kreuz gerader rückte. „Ich habe keine Angst vor ihnen, Gleen Namarch. Aber sie sollten sie vor mir haben.“

„Warum sollte ich?“, gab er leicht amüsiert zurück.

„Weil ich ihren Sohn liebe und wenn er mich fragt, werde ich Ja sagen. Und sollten sie dann versuchen, uns auseinander zu bringen oder sonst irgendwelche Intrigen zu spinnen, werden sie mich kennenlernen.“

Gleen Namarch ließ ein höchst erhabenes Lächeln erkennen. Dann wirbelte er herum und marschierte mit wehendem Umhang davon. Dass dies noch lange nicht das Ende der Auseinandersetzung sein würde, dessen war sich Lena in diesem Moment sicher.

Dann hieß es nur noch, zu warten.

 

* * *

 

Wie viele Stunden Lena in diesem Korridor zur Intensivstation verbracht hatte, vermochte sie nicht mehr zu sagen. Irgendwann tauchte Mast Azaron auf und unterrichtete sie davon, dass Captain Braun eine Stellungnahme verlangte.

„Soll ich das machen? Ich bin die Nummer Drei.“

Lena blickte ihn nachdenklich an. „Ich bin eine miserable Nummer Eins“, sagte sie. „Erst lasse ich mich abschießen, dann kann ich meine Staffelmitglieder nicht beschützen.“

„Du bist immer noch besser als ich“, widersprach Azaron. „Ich habe bisher fünf Einsätze als Staffelführer geflogen, von denen ich vier vergeigte.“

„Würdest du meinen ersten Einsatz in der Tat als erfolgeich bezeichnen?“

„Du hattest den Auftrag Gleen Namarch unbeschadet nach Noreaga Fünf zu bringen. Ihm wurde kein Haar gekrümmt und wir befinden uns vor Noreaga Fünf. Also war dein Einsatz erfolgreich.“

Lena verzog ihr Gesicht. „Sag Captain Braun, dass ich mich bei ihm persönlich melden werde.

Azaron nickte. „Gib mir Bescheid, wenn du was neues von Tchengo hörst. Ist ein guter Mann. Würde mich freuen, wenn die Staffel bestehen bliebe.“

„Das liegt nicht in meiner Hand, Mast. Aber ich kann Captain Braun ja mal fragen.“

Mit einem breiten Grinsen verabschiedete sich Mast Azaron. Wenig später öffnete sich die Türe zur Intensivstation und der Arzt, der sich um Tchengo Namarch kümmerte, erschien wieder.

„Officer McKenzie“, begann er sogleich. „Ihr Pilot hat die Operation gut überstanden. Es ist positiv verlaufen. Er steht zwar noch unter dem Einfluss der Narkose, aber sie können ihn für ein paar Minuten besuchen.“

Lena sprang auf ihre Beine. „Danke!“ Sie folgte dem Mann in die heiligen Korridore der Intensivstation. Er führte sie einige sterile Flure entlang, ehe er vor einer Türe stehen blieb und sich nach ihr umdrehte.

„Er hat nach ihnen verlangt“, berichtete der Arzt. „Fünf Minuten.“

Lena nickte und öffnete die Türe. Auf einem Bett, inmitten einem Gewirr von Schläuchen, Drähten, Sonden und scheinbar ziellos umherirrenden Medidroiden lag ein sehr bleicher Tchengo Namarch. Sein Atem ging flach. Seine Augen waren geschlossen, doch als Lena an ihn herantrat und seine Hand berührte, öffneten sich seine Lider.

„Du bist hier“, formten seine Lippen beinahe lautlos.

„Ich bin hier“, sagte sie sanft.

Er suchte ihren Blick. Müde grüne Augen hielten sie gefangen. Er öffnete seine Lippen. „Ich...“, begann er und verstummte sogleich wieder. Er schien nicht die Kraft zu besitzen, seine Worte laut werden zu lassen.

„Du musst jetzt nichts sagen.“ Sie nahm seine Hand in die ihre und drückte sie. „Das klären wir alles später, wenn es dir besser geht. Du ruhst dich jetzt aus und erholst dich so schnell wie möglich.“ Sie schmiegte ihre Wange an seine Hand.

„Vater...“, keuchte er mühsam.

„Mach dir jetzt darüber keine Sorgen.“ Sie küsste seine Hand und schmiegte sich abermals an sie. „Erst musst du wieder auf die Beine kommen.“

Seine Finger streichelten über ihre Wange, schienen dieses hautnahe Gefühl zu genießen, nach denen sie sich so lange gesehnt hatten.

„Ich lass dich diesmal nicht allein. Ich bin immer in deiner Nähe“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Nur verschwommen nahm sie seinen Blick wahr. Grüne Augen leuchteten aus seinem bleichen Gesicht. Seine Lippen öffneten sich, doch kein Laut kam hervor.

„Ich weiß“, nickte sie, beugte sich etwas vor, achtete darauf, dass sie keine der Schläuche, Drähte, Sonden oder Verbände berührte, und küsste ihn vorsichtig auf die Wange. „Du kümmerst dich erst mal darum, wieder auf die Beine zu kommen“, sagte sie sanft. „Dann fangen wir noch mal ganz von vorn an. Einverstanden?“ Ein gewisses Glitzern in seinen Augen war ihr Antwort genug.

Ein Räuspern in ihrem Rücken erinnerte sie an die knappe Zeit, die ihr mit Tchengo gegeben war.

„Ich werde mir jetzt mal die Standpauke von Captain Braun anhören“, sagte sie leise und versuchte sich in einem Lächeln. „Später komme ich noch mal vorbei und erzähle dir, ob ich meine Streifen noch habe oder nicht.“ Sie beugte sich noch weiter vor und küsste ihn ganz vorsichtig auf den Mund. Tchengo schloss die Augen, offenbar jeden einzelnen Augenblick gänzlich auskostend. Er öffnete sie jedoch nicht wieder. Erschöpfung hatte ihn übermannt.

„Ich liebe dich auch“, flüsterte sie, schenkte ihm noch einen letzten Blick, dann trennte sie sich mühsam von ihm und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Korridor schluckte sie ihre Tränen tapfer hinunter. Sie brauchte nicht zu weinen. Es gab keinen Grund dafür. Ihre Zeit mit Tchengo begann doch gerade erst und würde sicherlich vielversprechend werden.

 

* * *

 

Lena hatte keine Angst, als sie um ein Ferngespräch mit Captain Braun bat. Sie wusste, was auf sie zukam und würde es hinnehmen, so wie es kam. Sie wusste, dass ihr Vorgesetzter sie strafversetzen, degradieren oder gar die Prüfung wiederholen lassen würde. Ihr Versagen bei ihrer ersten Aufgabe ließ kein anderen Schluss zu.

„Captain Braun“, begrüßte sie den Mann, der sich vor ihr in einem verschwommenen Hologramm aufbaute, mit gebührendem Respekt und todernster Miene. „Ich bin jetzt bereit, die Konsequenzen entgegen zu nehmen.“

Braun sah sie verwirrt an. Dann erschien ein Lächeln um seine Lippen. „Offizer McKenzie“, begann er. „Sie machen immer wieder denselben Fehler. Sie unterschätzen sich. Sie sind besser, als sie sich selbst einstufen. Sie haben meine Erwartungen übertroffen.“

Diesmal war es an Lena, verwirrt dreinzublicken. „Wie soll ich das verstehen?“

„Als ich sie für diesen Auftrag einteilte, war ich nicht ganz ehrlich zu ihnen. Ich hatte das Problem, dass mir Gleen Namarch die Hölle heißmachte, dass er alle Hebel in Bewegung setzte, um seinen Sohn freizubekommen. Jede nur erdenkliche Stelle war von ihm angesprochen, bedroht, bestochen oder instruiert worden. Ich wollte den Jungen jedoch um jeden Preis behalten. Und er selbst versicherte mir, dass er unbedingt bleiben möchte. Da musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich überredete Gleen Namarch zu dieser Reise und versprach ihm, zum Begleitschutz seinen Sohn einzuteilen, damit er zumindest ein Gespräch mit ihm führen konnte. Da ich den jungen Namarch aber nicht allein lassen wollte, weil ich dann befürchtete, dass er unter dem Druck seines Vaters womöglich klein beigeben würde, besorgte ich ihm Kameraden, die ihm zur Seite stehen konnten. Aufgrund der Prüfungsergebnisse hätte Namarch die Nummer Eins sein müssen. Hätte ich dies getan, hätte er niemanden gehabt, der ihm im Notfall vorstehen konnte – sprich ein Vorgesetzter, der ihm per Vorschriften Schutz gewähren kann. Diesen Passus haben sie hervorragend gemeistert, Officer McKenzie.“

„Dann war dieser ganze Auftrag nur eine Farce?“ Lena war beinahe fassungslos. „Nur ein Mittel zum Zweck, um Tchengo und seinen Vater ... um diese ...“ Sie verstummte.

Captain Braun nickte. „Um diese Angelegenheit endlich zum Ende zu bringen. Ich war es leid. Gleen Namarch lag mir deswegen nicht erst seit der Wiederholungsprüfung in den Ohren. Schon beim ersten Mal moserte er herum und war offenbar der Meinung, ein gewichtiges Wort von ihm an der richtigen Stelle würde die Verantwortlichen seinen Wünschen entsprechend agieren lassen und seinen Sohn wieder zur Vernunft bringen. Als mir der junge Namarch von seinem Malheur berichtete, riet ich ihm auf jeden Fall, die Prüfung zu absolvieren. Damit er zu einem späteren Zeitpunkt eingesetzt werden konnte. Dass er sich dazu entschied, die Abschlussprüfung absichtlich zu vermasseln und unterzutauchen, damit hatte selbst ich nicht gerechnet. Zum Glück war das Schicksal für uns und führte ihn zurück zu uns. Aber nun musste ich etwas unternehmen. Ich suchte eine Mannschaft zusammen, die euch bei der Ausführung des Planes behilflich sein konnte.“

„Woher wussten sie, dass Tchengo und Laii Mingg einmal liiert waren?“, fragte Lena überrascht.

Captain Braun riss die Augen auf. „Das wusste ich nicht. Officer Mingg ist eine resolute junge Dame, die sich in dem Sektor gut auskennt – falls etwas auf dem Weg geschehen sollte. LoBayy, Cortess und Azaron konnten ihre Fähigkeiten bereits mehrmals im Begleit- und Verteidigungsflug unter Beweis stellen. Ihr habt sehr gut zusammengearbeitet, dafür, dass ihr euch praktisch nicht kanntet. Ich denke, wir sollten diese Staffel beibehalten. Ich habe auch schon einen neuen Auftrag für euch.“

„Einen neuen Auftrag?“ Lena blieb der Mund offen stehen. „Wer soll ihn leiten?“

„Sie natürlich, Officer McKenzie“, gab er kopfschüttelnd von sich. „Sie sollten endlich lernen, sich nicht ständig für unfähig vorzukommen. Sie haben zwar noch viel zu lernen, doch wenn es hart auf hart geht, kann man sich auf sie verlassen. Im Übrigen: Wie geht es dem jungen Namarch?“

„Er ist über dem Berg. Es hat ihn ziemlich erwischt. Hören sie, Captain Braun. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Richtige für eine leitende Position bin. Immerhin konnte ich es nicht verhindern, dass Officer Namarch verletzt wurde.“

„Ich bin auch nicht imstande, sämtliche mir unterstellte Piloten vor irgendwelchen Verletzungen zu schützen. Geben sie sich nicht die Schuld daran. Officer Namarch wird es sicherlich nicht tun. Das sind die Gefahren, die ein solcher Job mit sich bringt. Das Risiko sind alle Rekruten eingegangen. Dafür werden sie auch entsprechend bezahlt. Und nun wäre ich ihnen dankbar, wenn sie mir baldigst einen ausführlichen Bericht einreichen, damit ich meinen Vorgesetzten etwas vorzulegen habe.“

„Verstanden, Captain Braun“, sagte Lena zackig und konnte sogar schon wieder lächeln.

„Die Einzelheiten über ihren nächsten Auftrag erhalten sie in Kürze. Bleiben sie mit ihrer Einheit wo sie sind. Ich werde ihnen Ersatzmaschinen schicken – und Officer McKenzie, tun sie mir einen Gefallen und gehen sie mit den Jägern glimpflich um. Meine Vorgesetzten liegen mir schon seit längerem wegen Sparmaßnahmen in den Ohren, und wenn jemand sündhaft teure Geräte zu Schrott verarbeitet, bekommen die Zahnschmerzen.“

„Verstanden,“ gab sie abermals von sich.

„Sagen sie dem jungen Namarch gute Besserung von mir.“

„Werde ich machen“, nickte sie.

Captain Braun betrachtete sie durch die Holoaufnahme noch einen Moment lang nachdenklich, beinahe väterlich, dann verabschiedete er sich mit einem Nicken und sein Bildnis löste sich in seine Bestandteile auf.

 

 

Ende

Impressum

Texte: Ashan Delon
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2013

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