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Revolution auf Mandereth I

 

Bis hierher - und offensichtlich ging es nicht mehr weiter.

Lena war eine Frau der Taten. Nicht einmal das starke Geschlecht konnte ihr in Sachen Nahkampftechnik und Schießkunst das Wasser reichen. Und im Bezug auf Flugmaschinen und Waffen machte ihr ebenfalls so schnell keiner etwas vor. Das ganze Training über hatte sie versucht, verstärkt ihre starken Seiten zum Ausdruck zu bringen, um die Aufnahmeprüfungen zu bestehen, doch als am Ende Theorie und geistiges Wissen verlangt wurde, versagte sie kläglich.

Ihr Traum, von einem ruhmvollen Leben als Weltraumabenteurer schien mit dieser letzten Prüfung ausgeträumt zu sein. Gedankenverloren saß sie vor dem Terminal und spielte mit den Tasten, ohne jedoch auch nur eine zu betätigen. Die geforderten Fragen konnte sie nicht einmal zur Hälfte beantworten. Sie hatte sich noch nie um Welten-, Völker- oder Rassenkunde gekümmert; es war ihr vollkommen gleichgültig, wie viele verschiedene Welten, Rassen und Völker dem Bund der Sternensysteme angehörten. Sie war noch nie politisch aktiv gewesen; für sie so uninteressant über Regierungsfragen zu diskutieren, wie schal gewordenes Sake-Bier. Und fremde Sprachen betrafen sie nur insoweit, wie sie sich mit ihrem jeweiligen Gegner verständig machen musste, um ihn zum Kampf zu provozieren. Ihr durchtrainierter Körper kannte nur Praxis. Sie war in einer Familie mit zehn Brüdern aufgewachsen. Da besaß keiner Sinn für Bücher und Politik.

Sie hätte sich besser vorbereiten sollen, sagte sie sich wütend über sich selbst, wusste aber im selben Moment auch, dass sie Wochen und Monate gebraucht hätte, um all das Wissen aufzunehmen, das in dieser Prüfung verlangt wurde. Sie hätte sich gar nicht erst anmelden dürfen.

Mit einem leisen Seufzer trennte sie sich von dem flackernden Terminal und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen. Die meisten der Kandidaten saßen voll konzentriert vor dem Terminal und tippten emsig ihre Antworten hinein. Lena seufzte ein weiteres Mal. Nur wenige zappelten nervös hin und her, oder starrten auf ihre Hände, die nichts in die Tasten zu klopfen wussten.

Dabei nahmen ihre Augen Kontakt mit einem Mitkandidaten auf. Er schien sie bereits eine Weile beobachtet zu haben. Etwas peinlich berührt löste sich Lena von ihm und starrte ebenfalls auf ihre Finger, die auch nicht mehr wussten, als ihr Kopf.

Dass dieser Mitkandidat ausgerechnet sie beobachtete, erfüllte sie mit Stolz und Scham zugleich. Nicht nur, dass er verdammt gut aussah - er gehörte zu einer Rasse, die allesamt schlank und hochgewachsen waren, ausgezeichnete Manieren besaßen und nur selten ausfallend wurden. Sie hatte in den ganzen vier Monaten des Test-Trainings kein lautes Wort über seine Lippen kommen hören. Stets hatte er sich von den anderen abgesondert - in den letzten Tagen mehr denn je - und besaß ständig und für jeden ein höfliches Lächeln. In seiner langen Robe sah er so unnahbar wie ein Priester aus und dennoch so interessant wie ein attraktiver Heiratskandidat. Lena tat sich schwer, in seiner Gegenwart normal zu reagieren. Sie bemerkte, wie ihre Wangen allmählich heiß wurden, und drehte den Kopf zur Seite, damit er es nicht sehen konnte. Das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Einen tollen Mann kennenlernen und kurz darauf bei einer Prüfung kläglich zu versagen. Sie durfte es gar nicht erst zu einer weiteren Annäherung kommen lassen. Er sollte gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen.

 

Die Zeit war abgelaufen und Lena musste ihren Antwort-Chip abgegeben. Eben als sie ihren ID-Code auf den Chip prägen wollte, hielt sie eine starke Hand davon ab. Sie fuhr hoch und blickte geradewegs in die grünlich schimmernden Augen, jenes tollen Mannes, der sie nur wenige Minuten zuvor hatte rot anlaufen lassen. Wieder musste sie damit kämpfen.

"Wie ist es dir ergangen?", wollte er wissen und hielt sie ein weiteres Mal davon ab, ihren ID auf dem Chip anzubringen.

"So la la", antwortete sie heißer und verkrampfte sich zu einem Lächeln. Sie wunderte sich darüber, dass er nicht noch ein paar Minuten warten konnte. Denn dann würde er erfahren haben, dass sie eine Versagerin war und sich vielleicht nicht mehr für sie interessieren.

"Was hältst du davon, unsere TEC's zu tauschen?", fragte er leise, sodass es niemand außer ihnen hören konnte.

Lena sah ihn überrascht an.

"Ich habe dich beobachtet. Schon eine ganze Weile", verriet er, während er nach den Aufsehern schielte. Er hielt ihr seinen Chip hin. "Es ist eine Chance für dich. Du brauchst nur noch deinen ID einzugeben."

"Warum sollte ich derartiges tun?"

"Weil du sonst rausfliegst", sagte er ihr auf den Kopf zu. "Was ist? Tauschen wir?"

"Warum willst du unbedingt rausfliegen?", wollte sie wissen.

"Ich habe meine Gründe dafür." Sein Blick war ernst zu nehmen. Er bot ihr den Chip ein weiteres Mal an.

Irgendwie überkam sie das Gefühl, dass sie einen fatalen Fehler begehen würde, nahm den Chip aber dennoch.

"Danke", sagte er kurz und war auch schon mit Lenas TEC verschwunden, bevor sie etwas erwidern konnte.

Achselzuckend steckte sie den Chip in den Schlitz, ließ ihren ID darauf speichern und schickte ihre/seine Ergebnisse zum Zentralcomputer. Schlechtes Gewissen plagte sie dabei und sie ahnte, dass irgendwann die Abrechnung dafür käme. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie dieses Gefühl hinfortzuspülen. Doch so ganz wollte es ihr nicht gelingen.

 

Die Überraschung war dennoch groß, als eine Stunde später, die Ergebnisse vorlagen und sie an die Spitze der Kandidaten katapultierten. Lena war es beinahe peinlich. Immerhin war es Betrug. Doch rückgängig konnte sie es nicht mehr machen. Ihr Tauschpartner war verschwunden und im ganzen Trainingslager nicht mehr aufzufinden. Er schien genau gewusst zu haben, wie es um Lenas Testergebnisse stand. Peinlich berührt, dass jemand Fremder ihre Schwächen erkannt hatte, kehrte sie zurück und nahm ihre Auszeichnung und die Dienstmarke entgegen und versuchte diesen Vorfall so schnell wie möglich zu vergessen.

 

* * *

 

Als Neuling kam sie nur zum harten Einsatz, wenn Not am Mann war. Doch mit Überredungskünsten und einem netten Lächeln ergatterte sie sich einen Platz in einer Sicherheitseinheit, in der sie lediglich Patrouille fliegen, Einbrecher dingfest machen und Aufrührer beruhigen musste und von Höherem weitgehend verschont blieb. Ihr Tausch wäre sofort aufgeflogen, sobald Sprachkenntnisse oder Ähnliches verlangt worden wären.

 

Eines Tages erhielt sie eine Nachricht vom Department. Sie sollte sich mit dem diensthabenden Captain in Verbindung setzen. Mit klopfendem Herzen betrat Lena die mit Marmor ausgelegten Hallen des Haupt-Verwaltungstraktes der Sicherheitspolizei.

"Ich habe eine Sonderaufgabe, für die augenscheinlich nur sie infrage kommen", erklärte ihr ein Mann mit leicht ergrautem Haar und den fünf weißen Streifen des Captains auf seiner Schulter. Er tippte auf eine Taste seines Terminals, las die Nachricht des Computers kurz durch und widmete sich wieder seinem Gast. "Officer McKenzie, sie werden so rasch wie möglich nach Trouborgh reisen und eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Parteien klären. Ihnen wird eine Einheit von zwanzig Polizisten unterstellt."

"Aber ich bin doch erst vier Monate im Dienst", gab sie überrascht von sich.

"Ich weiß, ihre Vorlieben liegen im direkten Kontakt mit der Bevölkerung", nickte er und warf einen weiteren Blick auf den Terminal. Seine grauen Augen und das blasse Gesicht wirkten noch fahler im schwachen Widerschein des Bildschirmes. "Sie haben sich für die Streife einteilen lassen. Mutig", fuhr er fort. "Doch ihre Qualitäten, solche, die für uns interessant sind, liegen auf einem anderen Gebiet. Sollten sie diesen Auftrag erfolgreich absolvieren, sind sie sich eines weiteren Streifens sicher. Das garantiere ich ihnen."

Lena wagte es nicht, zu atmen.

"Diese Angelegenheit ist besonders heikel", begann er erneut, nachdem er es sich in seinem Sessel bequemer gemacht hatte. "Unser Botschafter in Trouborgh hätte nicht um Hilfe gebeten, wenn er nicht die Befürchtung gehabt hätte, seine neutrale Stellung zu verlieren. Normalerweise dürfen wir uns in innerplanetare Streitigkeiten nicht einmischen, doch diesmal fungieren wir als sachkundige Prüfer. Es geht um eine vermeintliche ungerechte Verteilung der Einkünfte einer Mine auf Trouborgh. Da sie sich im kaskischen Abrechnungsverfahren auskennen, sollen sie diese Vorwürfe überprüfen."

Lena sah hoch und starrte den Captain entsetzt an. "Was soll ich?", überkam es ihren Lippen.

"Lediglich eine Überprüfung der Buchhaltung vornehmen", antwortete der Mann. "Dieses bisschen trockene Theorie wird ihnen einen Streifen einbringen." Er zwinkerte ihr zuversichtlich zu. "Nur Mut. Es hört sich schlimmer an, als es ist."

Lena schluckte trocken. Sie hatte noch nie etwas von kaskischem Abrechnungsverfahren gehört. Ihr Betrug drohte aufzufliegen.

"Ist ihnen nicht gut?", fragte der Captain besorgt, als Lena plötzlich kreidebleich wurde.

"Ich glaube, ich muss ihnen etwas beichten", sagte sie heißer. Es war besser, es sofort zu beichten, als später auf Trouborgh eine Katastrophe herauszubeschwören. "Ich habe keine Ahnung davon. Ich weiß nicht, was das ist - kaskisches Abrechnungsverfahren."

"Ich verstehe nicht ganz. Sie haben im Abschlusstest als Einzige die Frage mit dieser Rechnung beantworten können und die Testaufgaben hervorragend ausgeführt."

Lena schluckte den dicken Kloß hinunter. Nachdem sie bemerkt hatte, dass sie nicht einmal die ersten Fragen annähernd beantworten konnte, hatte sie nicht mehr weitergelesen. Sie hätte es tun sollen. Vielleicht hätte sie sich dann nicht so schnell zu einem Tausch überreden lassen.

"Das war nicht ich", gestand sie. "Wir haben unseren TEC getauscht."

Der Captain richtete sich entrüstet gerader. "Wer hat mit wem getauscht?", erkundigte er sich streng.

"Am Ende des Tests kam ein Kerl auf mich zu und fragte mich, ob ich mit ihm den TEC tauschen wolle", berichtete sie. "Ich war nie großartig in all diesen theoretischen Sachen. Und ich wollte unbedingt bestehen, da nahm ich das Angebot wahr."

"Ein großgewachsener, schlanker Kerl, mit langen schwarzen Haaren und grünen Augen?", wusste er scheinbar Bescheid.

Lena nickte und sah ihn überrascht an.

"Ich wusste es", rief der Captain aus und ließ sich zurücksinken. "Tchengo Namarch. Das konnte einfach nicht mit rechten Dingen zugehen." Für einen Moment huschte ein wissendes Lächeln über seine Lippen. Doch schneller als es Lena lieb war, kehrte der bittere Ernst in sein Gesicht zurück. "Verriet er, warum?"

Sie musste den Kopf schütteln. "Ich gebe meine Marke selbstverständlich zurück", sagte sie heißer und wollte das Abzeichen bereits von ihrer Uniform nehmen.

"Obwohl dies hochgradiger Betrug ist, möchte ich, dass sie ihre Marke behalten", kam es zu ihrer Überraschung. "Wenn ihre Ergebnisse die von Namarch sind, dann sind seine die ihren, was bedeutet hätte, dass sie nicht weit gekommen wären, wenn wir sie nicht im Einsatz gesehen hätten." Mit einem kurzen Blick auf das Terminal fuhr er fort. "Sie halten sich hervorragend, solange sie nicht mit ihrem Kopf arbeiten müssen."

Lena fühlte sich wenig geschmeichelt. Das eben war Kompliment und Rüge zugleich. Sie senkte betreten den Kopf.

"Dieses Früchtchen von Namarch werde ich mir auch noch vorknöpfen", verriet der Captain. "Und ihr werdet beide nach Trouborgh reisen, um die Angelegenheit zu bereinigen und wenn ich sie als Namarchs Begleitschutz einsetze."

"Ein Kerl wie dieser braucht keinen Begleitschutz", entfleuchte es Lenas Lippen.

"Nach diesem Testergebnis und nachdem er nahezu freiwillig ausgetreten ist, kann ich ihn nicht mehr in den Dienst der Sicherheitspolizei nehmen. Er wird als Privatperson mitreisen müssen und als solcher benötigt er Begleitschutz."

"Ich denke nicht, dass er sich überreden lässt. Ich meine, er sagte, er hätte seine Gründe, warum er unbedingt rausfliegen will. Da wird er sich nicht ohne Weiteres dafür einsetzen lassen."

"Er wird", wusste es der Captain besser. "Oder ihr beide dürft euch für euren Betrug vor dem Zentralgerichtshof verantworten."

Lena lief puterrot an. Dass es vielleicht soweit gehen könnte, daran hatte sie nicht einmal im Traum gedacht.

"Sie sind persönlich für den Prüfer verantwortlich", entschied der Captain streng. "Verstanden?"

Lena nickte nur allzu gerne, obwohl sie vor lauter Scham über ihre Tat, lieber ihre Marke und ihre Waffe abgegeben hätte. Sie erhob sich und wand sich zum Gehen.

"Sollten sie dies einigermaßen glimpflich überstehen", hielt er sie zurück. "Dann können sie sich glücklich schätzen, wenigstens noch einen Streifen behalten zu dürfen."

Schnell fuhr Lena über die beiden gelben Streifen, die sie zu einem Offizer der Streifpatrouille auszeichneten. Mit weniger, wäre sie zu Kanonenfutter für die vorderste Front degradiert.

 

Ihr neuer Einsatz gefiel ihr irgendwie nicht. Bereits während der Vorbereitungen überkam sie ein ungutes Gefühl. Ob als Strafe für ihre Tat oder als Bewährungsprobe. Lena musste unbedingt ins Bestes geben.

"Warum hast du uns verraten?", fragte eine bekannte Stimme in ihrem Rücken.

Lena erschrak, als sie herumgefahren war und den Mann betrachtete, der sie angesprochen hatte. Seit ihrem letzten Zusammentreffen vor vier Monaten hatte er sich ziemlich verändert. Er war längst nicht mehr der schlanke Kerl, der ihr die Röte in die Wangen steigen ließ, sobald sich ihre Blicke getroffen hatten. Sein Gesicht war fülliger geworden. In der Zwischenzeit musste er mangels Bewegung und Frust einiges an Pfunde zugelegt haben. Ein bodenlanger steifer Umhang verhüllte seinen Körper und versteckte die übrigen Proportionen vor allzu neugierigen Blicken. Lena konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden.

"Was ist denn mit dir passiert?", fragte sie fassungslos und betrachtete ihn von oben bis unten.

"Warum hast du das mit den TEC's verraten?", fragte er barsch. Seine grünen Augen leuchteten böse.

"Weil ich es nicht auf eine Katastrophe in Trouborgh ankommen lassen wollte", entgegnete sie ihm entschlossen.

"Du bist dümmer, als ich dachte", zischte er ärgerlich.

"Wenn ich vorher gewusst hätte, dass du so ein superschlauer Kerl bist, hätte ich mich niemals darauf eingelassen", wetterte sie entrüstet und betrachtete ihn noch einmal kurz. Von dem vormals attraktiven Kandidat war nicht mehr viel übrig geblieben. "Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen? Spätestens in Trouborgh wäre unser Schwindel aufgeflogen. Ich habe keine Ahnung von diesem Dingsbums-Verfahren."

"Du hättest den Auftrag annehmen und dir das nötige Wissen bis dahin aneignen können", antwortete er.

Trockene Theorie war noch nie ihr Fall gewesen. Auch wenn sie intensiv gebüffelt hätte, gegen einen erfahrenen Buchhalter wäre sie niemals angekommen.

Lena schnaufte nur, wand sich um und marschierte einige Schritte davon.

"Du dämlicher Einfaltspinsel", maulte sie etwas lauter vor sich hin. "Wenn du schon so genau über meine Intelligenz Bescheid weißt, dann hättest du auch wissen müssen, dass ich Jahre dazu bräuchte, mir dieses Wissen anzueignen." Sie wand sich wieder um und funkelte ihn wütend an. "Mit deiner Intelligenz scheint es aber auch nicht weit her zu sein. Du hättest mit einem solchen Fall rechnen und auf nimmer Wiedersehen verschwinden müssen."

"Habe ich auch", erwiderte er kalt. "Es ist nur so, dass der Senatsvorsitzende zufällig ein ziemlich enger Freund meines Vaters ist."

Lena zeigte sich nur wenig beeindruckt.

"Verstehe", nickte sie wissend. "Aber selbst hochgradigen Söhnen wird auf die Finger geklopft, wenn sie Dummheiten machen."

"Mir blieb keine andere Wahl."

"Warum? Wo liegt dein Problem?"

"Das geht dich nichts an."

"So?", machte Lena und beäugte ihn. "Ich frage mich, warum hast du dich dann erst beworben, wenn du beim Abschlusstest absichtlich versagst? Um erst einmal den Schein zu wahren, damit Papi nicht ärgerlich reagiert, wenn sich das Söhnchen weigert, was?"

"Ich erwartete nicht, dass du dich in höhere Materie hinein versetzen kannst", konterte er.

"Um zu erkennen, dass das verwöhnte Söhnchen keine Lust hat, sein Leben aufs Spiel zu setzen, braucht es keinen übermäßig hohen IQ", gab sie höhnisch zurück und zog ihm eine Grimasse.

"Ich habe dich vollkommen richtig eingeschätzt", gab er kalt zurück und verzog ebenfalls kurz sein Gesicht. Aufgrund der fülliger gewordenen Formen seines Gesichtes, fiel es nicht sonderlich hämisch aus.

"Ich verdanke dir zwar die Marke, zu der ich ohne unseren Schwindel niemals bekommen wäre", maulte sie und baute sich breitbeinig vor ihm auf. "Doch um mich wirklich beleidigen zu können, musst du Besseres auffahren."

"Warum sollte ich dich beleidigen wollen?", fragte er unschuldig. In seinen Augen stellte sich glitzernde Belustigung ein.

"Nenne es, wie du willst", entgegnete sie reserviert. "Ich bin zwar blond und meine Augen sind blau. Doch ich verfüge auch über ziemlich scharfe Krallen und einem sehr spitzen Knie, Freundchen. Das ist eine Warnung. Leg dich nicht mit mir an."

Namarch blickte sie etwas verständnislos an. Scheinbar verstand er nicht ganz, was sie damit gemeint hatte, oder er wollte sie mit seiner Reaktion lediglich verunsichern. Lena wirbelte triumphierend herum und stolzierte zu ihrem Schiff, wie eine Primadonna auf ihrem Weg zur Bühne. Sie wusste zwar selbst nicht genau, ob sie diesen Kampf gewonnen hatte, doch der erste Punkt ging sichtlich an sie.

 

Sie fand es überaus schade, dass sich Namarch derart gehen ließ. Die Welt verlor einen attraktiven jungen Mann. Auf ihrer Reise nach Trouborgh glaubte sie, dass er immer mehr an Gewicht zunahm. In enger Uniform würde er längst nicht mehr die atemberaubende Erscheinung darstellen, wie damals, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er war schnell wie eine Raubkatze und geschmeidig wie Sumpfgras, als er sich im Kampf Mann gegen Mann bewies. Jetzt bewegte er sich so steif und unbeweglich wie ein betagter Greis und saß die meiste Zeit der Anreise schweigend in seinem Passagiersessel, eingehüllt in seinen unförmigen Umhang, der ihn einhüllte wie ein Panzer und nichts von ihm nach außen dringen ließ, als den Kopf mit den immer pausbäckiger werdenden Wangen. Die langen, schwarzen Haare, die ihm noch in der Ausbildung luftig und glänzend über die Schultern gefallen waren, wirkten nicht nur im künstlichen Licht der Fähre fahl und stumpf. Auch als sie endlich ankamen und das Licht eines Feuersterns auf ihn fiel, gewannen sie nicht viel ihrer ursprünglichen Schönheit zurück. Lena fand es einfach schade.

Vielleicht gab es auf Trouborgh Männer, die eher auf ihr Äußeres achteten, hoffte sie und schob sich vor Namarch den Landesteg hinunter.

 

Bereits auf der Landeplattform kam ihnen ein grauhaariger, leicht gebückt gehender Mann entgegen. Trotz seiner Haltung strahlte er noch genug Entschlossenheit und Weisheit aus, um sich genügend Respekt zu verschaffen. Seine Augen glänzten listig. Sein Lächeln erschien offen. Ein Mann, den Lena eher als ihren Großvater betrachten könnte, als den Botschafter in einer weit vom Zentrum abgelegenen Kolonie. Sein Haar schimmerte bei näherer Betrachtung silbern und verlieh ihm beinahe den Glanz eines heiligen Mannes, wäre nicht die dunkelgrüne Tunika mit den schwarzen Samtbordüren und die beiden jungen Mädchen an seiner Seite. Lena räusperte sich, als sie bemerkte, dass sie in einfachere Betrachtungsweisen abglitt. Jenen ungebildeten Wesen, die zuerst auf den äußeren Eindruck achteten, als auf die wichtigeren inneren Werte.

 

"Willkommen", rief der Botschafter und bemühte sich vor Lena in eine steife Verbeugung. "Willkommen auf Trouborgh."

"Vielen Dank", gab Lena etwas gerührt von sich. Noch niemand hatte sich vor ihr verbeugt. "Wir sind ... ."

"Ich weiß", nickte der Alte. "... hier, um diesen albernen Streit zu beenden. Sie benehmen sich wie Kinder. Unmöglich." Er schüttelte fassungslos den Kopf. "Verzeihung. Ich vergaß, mich vorzustellen. Ich bin Sirth Kerono Magalan, die lange Hand des Zentral-Bundes, hier in diesem fern abgelegenen Ort."

"Lena McKenzie", stellte sie sich vor und wand sich um. "Tchengo Namarch. Er wird die Überprüfung vornehmen."

"Namarch", wiederholte der Botschafter beinahe ehrfurchtsvoll. Er schien den Namen zu kennen. "Es ist mir eine Ehre." Auch vor ihm machte er eine Verbeugung, die diesmal wesentlich tiefer und demutsvoller ausfiel.

"Die Ehre ist auf meiner Seite, Hoheit", antwortete Namarch und gab eine steife Verbeugung zurück. Lena trat gelangweilt von einem Bein auf das Andere. "Ich bin als parteiloser Inspizient gekommen, verehrter Botschafter. Nichts weiter."

"Sie versuchen zu schmeicheln", kicherte der Alte. "Ich kenne Männer ihres Schlages." Er winkte den beiden Mädchen. Zwei kaum zwanzig Jahre alte, unbescholtene Schönheiten, die sich beinahe wie ein Ei glichen. Nur an dem etwas reiferen Gesicht war eine von ihnen als die Ältere zu erkennen. "Dies sind meine Enkelkinder. Meriga und Tashra. Zwei bezaubernde Wesen, nicht wahr?" Er warf dem jungen Mann einen verschmitzten Blick zu. "Aber lassen wir das. Sie sind bereits angekündigt. Die Delegation wartet. Ich kann es auch nicht mehr erwarten, diesen dummen Streit als beendet zu sehen."

"Ich werde tun, was ich kann, eure Hoheit." Dabei machte er eine weitere steife Verbeugung.

"Ich hoffe es", entgegnete der Botschafter. "Ich hoffe es."

Lena gesellte sich sofort an Namarchs Seite, als der Botschafter mit den beiden Mädchen fortmarschierte.

"Warum nennst du ihn Hoheit?", wollte sie wissen. "Spricht man so Botschafter im Allgemeinen an?"

"Nur wenn sie zur ersten Linie des Sirth-Adelsgeschlechtes gehören", entgegnete Namarch trocken und folgte dem Alten.

Für einen Moment blieb Lena fassungslos stehen. Doch bereits im nächsten hatte sie sich von diesem Punktverlust erholt und beeilte sich den Vorsprung einzuholen. An der Seite von Namarch und dem Botschafter betrat sie ein aus versteinerten Holzbalken errichtete Villa, mit violett getäfelten Fachwerkwänden, zu deren ausladendem Portal ein Weg aus zartrosé eingelassenen Platten führte. Steinsäulen mit zierlicher Holzmaserung, denen die gelbe Farbe buchstäblich eingehaucht worden war, standen zu beiden Seiten des violett gestrichenen Eingangstores. Lena bekam beinahe vor Staunen ihren Mund nicht mehr zu, als sie in einen Saal geführt wurde, dessen Licht aus unzähligen Kristallen an der Decke stammte, die wie kleine Sterne in einer wolkenfreien Nacht über dem Geschehen schwebten. Das Licht, das sie ausströmten, schien aus verdeckt liegenden Quellen zu kommen. Für künstlich erzeugtes Licht wirkten sie zu natürlich. Die kleinen Sterne tauchten den Saal in ein angenehmes warmes Licht, unter dem niemand dem anderen Böse sein konnte. Sie selbst wurde beinahe von romantischen Gefühlen übermannt, hätte sie nicht einen schmerzhaften Stoß in die Seite erhalten.

Schnell kehrte sie wieder zum eigentlichen Geschehen zurück, konnte es aber nicht verhindern, Namarch einen wütenden Blick zukommen zu lassen.

 

Der Botschafter führte sie durch Reihen von zartgelb bezogenen Stühlen mit hohen Lehnen, die in perfekter Formation um einen Tisch in ihrer Mitte aufgestellt waren. Keiner der Stühle tanzte aus der Reihe. Je mehr Stufen sie auf dem Weg nach unten zu dem Tisch in der Mitte hinunterkletterten, desto heller schien es zu werden. Lena wagte einen weiteren Blick zur Decke. Die Sterne schienen allesamt auf den Zentralpunkt des Saales ausgerichtet zu sein und ließen den hellen Tisch in leuchtendem Elfenbein strahlen. In Wirklichkeit schien es ebenfalls ein steinerner Holzblock zu sein. Die feine Maserung von Astlöchern und Fasern zeigten sich eine Spur dunkler.

 

Magalan hob seinen Arm. Die weiten Ärmel seiner Tunika schwangen hoch, wie die Flügel eines großen Vogels. Sofort verstarb das leise Gemurmel, das sie empfangen hatte, seit sie den Saal betreten hatten.

"Hört, Vertreter der Völker von Mandereth und der von Troubourgh", rief er. Seine Stimme wurde durch eine fantastische Akustik bis in die letzten Ecken des Saales verstärkt und gehört. "Die Vertreter des Zentral-Bundes sind eingetroffen. Eure Bedenken werden ergründet, eure Zwistigkeiten beigelegt." Dann wiederholte er seine Worte in einer Sprache wieder, die Lena im ersten Moment ein belustigendes Lächeln hervor zauberte. Dann biß sie sich auf die Lippen und unterdrückte ihre Reaktion. Der Botschafter fuhr in dieser merkwürdigen Sprache, die auch aus Gurgel und Schnalzlauten bestand, fort.

"Zu euch gekommen sind, Sohn von Namarch und Tochter von McKenzie. Sie sind in Frieden gekommen, um den Frieden in dieser ihnen befreundeten Stätte wieder herzustellen. Sie bitten um Unterstützung und um Anerkennung."

Ein leises Raunen ging durch den Saal.

Ein kleines rundliches Wesen erhob sich, bemühte sich zu dem Elfenbeintisch und kletterte darauf. Kein Tisch, erkannte Lena nun. Ein Podest für die klein gewachsenen Bewohner dieses Planeten. Die Farben elfenbein oder zartgelb, rosé und violett schienen die Farben dieser Versammlung zu sein, denn auch in den Gewändern der Anwesenden waren sie wiederzufinden. Der kleine Kerl trug eine leuchtend violette Kutte und auf seiner Brust glänzte ein blank poliertes Elfenbeincollier. Er hob ebenfalls die Arme, sodass der Saum seiner Kutte über die knöchrigen Knie rutschte, worauf das Raunen augenblicklich verstummte und hob dann selbst zu einer Rede mit Glucksern und Schnalzern an.

Als er geendet hatte, erhob sich eine Gestalt in einem eng anliegenden, tarngrünem Anzug aus zusammengenähten Flicken, kletterte ebenfalls auf das Podest und gab auch seine Rede zum Besten. Seine Sprache war die des ersten Redners sehr ähnlich, doch von weitaus weniger Gluckslauten geprägt.

 

"Sind das die Führer der jeweiligen Parteien?", fragte Lena flüsternd, als der Redner mit einem Raunen vom Podest gestiegen war.

"Gut aufgepasst", flüsterte er zurück. "Der Große ist der Vorsitzende der Minenarbeiter. Der Kleine, nennt sich König von Mandereth, in dessen Besitz sich die Minen befinden."

"Warum sagst du, nennt sich König?"

Ein Lächeln huschte um seine Lippen. "Weil er sich selbst zum König ausrief, nachdem sich die Minen ergiebig zeigten. Das Königreich wurde niemals offiziell anerkannt, sondern vom Zentral-Bund lediglich der Freundschaft wegen geduldet."

Lena nickte wissend und sah sich kurz um.

"Die Arbeiter werden von Trouborgh gestellt", fuhr Namarch seine Erklärung fort. "Weil die Manderener selbst nicht in der Lage sind, schwere körperliche Arbeit auszuführen. Ein Vertrag wurde geschlossen, dass beide Seiten zu gleichen Teilen an den Erträgen der Minen beteiligt werden."

"Was jetzt scheinbar nicht mehr der Fall ist", gab Lena leise von sich. "Einer von ihnen betrügt."

"Das herauszufinden ist unsere Aufgabe."

Der Botschafter drehte sich nach den beiden um und sah sie mit einem erwartungsvollen Blick an.

"Die erwarten doch nicht im Ernst, dass wir auch eine Rede halten", entfleuchte es Lenas Lippen.

"Wenn du nichts dagegen hast, werde ich das übernehmen", lächelte Namarch überlegen und gesellte sich an die Seite des Botschafters. Anders als seine Vorredner kletterte er nicht auf das Potest, sondern sprach vom Boden der Halle aus mit der Versammlung. Zu Lenas Überraschung kamen über seine Lippen dieselben merkwürdigen Laute, wie aus den seiner Vorredner. Irgendwie überkam sie das Gefühl, etwas zu dieser Situation beitragen zu müssen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Sie tippte vorsichtig an seine Schulter und unterbrach damit seine Rede.

"Ich hoffe, du erzählst ihnen nicht die Story vom Pferd", sagte sie leise. "Erzähle ihnen nicht zu viel. Nur soviel, dass wir der Sache nachgehen und versuchen den Schuldigen zu finden. Und dass dieser seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Mach keine hundertprozentigen Versprechungen."

"Phrasen", antwortete Namarch. "Glaubhafte Phrasen sind das, was gute Diplomaten ausmacht."

"Ich will nicht gerade behaupten, ein guter Diplomat zu sein", bemerkte sie. "Aber auch leere Seifenblasen platzen irgendwann, und wenn sie ausgerechnet in die Augen gehen, kann das fürchterlich brennen."

"Wenn du auch nur ein Wort von dem verstanden hättest, was bisher gesprochen wurde, hättest du längst begriffen, dass die Blasen nicht aus Seifenlauge bestehen."

"Ein leichter Job, mit anderen Worten", begriff sie.

"Die eine Partei fühlt sich von der anderen benachteiligt; und mit unserer Arbeit kann diesem Irrglauben schnell entgegen gewirkt werden."

"Ich hoffe sehr, du hast Recht", gab sie skeptisch von sich. Irgendwie erschienen ihr die Gesichter der Versammelten für klare Seifenblasen zu ernst.

"Das ist der Grund, warum du nur bis zur fünften Testfrage gekommen bist."

Lena unterdrückte ihre rot anlaufenden Wangen. Sie räusperte sich verlegen und trat einen Schritt zurück. Zwei zu Eins für ihn, sagte sie leise. Aber den Punkteaufschub würde sie bald wieder aufgeholt haben. Dies schwor sie sich.

 

Auch Namarchs Rede wurde mit einem Raunen gewürdigt und nach einigen persönlichen Gesprächen mit den Vertretern der jeweiligen Parteien, führte der Botschafter die Gäste wieder aus dem Saal.

"Wie Kinder", murmelte Magalan vor sich hin, während er die einzelnen Stufen hinaufkletterte, seine Enkeltöchter und die beiden Abgesandten des Zentral-Bundes im Schlepptau.

"Nicht ganz wie Kinder", verbesserte Namarch. "Wie lange zufriedengestellte Wölfe, denen irgendwie die Angst auf schlechte Zeiten gemacht wurde."

Der Botschafter hielt inne und betrachtete ihn aufmerksam. Dann zuckte er mit den Schultern und marschierte weiter.

"Die Definition von Kinder ist so weiträumig erfassbar wie das gesamte Universum", philosophierte er, während er die zierliche Hand eines seiner Enkeltöchter tätschelte. "Vielleicht ist es tatsächlich Futterneid, die sie zähnefletschend gegenüberstehen lässt. Nur meinem guten Zureden ist zu verdanken, dass sie sich nicht bereits zerfleischt haben. Der Vergleich mit den zufriedenen Wölfen kann es vielleicht besser treffen. Doch ich finde, dass sich Kinder manchmal ebenfalls wie reißende Bestien verhalten." Er blieb kurz stehen und betrachtete den jungen Mann. "Ich würde ihnen raten, ihre Aufgabe schnell zu erledigen. Wenn auch nur ein Brocken in einem der Fressnäpfe fehlt, ist ein entsetzlicher Krieg die Folge. Ich würde ihnen auch raten, mit ihrem Wissen sorgsam umzugehen."

"Ich werde ihren Rat beherzigen, eure Hoheit", gab Namarch höflich von sich und trottete hinter dem Alten her, der nun von seinen beiden Enkeltöchtern gestützt, den Plattenweg überquerte.

"Was meinte er damit?", fragte Lena neugierig, als die Distanz zwischen dem Botschafter und ihnen etwas größer geworden war.

"Falls wir den Fehler finden sollten, müssen wir das diskret behandeln und die Angelegenheit bereinigen, ohne das auch nur einer etwas merkt."

"Doch kein leichter Job, was?"

"Er beginnt, interessant zu werden."

"Deine Definition von verzwickter Lage hört sich nicht unbedingt Erfolg versprechend an."

"Wir leben in einer verzwickten Welt. Was erwartest du denn?"

"Ich bin nicht pingelig, was Gefahr anbelangt. Aber ein ausgewachsener Bürgerkrieg muss es nicht unbedingt sein."

"Das liegt voll und ganz in unserer Hand", bemerkte er sachlich. "Wenn du unbedingt einen Schuldigen finden willst, dann kannst du dir eines Bürgerkrieges sicher sein."

"Heißt das, du willst die Sache so hinbügeln, dass es sich um ein Gerücht gehandelt hat und den Verursacher laufen lassen?"

"Das habe ich nicht behauptet", widersprach er und hielt kurz an, um ihr eines strengen Blickes zu würdigen. "Meine Aufgabe ist es, den Anschuldigungen auf den Grund zu gehen. Die deine, den Verursacher - falls es einen gibt - in Gewahrsam zu nehmen, und zwar so dezent und unbemerkt, dass sich niemand Anstoß daran nimmt, gleich welche Seite. Die Geprellten verlangen Ausgleich. Die Bereicherten Gerechtigkeit. Es ist deine Aufgabe, dies so hinzubügeln, dass es keinen Bürgerkrieg gibt. Stellt das für dich ein Problem dar?"

"In gewisser Weise schon", gab sie zu. "Ich habe keine Erfahrung in Vermeidung eines Krieges."

"Bleib auf dem Boden", ermahnte er sie. "Von Bürgerkrieg hast du gesprochen. Es muss ja nicht erst soweit kommen, habe ich recht?"

Lena blieb schnaufend zurück, als Namarch einfach weiterging. Irgendwie wurde sie nicht ganz schlau aus dem, was er von sich gegeben hatte. Vielleicht fehlte es ihr doch an intellektuellem Potenzial, um seinen Ausführungen folgen zu können. Sie schnaubte wütend. Er brachte es immer wieder fertig, sie als blondes Dummchen hinzustellen, noch ehe sie es begriff. Sie musste sich allmählich etwas einfallen lassen, um den Punktestand auszugleichen.

"Du bist Zivilist", schnaubte sie, als sie die Anderen eingeholt hatte. "Vergiss das nicht."

"Ganz und gar nicht", entgegnete er mit einem zarten Schmunzeln. "Dieser Umstand bewahrt mich davor, von dir an die Wand gestellt zu werden."

Noch ein Punkt für ihn, knurrte Lena im Stillen. Sie durfte sich nicht von ihm unterkriegen lassen und entschloss für den Rest des Weges den Mund zu halten. Es durfte ihr keine weitere unbedarfte Bemerkung abhandenkommen.

 

Während Lena und die übrige Einheit ihre Nacht auf einer harten Pritsche verbringen mussten, war Namarch von Sirth Magalan persönlich eingeladen worden, sein Quartier in der Botschaft aufzuschlagen. Lena konnte es nicht verbieten. Schließlich war er Zivilist und wohl nur in der Botschaft am sichersten, falls es zu einem Zwischenfall kommen sollte.

Am nächsten Morgen - sämtliche Glieder schmerzten ihr - holte sie Namarch in der Botschaft ab und brachte ihn zum Rechenzentrum, einem kahlen Bau, aus grauen unbehandelten Steinblöcken mit großen Fensterflächen. Alles an ihm war einfach und schlicht gehalten, als hätten bei der Errichtung kein Penny zu viel anfallen dürfen. Dank der großen Fenster konnte weitgehend auf zusätzliche Beleuchtung verzichtet werden und nur in den tiefer gelegenen Räumen sorgten künstliche Leuchten für die notwendige Sicht. Das elektronische Zentrum des Baues befand sich im Keller des Hauses, wo Kristallbänder die Helligkeit unter Tage transportierten und auch dort für angenehmes Tageslicht sorgten. Für die Delegation des Zentral-Bundes war ein kleiner Bereich geschaffen worden, in dem sie ungestört ihre Suche nach dem Fehler ausführen konnten.

Lena postierte zwei Wachen in unmittelbarer Nähe von Namarch und vier weitere vor dem Haus, den Rest nahm sie mit auf eine Patrouille, die mehr eine Sight-Seeing-Tour durch die Hauptstadt von Trouborgh war, als eine ernst zu nehmende Inspektion der öffentlichen Einrichtungen.

Dorous, die Hauptstadt, war wie jede andere Hauptstadt, die schnell und einfach aufgebaut werden musste, um den Ansprüchen einer beginnenden Handelsmacht gerecht zu werden. Vergnügungsbereiche und Erholungsterritorien gab es kaum, lediglich in einigen Neubaugebieten, bei denen man sich erfahrungsgemäß schon vor der Errichtung Gedanken gemacht hatte. Die Gebäude wurden allesamt in schlichtem, unbehandeltem Stein gehalten, das nur durch üppiges, zum Teil wild wachsendes Grün aufgeheitert wurde.

Lediglich die Versammlungshalle und die Botschaft bildeten herausragende Farbkleckse in diesem tristen weißgrau der Steinbehausungen. Die Botschaft war in leuchtendem Rot getüncht worden. Und nach Lenas Auffassung derart aufdringlich, dass es einem buchstäblich ins Auge stach. Die zartgelben Fensterrahmen bildeten einen erholsamen Kontrast zu der knalligen Farbe, die das Gebäude eher wie einen Feuermelder, denn einer repräsentativen Botschaft erscheinen ließ.

 

Lena hielt sich lange vor dem Haus auf und dachte darüber nach, wie sie die Botschaft gestaltet hätte, als plötzlich Magalan neben ihr stand. Sie musste sich zwingen nicht vor Schreck aufzuschreien, denn der alte Mann hatte sich ihr unbemerkt genähert und solange neben ihr gewartet, bis sie zufällig auf ihn aufmerksam wurde.

"Ein interessantes Haus, nicht wahr?", sagte er schmunzelnd und betrachtete es mit ihr.

"Wer hatte die Idee für diese Farbe?", wollte Lena ungeniert wissen.

"Rot ist in dieser Gegend die Farbe des Vertrauens", erklärte er. "Damit wollten die Bewohner ihre Meinung zum Bündnis mit dem zentralen Sternensystem zum Ausdruck bringen."

"Aha", machte Lena und räusperte sich verlegen. Sie versuchte ein Lächeln. Wie wenig wusste sie doch von fremden Kulturen. "Ich möchte mich gerne bei ihnen entschuldigen, Hoheit", kam es über ihre Lippen, was sie die letzte Nacht in Gedanken ausformuliert hatte. "Ich bin noch neu und hatte daher keine Ahnung von ihrem Stand. Ich wusste nicht, dass sie ein Sirth sind. Das heißt, ich wusste nicht einmal, was das bedeutet, eurer Hoheit."

"Das wissen die wenigsten hier", beruhigte er sie. "Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich habe mich in diese entlegene Gegend geflüchtet, um nicht ständig daran erinnert zu werden. Was aber nicht heißen soll, dass dieses alte, zähe, blaue Blut nicht dann und wann eine kräftige Ölung gebrauchen kann." Er lächelte ihr verschmitzt zu. "Je länger ich hier bin, desto mehr genieße ich es, meinem Stand entsprechend angesprochen zu werden. Es muss aber nicht unbedingt sein."

Lena erwiderte das aufrichtige Lächeln des alten Mannes.

"Ich ziehe ein offenherziges Gespräch einem gezierten höfischen Gehabe allemal vor", fuhr er fort, nahm die junge Frau beim Arm und spazierte mit ihr fort. Nicht weit von ihm entfernt, standen die beiden Enkeltöchter und die persönliche Leibwache und folgten ihnen, als sie langsam um die Botschaft herum spazierten. "Daher bin ich ganz froh, wenn jemand nicht weiß, was oder wer ich bin. Lassen sie sich von diesem Namarch nicht verunsichern. Er wirbelt wie alle Höflinge die Luft nur unnötig auf. Zum Glück ist dieser junge Mann galant genug, sich auf seine wesentliche Aufgabe zu konzentrieren und mich mit dieser lästigen Honigschmiererei zu verschonen."

Lena musste leise aufkichern.

"Ich kann ihnen versichern, dass dies mit der Zeit ziemlich unangenehm werden kann. Höflinge, die wie Schmeißfliegen um einen herumsurren und keine Gelegenheit auslassen, ihren Nektar an einem abzuladen. Widerlich." Er schüttelte sich kurz. "Ich habe meinen Bruder angefleht, mir diesen Posten auf dieser doch so entlegenen Aussenregion zu genehmigen, sonst wäre ich zu einem Selbstmord imstande gewesen." Wieder lächelte er Lena aufrichtig an. Sein Lächeln zog sie in seinen Bann.

"Warum ist Namarch ein Höfling?", wollte Lena wissen.

"Dieser Namarch vielleicht nicht. Aber sein Vater, denke ich. Er ist einer der zwölf Berater, die ständig um den König herumscharwenzeln. Wussten sie das nicht?"

"Nein", gestand Lena. "Wir hatten noch keine Gelegenheit zum Austausch von Persönlichkeiten."

"Hoftratsch und hohe Politik ist nichts für ein derartig unschuldiges Wesen wie sie, Miss McKenzie", sagte er offen. "Sie sind vermutlich in einfachen Verhältnissen aufgewachsenen und musste sich ihren Platz mit bloßen Fäusten hart erkämpfen. Solche Leute bewundere ich. Bewahren sie sich dies."

Lena seufzte leise.

"Solche Leute wie Namarch sind vermutlich die wahren Leittragenden des Lebens. Sie haben niemals gelernt, das Leben zu schätzen. Sagen sie ihm, dass er seinen Nachkommen, wenn es soweit ist, beibringen soll, dass sie das Leben nicht als selbstverständlich ansehen dürfen. Das ist außerordentlich wichtig."

Lena nickte. Vielleicht richtete sie es ihm aus. Vielleicht aber auch nicht.

"Darf ich ihnen etwas zeigen, Miss McKenzie", fragte der Botschafter. "Es ist mein ganzer Stolz. Selbst in dieser entlegenen Region etwas aus meiner Heimat geschaffen zu haben." Damit führte er sie um eine Mauer herum und sie befanden sich in einem üppigem Grün, wie Lena nur aus Berichten über Dschungelgegenden kannte. Inmitten diesem Über an Flora befand sich ein Teich, der die Ausmaße eines mittleren Sees hatte und in dem Wasserpflanzen badeten, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Dabei musste sie zugeben, dass sie sich bisher ziemlich wenig um Pflanzen und Gewächsen überhaupt gekümmert hatte.

Die begeisterten Ausführungen des alten Mannes hielten sie den Rest des Tages in Bann, und als sie endlich entlassen wurde, wusste sie über die Ökologie von Wasserpflanzen bestens Bescheid.

 

Namarch saß noch immer in dem Kellerabteil, vertieft in Terminalmitteilungen, Computerlisten und Stapel von Auswertungen. Als sie ihn betrachtete, überkam sie das Gefühl, dass er im Laufe des Tages erneut an Gewicht zugelegt hatte. Doch in seiner Nähe befand sich lediglich eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, noch scheinbar ungeöffnet und keinerlei Reste einer Mahlzeit. Er sah erschöpft aus, und als er die Beobachterin endlich bemerkt hatte, schnaufte er kurz durch. Zum ersten Mal an diesem Tag erschien ihr.

"Irgendetwas gefunden?", fragte sie und blätterte einen Stapel Auswertungen durch. Der Terminal projizierte ihr konfuse Kombinationen von Zahlen, in die sie lieber keinen Blick hineinwarf. Auch die Auswertungen kamen ihr irgendwie unverständlich vor. Zudem konnte sie keine einzige Zahl entziffern, wie sie es erwartet hatte. Die Listen waren übersät mit Hieroglyphen und kleinen Zeichnungen.

"Nein", antwortete er müde, lehnte sich kurz zurück und streckte sein Kreuz. Seine steife Robe bäumte sich strafend auf und ließ den unförmig gewordenen Körper noch aufgeschwollener wirken. Nur kurz verzog er sein Gesicht. Irgendetwas hatte ihm einen kurzen stechenden Schmerz verursacht. Dann ließ er sich wieder zurücksinken.

"Alles in Ordnung mit dir?", wollte sie besorgt wissen und betrachtete ihn aufmerksam. "Du solltest dann und wann aufstehen und dich etwas bewegen, sonst müssen wir dich bald hinausrollen."

"Mach dich um mich keine Sorgen", gab er schnippisch zurück und ließ ein anderes ebenso abstraktes Bild auf dem Terminal erscheinen.

"Wer macht sich hier um wen Sorgen?", maulte sie und lehnte sich lässig über den Terminal, in den er gerade angestrengt blickte.

Darauf gab er keine Antwort.

"Ich habe keinerlei Ahnung von all diesen Dingen hier", begann sie und warf einen weit schweifenden Blick über das Chaos an Abrechnungsauswertungen. "Ich wüsste nicht, wie ich dir helfen könnte."

"Niemand verlangt von dir etwas Unmögliches", erwiderte er und schenkte ihr eine kurze Grimasse.

"Du glaubst wohl, nur du bist so superschlau, was?"

"Schon möglich", gab er knapp von sich.

"Wie kannst du aus diesen merkwürdigen Zeichen nur etwas Verständliches herauslesen?", fragte sie und versuchte ein kleines Bildchen zu entziffern. Sie musste es mangels Wissen aufgeben.

"Indem ich es irgendwann einmal studiert habe", entgegnete er.

"Was hast du eigentlich nicht studiert?"

Er sah hoch. "Versuchst du etwa einen Streit vom Zaun zu brechen?", wollte er unverhohlen wissen.

"Bevor ich mir lange Ausführungen über das anhören muss, was du alles weißt und studiert hast, wähle ich den kürzeren Weg und frage dich nach dem, was du nicht weißt. Geduldiges Zuhören gehört nämlich nicht zu meiner stärksten Seite."

"Etwas davon könnte dir wahrlich nicht schaden."

"Ich habe mir heute schon genug Wissen reingezogen", bemerkte sie und platzierte ihren Hintern kokett an eine steinerne Tischplatte. "Ich weiß seit heute Nachmittag genauestens über die Pflege und Aufzucht von Wasserpflanzen Bescheid. Der Botschafter ist ein netter alter Mann, wusstest du das?"

"Ich kann mich beherrschen", gab er knapp von sich.

"Wir haben über das Leben philosophiert."

"Ach, wirklich?"

"Ich soll dir übrigens ausrichten, dass du deinen Nachkommen beibringen sollst, das Leben nicht als selbstverständlich anzusehen."

Erneut sah er von seinen Auswertungen hoch und starrte sie mit ernstem Gesicht an. Ein Ausdruck war darin zu erkennen, der Lena beinahe Angst bereitete.

"Hat er das so gesagt?", wollte er wissen.

Lena dachte einen Moment nach, dann erinnerte sie sich wieder. Sie nickte.

"Mehr nicht?", kam es überrascht von ihm.

"Was erwartest du denn?", fragte sie. "Dass er sich in deine Zukunft einmischt?"

"Wirklich nicht", rief Namarch und widmete sich schnell wieder seinem Terminal.

"Der Botschafter ist ein netter Mann", bemerkte sie und dachte einen Moment darüber nach. "Ich könnte mich mit ihm anfreunden."

"Sei vorsichtig", ermahnte Namarch sie. "Der Kerl ist eine hinterlistige Kröte, genau wie sein gekrönter Bruder."

"Wie kannst du so etwas sagen?", rief sie entrüstet.

Wieder sah er hoch und blickte ihr geradewegs in die Augen. Sein harter Blick ließ ihre Wut über das eben gesagt merklich schmälern.

"Warum glaubst du wohl sitzt er hier, inmitten der Quelle?", gab er zu bedenken. "Damit der Strom nicht abreißt. Der König und der ganze Hofstaat sind kostspielig und sein Bruder muss für die nötige Erhaltung sorgen. Es ist nicht auch nur im Interesse des Zentral-Bundes, wenn wir die Streitigkeiten beenden können. Ein Bürgerkrieg würde die Quelle für unbestimmte Zeit zum Erliegen bringen. Der Hilferuf an die Zentrale war nicht von ungefähr. Hast du vielleicht einmal darüber nachgedacht?"

Hatte sie nicht, musste sie sich eingestehen. Sie beging ein weiteres Mal den Fehler, sich von Äußerlichkeiten zu einem endgültigen Urteil verleiten zu lassen.

"Du hast ihn hoffentlich nicht gleich als Großvater adoptiert?", fragte er höhnisch und konnte sich sogar zu einem belustigenden Lächeln hinreißen lassen.

"Dazu wollten wir erst morgen kommen", gab sie schnippisch zurück und ließ sich in einen Stuhl fallen.

"Sei vorsichtig", ermahnte er sie erneut. "Er beherrscht es, wie sein Bruder, perfekt die richtigen Leute geschickt um den Finger zu wickeln, um das bestmögliche für sich herauszuholen."

"Du hast das alles natürlich sofort gewusst."

"Es ist manchmal sogar von Vorteil, Söhnchen zu sein", entgegnete er. "Mein Vater verfügt über eine einflussreiche Position und er versuchte stets, mich mit all den Gefahren und Tücken, die mit dieser Stellung auf uns zutreffen, vertraut zu machen. Ich weiß einiges über Intrigenschmiederei und geschickte Aushorchmanöver, die beiden beliebtesten Gesellschaftsspielchen bei Hofe. Ich habe es mehr als ausreichend beigebracht und am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass ich weiß wer einem nur Honig ums Maul schmieren will. Sirth Magalan ist ein solcher."

"Dein Vater ist Berater", berichtete sie wissend.

"Einer von zwölf", zeigte sich Namarch keineswegs beeindruckt über ihr Wissen. "Und der engste Vertraute seiner Königlichen Hoheit."

"Darauf bist du wohl mächtig stolz, was?"

"Vielmehr auf das, was er in seinem Leben erreicht hat, nicht auf das, was er ist", erwiderte er aufrichtig. "Er schaffte es, sich vom einfachen Sekretär zur beinahe höchsten Person im Hofstaat hochzuarbeiten, aus eigener Kraft und mit eigenem Wissen."

"Klingt wie eine Hymne", gab sie sarkastisch von sich.

"Was ist dein Vater?", wollte er unvermindert wissen.

"Hafenarbeiter in der Werft von Sirenti", gestand sie.

"Dass du darüber sprechen kannst, ohne vor Scham im Boden zu versinken, ist das kein Stolz gegenüber deinem Vater? Was hat er denn schon im Leben erreicht? Wohl doch nur eine Familie vor dem Verhungern bewahrt, indem er sich die Hände blutig gearbeitet hat, jeden Tag von harter Arbeit erschöpft nach Hause kam und zu seinem Gott betete, dass dieser ihm und seiner Familie einen weiteren Tag Leben schenkte. Ist es nicht so?"

Lena schluckte trocken und starrte ihn fassungslos an.

"Ich verstehe vielleicht mehr vom Leben, als du denkst", schmunzelte er und betrachtete wieder den flackernde Bild des Terminals. "Und nach ein paar ziemlich harten Schicksalsschlägen sehe ich das Leben sicherlich nicht als selbstverständlich an. Das kannst du deinem netten alten Mann ruhig sagen."

"Warum hast du bei der Aufnahmeprüfung einen Rückzieher gemacht?", wollte sie wissen.

"Ich habe meine Gründe dafür", wiederholte er seine Ausrede.

"Das passt irgendwie so gar nicht zu dir", bemerkte sie wissend.

"Woher willst du wissen, was zu mir passt?"

"Dieses Erst-will-ich-dann-doch-nicht jedenfalls nicht. Und dass du dich derart gehen lässt, schon gleich gar nicht. Was ist nur los mit dir?"

"Du solltest deine Nase nicht zu tief in Angelegenheiten stecken, die dich nichts angehen", ermahnte er sie.

"Du meinst, ich könnte in Bereiche vorstoßen, die dir peinlich wären, habe ich recht? Was hast du eigentlich gegen mich, dass du dir nicht von mir helfen lässt?"

"Du bist nicht eben mein Typ", sagte er ihr auf den Kopf zu.

"Liegt es an meinen blauen Augen, die dir nicht sympathisch sind?"

"Nein, deine naive Art und Weise in Angelegenheiten zu stolpern, die mich unweigerlich ebenfalls in eine Katastrophe gleiten lassen würden. Ich will nur vermeidbare Unannehmlichkeiten vermeiden, bevor sie überhaupt entstehen können."

"Das heißt mit anderen Worten, du traust mir nicht zu, ein Problem lösen zu können."

"Das habe ich nicht gesagt", widersprach er. "Es kommt nur auf die Art des Problems an. Dein größtes Problem ist dein Kopf. Es ist zu wenig darin enthalten, als dass es geistige Höchstarbeit leisten könnte."

"Warum beleidigst du mich unentwegt?"

"Wenn das Beleidigung ist, möchte ich gerne wissen, was deine ständige Bemerkung über das Söhnchen ist?"

"Damit habe ich dich wohl beleidigt, was?"

"Keineswegs. Du bist nicht die Erste, die das zu mir sagt. Und ich denke, dass du auch nicht die Letzte sein wirst. Ich werde immer Wesen begegnen, die von Vorurteilen geprägt sind, wie du mit deinen blauen Augen. Hast du nicht selbst behauptet, dass du mit blonden Haaren und blauen Augen gern als dumm angesehen wirst? Siehst du, du bist sogar von dir selbst voreingenommen. Wie kannst du dich von mir beleidigt fühlen. Und wenn du mich nun entschuldigen würdest. Ich habe noch jede Menge Arbeit vor mir."

"Dein Vater muss ja ein mächtig toller Mann sein, dass er dir all diese Lebensweisheiten beigebracht hat", maulte sie trotzig.

"An manchen Tagen könnte ich ihn dafür umbringen", gestand Namarch. "Dann nämlich, wenn ich einem Wesen wie dir begegne und notgedrungen aus diesem Schatz schöpfen muss, um es endlich loszuwerden."

Lena fuhr von ihrem Stuhl hoch.

"Du bist nicht der Supermann, für den du dich hältst", warf sie ihm an den Kopf.

"Habe ich das jemals behauptet?"

"Das ist es ja gerade. Du bist so perfekt und weißt auf alles eine Antwort."

"Alles nur Übung mit Subjekten wie dir."

"Dir hat sicherlich auch schon jemand gesagt, dass du ein verdammter Hurensohn bist", schimpfte sie wütend.

"Auf diese nette Art und Weise noch niemand."

Lena schnaufte und dampfte wutentbrannt davon. Sie musste sich selbst eingestehen, dass sie gegen diesen in allen Bereich gebildeten Kerl keine Chance besaß. Er konnte selbst in den hitzigsten Situationen noch ruhig und sachlich bleiben, ohne auch nur einen Milimeter an Land zu verlieren. Zweifellos ein Erfolg der guten Schule seines Vaters oder einiger Privatlehrer.

Der Punktestand war einfach nicht mehr aufzuholen.

 

Für die nächsten Tage vermied es Lena, ins Rechenzentrum zu gehen. Sie wandelte viel lieber mit dem Botschafter durch dessen Garten und philosophierte mit ihm über alle möglichen Dinge. Doch gänzlich wollte Namarchs Warnung nicht aus ihrer Erinnerung weichen, so sprach sie mit Magalan Themen an, die mehr zu höflichem Small-Talk gehören könnten, denn zu anspruchsvoller Unterhaltung und auf keinen Fall zu persönlich wirkten. Sie fand es für beide vorteilhafter, wenn sie sich eine Weile nicht sahen. Namarch konnte sich auf seine Arbeit konzentrieren und Lena hielt ihm den Botschafter vom Leib.

Doch eines Morgens wartete in einiger Entfernung eine der Wachen, die sie zu Namarchs Schutz ins Rechenzentrum geschickt hatte geduldig darauf, dass sie aus dem Reich der Träume in die Wirklichkeit zurückfand.

"Ist irgendetwas Besonderes vorgefallen?", fragte sie und bog ihre steifen Knochen durch.

"Ich weiß es nicht", antwortete die Wache aufrichtig und erhob sich. "Ihre Anwesenheit im Rechenzentrum ist seit Langem fällig."

"So?", machte Lena und betrachtete ihn skeptisch. "Wer verlangt nach meiner Anwesenheit? Hat Namarch nach mir Sehnsucht?"

"Er meinte, sie sollen ebenfalls ihren Teil dazu beitragen."

"Was könnte ich dazu beitragen?"

"Wenn sie danach fragen, soll ich antworten, dass sie ihren kleinen Hintern gefälligst zu ihm schaffen sollen", wiederholte die Wache die eingetrichterte Bemerkung. Es schien ihm unangenehm zu sein, derart derbe Worte ausstoßen zu müssen.

Lena hob beeindruckt eine Augenbraue und ließ sich Zeit, ihre Uniform anzulegen, ein kurzes Frühstück einzunehmen und machte sich erst im frühen Vormittag auf den Weg ins Rechenzentrum.

Namarch saß erwartungsgemäß zwischen flackernden Terminals, Berge von Auswertungen und ratternden Sichtdruckern. Lena schnaufte. Ihr wäre vor langer Zeit die Geduld ausgegangen.

"Du hast Sehnsucht nach meinem kleinen Hintern?", begann sie und grinste ihn frech an.

"Ist vermutlich der bessere Gesprächspartner", antwortete er, ohne von seinem Terminal zu lassen. "Setz dich!"

Lena zwang sich, gar nicht erst darauf einzugehen.

"Was ist los?", fragte sie, in erster Linie, um sich selbst von ihrem aufkeimenden Wutanfall abzulenken.

"Ich denke, ich habe etwas gefunden", kam er endlich mit der Sprache heraus und wand sich um. Müdigkeit und Erschöpfung stand in seinem Gesicht so deutlich geschrieben, wie die paar Pfunde mehr, die er seit dem letzten Zusammentreffen zugenommen hatte.

"Welcher von beiden hat zu viel für sich eingebucht, die Arbeiter oder die Minenbesitzer?"

"Keiner von beiden." Er schnaufte tief durch, um wenigstens etwas von der Erschöpfung loszuwerden. "Ich habe noch einmal über unsere Unterhaltung nachgedacht. Du weißt schon, dieser nette alte Mann, der dich so galant umschwirrt. Ich habe darüber nachgedacht, warum er sich soviel Mühe mit dir gibt."

"Kann es nicht sein, dass er einfach nur eine schöne Frau an seiner Seite zu schätzen weiß?"

"Das dachte ich mir erst auch", nickte er und lehnte sich vorsichtig zurück. "Vielleicht will er aber auch nur mit einer fremden Seele kommunizieren. Aber dafür kenne ich die Sirth-Brüder zu genau. Dann dachte ich mir, es könnte nicht schaden, nach einem Abzweig zu suchen. Eventuell verdient der Botschafter ebenfalls an den Minen. Schließlich entstehen durch seine Verbindungen, nicht nur zum Zentral-Bund, weitere Geschäftsbedingungen. Dabei bin ich auf Sylitt gestoßen."

"Auf was?"

Namarch überlegte kurz. "Du würdest wohl dazu sagen, auf eine Goldader gestoßen." Er verzog kurz seine Mundwinkel. "Wer auch immer, fand eine Möglichkeit, hohe Summen in Richtungen fließen zu lassen, die sich irgendwo verlieren. Es gibt bei manchen Geschäftsvorfällen keine Gegenbuchungen, bei anderen keine Zahlungseingänge, doppelte Zahlungen, fingierte Rechnungen oder Ähnliches. Das Dumme ist nur, dass diese Vorgänge nicht nach dem Kaskischen abgehandelt wurden, sondern nach dem Purasitischem, das heißt …“ Er stoppte sich abrupt und beäugte Lena, als müsse er erst abschätzen, ob sie der ausführlichen Abhandlung, die auf seiner Zunge lag, überhaupt folgen konnte. „… stell dir das wie ein totales Chaos vor“, fügte er an seiner Erklärung an. „Höchst kompliziert und nicht nachvollziehbar, dennoch funktioniert es irgendwie. Am Schluss kommt auf jeden Fall die richtige Zahl heraus. Dieser jemand aber, besitzt das Geschick, dieses Chaos so hinzubügeln, dass eine bestimmte Zahl herauskommt."

Lena blickte ihn verständnislos an. Sie zwang sich, nicht verwirrt mit dem Kopf zu schütteln.

"Was heißt das mit anderen Worten?"

"Jemand benutzte absichtlich das purasitische Chaos-System, um seine Fehlbuchungen zu vertuschen."

"Wer ist dieser jemand?"

"Das herauszufinden, wird der nächste Schritt sein", gab er tatenfreudig von sich. "Dir wird es nicht gefallen, aber wir müssen in den Konten der Botschaft und sogar in den Privatkonten des Botschafters persönlich forschen."

"Ist das erlaubt? Ich meine, es gibt doch so etwas wie Immunität und diplomatischen Schutz."

"Wir sollen dem Fehler auf die Spur kommen", bemerkte er unbeirrt. "Wenn der Botschafter Dreck am Stecken hat, bin ich der Erste, der es herausfindet."

"Was hast du gegen ihn?"

"Er ist mir etwas zu nett."

"So etwas kannst du wohl nicht leiden."

"Nicht wenn man mir den Bürgerkrieg anhängen will, den er mit raffinierter Hinterlist vorbereitet hat."

Lena klappte ihren Mund zu.

"Und was soll ich jetzt tun?"

"Du könntest mir etwas zur Hand gehen."

"Wie stellst du dir das vor? Ich meine, für mich sind das lediglich abstrakte Bildchen, mehr nicht."

"Es ist nicht unbedingt erforderlich, dass du weißt, welches Symbol für welche Zahl steht", gab er selbstsicher zurück. "Du musst nur die Bildchen vergleichen und mich informieren, wenn zwei voneinander abweichen." Damit schaltete er den Terminal ein, vor den sich Lena gesetzt hatte, tippte auf einige Tasten und bald erschienen lange Symbolreihen. "Hier! Das hier ist eine Gegenüberstellung der verschiedenen Verrechnungskonten. Sie müssten sich aufs Haar gleichen. Wenn nicht, melde dich."

"Bist du dir sicher, dass ich das kann?" Lena verspürte nicht die geringste Lust dazu, langweilige Bildchen zu betrachten, bis ihre Augen schmerzen und ihr Kopf brummte.

"Das ist wie im Bilderrätsel, einfaches Gehirntraining."

Lena schenkte ihm eine Grimasse und zog ihre Lippen kraus.

"Außerdem müssen wir uns beeilen", fuhr er fort und ließ sich bedächtig auf seinem Stuhl nieder. "Bevor sie merken, dass wir sie kontrollieren, müssen wir so viele Konten wie möglich durchforscht haben. Das Letzte was ich im Augenblick möchte, ist ein Verfahren wegen Hochverrats. Schließlich bewegen wir uns in Sphären, in denen wir ohne Erlaubnis absolut nichts zu suchen haben."

Damit sprach er es aus. Sie befanden sich auf extrem rutschigen Glatteis.

Lena seufzte und widmete sich schließlich, mehr oder weniger willig den bizarren Bildchen auf ihrem Bildschirm. Irgendwie schien die illegale Handlung ihre Begeisterung anzuschüren, und als sie tatsächlich einige Ungereimtheiten fand, war auch ihr Ehrgeiz angefacht und sie machte sich mit zunehmend mehr Eifer daran, sämtliche Zahlenreihen, die der Monitor ihr präsentierte nach Abweichungen zu überprüfen.

Mit überraschend viel Geduld erklärte ihr Namarch sämtliche Bereiche, in die sie ihre Nase steckten und bald waren diese vormals trockene Materie von schier endlichen Zahlenkolonnen und manchmal lustig anzusehenden Bildchen, interessanter als jede noch so exotische Pflanzenkultur, die sich im Garten der Botschaft befinden könnte. Sie vergaß vollkommen, dass sie mit Magalan verabredet war.

 

Irgendwann, spät am Tage - oder war bereits schon Nacht? - streckte Lena ihre steif gewordenen Glieder und Müdigkeit übermannte sie, als hätte jemand einen schweren Mantel über ihre Schultern geworfen. Ihr Kopf brummte wie ein ganzes Nest aufgescheuchter Hummeln und dicke Schleier trübten ihren Blick. Sie rieb ihre Augen, bis sie rot und feucht von Tränen waren. Ein herzhaftes Gähnen nahm sie zum Anlass, nach Namarch zu sehen.

Er saß tief konzentriert vor einem Terminal, tippte eifrig Zahlen in den Computer und schien die Welt um sich herum vollkommen vergessen zu haben. Lenas Stimme riß ihn abrupt aus seiner Buchhalterwelt. Erschrocken sah er hoch.

"Ich weiß nicht, wie es dir ergeht, aber ich könnte etwas Schlaf gebrauchen."

Namarch überlegte kurz und zu ihrer Überraschung nickte er zustimmend.

"Machen wir eine Pause", gab er müde von sich und lehnte sich vorsichtig zurück. In den vielen Stunden, die er beinahe regungslos auf dem Bürostuhl verbracht hatte, schienen ihm erneut einige Pölsterchen eingebracht zu haben. Lena schüttelte unmerklich den Kopf. Sie fand es einfach schade.

"Ich muss an die frische Luft", sagte sie und erhob sich.

Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie Namarch etwas unter seine Robe steckte, die Computer abschaltete und ihr schließlich nach draußen folgte. Die Wachen waren längst auf ihrem Posten zusammengesunken und eingeschlafen. Lena gönnte ihnen ihren Schlaf. Denn es war tatsächlich dunkel geworden. Sie sah zum Himmel, als sie auf dem großen Vorplatz des Rechenzentrums standen. Es musste tief in der Nacht sein, denn selbst tief am Horizont war kein Fünkchen Abendsonne mehr zu sehen.

 

"Haben wir Fortschritte gemacht?", wollte sie wissen und unterdrückte ein Gähnen. Die frische kalte Nachtluft erweckte etwas ihre müde gewordenen Lebensgeister. Sie sah sich um. Die Transportgleiter waren längst alle in den Parkhallen untergebracht. Das geschäftige Leben vom Tage fand seit Stunden nicht mehr statt. Die Unterkünfte der befanden sich eine gute halbe Stunde zu Fuß vom Rechenzentrum entfernt. Vielleicht tat ein kleiner Spaziergang ihren überbeanspruchten Gehirnzellen gut. Lena atmete tief ein und wand sich um, als sie Namarchs Anwesenheit nahe in ihrem Rücken spürte.

"Ich denke, dass wir dem Urheber bald auf die Spur kommen", bemerkte er zuversichtlich. "Ich überlege schon die ganze Zeit, wie wir unser Ergebnis präsentieren können, ohne einen Aufstand hervorzurufen."

"Wenn es weder die Manderether, noch die Troubourghs waren, sondern ein anderer, der sich an den ergiebigen Minen bereichern wollte, dürfte es keinen Aufstand geben", schlussfolgerte sie. "Der Schuldige wird gefasst und der gerechten Strafe zugeführt. Und somit kehrt wieder Ruhe ein."

"Ich habe kein gutes Gefühl dabei." Namarch klang ernsthaft besorgt. "Sie benutzten in der Versammlung Worte, die mich irgendwie beunruhigten. Es ist nicht die Art der Manderether, derartige Bemerkungen von sich zu geben."

"So?", machte Lena und betrachtete ihn von der Seite. "Was ist denn ihre Art?"

"Ich denke fast, sie fühlten sich persönlich angegriffen. Gleich von wem oder was. Es hat sie tief in ihrer Ehre gekränkt, dass es jemand gewagt hatte, Hand an Eigentum zu legen, das seit Generationen, in einem fest geregelten Vertrag den Wohlstand zweier Völker ermöglichte. Ich glaube fast, sie sahen sich in ihrer Existenz bedroht. Sollten wir den Dieb tatsächlich in den Reihen der Botschaft des Zentral-Bundes finden, denke ich, wird es blutigen Krieg geben."

"Du redest wie ein alter Politiker", stellte Lena beinahe angewidert fest.

"Wenn du Politik bereits zum Frühstück serviert bekommst, entwickelst du bald ein Gefühl dafür."

"Es muss schlimm sein, mit einem solchen Vater gesegnet zu sein", gab Lena anteilnehmend von sich.

"Es ist schlimm, wenn man ständig darauf angesprochen wird."

"Musstest du das alles lernen? Ich meine, die Sprachen, dieses Berechnungsverfahren. Bist du von deinem Vater dazu gezwungen worden?"

Eine Zeitautomatik schaltete die matte Außenbeleuchtung des Rechenzentrums ab und die beiden fanden sich allein in stockdunkler Nacht wieder.

"Wenig freundlich", gab Namarch feststellend von sich. "Gehen wir lieber, bevor wir uns Frostbeulen holen." Er streifte Lenas Schulter. "Nein, ich bin nicht dazu gezwungen worden", beantwortete er endlich ihre Frage. "Es war meine freie Entscheidung. Ich dachte mir, wenn ich etwas werden wollte, musste ich wenigstens die zwanzig gängigsten Sprachen des Zentral-Bundes beherrschen. Ebenso das am weitest verbreitete Abrechnungsverfahren. Und noch einiges mehr. Wie steht es mit dir? Bist du gezwungen worden, kämpfen, fliegen und schießen zu lernen?"

"In gewisser Weise schon", gestand sie. "Wenn man überleben wollte, musste man dafür kämpfen. Und je besser man war, desto besser standen die Chancen, irgendwann zur Spitze zu gehören."

"Was für eine Spitze?"

"Du musst dir das Leben in den Straßen von Kremargon vorstellen, wie eine Pyramide. Es gibt den Mob, der mit seinen unzähligen Leibern den schlammigen Boden pflastert. Je höher du hinaufklettern kannst, desto weniger machst du dich schmutzig. Wenn du zur Spitze kommst, bist du beinahe der König und sitzt auf dem ganzen Mist unter dir wie eine fette Glucke."

"Das klingt, wie das Regierungssystem des Zentral-Bundes", bemerkte er trocken. "Du scheinst doch etwas von Politik zu verstehen."

"Wenn das Politik ist, bin ich Meister darin", kicherte sie.

"Ich denke, du machst dir das Leben nur selbst schwer." Er schien sich von Lenas Heiterkeit nicht anstecken lassen zu wollen. "Es ist schwer, eine Tür in eine andere Sphäre zu finden. Doch wenn man eine passende Perspektive findet, ist es kein Problem."

"Was meinst du damit?"

"Deine Pyramide. Es ist überall dasselbe. Unten sind die Armen, oben die Reichen. Unten die Hilflosen, oben die Starken. Eine andere Perspektive, die Art des Vergleiches. Sieh es mit deinen eigenen Augen und du wirst wesentlich leichter begreifen lernen. Laß dir kein Bild von einem anderen aufdrängen."

"Ist das eine Lehrstunde für geistig minderbemittelte?", fragte sie sarkastisch.

"Nein, für krampfhaft anders Denkende."

"Versuchst du, mich für trockene Theorie zu begeistern?"

"Wirklich nicht", entgegnete er fest. "Die Begeisterung sollte von dir selbst kommen. Ich versuche lediglich, dich auf einige andere Möglichkeiten aufmerksam zu machen. Man muss nicht unbedingt den geraden, den offensichtlichen Weg gehen. Es gibt tausenderlei Umwege und Abkürzungen."

"Scheint so, als hättest du mit mir nicht alle Hoffnungen aufgegeben. Du klingst längst nicht mehr so abfällig. Habe ich dich heute etwa überrascht?"

"Ich muss zugeben, dass ..." Er zuckte plötzlich zusammen. Im äußerst fahlen Schein der fernen Sterne, erkannte Lena, dass sich sein Gesicht für einen Moment vor Schmerz verzog.

"Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte sie besorgt.

Namarch stieß den Atem durch die gekräuselten Lippen aus, als der Schmerz allmählich nachließ.

"Alles bestens", keuchte er und atmete tief durch.

"Bist du krank?"

"Wirklich nicht." Er machte noch einige tiefe Atemzüge und hatte sich wieder unter Kontrolle.

"Also, ich weiß nicht." Lena versperrte ihm den Weg. "Irgendetwas ist mit dir. Wenn du ein Problem hast, kann ich versuchen, es zu lösen. Vollkommen gleichgültig, was es ist."

"Glaube mir. Es ist kein Problem. Es sollte jedenfalls keines darstellen."

"Demnach hast du etwas", schlussfolgerte sie. "Was ist es?"

"Ich kann dir versichern, dass alles seinen natürlichen Weg geht."

"Jede Krankheit geht ihren natürlichen Weg", bemerkte Lena klug.

"Es ist keine Krankheit."

"Was ist es dann?"

"Du machst dir wohl ernsthaft Sorgen um mich?", sagte er feststellend.

"Als Repräsentant einer mächtigen Regierung solltest du dich nicht so gehen lassen. Von dem schneidigen Kerl, den ich während des Trainings kennengelernt habe, ist nicht mehr viel übrig geblieben."

Namarch antwortete nicht darauf.

"Sieh dich doch an. Du siehst unmöglich aus."

"Nach über vierzig Stunden ohne Schlaf würdest du ebenfalls nicht sonderlich gut aussehen."

"Warum willst du es mir nicht verraten?", wagte sie einen weiteren Versuch. "Warum weichst du mir ständig aus?"

"Du würdest es nicht verstehen."

"Vielleicht überrasche ich dich ein weiteres Mal?"

Namarch wurde um seine Antwort gebracht, als ein blauer Blitz knapp an Lenas Kopf vorbeizischte. Gänzlich unvorbereitet, erschrak sie, machte einen Satz zur Seite und rempelte dabei Namarch an, der daraufhin stolperte, das Gleichgewicht verlor und in die Knie sank, wo er sich gerade noch abfangen konnte, bevor er bäuchlings auf der Straße landete.

Lena hatte sofort ihre Waffe gezogen und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Dourous verfügte über keine Nachtbeleuchtung, oder sie war längst abgeschaltet worden. Die beiden befanden sich, umgeben von Finsternis allein auf einer breiten Straße. Erst allmählich drang das leise Stöhnen zu ihr durch, als sie lange niemanden entdecken konnte.

"Überlebst du es?", fragte sie besorgt. Lena dachte, er wäre angeschossen worden.

"Einen weiteren Annäherungsversuch von dir vielleicht nicht mehr", keuchte er unter Schmerzen und rappelte sich steif hoch.

"Was zum Teufel war das?", fragte sie und wand sich wieder in die Richtung, aus der der Blitz gekommen war. Noch ehe ihre Worte davon getragen werden konnten, sauste ein zweiter Kugelblitz durch die Luft und brachte den Pflasterstein nahe an Namarch zum Zerplatzen. Diesmal war er es, der einen Satz zur Seite machte.

Lena war augenblicklich wieder herumgefahren und hatte, ohne lange anzupeilen gefeuert. Doch der Schütze musste hinter einer Häuserecke, einer Mauer oder Ähnlichem in Deckung gegangen sein, sodass sie nur Gestein knirschen hörte. Sie lauschte angestrengt in die Nacht.

"Jedenfalls ein ziemlich schlechter Schütze", gab Namarch leise von sich.

"Eine Warnung? Oder ein Überfall?"

Wieder raste ein blauer Kugelblitz durch die Luft. Lena feuerte geistesgegenwärtig zurück und diesmal konnte sie einen ersticken Aufschrei vernehmen.

"Wir müssen von der Straße runter", rief sie Namarch zu. Ein weiterer Blitz kam aus einer dunklen Ecke. Lena reagierte. Doch da schoss ihr ein dritter Schütze die Waffe aus der Hand. Sie fluchte und ließ sich auf den Boden fallen, ehe der todbringende Leuchtblitz ihr Leben auslöschen konnte. Aus dem Augenwinkel entdeckte sie einen Schatten, der sich nahe am Boden der Häuserwand näherte. Sie schob sich hinterher. Die Blitze wurden mehr und verfolgten sie. Doch keiner vermochte sie richtig zu treffen. Entweder waren es tatsächlich schlechte Schützen, oder sie hatten nicht die Absicht sie nicht zu verletzen.

Wie von den Sternen entsandt, standen zwei große Schatten neben ihr. Der eine beugte sich zu ihr nieder, als wolle er sie aufheben, wie eine verlorene Münze. Lena warf sich zur Seite und brachte sich augenblicklich wieder auf die Beine. So wie sie es jahrelang in den Straßen ihrer Wohngegend hatte praktizieren müssen, griff sie mutig an, warf sich den beiden entgegen, verteilte kräftige Tritte und Schläge und krallte sich in ihr Fleisch, bis sie heißes Blut über ihre Finger rinnen spürte. Sie bekam den Kopf des Einen zu fassen, verkrallte sich in den Stoff dessen Mütze oder Kapuze, zog ihn ruckartig zu Boden und riß gleichzeitig ihr Knie hoch. Mit dem Knirschen von Knochen hallte auch ein erstickter Schmerzschrei durch die Nacht. Der Andere packte sie im Nacken und riß sie rücklings. Lena nutzte den Schwung, um sich ihm entgegen zu werfen, spitzte ihre Ellbogen im Rücken und rollte sich über ihren Angreifer ab. Noch bevor er wieder auf die Füsse kommen konnte, hatte sie ihre Handkante in seine Kehle gerammt.

Ein weiterer Schatten tauchte auf. Lena blieb nicht viel Zeit zum Luftholen. Er hatte etwas langes Dünnes in der Hand, ließ es sirrend über seinem Kopf tanzen und wenig später spürte sie ein siedendheißes Brennen um ihren Hals. Sie unterdrückte gewaltsam, Schmerz und Schrei, packte geistesgegenwärtig nach der Peitsche und stemmte sich gegen den Ruck, der sie aus dem Gleichgewicht bringen sollte. Für einen Moment stutzte die Gestalt, dann sah sie das Aufblinken einer polierten Laserwaffe. Lena warf sich herum und zerrte die Gerte um ihren Hals mit. Er geriet leicht ins Wangen. Gerade ausreichend, um ihn vom richtigen Zielen abzuhalten.

Von irgendwo drang ein erstickter Schrei zu ihr. Sie hörte ihren Namen rufen. Es klang gequält. Für einen Moment quoll Wut in ihr auf. Wut darüber, dass aus dem einst geschmeidigen Kämpfer ein aufgedunsener, steifer Bürokrat geworden war. Er war nicht mehr fähig, sich selbst zu verteidigen. Nur kurz wagte sie einen Seitenblick, in die Richtung aus der sie den Ruf wahrgenommen hatte. Sie entdeckte zwei Schatten miteinander ringen. Eine am Boden, die andere in gebückter Haltung über ihm.

Lena fluchte im Stillen, riss die Gerte erneut an sich, um ihn am Zielen zu hindern. Der Kerl ließ trotz allem die Peitsche nicht los. Dann rollte sie sich ab, sprang auf ihre Beine und war mit einem Satz auf ihn gesprungen, um ihn gänzlich umzuwerfen. Sie besaß keine Waffe. Aber sie war es gewohnt, ihre Fäuste und ihren Körper als Waffe einzusetzen. Mit einem angezogenen Bein sprang sie ihm direkt in den Leib. Sie hörte Knochen krachen, das dumpfe Stöhnen, als ihr Fuß in seine Weichteile trat, schlang blitzschnell die Gerte um seinen Hals und zog mit einem Ruck fest zu. Er zappelte und schlug um sich. Doch allmählich verließen ihn die Lebenskräfte und er sank leblos in sich zusammen.

Sie gönnte sich einen Atemzug Erholung, dann wirbelte sie herum, um Namarch aus seiner Zwickmühle zu befreien. Schließlich war sie für ihn verantwortlich. Außerdem durfte sie, so kurz vor der Auflösung des Falles, nicht den einzigen Mann verlieren, der den Betrug beweißen konnte. Sie besaß nicht das Wissen, um aus dem Wirrwarr von bizarren Bildchen plausible Erklärungen herauszufinden.

Die Dunkelheit hüllte beide Enden der Straße in unheimliche Unendlichkeit. Sie konnte nicht einmal bis zur anderen Straßenseite sehen. Nur durch leise Geräusche und Stöhnen fand sie die beiden, griff einfach nach einem der Schatten und riss es abrupt von dem anderen fort. Wie sie es erwartet hatte, verkrallten sich ihre Finger in eng anliegenden Flickenstoff, nicht in eine gesteifte Robe. Mit all ihrer Kraft riss sie ihn rückwärts und zog ihr Knie ruckartig hoch, sodass es schmerzhaft in dessen Kreuz fuhr. Geschickt drehte er sich in ihrem Griff, warf die Arme in die Luft und verpasste Lena eine derart heftige Ohrfeige, dass Tränen ihren ohnehin unzureichenden Blick trübten. Auf den Straßen in ihrer Stadt hatte sie gelernt, mit einem Punktverlust sofort zum Angriff überzugehen und sich niemals unterkriegen zu lassen. Ihre Hände verkrampften sich in seinem Anzug. Stoff knirschte. Beide plumpsten hart auf das Steinpflaster. Lena schlug ihre Ellbogen auf. Sie fluchte leise, versuchte ihr Knie in die Rippen ihres Kampfpartners zu pressen und erhielt eine weitere Ohrfeige, die ihre Trommelfelle zum Klingen brachten. Kräftige Hände verkrallten sich in ihrem Haar und rissen ihren Kopf ruckartig in den Nacken. Lena rief im Stillen nach Namarch. Der irgendwo untätig zusehen musste, wie sie sich mit einem mindest gleichgestellten Kampfpartner über den Boden prügelte. Sie verfluchte ihn im Stillen. Da tauchte ein zweiter Schatten auf, legte eine Schlinge über ihren Kopf, und noch ehe er zuziehen konnte, hatte sie sich herumgeworfen und bekam durch Zufall ihre Waffe zu fassen. Blitzschnell visierte sie an und erlegte die Schatten mit zwei raschen Schüssen. Dann kehrte endlich Ruhe ein. Keuchend sank sie auf die Knie.

Wo zum Teufel war dieser Namarch?, schimpfte sie im Stillen und hob den Kopf. Es lagen mehrere Schatten auf dem Boden. Einige bewegten sich leicht. Weiter hinten entdeckte sie einen Schatten, dessen Kleidung sich leicht aufplusterte, als er versuchte sich aufzurichten. Obwohl von Kampf und Atemlosigkeit erschöpft, sprang sie auf ihre Beine, war mit wenigen Sätzen bei ihm und schlug ihn wütend auf die Schulter.

"Was soll das, verdammt noch mal?", schrie sie wütend. "Hast du in deiner Fresssucht denn alles vergessen? Ich hätte getötet werden können."

Sie war nahe genug, um einen festen Tritt gegen ihre Beine zu erhalten. Und ehe sie eine weitere Schimpfkanonade über ihn entlassen konnte, fand sie sich auf ihrem Hintern wieder.

"Halt die Luft an", zischte er wütend. Seine Stimme klang gequält. Weitere Worte von ihm gingen in Keuchen und Husten, Würgen und nach Luft japsen unter. Er schien in seiner Wut und seiner Not auch in einer anderen Sprache gesprochen zu haben, denn Lena verstand kein einziges Wort.

Beleidigt steckte sie ihre Waffe in den Halfter zurück, rappelte sich auf die Beine und gewahrte einen Sicherheitsabstand, bis er sich einigermaßen erholt hatte.

Erst als er ungewöhnlich lange brauchte, kamen ihr Bedenken an ihrer heftigen Reaktion. Augenscheinlich hatte es ihn doch schwerer erwischt, als sie gedacht hatte. Oder seine merkwürdige Krankheit machte ihm, aufgrund dieses Überfalles zu schaffen.

In angemessenem Abstand ging sie vor ihn in die Hocke und betrachtete ihn durch die Dunkelheit.

"Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte sie vorsichtig. Sie versuchte ernsthaft besorgt und aufrichtig zu klingen.

"Kannst du", kam es keuchend von ihm. Er schien seine Wut noch nicht gänzlich im Griff zu haben. "Lass mich endlich in Ruhe."

"Es tut mir leid. Ich war wütend", versuchte sie sich zu rechtfertigen. "Es ist so eine dumme Angewohnheit von mir, schnell aus der Haut zu fahren." Sie berührte ihn vorsichtig an der Schulter.

Seine Hand schnellte augenblicklich hervor und stieß sie unsanft von sich. "Fass mich nicht an", zischte er böse und musste vor aufkeimenden Schmerz stoßweise ausatmen.

Lena verlor durch den Stoß gegen ihr Brustbein das Gleichgewicht und landete ein zweites Mal auf ihrem Hintern. Sie verzog ihr Gesicht und ließ ihn diesmal in Ruhe. Statt dessen kümmerte sie sich um die anderen Schatten, entledigte sie ihrer Waffen und versuchte ihre Identität zu erfahren. Natürlich besaßen sie keinerlei Kennkarten oder Ähnliches in ihren Taschen. Kein Hinweis auf ihren Auftraggeber, nur die aus einzelnen Stofffetzen zusammengenähten Anzüge, die sie eindeutig als Trouborgher auszeichneten.

Was hatte sie eigentlich erwartet, beschimpfte sie sich selbst. Namarch würde sie niemals tiefer in sein Leben eindringen lassen, als er für nötig empfand. Nicht nachdem sie sich beide ständig gedemütigt und erniedrigt und sich eindeutig gesagt hatten, was sie voneinander hielten. Sie hielt ihn nicht für jene Sorte Mann, die unbedingt den Helden spielen musste oder sämtliche Schmerzen durchstehen oder ignorieren konnte. Er war aber auch nicht jene Sorte, die vor jeder Unannehmlichkeit in Deckung ging. Irgendwie bewunderte sie ihn. Obwohl sein Äußeres zunehmend unansehnlicher wurde, die inneren Werte waren es, auf die sie mehr zu achten hatte. Vielleicht konnte sie ihn sogar als guten Freund gewinnen. Als Freund mit Köpfchen und Einfluss, welchen sie eventuell irgendwann einmal gebrauchen könnte.

Nur zögerlich kam Namarch wieder auf die Beine. Er räusperte noch einige Male, atmete tief durch und streckte seine große Statur in den Nachthimmel. Die steife Robe umhüllte ihn wie einen unheilvollen Hohepriester. Seine hellen grünen Augen und die offene schwarzen Haarpracht tat sein übriges. Er war eindeutig nicht vom selben Schlag wie Lena. In diesem Moment bemerkte sie abermals, wie wenig sie über andere Völker und Kulturen kannte.

"Geht es wieder?", fragte sie vorsichtig.

Namarch gab keine Antwort. Er versuchte sich vorsichtig zu strecken und musste unter Schmerzen aufgeben. Irgendwie tat er ihr leid, was auch immer mit ihm passiert war und Lena wurde mehr denn je von einem Gefühl befallen, ihm gleichgültig wie helfen zu müssen. Doch sie konnte sich zurückhalten.

Falls er tatsächlich ernsthafter verletzt worden war, hätte er es sicherlich gesagt. Und da er augenscheinlich allein zurechtkam, waren sie bald wieder durch die Nacht unterwegs. Diesmal hing Schweigen zwischen ihnen, bis sie zum Stützpunkt kamen. Lena marschierte zielstrebig zum Büro des diensthabenden Offiziers, doch Namarch hinderte sie daran.

"Das würde ich nicht tun", bemerkte er und sah sie streng an.

"Warum?", wollte sie wissen. "Wir wurden überfallen. Das muss gemeldet werden."

"Hast du denn nichts gelernt heute?" schnaubte er sie wütend an. "Wenn du das tust, wird es ein öffentliches Verfahren geben. Wir sind hier nicht als Touristen hier, sondern als loyale Prüfer. Die Manderether werden diesen Zwischenfall als Schuldanerkenntnis der Trouborgher ansehen und dann wird es Krieg geben."

Lena überlegte kurz und musste ihm recht geben. Er verstand sich in politischen Intrigen einfach besser als sie.

"Diese Mistkerle können doch nicht ungestraft davon kommen."

"Werden sie auch nicht", entgegnete er wissend. "Aber nicht auf diese Art. Derjenige, der diese Kerle anheuerte, rechnete damit, dass wir den Vorfall melden. Ist dir eigentlich nicht aufgefallen, dass sie stets daneben geschossen haben?"

"Doch schon, aber ... ."

"Sie wollten uns nicht töten. Eine Warnung vielleicht. Oder sie wollten uns entführen."

"Entführen?"

"Wer weiß." Namarch versank für einen Moment in Gedanken. "Es ist schon vieles versucht worden, um Unparteiische zu beeinflussen oder für ihre Zwecke zu benutzen. Und dann die Sklavenpeitschen?!"

"Sklavenpeitschen?"

"Weder die Manderether, noch die Trouborgher haben es nötig, Sklaven für sich arbeiten zu lassen. Die Auftraggeber sind Personen, die sich mit Sklaven abgeben, was bedeutet, dass wir es mit einer vierten Partei zu tun haben."

Lena betrachtete Namarch verblüfft. Sie sollte aufhören, ihre kümmerlichen Kenntnisse in Politik und Intrigenschmiederei zu überschätzen, stellte sie fest und stieß beeindruckt Atemluft durch die Nase aus.

"Jetzt sag nur noch, du hast bereits eine Vermutung, wer dieser Vierter ist", bemerkte sie sarkastisch und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.

"Solche Art von Peitschen werden gewöhnlich von Delogo'ons benutzt", erklärte er klug. "Es existiert aber eine Auflage des Zentral-Bundes, dass nichts was mit ihrem Sklaventum zu tun hat, außerhalb von Deloga'a geraten darf."

"Und was haben diese Delo-Dings mit den Minen in Mandereth zu tun?"

"Ganz einfach. Deloga'a verfügt selbst über reiche Minen. Sollte der Strom aus Mandereth versiegen, wird sich der gesamte Handel auf Deloga'a konzentrieren. Wem käme dies gelegener, als den Delogo'ons selbst?!" Er betrachtete Lena auffordernd.

"Heißt das, diese Delos sind die Übeltäter dieser ganzen Misere?" Lena versuchte verzweifelt eine Linie zu finden, der sie durch das ganze Durcheinander folgen konnte und irgendwann auf die Lösung führte.

"Möglich wäre es. Aber heutzutage kann alles geschmuggelt werden. Alle Arten von Sklavenpeitschen sind auf dem Jahrmarkt von Kel erhältlich. Jeder könnte sich damit eindecken und den Verdacht auf die Delogo'ons lenken."

Lena schnaufte. Ihre Linie löste sich in Luft auf. Sie war genausoweit, wie am Anfang. Namarch beherrschte es perfekt, sie stets aufs Neue zu verblüffen und sie mit seinem umfangreichen Wissen beinahe zu erschlagen.

"Was tun wir jetzt?", fragte sie resigniert und hoffte, dass er nicht vorschlug, in irgendwelchen Rechenzentralen den Verbleib einiger Sklavenpeitschen nachzuprüfen.

"Uns irgendwo einen Platz zum Schlafen suchen", entgegnete er zu ihrer Erleichterung. "Und wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne die Nacht im Stützpunkt verbringen."

Lena nickte und führte ihn in die Unterkünfte. Ihr kam dieser Vorschlag nur allzu Recht. Müde und von überfordert von hochgeistiger Politik sank sie schnell in einen tiefen Schlaf.

 

Sie hatte bestimmt noch nicht ausgeschlafen, sagte sie sich in ihren merkwürdigen Traum von Peitschen, flickenbekleideten Ungeheuern und schwarz berobten Gestalten, als sie bemerkte, dass sie wachgerüttelt wurde. Blinzelnd öffnete sie die Augen und blickte geradewegs das Gesicht, das sie am wenigsten erwartet hatte. Namarch hatte sich steif über ihre Pritsche gebeugt und rüttelte sie an der Schulter wach.

"Ich weiß zwar nicht, wie spät es ist", schimpfte sie verschlafen und stieß ihn weg. "Aber immer noch zu früh."

"Aufstehen", forderte er unnachgiebig. "Deine Person wird verlangt."

Lena sah ihn fragend an. Für einen Moment überlegte sie, was er damit gemeint haben könnte, dann drang der Lärm der übrigen Garnison in ihre noch verschlafenen Gehörgänge.

"Was ist hier eigentlich los?", wollte sie wissen und rappelte sich hoch.

"Das Rechenzentrum wurde heute Morgen zerstört", berichtete Namarch nüchtern. "Bis jetzt konnte ich noch dafür sorgen, dass niemand den Schutthaufen betritt, bis sich der zuständige Offizier bemüht aus seinem Nachtlager zu kriechen. Der König von Mandereth sitzt mir ziemlich lästig im Nacken. Also sieh zu, dass du dich endlich auf deine Beine begibst." Sein Ton war immer fordernder geworden.

Für einen Moment dachte Lena wütend darüber nach, wer von ihnen beiden die Leitung dieser Mission hatte. Dann sprang sie endlich auf ihre Beine, schlüpfte eilends in ihre Uniform und befand sich keine zehn Minuten später vor einem Trümmerhaufen aus Steinen, Inneneinrichtung, Büromaterial und allerlei Schutt und Staub.

"Es geschah heute Morgen, kurz nach Sonnenaufgang", berichtete Namarch und unterschritt die Absperrung. Er dachte überraschenderweise daran, die hastig angebrachten Stricke auch für Lena hochzuheben. Etwas von seiner netten, zuvorkommenden Art, die Lena bei der Testausbildung kennengelernt hatte, schien zurückgekommen zu sein. Doch schon als er weitersprach hatte sich dieser zarte Anflug bereits wieder verloren. "Der Knall weckte die ganze Stadt auf. Du musst über einen bemerkenswerten Schlaf verfügen."

Lena verzog nur ihr Gesicht und ließ ihren Blick über die Vernichtung gleiten. Der gesamte Komplex war in die Luft gejagt worden. Die Detonation musste die Trümmer kilometerweit über die ganze Stadt geschleudert haben. Staubwolken standen jetzt noch - Stunden nach Sonnenaufgang - in der Luft. Es roch nach Staub und Asche.

Auf den Trümmern kletterten Untersuchungstrupps herum und suchten nach Spuren.

"Schon irgendetwas gefunden?", fragte sie und beobachtete die Männer bei ihrer mühseligen Arbeit.

"Ich nehme an, du meinst einen Hinweis auf die Ursache der Detonation", gab Namarch sardonisch zurück. "Bis jetzt noch nicht."

"Das ist für dich sicherlich auch ein Hinweis darauf, was es war", gab Lena ebenso zurück.

"Wenn du eine wissenschaftliche Untersuchung brauchst, solltest du dich lieber an die Sprengstoffspezialisten wenden", antwortete er kühl.

"Gibt es da etwa etwas, worüber du nicht Bescheid weißt?" Sie sah ihn von der Seite her an.

"Wie wäre es, wenn du dich um deine Arbeit kümmerst, anstatt dich mit mir in Dingen zu messen, die zu hoch für dich sind", entgegnete er reserviert und kletterte steif über ein zertrümmertes Stück Häuserwand. Seine Robe bäumte sich auf, wie ein zu stark gestärktes Laken, das man versuchte, um eine Matratze zu legen.

Lena lächelte. Sie hatte sich eine Lücke in seinem umfangreichen Wissen gezeigt. In Waffen und Vernichtungsenergie kannte sie sich besser aus.

 

Während sie sich mit den Spezialisten unterhielt, ging Namarch zurück, um den König von Mandereth zu beruhigen, der aus Sicherheitsgründen wie alle anderen Schaulustigen, hinter der Absperrung warten musste. Sie sah ihn in eifriger Konversation mit dem kleinen Wesen, das hektisch mit den Armen wedelte und hin und her sprang, wie ein violettbemantelter Hampelmann. Namarch dagegen blieb gewohnt ruhig und steif und nickte nur dann und wann mit dem Kopf. Nur selten benutzte er zu seinen Antworten die Hände.

Lena ließ sich zu sehr von ihrer Arbeit ablenken. Immer wieder glitt ihre Aufmerksamkeit hin zu Namarch und dem kleinen Minenkönig. Als sich die beiden im heftigen Wortwechsel voneinander trennten, widmete sie sich schnell einigen Verbrennungen auf dem versteinerten Holzwerk.

 

"Was beunruhigt ihn denn so sehr?", wollte sie wissen, als Namarch über die Trümmer zu ihr geklettert war.

"Er erhielt eine anonyme Nachricht", berichtete Namarch. Er lehnte sich müde an einen Pfosten, der noch immer aufrecht stand, als müsse er die schwere Last des Himmels tragen. "Der Anschlag auf das Rechenzentrum soll auf das Konto der Minenarbeiter gehen. Dasselbe in umgekehrter Richtung hörte ich von Wes Kreep, dem Vorsitzenden der Arbeiter."

"Da spielt jemand ein stressiges Spielchen", bemerkte sie und wischte ihre Hände an ihrer Uniform ab.

"Ich hoffe, dass ich ihn davon abhalten konnte, die Minen zu schließen." Namarch sah wirklich müde aus. Sein Gesicht war bleich und zeigte noch immer deutlich die Anstrengungen der letzten Tage. Hatte er nicht geschlafen?

"Das wäre ein Misstrauenszeichen gegenüber den Arbeitern", gab sie von sich, in erster Linie, um sich abzulenken. Sie versuchte, ihn nicht darauf anzusprechen. Schließlich war ihr Verhältnis nicht intim genug, dass sie ihn danach fragen konnte. Sie versuchte ernsthaft, nur an ihre Arbeit zu denken.

"Hast du etwa deine Hausaufgaben gemacht?", fragte er sarkastisch.

Lena verzog ihre Lippen zu einem frechen Lächeln. "Es gibt Tage, da bin ich für derartigen Unsinn aufnahmebereit. Was sagte dieser Vorsitzende?", wollte sie, wieder ernst geworden, wissen.

"Er wartet ab, was der König unternimmt."

"Hoffentlich halten beide für eine Weile die Füße still", seufzte Lena und sah sich kurz um.

"Für wie lange?", erkundigte er sich.

"Solange, bis wir herausgefunden haben, wer hinter diesem Schlamassel steckt."

"Ich habe gehofft, zu Emorcho wieder zuhause zu sein."

Lena wandte sich um und blickte ihn fragend an. "Was ist Emorcho?"

"Eine Zeit der Festlichkeit", erklärte er. "Der Anbeginn unseres Glaubens."

"Aha", machte sie, um eine Spur klüger und drehte sich wieder um. "Es kann gut möglich sein, dass deine Familie diesmal ohne dich feiern muss."

"Ich hatte gehofft, nach Jahren wieder einmal daran teilnehmen zu können."

Lena verkrampfte sich, damit sie sich nicht ein weiteres Mal zu ihm umdrehte. Auf plötzliche Geständnisse aus seinem Leben schien sie nicht mehr vorbereitet zu sein.

"Vielleicht das nächste Mal", sagte sie leise.

"Außerdem habe ich noch etwas Interessantes erfahren", hörte sie in ihrem Rücken.

"Darf ich es auch erfahren?"

"Wir sind beide eingeladen, vor der Versammlung eine Stellungnahme abzugeben", berichtete er. "Und rate mal, wer darum gebeten hat."

"Botschafter Magalan", schoss es ihr in den Kopf.

"Gut nachgedacht", kommentierte er. "Jetzt dürfen wir uns etwas überlegen."

"Wie wäre es, das Versammlungsgebäude in die Luft zu sprengen", schlug sie vor und ließ sich zu einem Augenzwinkern hinreißen.

"Das wäre eine der Möglichkeiten sich davor zu drücken", ging er zu ihrer Überraschung darauf ein.

"Das klingt, als hättest du keine große Lust, vor der Versammlung zu reden."

"Ich spreche ungern über Dinge, die für mich noch ein Rätsel sind", gestand er. "Zudem widerstrebt es mir, mich auf Vermutungen, Annahmen und halbe Wahrheiten festnageln zu lassen."

"Bist du dir nicht mehr sicher, dass es jemand aus der Botschaft gewesen sein muss?" Die Sklavenpeitschen ließ sie vorerst lieber unter den Tisch fallen.

"Nein, nicht mehr."

"Was hat dich bewogen, deine Meinung zu ändern? Etwa die Delos von heute Nacht?", wollte Lena wissen.

"Delogo'ons", verbesserte er. "Nein. Eine Bemerkung, die Wes Kreep machte?"

"Welche du mir bisher verschwiegen hast." Sie sah ihn auffordernd an.

"Eine persönliche, über mich selbst." Er hielt ihrem Blick stand, ohne mit der Sprache herauszukommen.

"Wenn sie zur Lösung des Falles beiträgt, würde ich sie gerne hören." Sie stellte sich fordernd auf ein Bein, stemmte die Hände in die Hüften und hob einen Mundwinkel an. Eine Geste, wenn sie von jemanden etwas erwartete.

"Erzähle ich dir vielleicht bei Zeiten. Doch nun muss ich dich, so sehr es mir widerstrebt, um etwas bitten."

"Was denkst du eigentlich, wer oder was du bist?", rief sie entrüstet. "Du bist hier nicht der Sohn eines königlichen Beraters, sondern lediglich ein kleiner unparteiischer Prüfer."

"Bring Magalan dazu, die Botschaft für eine Stunde zu verlassen", ging Namarch nicht darauf ein. "Mit einem netten Lächeln wirst du das doch hoffentlich zustande bringen."

"Ich denke nicht daran."

"Dann bleibt uns doch nur noch die Möglichkeit, die Versammlungshalle in die Luft zu sprengen." Seine Lippen verzogen sich zu einem frechen Grinsen. Die Wohlproportionen in seinem Gesicht machten es nur etwas schmieriger.

"Du kannst mich nicht behandeln, wie einen billigen Handlanger", protestierte sie energisch.

"Wenn dir das gelingt, bist du doch besser, als ich angenommen habe." Damit stieß er sich von der Säule ab und kletterte zurück zur Absperrung.

Lena kletterte wütend hinterher.

"Ich verlange, dass du mich einweihst."

"Dazu müsste ich dir verraten, was Kreep gesagt hat. Ich möchte aber nicht, dass du es dem Botschafter gegenüber erwähnst. Auch wenn es dir vielleicht unabsichtlich über die Lippen rutscht."

"Für wie dumm hältst du mich eigentlich?"

Namarch blieb stehen und wand sich um. In seinen grünen Augen stand ein Glitzern, das Lena dazu veranlaßt hätte, ihm das Gesicht zu zerkratzen, wenn sich ihr Anstand nicht gemeldet hätte.

"Verdammter Hurenbock", schimpfte sie ihm hinterher und stampfte wütend mit dem Fuß auf.

Namarch reagierte nicht mehr darauf und war auch schon bald in der Menge der Schaulustigen verschwunden.

 

Lena schnaubte wütend. Wie um alles in der Welt sollte sie Magalan aus der Botschaft bringen? Wenn Namarch dies von ihr verlangte, dann konnte es nur bedeuten, dass er in dessen Privatgemächern oder Büro nach etwas suchen wollte. Mit welchen Mitteln konnte sie den Botschafter hiervon fortlocken? Würde in den Garten weit genug fort sein?

Sie seufzte und machte sich schließlich auf den Weg zur Botschaft. Sehenswürdigkeiten waren ein guter Grund überlegte sie. Aber in Anbetracht der Gegebenheiten war es ein denkbar schlechter Augenblick Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.

Botschafter Magalan kam ihr zuvor.

"Ich hörte, dem jungen Namarch ginge es nicht gut?", rief er und eilte hinkend über das Mosaik der Eingangshalle. "Hoffentlich wirkt sich das nicht nachteilig auf seine Nachkommenschaft aus. Ich hörte, er zog sich auf sein Zimmer zurück."

Lena betrachtete ihn fragend. Für einen Moment ließ sie sich verunsichern. Doch nur für einen Moment. "Die letzten Tage waren anstrengend", antwortete sie schnell, bevor ein Verdacht aufkommen konnte. "Die Strapazen gehen eben nicht spurlos an einem vorüber."

"Aber ja", nickte der Alte. "Wir sind alle schockiert. Ein Anschlag auf das Rechenzentrum. Das wirft die Untersuchung an den Beginn zurück." Er schüttelte fassungslos den Kopf. "Ich hörte, die Delegation bittet um eine Stellungnahme", sagte er schließlich und betrachtete Lena. "Konnten irgendwelche Fortschritte gemacht werden?"

Lena war gewappnet. "Ich möchte gerne die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten, bevor ich etwas sage. Sie werden dies hoffentlich verstehen."

"Aber natürlich", nickte Magalan wie selbstverständlich. "Eine dumme Sache. Eine wirklich dumme Sache."

"Dumm für denjenigen, der für diesen Anschlag verantwortlich ist", gab sie klug von sich. "Botschafter Magalan, ich glaube ich muss mich noch bei ihnen entschuldigen. Ich vergaß unsere Verabredung für gestern."

"Ach", winkte er großzügig ab. "Nicht so wichtig. Es ist doch viel interessanter, den Tag mit einem jungen Mann zu verbringen, nicht mit einem alten Tattergreis." Er entblöste graue Zähne und blinzelte ihr wissend zu.

"Wenn ich sie darauf aufmerksam machen darf, meine Beziehung zu Namarch ist rein dienstlich." Sie versuchte, kühl und gelassen zu wirken. Eine solche Anspielung musste an ihr vorüberziehen, wie ein heftiges Unwetter. Sie durfte kein Donnerwetter auf sich niederprasseln lassen. "Außerdem ist er nicht ganz mein Typ." Damit erwiderte sie das kokette Blinzeln. "Und um dem Ganzen noch einen weiteren Punkt hinzuzufügen, mir ist wohlgesinnte Gesellschaft lieber. Wie wäre es, wenn wir den entfallenen Ausflug in die Gärten der Sapagis auf heute legen? Selbstverständlich nur, wenn es ihr Terminkalender erlaubt, Hoheit." Sie dankte dem Augenblick, der ihr diesen Einfall zukommen ließ. "Nach diesem Schreck heute Morgen, sehne ich mich nach etwas Zerstreuung." Irgendwie hörte sie sich bereits wie Namarch an.

"Aber gern", war der Botschafter sofort bereit.

Und wenig später befand sie sich in einer Diplomatenfähre auf dem Weg an den Stadtrand, wo Kostbarkeiten und Raritäten in einheimischen Gewächsgärten auf sie warteten.

 

Lena hätte es niemals für möglich gehalten, dass sie derart langweilige Vorträge über Grünpflanzen den ganzen Tag beschäftigen konnten. Zudem war der Garten der Sapagis, ein Privatgarten, wie der Botschafter erklärte, so großflächig, dass es genug Themen für drei Wochen gab. Geduldig ließ sie die Ausführungen über sich ergehen und seufzte erleichtert, als ein Sekretär aus der Botschaft kam und Magalan an einen Termin erinnerte. Zurück in der Botschaft, spürte Lena ihre Beine nicht mehr. Müde und in aller Höflichkeit dankte sie für diesen Tag und verabschiedete sie sich. Doch ein weiterer Sekretär kam auf sie zu und sprach Lena in einer Sprache an, die sie nicht verstehen konnte.

"Er sagt, der Sohn von Namarch bittet sie für einen Moment in seine Gemächer, bevor sie zum Stützpunkt zurückkehren", übersetzte Magalan. "Vielleicht ist doch etwas an meinem Verdacht."

"Vielleicht", antwortete Lena, lächelte freundlich und ließ sich zu Namarch führen.

 

Namarch saß scheinbar schlafend in einem breiten Sessel, die Füße auf einem Schemel und noch immer in die Robe gekleidet. Aufgrund der leicht gebeugten Haltung bäumte sich der gestärkte Stoff so widerspenstig auf, wie ein aufgeblasener Ballon. Der Saum war etwas zur Seite gerutscht, sodass sie einen Blick auf die hohen Stiefel werfen konnte. Sein Gesicht war bleich. Die Haare fielen ihm stumpf und strähnig über die Schultern. Wieder bedauerte Lena, dass sich ein einst so statthafter Mann derart gehen lassen konnte. Aus dem geschmeidigen Kerl von damals war eine aufgeschwollene Qualle geworden, an der nicht mehr viel Attraktives zu finden war. Sie wagte es nicht, ihn aufzuwecken und ließ sich erschöpft in einen anderen Sessel sinken. Beinahe mitleidig betrachtete sie ihn. Dann und wann zuckte er leicht zusammen und seine Mundwinkel flatterten.

Wirklich schade, sagte sie sich im Stillen. Er war so ein hübscher Kerl gewesen. Jene Sorte, bei dem sie rote Wangen bekommen könnte.

Sie sah sich kurz im Zimmer um. Abgesehen von der reichen Ausstattung des Raumes - breite weiche Polstersessel, marmorne Tische, flauschige Teppichläufer und goldene oder vergoldete Leuchter - gab es nur wenig, womit man seinen Hunger stillen konnte. Lena erwartete Tabletts voll mit Köstlichkeiten, doch außer einer Karaffe mit klarem Wasser, einer Schale mit frischem Obst, die scheinbar noch unangetastet war und einem Schälchen mit gesüßten, einheimischen Trockenfrüchten, von dem ebenfalls kein Stück zu fehlen schien, stand nichts weiter bereit. Hunger breitete sich in Lenas Magen aus. Sie hatte noch nicht einmal zu Frühstück gegessen. Doch ihr Anstand gebührte ihr, sitzen zu bleiben und sich nicht an den Gaben zu bedienen, bevor nicht der Hausherr die Genehmigung dazu gab. Etwas hatte sie von Namarch gelernt.

Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und war binnen weniger Augenblicke ebenfalls eingeschlafen.

 

In ihren Träumen stand sie in einem üppigen Garten, umgeben von duftenden Blumen und sirrenden Insekten und streunte durch ihn hindurch, wie durch einen Dschungel, als plötzlich eine dunkle Gestalt über ihr war und sie berührte. Sie schrak zusammen, als hätte jemand einen Luftballon neben ihren Ohren zum Platzen gebracht.

"Guten Morgen", rief eine bekannte Stimme.

Ihre Sinne brauchten einen Moment, ehe sie gänzlich zu ihrer Besitzerin zurückkehrten.

"Wie lange bist du schon hier?", wollte Namarch wissen.

Lena riss die Augen auf und entdeckte tatsächlich das Gesicht dieser fülligen Qualle, die ihr den Spaziergang durch den üppigen Dschungel vermisst hatte.

"Seit ..." Sie überlegte kurz. "Seit gestern Abend", antwortete sie nach einem Blick aus dem Fenster. Sie hatte die Botschaft betreten, als die Sonne am Untergehen war. Nun war es taghell.

"Warum hast du mich nicht geweckt?"

"Du hast so friedlich geschlafen", erwiderte sie und schnitt ihm eine Grimasse.

"Danke für dein Feingefühl", gab er ebenso zurück. "Wie war dein Tag gestern?"

"Wie war deiner? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?"

Namarch machte eine Handbewegung, die Lena jedoch nicht zu deuten vermochte.

"Erholung zu suchen, ist oft der beste Weg für einen neuen tatenreichen Tag", gab er philosophisch von sich.

Sie legte fragend den Kopf schief.

"Wie wäre es mit Frühstück?", fragte er und legte den Zeigefinger an die Lippen.

"Nein, danke." Sie setzte sich aufrecht. In der Nacht hatte sie sich wie ein Kleinkind auf dem Sessel zusammengekauert. Ihre Glieder waren steif und schmerzten. Rein zufällig fiel ihr Blick auf die Schale mit den Süßigkeiten. "Darf ich?"

"Bedien dich", nickte er und ließ sich bedächtig in den Sessel fallen, in der er seine Nacht verbracht hatte. "Es wundert mich, dass du deine Figur halten kannst, nachdem du solches Zeug in die hineinstopfst."

"Irgendwie scheinst du nicht die richtige Person zu sein, die derartige Bemerkungen machen sollte", bemerkte sie spitz, ließ sich in den Sessel zurückplumpsen und begann die kandierten Früchte in sich hineinzustopfen.

Namarch räusperte sich kurz. "Das hat andere Gründe."

"Deine merkwürdige Krankheit?"

"Es ist keine Krankheit."

"Was auch immer es ist, dir kann geholfen werden."

"Ich brauche keine Hilfe. Von Nichts und Niemandem. Das kann ich ganz allein bewältigen."

"Warum willst du mir nicht verraten, was es ist?"

"Weil es meine ureigene Angelegenheit ist und nur mich allein etwas angeht."

"Aha", machte Lena und stopfte sich eine weitere Portion in den Mund, um ihre Enttäuschung zu verbergen.

"Ich weiß deine Anteilnahme wohl zu schätzen", sagte er schmunzelnd. "Aber ich kann dich beruhigen. Ich werde es überleben." Er zuckte kurz zusammen, verzog für einen Moment das Gesicht vor Schmerz, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. "Ich muss mein Bild von dir revidieren", fuhr er fort. "Anfangs dachte ich, du suchst lediglich nach einem Makel an mir, auf dem du dann nach Belieben herumtrampeln kannst. Doch nun muss ich erkennen, dass es aufrichtige Besorgnis ist."

"Dein erhabenes Gerede kannst du für dich behalten", maulte sie und suchte eine Serviette für ihre klebrigen Finger. Das Tuch, auf welchem die Schale gestanden hatte, erschien genau das Richtige zu sein. Sie fühlte sich auf einmal schmutzig und ungepflegt. "Könnte ich mich kurz frisch machen?"

"Bitte", nickte er und deutete mit einem Blick auf eine Türe, hinter der sich das Badezimmer befinden musste.

 

"Eines muss man Magalan lassen, die Ausstattung dieses Zimmers ist mehr als üppig", rief sie aus dem Badezimmer, während sie ihre Uniform aufknöpfte.

"Sie erinnert mich an mein Zuhause. Den königlichen Hof. Die Einrichtung entspricht in etwa den Gemächern meiner Familie", kam es zurück. "Ein Grund vielleicht, warum ich dieses Angebot, hier zu wohnen, einfach nicht abschlagen konnte."

Lena verzog ihr Gesicht und stellte sich unter die Brause. Die kalte Dusche wirkte wahre Wunder. Danach fühlte sie sich wie Neugeboren. Nach einem flüchtigen Blick in den Spiegel, kam sie wieder zum Vorschein.

 

Namarch hatte indessen Frühstück bringen lassen. Natürlich, sagte sie sich im Stillen. Reste von Mahlzeiten wurden sofort wieder entfernt. Deshalb konnte sie nichts finden.

Obwohl sie vorhin abgelehnt hatte, griff sie hungrig zu. Sie wollte sehen, wie Namarch reagierte, ob er ebenfalls tüchtig zugriff, doch zu ihrer Enttäuschung begnügte er sich lediglich mit einigen Tassen klarem Wasser und einigen, wenigen Früchten, von denen Lena seit dem gestrigen Tag wusste, dass sie besonders nahrhaft und gesund sein sollen.

"Ich begreife nicht, dass du so dasitzen kannst, während sich dein Körper tagtäglich mehr in ein aufgequollenes Etwas verwandelt", rutschte es über ihre Lippen. Sofort stopfte sie ein kleines Törtchen hinein, um sich daran zu hindern, noch mehr Unsinn von sich zu geben. Sie hatte sich unter der Dusche geschworen, ihn niemals wieder darauf anzusprechen.

"Es ist der natürliche Lauf der Dinge", gab er besonnen von sich. "Und die Aussicht darauf, dass es irgendwann vorbei ist, lässt mich diese Strapazen erdulden."

"Ist es ein Virus? Oder ein Bakterizid?", versuchte sie zu erraten.

"Nein", schüttelte er den Kopf.

"Ein Infekt? Eine Verstimmung?"

"Vielleicht erzähle ich dir eines Tages davon", bemerkte er ganz die Ruhe selbst. "Jedoch vorerst finde ich unsere Beziehung noch zu jung dafür."

"Was für eine Beziehung?", fragte sie scheinheilig.

"Wir kennen uns einfach noch zu wenig, als dass ich dich in die intimsten Gepflogenheiten meines Volkes einweihen könnte."

Lena zog beeindruckt eine Augenbraue hoch. "Dass es etwas derartig hochkarätiges ist, hätte ich nicht erwartet."

"Aus diesem Grund bist du noch nicht reif dafür."

Sie sollte endlich aufhören, auf ihm herumzuhacken, sagte sie sich und biss in ein weiteres Törtchen. Sie hatte noch niemals etwas Derartiges gegessen, aber es schmeckte einfach köstlich. In der Kantine des Stützpunktes würde es undefinierbare Brühe und hartes Brot geben. Da war dies hier wesentlich besser.

"Offenes Haar steht dir besser, als die strenge Frisur?", sagte er feststellend und musterte sie.

"Ich weiß", nickte sie kauend. "Ist aber unvorteilhaft für den Dienst." Sie hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht, ihr Haar nach dem Duschen zu dem strengen, geflochtenen Zopf, welcher bislang unbeachtet über ihren Rücken fiel, zurückzubinden. Erst als sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte, erkannte sie das Kompliment und sie verschluckte sich beinahe. Ihre Wangen röteten sich vor Hustenreiz. Ihre Augen begannen zu tränen.

"Habe ich etwas Falsches gesagt?", fragte er besorgt.

Sie räusperte. "Ich bin Komplimente nicht gewohnt", gestand sie aufrichtig und entschuldigte und bedankte sich zugleich mit einem Lächeln. Es war ihr plötzlich unsagbar peinlich in seiner Nähe zu sein. Eine harmlose Bemerkung; und sie war derart aus der Fassung gebracht.

"Dann wird es Zeit, dass aus diesem Gassenbengel endlich eine richtige Frau wird."

Lena sah ihn sprachlos an, bis sich das Bild vor Reiztränen eintrübte. "Glaubst du wirklich, du kannst mich mit einer netten Bemerkung für was auch immer ködern", schlug ihre Fassungslosigkeit plötzlich in Wut um. "Ich bin doch keine Mätresse, die man bezirzen muss, um sie bei Laune zu halten. Du mit deinen verdammten Hofmanieren." Sie sprang auf ihre Beine.

"Setz dich", donnerte er so laut, dass sich Lena mehr vor Schreck, denn Gehorsam setzte. "Deine Rinnsteinmanieren tragen auch nicht eben dazu bei, aus dir eine umgänglichere Person zu machen." Seine grünen Augen funkelten wütend. Dann zuckte er kurz zusammen, als hätte ihm etwas in seinem Inneren einen schmerzhaften Stich versetzt und seine Gesichtszüge entkrampften sich wieder.

Lena betrachtete ihn besorgt. Sie musste sich auf die Lippen beißen, um ihn nicht ein weiteres überflüssiges Mal nach seiner merkwürdigen Krankheit zu fragen. Um sich abzulenken, stopfte sie ein weiteres Törtchen in sich hinein.

"Ich kann verstehen, wenn du dich ständig behaupten willst", begann er, als der Anfall vorbei war. "Doch mir gegenüber brauchst du nichts zu beweisen. Ich kenne dich besser, als du dich vielleicht selbst kennst."

"Ach", machte sie ungläubig. "Woher denn?"

"Deine Antworten auf die Testfragen haben mir einiges erzählt."

"Das kann ja nicht viel gewesen sein."

"Eben", sagte er knapp und betrachtete sie. "Was mich aber sehr beeindruckte, war dein Mut. Dass du mit deinem minimalem theoretischen Wissen überhaupt den Mumm dazu hattest, den Aufnahmetest anzutreten, kann wohl nur mit Frechheit bezeichnet werden."

"Ich wollte schon immer ... ", begann sie und verschluckte den Rest des Satzes. Warum sollte sie ihm von ihren sehnlichsten Wünschen erzählen? "Was geht es dich an", maulte sie schließlich und schielte nach dem letzten Stück.

"Ich bin im selben Maße betroffen wie du", entgegnete er. "Captain Braun legte mir nahe, dir alles beizubringen, was du wissen musst, um den Test erfolgreich wiederholen zu können. Anderenfalls wird er meinem Vater von unserem kleinen Schwindel erzählen."

Lena starrte ihn sprachlos an. "Ist das eine Drohung für dich?", wollte sie wissen, als ihre Sprache zurückgekehrt war. "Ich dachte, du und dein Vater, ihr seid eine Herz und eine Seele."

"Das vielleicht schon. Aber mein Vater kann es bei seiner Ehre nicht ausstehen, wenn irgendwo mit unlauteren Karten gespielt wird. Er ist ein Verfechter der Ehrlichkeit und Geradlinigkeit. Es ist nicht immer leicht, mit ihm auszukommen. Er verlangt von allen Personen, die mit ihm zusammenarbeiten, oder leben absolute Ehrlichkeit. Du kannst du vorstellen, was passiert, wenn er von unserem Betrug erfährt."

Lena musste ein Schmunzeln verkneifen. "Ich denke nicht, dass er es dabei belässt, dich nur übers Knie zu legen."

"Früher war es durchaus üblich, den Betrüger über ein hölzernes Brett zu spannen und ihn mit Prügel zu bestrafen, bis die Prügelwerkzeuge wieder auf Holz trafen."

"Au", rief Lena angewidert und verzog ihr Gesicht. "Glaubst du, dein Vater würde wirklich soetwas mit dir machen?"

"Es wird heute nicht mehr praktiziert", beruhigte er sie etwas. "Weil eine derartige Maßnahme unter der Kategorie Mord angesetzt ist. Aber irgendetwas in dieser Richtung wird er sich sicherlich einfallen lassen. Was würde dein Vater tun, wenn er es erführe?"

"Er würde mich erst fragen, ob es mir etwas gebracht hat", antwortete sie und entschloss sich, kein weiteres Törtchen zu essen. Namarchs Schauergeschichte hatte ihr irgendwie den Appetit verdorben. "Wenn ich Nein sage, würde er mir eine Ohrfeige verpassen, weil ich es vermasselt habe. Wenn ich ja sage, würde er mir auf die Schulter klopfen und sagen, gut gemacht, Kleines."

"Und du behauptest, das Leben als Söhnchen ist einfach." Er bedachte sie mit einem frechen Lächeln.

"Wie hast du dir das eigentlich gedacht?", fragte sie unvermittelt. "Ich meine, mir alles beizubringen, was ich wissen muss."

"Auf die Art, wie ich es in den letzten Tagen praktiziert habe", erklärte er. "Ich habe festgestellt, dass es keinen Sinn hat, dich zu etwas zu zwingen. Man muss dich auf den Geschmack bringen, dann kommst du von ganz allein drauf."

Lena bedachte ihn mit einer Grimasse. "Auf diese Art dauert es Jahre."

"Braun sagte nicht, in welcher Zeit ich dich auf die Wiederholungsprüfung vorbereiten soll."

"Wie gnädig."

Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als es an der Türe klopfte und wenig später ein Uniformierter, ohne die Erlaubnis abzuwarten, ins Zimmer getreten war.

"Verzeiht die Störung", begann er zögerlich. "Ich soll sie beide in den Stützpunkt bitten. Es ist etwas vorgefallen."

"Noch ein Anschlag?", wollte Lena wissen und war auch schon auf den Beinen.

"Nein. Irgendetwas mit den Minen auf Mandereth. Ich glaube, sie sind geschlossen worden."

Lena wand sich augenblicklich an Namarch. "Sagtest du nicht, der Manderether versprach, die Minen nicht zu schließen?"

Namarch zuckte ratlos mit den Schultern. "Er scheint es sich anders überlegt zu haben."

"Das ist genau das, was nicht passieren durfte", schnaufte sie. Namarch wollte sich scheinbar nicht aus seinem Sessel bemühen. Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu, doch er reagierte nicht. "Was ist? Willst du deine diplomatische Spürnase nicht in das Getümmel werfen."

"Danach steht mir nicht gerade der Sinn", gab er unbeeindruckt von sich.

"Der diensthabende Offizier sagte, ihr sollt als Vermittler nach Mandereth reisen, um wieder für Ruhe zu sorgen", meldete der Bote.

"Der ideale Job für dich, Namarch."

Er schüttelte nur den Kopf und blieb sitzen.

"Für das Reden bist du zuständig. Du hast schließlich mit den beiden Parteien geredet und Waffenstillstand ausgemacht. Außerdem verstehe ich kein Wort ihrer Sprache", suchte sie weitere Gründe.

Namarch blieb weiterhin sitzen.

"Ich brauche einen Dolmetscher."

"Nimm Botschafter Magalan mit. Er beherrscht die Sprachen ebenfalls."

Sie baute sich breitbeinig vor ihm auf. "Ich dachte, ihm sei nicht zu trauen, weil er ebenfalls seine Finger in der Kasse hat."

"Der Botschafter hat mehr als alle anderen etwas davon, wenn die Minen wieder fördern."

"Wovor hast du Angst?", wollte sie wissen.

"Ich kann mir denken, dass es in den Minengebieten ziemlich turbulent zugeht", erwiderte er. "Aus diesem Grund kann ich es nicht riskieren."

"Mitten in Unruhen zu sitzen? Seit wann hast du Angst, etwas abzubekommen?"

"Es geht weniger um mich selbst."

Lena betrachtete ihn fragend. Er sprach in Rätseln. Rätseln, die ihr einiges an Kopfzerbrechen verursachten. "Ich verstehe nicht ganz ..."

"Das habe ich auch nicht erwartet."

"Schwing deinen Hintern hoch", schimpfte sie schließlich, als ihr die Geduld auszugehen drohte. "Wenn ich mich schon in die Höhle des Löwen wage, dann du auch."

"Nein."

"Warum?"

"Es ist bald Emorcho."

Lena erinnerte sich. Dieses Heiligenfest der ...? Sie fluchte im Stillen. Sie wusste so wenig von anderen Völkern und Kulturen, dass sie nicht einmal wusste, welchem Volk er angehörte. "Na und?" Sie sah ihn fragend an. "Ich sagte dir doch bereits, dass deine Familie allein feiern muss."

Namarch schnaufte und schien nach einer weiteren Ausrede zu suchen. Doch ihm wollte nichts einfallen.

"Also gut", gab er sich schließlich geschlagen. "Aber ich warne dich. Ich werde mich dezent zurückziehen, sobald die Situation verschärfte Maßnahmen verlangt."

Lena verzog ihr Gesicht. Wenn er doch nicht immer so erhaben reden würde. Doch im Moment war ihr nur wichtig, dass sie ihn überredet hatte, mitzukommen. Wenn sie sich ehrlich eingestehen musste, dann war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, allein in ein Krisengebiet zu fliegen und die Angelegenheit schlichten zu müssen, ohne auch nur ein Wort der streitenden Parteien zu verstehen. Sie war kein Ass in Diplomatie. Streitigkeiten hatte sie stets mit ihren Fäusten oder derben Beschimpfungen ausgetragen. Mit wohldurchdachten Worten war sie weniger geschickt.

Namarch hievte sich schwerfällig und steif aus seinem Sessel. Kein Wunder, dachte Lena im Stillen und schätzte sein beachtliches Gewicht. Zweihundert oder Zweihundertfünfzig Pfund waren es sicherlich. Sie seufzte. Schade um den einst schneidigen Kerl.

 

Auf Anraten von Namarch flogen sie nicht in die Minengebiete, sondern besuchten den König von Mandereth in seiner Residenz. Eine eingeschossige, großflächige Villa aus gelbem Sandstein, in das Wind und Wetter bizarre Muster geschnitten hatte und von seiner Umgebung nur durch die violetten Fahnen auf den niederen Türmen herausgehoben wurde. Es thronte auf einem kleinen Hügel, umgeben von niedrigen Mauern, die hochgewachsenen Besuchern eben noch bis zur Hüfte reichten. Zu seinen Füßen stand eine Miniaturstadt aus demselben porösen Gestein, nur dann und wann von einem violetten Farbtupfer von der übrigen Umgebung abgehoben. Als sie auf dem Weg zum Hafen über die Stadt hinwegflogen, entdeckte Lena in der Ferne eine gelbe Staubwolke, die von den Minen herrühren musste. Der Himmel dahinter hatte sich schmutzig gelb verfärbt und ein graugelbes Wolkenband zog am Horizont entlang. Die Sonne war hinter einem Schleier aus graugelbem Firmament versteckt und ihr Licht fiel difus und matt auf die Oberfläche nieder.

"Kein einladender Ort", gab Lena feststellend von sich und suchte Namarchs Blick. Dieser war gänzlich in Gedanken versunken. Zudem schien er erneut gegen einen Anfall oder was auch immer ankämpfen zu müssen. Sein Gesicht zeigte Müdigkeit und Anspannung. Lena bereute es beinahe, ihn zum Mitkommen genötigt zu haben.

"Mandereths Oberfläche besteht zu achtzig Prozent aus leichtkörnigem Sandgestein mit geringer Dichte", erklärte er, als sich seine Gesichtszüge etwas entspannt hatten. "Um an seine Bodenschätze zu gelangen, bedarf es leichtem Bohrwerk. Der Abbau erfolgt in Sandgesteinreichem Gebiet daher meist überirdisch. Lediglich auf der nördlichen Halbkugel, wo die Oberfläche eine größere Dichte ausweist, gibt es unterirdische Förderstollen."

"Hast du dich extra für diese Mission vorbereitet?", fragte sie wenig beeindruckt. "Oder wurde dir das während deines Studiums beigebracht?"

"Was hast du getan, als du erfahren hast, dass du nach Troubourgh musst?", fragte er zurück.

Lena räusperte sich und warf noch einen kurzen Blick aus dem Sichtfenster. "Was hast du eigentlich im Büro des Botschafters erfahren, dass du deine Meinung über ihn geändert hast?", wollte sie wissen, um vom Thema abzulenken. Selbstverständlich hatte ihre ganze Vorbereitung daraus bestanden, die Mannschaft kennenzulernen und ihre Waffen zu überprüfen.

"Wer sagt, dass ich meine Meinung über Magalan änderte?"

Lena drehte sich langsam um und musterte ihn argwöhnisch. "Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du ein Solo versuchst. Ich bin für dich wohl nur lästiges Anhängsel, was? Aber ich lasse mich nicht ausbooten."

"Bist du auf Lorbeeren aus?", fragte er gelassen. "Du solltest froh sein, wenigstens noch deine Stellung behalten zu können. Außerdem ist es in Anbetracht deiner Kenntnisse nicht sonderlich ratsam, dir mehr als nötig zu erzählen."

"Das Eine sage ich dir, du verdammter Hurensohn", schimpfte Lena wütend. "Ich lasse mich von dir nicht ausbooten. Darauf kannst du Gift nehmen."

"Ich werde mich hüten", gab er unbeeindruckt zurück. Um seine Lippen erschien ein gefälliges Grinsen. "Du solltest dir allmählich etwas anderes für mich einfallen lassen. Es beginnt langweilig zu werden."

Lena schnaubte wütend, ließ sich in ihren Sessel zurückfallen und beschloss sich einfach nicht mehr mit ihm abzugeben. Für die Zukunft war er Luft für sie. Zudem entschied sie, sich aus allem herauszuhalten. Wenn er sie nicht für fähig hielt, ein Geheimnis für sich zu behalten, dann war sie auch nicht in der Lage, diese Mission zu erfüllen. Sie würde nur noch schmückendes Beiwerk sein. Sollte er sehen, was er davon hatte.

 

Zu ihrer Erleichterung bestand Namarch nicht auf die Fortsetzung der Unterhaltung. Er schien ebenso wie sie zu wissen, dass es nur in einem handfesten Streit, mit vielleicht ungeahnten Folgen hätte eskalieren können. Lena war mit ihrer burschikosen Art bisher beinahe jedem Mann mindestens ebenbürtig gewesen. Doch bei diesem schien sie sich die Zähne auszubeißen. Er war ihr nicht nur an Wissen überlegen, er wusste dies auch geschickt an ihr einzusetzen und sie gegen ihre eigenen Schwächen auszuspielen.

Die Fähre setzte auf eine gelbe Plattform auf und graugelber Staub wirbelte hoch. Es dauerte eine Weile, bis sich die Wolke gelegt hatte und die Sicht auf die niedere Villa des Königs preisgab. Am Eingang zur Plattform warteten bereits einige kleine Männchen auf die Gäste. Lena hielt sich absichtlich im Hintergrund; schließlich war er die Intelligenzbestie, nicht sie, sagte sie sich beleidigt.

Die Männchen wandten sich zielstrebig an den großen Mann in der schwarzen Robe und sprachen ihn sogleich mit ihrer für Lenas Ohren zu belustigende Sprache an. Sogleich entstand ein hitziges Gespräch zwischen ihnen, die Tonart wurde wenig freundlich und bald ließen die Männchen die Gäste einfach stehen.

"Was ist los?", konnte sich Lena nicht zurückhalten und sah ihnen fragend hinterher.

"Der König weiß genau, weswegen wir gekommen sind und er wünscht keine Diskussion über seine Entscheidung", berichtete Namarch noch immer verärgert. Er sah sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass keine Wachen, Scharfschützen oder Ähnliches hinter irgendwelchen Mauern oder Ecken lauerte. Doch niemand sonst schien sich für sie zu interessieren.

"Das heißt, er lässt nicht mit sich reden", übersetzte Lena für sich selbst und erinnerte sich wieder an ihren Entschluss.

"Ich versuche, trotzdem eine Audienz zu bekommen und du hältst dich inzwischen aus allen Schwierigkeiten heraus", befahl Namarch und deutete auf eine Gruppe von Hafenarbeitern, die in enge Flickenanzüge gekleidet, einige Container in eine kleine Fähre luden. An ihren Gürteln hingen lange, schwarze Gerten, die den beiden nur allzu bekannt vorkamen.

Lena wusste nicht so recht, ob das eine Aufforderung sein sollte, die Arbeiter nach der Herkunft der Sklavenpeitschen zu fragen oder nicht. Namarch marschierte ohne ein weiteres Wort über den Platz, in derselben Richtung, in der die Männchen verschwunden waren. Vor ihm stand die äußerste Mauer der königlichen Villa.

Mit einem Seufzer schlenderte Lena den Arbeitern entgegen. Sie überlegte sich bis zum Schluß, ob sie die Männer überhaupt ansprechen sollte. Vielleicht verstanden sie sie auch gar nicht. Als sie von ihnen bemerkt worden war, zwang sie sich zu einem freundlichen Lächeln und lehnte sich in deren Nähe an den Träger eines geparkten Transfergleiters.

Erst als die Arbeiter leise miteinander zu tuscheln begannen, löste sie sich von dem Träger und schlenderte auf sie zu.

"Versteht ihr mich?", fragte sie vorsichtig.

Einer der Männer nickte und schien die Frage an die anderen zu übersetzen.

"Darf ich euch etwas fragen?", gab sich Lena unschuldig. "Diese Dinger, die ihr am Gürtel trägt, sind doch Sklavenpeitschen der Delogo'ons, richtig? Auf dem Markt von Kel sah ich Derartiges zum ersten Mal. Was macht ihr eigentlich damit?" Ihr Lächeln sollte etwaige Bedenken zerstreuen.

Die Männer betrachteten sich und ihre Ledergerten und tuschelten leise miteinander.

"Sind für Minenarbeit", erklärte der Eine.

"Ich wusste nicht, dass ihr für die Arbeit Sklaven benutzt", gab sie überrascht von sich. Sie hoffte, dass ihre unschuldige Miene echt aussah. "Seid ihr Aufseher, oder ähnliches?"

"Warum willst du wissen?", fragte der Arbeiter schließlich.

"Ich habe mich nur gewundert", entgegnete sie schnell und zuckte entschuldigend mit den Schultern. "In Kel habe ich versucht, eine solche zu erwerben, doch vergeblich. Man sagte mir, dass sie außerhalb von Deloga'a verboten wären. Wie kommt ihr dazu? Es würde mich schon interessieren."

Die Männer grinsten und warfen sich vielsagende Blicke zu.

"Bist du nicht Polizist?", fragte der Sprachkundige.

"Sieht man doch", entgegnete sie und sah an sich herunter. Nur ein Blinder konnte sie nicht an ihrer Uniform erkennen. "Was hat das mit meinem Hobby zu tun?"

Die Arbeiter tuschelten sich in ihrer eigenen Sprache etwas zu.

"Was ihr mit den Peitschen macht, geht mich nichts an", fuhr sie fort. "Aber könntet ihr mir nicht vielleicht doch verraten, woher ihr sie bekommen habt? Ich wäre euch unendlich dankbar." Lena versuchte, ihren Charme auszuspielen. Ob ihr das bei einer fremden Rasse gelingen wollte, vermochte sie auf Anhieb nicht sagen. Die Arbeiter mussten sich erst noch miteinander bereden.

"Geh zum Verwalter von Distrikt Fünf", sagte der Arbeiter, als die anderen ihm zustimmend zunickten.

"Vielen Dank", gab sie höflich von sich. Schließlich wusste sie, was sich gehörte. Sie schenkte den Männern noch einen adretten Augenaufschlag, dann marschierte sie zu ihrer Fähre zurück und wartete.

 

"Erfolg gehabt?", rief sie Namarch entgegen, als sie die Gestalt in der schwarzen Robe erkannte. Sein Gesicht zeigte einen düsteren Ausdruck. Scheinbar war seine Aktion von weniger Erfolg gekrönt. Lena verkniff sich ein Grinsen. Eigentlich hatte sie keinen Grund dazu.

"Der König ist ein mieser kleiner Sprücheklopfer", knurrte er missmutig. "Hinterhältig und arrogant."

"Sieht nicht so aus", gab sie feststellend von sich. "Er weiß doch hoffentlich, dass es sich die Trouborgher nicht gefallen lassen werden."

"Er denkt, durch die Schließung der Minen, den Schuldigen zum Bekenntnis treiben zu können." Dabei verzog Namarch höhnisch sein Gesicht. "Weil wir nicht in der Lage sind, die Lage zu klären." Er ließ sich auf eine Kiste sinken und streckte seinen Oberkörper ein wenig. Als seine Mundwinkel vor Schmerz zuckten, sank er wieder in sich zusammen.

"Hast du Lust auf einen Spazierflug?", fragte sie und deutete in Richtung Fähre.

"Wohin?", wollte er wissen. Sein Interesse schien sich jedoch ziemlich in Grenzen zu halten. Er machte weder Anstalten aufzustehen, noch sie dabei anzusehen.

"Lass dich überraschen."

Endlich sah er hoch. "Mir ist nicht nach Überraschungen zumute."

"Glaubst du mir etwa?" Sie baute sich breitbeinig vor ihm auf. "Bewege deinen Hintern endlich hoch."

Namarch zog eine Grimasse und gehorchte zu ihrer Überraschung. Vermutlich wollte er schnellstmöglich eine große Distanz zwischen dem kleinwüchsigen König und sich selbst bringen, um sich schneller beruhigen zu können.

 

Lena musste einige Distrikte absuchen, um den richtigen zu finden. Gern hätte sie die rießigen Förderroboter bei der Arbeit zugesehen. Doch da die Minen aufgrund des Königs Befehl geschlossen waren, glichen die Lagerhallensiedlungen, wahren Geisterstädten. Lena fand nur einige kleinwüchsige Manderether, die die Schließung kontrollierten und arbeitswillige Trouborgher verscheuchten. Dann und wann gab es kleinere Aufstände, doch im allgemeinen war es in den Förderdistrikten ruhig. Ganz im Gegenteil zu Distrikt Fünf. Hier arbeiteten die Maschinen, als wäre nichts geschehen. Eine schmutziggraue Staubwolke stand über den tief ausgeschürften Tälern. Transporterfahrzeuge fuhren schwer beladen hin und her, Fördermaschinen fraßen sich in gierig weiches Gestein und hochgewachsene, flickenbekleidete Männer steuerten haushohe Sortiergeräte.

"Sieht so aus, als würden sich die hier nicht an die Anweisung halten", entfleuchte Lena, nach einem Blick aus dem Sichtfenster.

"Was ist an den Förderanlagen in Distrikt Fünf so interessant?", fragte Namarch und riskierte ebenfalls einen Blick aus dem Fenster. Die Sicht wurde zusehends durch den feinen, aufgewirbelten Staub trüber.

"Delogo'on Sklavenpeitschen", erklärte Lena kurz. Sie grinste überlegen. Das erste Mal, dass sie etwas wusste und ihn zappeln lassen konnte. Doch bereits im nächsten Moment, tauchten kleine Jagdmaschinen im graugelben Nebel auf und feuerten ohne Vorwarnung auf die kleine Fähre. Lena fluchte und riss das Steuer herum, um einer Salve zu entkommen. "Irgendwie sind wir hier nicht willkommen", rief sie über ihre Schulter und suchte nach einer Möglichkeit sich zu verteidigen. Fähren waren jedoch nicht mit Waffen ausgestattet. So blieben ihr nur geschickte Ausweichmanöver und die Flucht.

"Ich bewundere deinen Mut", kam es sarkastisch von hinten. "Wie kein Anderer wagst du dich immer wieder vollkommen unvorbereitet und tölpelhaft in riskante Gefilde."

"Ha, ha", machte sie wütend, während sie beinahe gleichzeitig, die Monitore im Auge behielt und aus dem Sichtfenster blickte, um die Jagdmaschinen zu beobachten. "Woher soll ich wissen, dass sie keinen unangemeldeten Besuch wünschen."

"Allein schon der Umstand, dass hier entgegen des Königs Befehl gearbeitet wird, hätte dir merkwürdig vorkommen müssen", erwiderte er. "Außerdem, wenn hier Sklavenpeitschen verwendet werden, muss es auch unfreiwillige Arbeiter, wie zum Beispiel Sträflinge geben."

"Wie kommst du ausgerechnet auf Sträflinge?"

"Dies verriet mir der Privatzugang des Botschafters zum Zentralcomputer", gestand Namarch.

"Warum hast du mir das nicht erzählt?"

"Weil ich das nicht in einem Raum erzählen kann, der von versteckten Mikrofonen und Überwachungskameras nur so gespickt ist."

Lena nahm sich die Zeit, sich nach ihm umzudrehen. "Eine Andeutung hätte genügt", schimpfte sie. "Stattdessen beleidigst du mich."

"Ich habe eine Andeutung gemacht", widersprach er. "Aber wenn du nicht einmal auf die einfachsten Zeichen reagierst, kann ich nichts dafür."

"Was ist mit den Sträflingen?", knurrte Lena und zog hart nach rechts. Beinahe wäre sie mit dem Ausleger eines Förderroboters zusammengestoßen.

"Ich fand einen Vertrag über die Entleihung von Arbeitskräften gegen eine beinahe horrende Bezahlung", berichtete er. "Leider sind beide Vertragspartner anonym gehalten. Ich konnte nicht herausfinden, wer die Sträflingskolonnen angeheuert hat und wo sie eingesetzt werden. Aber eines ist sicher. Magalan weiß davon."

"Kann es sein, dass die Delogo'ons mit Strafgefangenen ihre Finger im Spiel haben? Ich meine, es ist doch offensichtlich, wegen den Peitschen."

"Nein", wusste er besser. "Deloga'a gehört dem Zentral-Bund an. Die Zahlungen gingen jedoch stets an nicht angeschlossene Systeme."

"Vielleicht nur ein Umweg im Zahlungsfluss."

"Das beweist wieder einmal, wie wenig du über die wichtigsten Dinge weißt", kam es über ihre Schulter. "Geschäfte mit nicht angeschlossenen Systemen sind mit hohen Steuersätzen belegt", erklärte er schließlich, als Lena wütend knurrte. "Das heißt, dass es immer ein Verlustgeschäft wäre, sofern es sich nicht um Wirtschaftsgüter und Leistungen handelt, die im Zentral-Bund nicht erhältlich sind. Die Arbeitskraft von Strafgefangenen ist in jedem Fall erhältlich und weder der Eine noch der Andere würde auch nur einen müden Penny sehen. Die Zahlungen gingen natürlich nicht direkt an die Vertragspartner, sonst wäre man ihnen längst auf die Schliche gekommen. Erinnerst du dich noch an das konfuse purasitische Abrechnungssystem? Es wurde benutzt, um die wirren Wege der Zahlungen zu vertuschen. Doppelte oder fehlende Umbuchungen, fingierte Vorgänge und Kreuz- und Querbelastungen sollten jeden Prüfer entnervt aufgeben lassen, bevor er auch nur eine Spur gefunden hat."

"Aber dann kam ein Namarch", sprudelte es über Lenas Lippen. "Du hast dir selbstverständlich die Mühe gemacht." Wieder musste sie das Steuer hart herumreißen. Die Jagdmaschinen hingen hartnäckig an ihren Fersen und schickten beinahe unaufhörlich höchst unangenehme Blitze hinterher.

"Ich brauchte mir keine sonderlich große Mühe zu machen", kam es vom Passagiersessel. "Ich speicherte alle Vorgänge, die uns aufgefallen waren auf eine Datenkarte, und verglich sie mit den Buchungen des Botschafters. So kam ich zu den passenden Gegenstücken."

Das war es also, was er damals unter seine Robe hatte verschwinden lassen, dachte Lena im Stillen. Sie sollte es endlich aufgeben. Er war ihr haushoch überlegen - in allen Dingen.

"Hast du die Datenkarte noch?", wollte sie wissen.

"Natürlich."

"Sie kann uns als Beweis dienen."

"Du hast nachgedacht", rief er sarkastisch und musste sich im nächsten Moment in den Armlehnen festkrallen, als die Fähre von einem leichten Treffer aus der Flugbahn gebracht wurde. "Hast du vor uns umzubringen?", rief er aufgebracht.

"Nicht ich", kam es zurück, "sondern der da draußen." Lena riss am Steuerknüppel. Sie konnte jedoch nicht mehr verhindern, dass die Fähre zu tief geriet und bäuchlings über den gelben Sandsteinboden schrammte. Material knirschte und kreischte entsetzt auf. Eine schmutziggelbe Staubwolke stob auf und für einige Minuten war ihnen jegliche Sicht genommen. Lena sandt ein stilles Stoßgebet gen Himmel und hoffte inständig, dass sie nicht gegen einen Förderroboter oder einen Berg prallten.

Dann streiften sie schließlich doch etwas, drehten sich im Kreise, überschlugen sich mehrmals und kamen abrupt zum Halten. Lena wurde hart in ihre Gurte geschleudert. Ihr Kopf prallte gegen die Konsolen im Stirnbereich. Sie vernahm noch das laute Krachen einer Explosion, dann stülpte sich Stille und Dunkelheit über sie, wie ein schützender Mantel über eine frierende Seele.

 

Ohrenbetäubende Explosionen ganz in ihrer Nähe rissen sie wieder aus ihrer Ohnmacht. Sie kam zu sich, als der Boden unter ihr bebte und die Luft zerrissen wurde von einem Knall, der einem für einige Augenblicke jegliches Hörgefühl nahm. Leicht bewegte sie ihre Knochen, um festzustellen, ob noch alles an ihr heil war. Dann ließ sie ein erneuter Knall vor Schreck zusammenzucken. Zu ihrer linken befand sich eine gelbe Steinwand, zu ihrer rechten ein gigantischer Feuerball, ganz in ihrer Nähe. Lena drehte sich nach Namarch um. Er war noch immer bewusstlos. Sie schnallte sich los und kämpfte sich zu ihm. Die Fähre hing mit der Nase nach unten in einem Förderloch. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das Feuer zu ihnen vorgedrungen war und auch die Fähre in die Luft flog. Sie befreite Namarch schnell von den Gurten und mühte sich ab, den gewichtigen Körper nach hinten, gangaufwärts zum Ausgang der Fähre zu schleppen. Keine leichte Aufgabe für die junge Frau. Als sie endlich den Ausgang erreicht hatte, lief der Schweiß in Strömen. Sie musste sich beeilen. Wer wusste schon, wie viel Zeit ihnen noch bleiben würde, wenn sie die Fähre nicht verließen.

Namarch kam erst wieder zu sich, als sie ihn in einer Nische niederlegte und erschöpft niedersank. Ihr Atem ging schwer. Trockenstaubiger Sandstaub belegte ihre Zunge und verklebte ihre Atemwege. Asche, Staub und Gesteinsbrocken flogen durch die Luft. Sie musste um jeden Atemzug ringen.

"Noch alles heil an dir?", fragte sie hustend und musterte ihn durch die Nebelschleier aus Rauch und Staub.

Noch etwas benommen bewegte er vorsichtig seine Gliedmaßen und blinzelte ohne ein Ziel durch die Schwaden.

"Wir sind abgestürzt", berichtete Lena. Sie dankte dem glücklichen Umstand, der sie in dieses Loch verschlagen und vor den Augen ihrer Verfolger verborgen hatte. Doch sie saßen nun fest. Hilfe war nicht zu erwarten, ein Rettungstrupp erst recht nicht.

"Was sonst", knurrte Namarch ärgerlich. "Ich hätte mich von dir nicht überreden lassen sollen, hierher zu fliegen. Das war höchst unvernünftig und dumm."

"Hätte ich gewusst, dass wir hier nicht willkommen sind, wäre ich gar nicht erst auf die Idee gekommen", gab sie zurück.

"Du als Gossenexperte hättest dies eigentlich gegen den Wind riechen müssen", warf er ihr an den Kopf. "Aber du warst wohl nur auf ein Abenteuer aus, habe ich recht?"

"Wenn du schon alles besser weißt, warum hast du mich nicht davon abgehalten?"

"Woher sollte ich wissen, was du vorhattest? Aber vermutlich bin ich selbst schuld. Warum lasse ich mich nur immer wieder mit dir ein. Du verursachst nur Ärger. Dein Verhalten ist über alle Maßen unverantwortlich, töricht, unüberlegt und einfältig. Ich möchte zugern wissen, welche Fähigkeiten Captain Braun an dir entdeckt haben soll."

Noch ehe Lena darüber nachdenken und sich beherrschen konnte, war ihre Hand ausgerutscht und hatte ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Als überraschend reaktionsschnell ein Kontraschlag erfolgte und sie vollkommen verdutzt auf ihrem Hintern landete, konnte sie ihn nur fassungslos anstarren. Doch nur wenige Augenblicke später schossen Tränen der Verzweiflung und der Wut in ihre Augen und ließen sie schluchzen wie ein albernes kleines Mädchen. Lena hasste sich und ihn dafür. Sie hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt. Doch im Moment war sie zu nichts anderem fähig, als ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

Namarch entfernte sich etwas, scheinbar um sich selbst wieder unter Kontrolle zu bekommen und in aller Ruhe abzuwarten, bis sich auch Lena wieder erholt hatte. Da zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Luft und er warf sich zu Boden. Dicke Schwaden von Staub, Sand, Gesteinsbrocken und Rauch rasten über seinem Kopf hinweg. Sie nahmen ihm die Atemluft und verstopften seine Atemwege. Er musste husten. Ein schmerzhafter Stich bohrte sich in seine Brust und er wusste augenblicklich, dass Emorcho für ihn früher kommen würde, als er sich ausgerechnet hatte. Er fasste unter seine Robe und befühlte vorsichtig die schuppenbesetzte Haut, die den vorderen Teil seines Oberkörpers wie einen Panzer bedeckte, und konnte Feuchtigkeit spüren. Leise fluchend wischte er die ersten Tropfen ab und sah sich um. Er musste zusehen, dass er schnellstens nach Hause oder zumindest zur Botschaft kam. Vielleicht sollte er die Angelegenheit allein in die Hand nehmen, bevor sie in weitere prekäre Situationen geraten konnten.

 

Die Fähre brannte lichterloh. Somit war ihnen die Transportmöglichkeit genommen. Unweit von ihm lag Lena, reglos und von einer dicken Schicht gelben Staub und Schutt bedeckt. Sein erster Gedanke war, sie einfach liegen zu lassen; schließlich war sie für seine mißliche Lage verantwortlich. Er brachte es jedoch nicht fertig, watete durch die gelben Nebelschwaden und zog sie weiter von der brennenden Fähre fort. Sie war von einem herumfliegenden Teil getroffen worden und blutete stark an der Stirn. Obwohl es ihm bis in die tiefste Faser widerstrebte, riss er den Saum seiner Robe ab und verband die Platzwunde notdürftig. Insgeheim wünschte er sich, sie würde verbluten, doch gleichermaßen war er sich nicht sicher, ob sein Wunsch tatsächlich in Erfüllung gehen sollte.

Eine Handvoll Jagdmaschinen flog über ihnen hinweg. Namarch hoffte, dass der Nebel eine schützende Decke über ihnen ausbreitete, sich die Piloten mehr für die abgestürzte Fähre interessierten und schließlich davonzogen, als sie überzeugt waren, es gäbe keine Überlebenden mehr. Sie flogen noch einige Male über die Schlucht hinweg, scheinbar um sich ein letztes Mal zu vergewissern, dann tauchten sie nicht wieder auf. Einerseits war es ein gutes Zeichen, dass sie nicht mehr zurückkamen. Andererseits, wenn sie nicht entdeckt würden, saßen sie in der Schlucht fest, bis in alle Ewigkeit - und diese Zeit blieb ihm nicht mehr.

Er spürte die Feuchtigkeit auf seiner Brust, die durch den allmählich berstenden Panzer trat, und dachte fieberhaft darüber nach, was für Möglichkeiten blieben, wenn es jetzt geschähe.

Für einen langen Moment stand er einfach nur da und überlegte. Die Schwaden aus Nebel, Staub und aufgewirbeltem Sand verzogen sich allmählich und offenbarten den Blick auf die ganze Schlucht. Er sah sich kurz um und bemerkte, dass seine neunmalkluge Begleiterin wieder zu sich kam. Doch er weigerte sich standhaft, sich weiter um sie zu kümmern. Ihr Stöhnen ignorierte er wehemens, ihr leises Schimpfen überhörte er entschieden.

Da ließ ihn ein Geräusch herumfahren.

Auch wenn sie Waffen besessen hätten, wären sie nicht besser dran gewesen. Wie aus dem Nichts waren uniformierte Gestalten aufgetaucht, in Panzer und Schutzhelmen gehüllt, mit mannhohen Abwehrschildern und so schwerer Bewaffnung, dass er etwas zusammenzuckte. Jetzt war guter Rat so teuer, wie das eigene Leben. Ihm musste schnell etwas einfallen. Zum guten Glück gab ihm Lena den rettenden Impuls, als sie, die Gefahr erkennend, hochfuhr, ihre Handfeuerwaffe aus dem Halfter riss und dem vermeintlichen Feuergefecht gegenüberstellend, an ihm vorbeirannte. Er konnte sie eben noch davon abhalten, die näherkommenden Männer zu einem ersten Schuss zu animieren, packte sie, riss sie hart zurück, schleuderte sie auf den Boden hinter sich und entließ eine wütende Salve wenig freundlich gemeinter Worte über sie. Er stieß sie immer wieder auf den Boden zurück, als sie versuchte, sich seinem Zugriff zu wehren, ihm erboste Erwiderungen gab - obwohl sie kein Wort von dem verstand, was er ihr an den Kopf warf - und beförderte sie schließlich mit einer äußerst harten Ohrfeige, in einen kleinen Bodenspalt, wo sie einen Moment kämpfen musste, um sich wieder zu befreien. Tränen schossen in ihre Augen. Aufgewirbelter Staub verätzte ihre Augen und verklebte ihre Lunge. Wut kam über sie, doch als ihr Fuß beharrlich irgendwo in der Spalte verhakte, gab sie es schließlich auf und schüttete eine neue Flut von Tränen über ihr Gesicht.

Währenddessen wand sich Namarch an die näherkommende Wand von grimmig dreinblickenden Trouborghern. Ihre Uniformen bestanden aus mehreren Flicken, gleichfarbigen Stoffes. Einige der Männer trugen sogar die berüchtigten Sklavenpeitschen. Die Sicherheitspolizei des Distriktes Fünf, nahm er an. Er ging zielstrebig, aber mit erhobenen Händen, zum Zeichen des Friedens, auf sie zu und begann mit perfektem Trouborgh auf sie einzureden.

"Ich bin Sohn von Namarch, Tchengo Namargh", rief er. "Abgesandter des Zentralbundes. In unparteiischer Prüfmission auf Mandereth."

Einer der Männer kam vorsichtig näher. Seine Waffe zeigte dabei ständig auf Namarchs Herz. An seiner Hüfte baumelte eine sorgsam zusammengerollte Peitschte. "Das hier ist ein gesperrter Distrikt", antwortete er streng und setzte sein grimmigstes Gesicht auf. "Es darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Königs von Mandereth überflogen werden."

"Das wussten wir nicht. Mein stümperhafter Pilot hier, dachte Zeit und Weg zu sparen, wenn er eine Abkürzung zu Distrikt Sieben nahm. Dabei musste er unbedingt den Helden spielen und sich mit einer Jagdmaschine ihrer Überwachungseinheit anlegen. Es ist mir außerordentlich peinlich. Wir wollten auf keinen Fall ein Sicherheitsrisiko darstellen."

"Ihre ID-Karte", forderte der Uniformierte barsch.

Namarch brachte die geforderte Karte und ein Amulett, von welchem er hoffte, dass es wieder erkannt werden würde, zum Vorschein. Das Amulett - ein Geschenk des Königs an die Nachkommen seines persönlichen Beraters - zeigte das Wappen von Sirth, welches auch in der Botschaft hing. Eigentlich war er nicht sonderlich stolz darauf, dieses Zeichen mit sich herumtragen zu müssen. Doch er hatte dann und wann festgestellt, dass es ihm so manche fest verschlossene Tür nur allzu bereitwillig öffnete. Er hoffte, dass es ihm auch diesmal ein Tor in die Freiheit verschaffte.

Die Reaktion der Männer war mehr als zufriedenstellend. Der grimmige Trouborgher verlor jegliches Interesse an der ID-Karte, starrte das Wappen an und gab mit einer kleinen Handbewegung das Zeichen an seine Kameraden, die Waffen sinken zu lassen.

"Es ist mir wirklich außerordentlich peinlich, für solch ein Aufheben gesorgt zu haben", entschuldigte sich Namarch beinahe unterwürfig. Er wand seine Lektionen in höfischer Honigschmiererei an. "Ich werde mich selbstverständlich beim König von Mandereth entschuldigen."

"Was für eine Mission ist das?", erkundigte sich der Trouborgher. "Und was wolltet ihr in Distrikt Sieben?"

"Eine Prüfmission", erklärte Namarch geduldig. "Es geht um die Anschuldigung der ungerechtfertigten Verteilung der Erträge. Ich wollte in Distrikt Sieben lediglich sehen, wie dort abgebaut wird, um mir ein Bild über die gesamte Minenarbeit machen zu können."

Der Sicherheitsmann ließ sein Schild sinken und musterte den Gegenüber in der steifen schwarzen Robe kritisch.

"Könnten sie mir vielleicht sagen, wie wir wieder zurückkommen?", fragte Namarch vorsichtig. "Mein Pilot hat dummerweise unser Transportgerät zu Bruch geflogen."

"Ich schicke ihnen eine Fähre", kam es unwirsch zurück. Sein Interesse an den Störenfrieden schien verloren zu gehen. "Ich werde selbstverständlich Bericht erstatten."

"Aber natürlich. Tun sie ihre Pflicht." Namarch nickte eifrig. Er ließ das Amulett nicht wieder unter dem Stoff verschwinden. Das Wappen hatte ihm wieder einmal aus einer prekären Misere geholfen. Er wand sich um und suchte Lena, die noch immer halb in der schmalen Bodenspalte saß und der Unterhaltung der Männer nur leidlich zugehört hatte. Auch wenn sie sich Mühe gegeben hätte, sie konnte kein Wort dieser für sie belustigend klingenden Sprache verstehen. "Bring deinen Hintern in Bewegung", fuhr er sie scharf an.

"Ich kann nicht", jammerte sie wütend und schenkte ihm eine missmutige Grimasse. Dabei musste sie sich arg zusammenreißen, ihm in kindischer Art und Weise nicht auch noch die Zunge herauszustrecken. "Ich sitze fest."

"Sieh zu, dass du hochkommst." Er wand sich wieder um und folgte den scharf bewaffneten Männern, hinter einer Senke, in der mehrere Jagdmaschinen auf ihre Insassen warteten. Sie hatten sie im Schutze der Schlucht, die sich im hinteren Teil noch tiefer in den Stein fraß, herangeschlichen, ohne dass die beiden Eindringlinge etwas davon bemerkt hatten. Namarch hörte noch Lenas Fluchen und Schimpfen, ließ sich aber nicht aufhalten. Zum guten Glück kannten sich die Trouborgher nicht in der militärischen Hierarchie des Zentralbundes aus. So konnte er seine Herrenmaske getrost aufrechterhalten, bis sie in Sicherheit waren.

Wenig später stand Lena an seiner Seite. Wortkarg und kleinlaut. Während des ganzen Heimweges kam kein einziger Laut über ihre Lippen. Ihr Gesicht zeigte deutlich ihren Missmut und ihren Groll.

 

In der Botschaft angekommen, notärztlich versorgt und weitgehend allein, konnte Namarch nicht mehr an sich halten.

"Es ist allein deine Schuld", schimpfte er böse. "Wäre mein Name nicht gewesen, säßen wir jetzt vermutlich für alle Zeiten in einem dunklen Verlies. Und das Eine kann ich dir versprechen. Ich werde nach unserer Rückkehr einen Bericht verfassen, in dem auch unser kleiner Schwindel erwähnt ist."

"Dann vergiss nicht zu erwähnen, dass es deine Idee war", gab Lena ebenso zurück.

"Sicherlich nicht." Seine Augen funkelten wütend.

"Keine Angst mehr vor deinem strengen Papi?", höhnte Lena und grinste ihm frech ins Gesicht. Die Erinnerung an die angedrohte Strafe sollte ihn daran hindern, sein Vorhaben wahr zu machen.

"Lieber, als irgendwann noch einmal mit dir zu einem Auftrag erteilt zu werden, ist es mir, wenn mir mein Vater das Fleisch von den Knochen prügeln lässt", entgegnete er kalt und blickte sie dabei entschlossen an.

"Falls du es noch nicht bemerkt hast", gab Lena verkrampft anteilnahmslos von sich und deutete vor Namarch auf den Boden. Sie konnte es sich an ihren zehn Fingern abzählen, dass er nicht davon abzubringen war. "Du stehst in einer Pfütze."

Namarch folgte ihrem Blick, und als er erkannte, was passiert war, fluchte er in einer Sprache, die Lena besser nicht verstand, wirbelte herum und schritt ohne ein weiteres Wort davon. Ihre Unterhaltung schien damit beendet zu sein. Verwirrt und amüsiert zugleich blieb Lena zurück und blickte ihm sprachlos hinterher. Sie war nicht schlau aus seinen Handlungsweisen geworden. Warum sollte sie ihn jetzt verstehen? Und dass er sie geschlagen und in eine Spalte geworfen hatte, nahm sie ihm ziemlich übel und würde sich irgendwann dafür revanchieren.

Mit den Schultern zuckend, machte sie ebenfalls kehrt und spazierte in die andere Richtung. Vielleicht war der Botschafter ein besserer Gesprächspartner. Außerdem hatte sie sich etwas vorgenommen.

 

Sie kehrte in ihre Basis zurück und fand dort eine Nachricht vom Zentralbund vor. Captain Devon Braun verlangte einen vorläufigen Bericht. Lena überlegte lange, ob sie die letzten Vorkommnisse ebenfalls angeben sollte. Dann entschloss sie sich, Namarch um Rat zu fragen. Auch wenn es sich wie ein Hilferuf anhören sollte. Der Hofzögling war in diplomatischen Dingen besser bewandert als sie. Doch auf ihre Anfrage über Interkom erhielt sie keine Antwort. Das Personal am Empfang der Botschaft weigerte sich, ihren Anruf weiterzuschalten. Wut keimte in ihr auf. Sollte er wider Erwarten auf eigene Faust weiterrecherchieren, so sollte er etwas zu hören bekommen, nahm sich Lena vor, schickte kurzerhand eine selbst verfasste Meldung ab und begab sich entschlossen persönlich in die Botschaft. Sie gehörten noch immer zusammen.

"Wo ist Namarch?", wollte Lena streng wissen und blickte den Mann in der steifen grauen Uniform, hinter einer blassgelb-farbenen Empfangstheke fragend an. Sie hatte den ungehobelten Kerl in der schwarzen Robe seit dem jähen Ende ihrer Unterhaltung nicht mehr gesehen.

"Sohn von Namarch hat seine Gemächer seit gestern nicht mehr verlassen", berichtete der hochgewachsene Trouborgher.

"Warum?", wollte sie wissen und wusste im selben Augenblick auch, dass es sie verdammt noch mal nichts anginge. Ein jeder könne sich in seinem Zimmer einsperren, ohne dass ein Anderer etwas dagegen hatte. Doch in Anbetracht ihrer Mission musste sie der Sache auf den Grund gehen.

"Ich weiß es nicht", antwortete der Mann in aller Höflichkeit. "Sohn von Namarch äußerte den dringlichen Wunsch, nicht gestört zu werden."

"Ist er krank?" Es war nur eine Vermutung. In letzter Zeit war er etwas merkwürdig. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte sich entschlossen, sich nicht mehr um ihn zu kümmern. Wenn er es vorzog, sich in seinem Zimmer einzuigeln, dann sollte er dies nur tun. Dann musste sie den Fall eben allein lösen.

"Ich denke nicht", erwiderte der Empfangsangestellte und blickte kurz zur Seite.

Seinem Blick folgend, entdeckte Lena eine Gruppe von Minenarbeitern, die mit einigen Botschaftsangehörigen in eifriger Konversation vertieft war. Scheinbar gab es irgendwelche Unstimmigkeiten. Doch dies war nicht Lenas Angelegenheit.

"Ich werde mal zu ihm gehen", entschied sie und schickte sich bereits an, den Gang zu betreten, der in die Unterkünfte für die Gäste führte.

"Das kann ich leider nicht gestatten", rief der Angestellte, eilte um seine Theke herum und versperrte ihr den Weg. "Sein Wunsch lautete eindeutig, von Nichts und niemandem gestört zu werden. Und - verzeihen sie vielmals - unter gar keinen Umständen von ihnen." Der Mann zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Lena starrte ihn für einen Moment an. Sie musste dies erst noch verdauen. Dass sie ihm in Zeiten des Unbehagens unerwünscht war, konnte sie sich denken. Vor allem, nachdem was passiert war. Dennoch irgendwie traf es sie tief. Sie zog ihre Lippen zu einem schmalen Spalt, zuckte mit den Schultern und gab schließlich nach.

"Wenn das so ist", bemerkte sie etwas beleidigt und trottete aus der Empfangshalle hinaus. Lena hatte nicht etwa nachgegeben, weil sie den Wunsch respektierte, sondern weil ihr eben eingefallen war, dass ihr Magalan einen anderen Weg in die Botschaft gezeigt hatte. Durch eine kleine am Haus angrenzende Laube im Garten. Für gewöhnlich war sie verschlossen, doch als bescheidener Günstling des Botschafters, wusste sie, dass das Schloss zurzeit defekt war. Sie schickte ihren Bericht ab und widmete sich ihrem persönlichen Abenteuer.

Sie schlich unbemerkt durch den Garten, öffnete die rostige Gittertüre, die die Laube vom anhängenden Trakt trennte, und befand sich bereits mitten in den Besucherunterkünften. Die Laube war als Verbindung der Unterkünfte zum Garten entstanden, jedoch als Sicherheitsrisiko stets verschlossen gehalten. Lenas Glück war es, dass die Feuchtigkeit der Vegetation in der Laube das antike Schloss verrosten ließ und Ersatzteilmangel und Lieferschwierigkeiten dafür sorgten, dass es nicht so schnell ausgetauscht werden konnte.

Vor der Tür zu Namarchs Zimmer gab es weder Wachen, noch war sie abgeschlossen. Scheinbar vertrauten sie darauf, dass der Portier am Eingang der Botschaft alle Besucher erfolgreich abwimmeln konnte. Lena hätte sich vermutlich ebenfalls wieder fortschicken lassen, allein schon wegen seines ausdrücklichen Wunsches. Doch gerade deswegen musste sie dieses Verbot umgehen. Es war nahezu eine Aufforderung gewesen. Ihre Neugierde war geweckt und sie witterte eine Gelegenheit, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Niemand konnte Lena McKenzie befehlen zu verschwinden.

Das Apartment schien verlassen zu sein, oder er befand sich im Schlafzimmer. Über einem Sessel hing die schwarze Robe, wenig ordentlich zusammengelegt. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingerspitzen darüber. Der Stoff fühlte sich feucht an. Es würde Falten geben, dachte sie schmunzelnd, ironisch an sein perfektes Aussehen erinnert. Perfektes Aussehen ???! Zumindest bis vor Kurzem.

Aus dem Badezimmer drangen Wasserrauschen und merkwürdige Geräusche. Als ob jemand mit sehr hartem Stuhlgang zu kämpfen hatte, dachte Lena leise kichernd. Für einen Atemzug lang, überlegte sie, ob sie so unverhohlen sein und das Badezimmer betreten sollte. Doch dann siegte ihr Anstand schließlich doch noch, ließ sich in einen Sessel plumpsen und entschloss sich, einfach abzuwarten, bis er zurückkam und ihn mit ihrer Anwesenheit zu überraschen. Insgeheim gelüstete es ihr danach, einen Blick auf seinen nicht mehr ganz so attraktiven Körper zu erhaschen, nur um ihn anschließend verhöhnen zu können.

Die seltsamen Geräusche aus dem Badezimmer wurden lauter. Allmählich wurde sie von Sorge gepackt, erhob sich langsam aus dem Sessel und schritt zögerlich näher. Was um alles in der Welt geschah dort drin? Sie hielt inne und lauschte. Das Stöhnen verriet große Schmerzen. Die kahlen Wände im Badezimmer verstärkten die besorgniserregenden Laute nur noch mehr.

Lena fasste sich ein Herz und klopfte leise an die Türe. "Alles in Ordnung mit dir, Namarch?", rief sie und lauschte.

Das Stöhnen verstummte augenblicklich.

"Verschwinde", kam es einige Augenblicke später.

"Kann ich irgendetwas für dich tun?", ließ sie nicht locker. Irgendwie sorgte sie sich um ihn. Dass etwas nicht in Ordnung war, konnte selbst ein Blinder sehen, beziehungsweise hören.

Er antwortete in einer Sprache, die Lena nicht verstand. Sie klopfte noch einmal an die Türe.

"Ich meine es Ernst", blieb sie hartnäckig. "Ich hatte die ganze Zeit Recht, nicht wahr? Du bist krank. Aber dein verdammter Stolz ließ es nicht zu, dass du mir davon erzählst."

"Verschwinde", kam es erneut durch die Türe.

"Ich weiß, ich bin die letzte Person, die du in deiner Nähe haben willst", gab sie zurück. "Aber ich meine es wirklich ernst. Was auch immer du hast, ich möchte dir helfen - falls ich es kann", fügte sie leiser hinzu.

Schweigen antwortete ihr. Durch die Türe vernahm sie weiterhin Wasserrauschen. Vielleicht nahm er ein Bad und sie machte sich vollkommen umsonst Sorgen. Vielleicht nahm er sie nur auf den Arm. Sie wartete einige tiefe Atemzüge lang, in denen sie in schier grenzenloser Geduld nach einer Antwort lauschte und als nichts kam, drehte sie sich um und schickte sich an, zu gehen. "Wie du willst", sagte sie mehr zu sich selbst. "Wenn du fertig bist, kannst du dich vielleicht bei mir melden."

"Halt, warte!" kam es endlich aus dem Badezimmer.

"Hast du es dir anders überlegt?" Sie räusperte sich. Ohne es eigentlich zu wollen, war ein hämischer Unterton in ihre Stimme gerutscht. "Was hast du?", fügte sie daher schnell hinzu und versuchte glaubhafte Besorgnis erkennen zu lassen.

Namarch ließ sich mit seiner Antwort erneut viel Zeit.

"Komm rein", gestattete er ihr endlich.

Lena überlegte kurz, ob sie ihrer Neugierde nachgeben und ins Badezimmer treten, oder lieber anständig und sich höflich verabschieden sollte. Sie war sicherlich schon zu weit gegangen. Was ginge es sie an, was andere Leute in ihrem Badezimmer trieben. Doch dann hielt sie inne. Er hatte es ihr erlaubt. Und ein gewisser Ton in seiner Stimme, schien sogar darum zu bitten. Zögerlich legte sie eine Hand auf den geschwungenen Türknauf und drückte ihn langsam herunter.

"Bist du dir sicher?", fragte sie vorsichtshalber noch einmal nach. "Ich meine, werde ich auch nicht deine Intimsphäre verletzen." Sie dachte an die Robe über der Sessellehne. Er musste unbekleidet oder zumindest nur spärlich bekleidet sein. Sie verzog ihre Mundwinkel. Was dachte sie wohl, was er unter seiner Robe trug oder nicht trug. Sie war mit Brüdern aufgewachsen. Nichts was ein Mann am Körper trug, war ihr fremd.

"Komm rein", befahl er ihr, diesmal entschlossener.

Lena drückte die Klinke gänzlich herunter und öffnete die Türe langsam. Heißer Wasserdampf schlug ihr entgegen. Sie konnte vor lauter Nebel nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Wie lustig, dachte sie bei sich. Sie konnte seine Intimsphäre gar nicht verletzen. Sie war durch die dichte Nebelwand weitgehend geschützt. Er schien nur einen Scherz mit ihr zu treiben.

Aus irgendeiner Ecke des Zimmers drang ein unterdrückter Stöhnlaut. Lena schob augenblicklich ihre selbstverhöhnenden Gedanken beiseite und bahnte sich einen Weg dorthin. In einer Ecke der Duschwanne konnte sie einen dunklen Schatten ausmachen.

"Was ist mit dir?", fragte sie besorgt. Diesmal musste sie nicht dafür sorgen. Diesmal war ihre Sorge echt. "Bist du krank? Soll ich einen Arzt holen?"

"Nein", kam es gepresst aus dem Nebel.

Lena kniete am Rand der Duschwanne nieder und streckte vorsichtig ihre Hand aus. Heißes Wasser verbrühte ihre Haut. Die Feuchtigkeit im Badezimmer nahm ihr beinahe den Atem. Sie unterdrückte ein Husten.

Namarch kauerte am Boden der Wanne, in eine Ecke gepresst. Sein Gesicht war durch den dichten Dampf nur wage zu erkennen, doch Lena bemerkte den gequälten Ausdruck.

"Hast du Schmerzen?", fragte sie. Sein Körper zeichnete sich massiv durch den Nebel ab. Seine Haut war schwammig und aufgeweicht. Er trug lediglich eine Art Lendenschurz und hatte sogar noch seine Stiefel an. Für einen kurzen Moment huschten ihr aufgrund seines merkwürdigen Aufzuges hämische Gedanken durch den Kopf. Schnell schüttelte sie von sich und widmete sich gänzlich dem Mann, der zweifellos mit irgendetwas zu kämpfen hatte, womit er nicht so leicht fertig wurde. Auf Lenas Frage kam keine Antwort, nur ein unterdrücktes Stöhnen. Er stemmte sich hart gegen die geflieste Wand. Die Duschwanne knirschte unter dem Druck. "Soll ich einen Arzt rufen?"

"Nein", rief er unter Schmerzen.

"Was auch immer du hast, du solltest nicht zu stolz sein, die Hilfe eines Mediziners in Anspruch zu nehmen", schalt sie ihn. "Auch wenn es vielleicht gegen deine Grundsätze spricht. Ein Arzt kann dir besser helfen als ich."

"Nein", widersprach er heftig. "Kein Arzt. Das schaff ich allein."

"Was willst du allein schaffen?", hakte sie nach und versuchte durch den dichten Wasserdampf Näheres von ihm zu erkennen. Nichts war von dem einst so stattlichen Kerl übrig geblieben. Er war aufgedunsen, schwammig und fett. Da fiel ihr Blick auf ein merkwürdiges Muster auf seiner Brust. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, dann hätte sie es für einen Schuppenpanzer gehalten. Vorsichtig berührte sie dieses für sie sehr befremdliche Phänomen. Dies konnte vermutlich der Grund dafür sein, dass er sich vor allem in der letzten Zeit steif und unbeweglich verhielt. Ein Arm schnellte hervor und schlug ihre Hand fort.

"Ich schätze, ich erhalte jetzt eine Lektion über gewisse Gepflogenheiten und Geschehnisse fremder Kulturen", gab sie abschätzend von sich.

Namarch gab keine Antwort. Stattdessen stemmte er sich im Anfall einer neuen Schmerzwelle an die Wand, dass die Fliesen in seinem Rücken krachten. Er schnaufte rhythmisch.

"Also. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bekommst ein Kind", dachte Lena laut. Sie konnte ihre verhöhnenden Gedanken einfach nicht bei sich behalten.

"Halt den Mund", schimpfte er, als er sich etwas entspannte. "Es ist zu spät, in einer Sekunde nachzuholen, was du dein Leben lang versäumt hast."

Lena räusperte sich. Obwohl sie sich dagegen sträubte, keimte beschämend schlechtes Gewissen in ihr auf.

"Ich bitte dich nur um einen Gefallen", keuchte er. "Kümmere dich um sie und lasse sie in der Fruchthülle, bis sie von selbst platzt."

"Wovon redest du eigentlich?", rief Lena. "Um was soll ich mich kümmern?"

Namarch stemmte sich mit einer neuerlichen Welle gegen die Wand.

"Ich hole einen Arzt", entschied sie kurz entschlossen und wollte sich erheben, wurde jedoch zurückgehalten. Namarchs Hand verkrallte sich noch während des Anfalles in ihrem Arm und zerrte sie wieder zurück. Lena unterdrückte gewaltsam den Aufschrei, den sein harter Klammergriff verursacht hatte.

"Kein Arzt", keuchte er unter großen Schmerzen.

"Aber ..." Schließlich gab sie nach, setzte sich an den Wannenrand zurück und wartete mehr oder weniger geduldig auf etwas, wovon sie keine Ahnung besaß. Beinahe kam es ihr vor, wie das Warten auf ein bestimmtes Ereignis; wie die einer Geburt, oder eines Todes. Sie biss sich auf die Lippen, als Namarch erneut von einer Schmerzwelle erfasst wurde, ohne ihren Arm loszulassen. Obwohl sie es nicht wollte, keimte Mitgefühl für ihn auf. Was auch immer ihn quälte; sie erkannte, dass es für sie nicht nur ein Schlüsselerlebnis sein würde, es miterleben zu dürfen.

Allmählich durchnässte der gesättigte Wasserdampf auch ihre Kleidung und Schweiß und Wasser rannen ihr in Strömen über den Körper. Sie harrte aus, solange es Namarch für richtig hielt und solange er sie brauchte. Je öfter er von Schmerzwellen geplagt wurde, desto mehr erkannte sie, dass sie gebraucht wurde; und wenn es lediglich ihre Anwesenheit war.

 

Stunde um Stunde verging. Der harte Fliesenboden drückte schmerzhaft auf ihre Knöchel, doch Lena wagte es nicht, sich zu bewegen. Namarch wurde von einer Schmerzwelle nach der anderen erfasst, ohne dass sich etwas an seinem Zustand änderte. Doch endlich, als Lena trotz Hitze zu frieren begann, ihre Beine längst eingeschlafen waren und sie ihren Arm, dort wo sich Namarch festgekrallt hatte, kaum noch spürte, schien sich etwas zu regen. Der Schuppenpanzer auf seiner Brust spaltete sich langsam. Einzelne Fetzen gingen wie eine Frühlingsblüte auf. Dickflüssiger Schleim troff aus den entstandenen Öffnungen und vermischte sich mit dem heißen Dauerregen aus der Dusche. Dunkle Flüssigkeit floss in den Ausguss. Namarch stemmte sich erneut gegen Wand und Wanne, dass das Material ächzte und knirschte. Ein gewaltsam unterdrückter Laut kam über seine Lippen. Seine Finger krallten sich härter denn je in Lenas Arm. Dann spänte sich der Schuppenpanzer noch mehr auf und entließ einen unförmigen Korpus. Weich und geschmeidig entschlüpfte er Namarchs Panzer, plumpste auf die harte Duschwanne und vermengte sich entgegen Lenas Erwartungen nicht mit dem abfließenden Wasser. Unter der weichen Hülle bewegte sich etwas. Seichte Bewegungen, zart und zaghaft - zweifellos etwas Lebendiges.

Ihm folgten noch zwei weitere dieser Gebilde. Beim letzten lockerte sich Namarchs Griff und er sank kraftlos und erschöpft in sich zusammen. Es schien ausgestanden zu sein. Lena machte sich aus seinem Griff frei, stellte das Wasser ab, bettete die eben geborenen Wesen in trockene Handtücher und deckte den ohnmächtigen Namarch mit weiteren Tüchern zu. Sie hatte endlich begriffen und die Zusammenhänge erkannt. Der Botschafter hatte mehrmals von Namarchs Nachkommenschaft gesprochen und sie erkannte endlich, was er damit gemeint hatte. Wie wenig wusste sie über andere Kulturen. Wie wenig wusste sie über Namarch.

Die knapp faustgroßen Nachkommen bewegten sich seicht unter ihrer weichen Hülle, die faltig und noch viel zu groß für sie zu sein schien. Doch bereits nach einer Stunde, in der Lena sie pausenlos und vollkommen fasziniert beobachtet hatte, waren sie um das dreifache angewachsen und die Hülle drohte bald zu reißen. Immer wieder warf sie einen prüfenden Blick auf den noch schlafenden Namarch. Und mit jedem Blick stellte sie fest, dass sein aufgeschwollenes Gesicht allmählich wieder schmaler wurde. Aus den Öffnungen des gebrochenen Brustpanzer rann noch immer eine dunkle Flüssigkeit und troff zäh in den Abfluss. Wieder wurde Lena bewusst, wie wenig sie über Namarch wusste. Sie konnte nicht einmal sagen, was dies für eine Flüssigkeit war. Fruchtwasser? Blut? - geschweige denn, welche Farbe sein Blut besaß.

 

"Enttäuscht?", fragte eine müde Stimme, eben als Lena die Bemühungen der kleinen Wesen beobachtete, sich in der immer enger werdenden Hülle zu bewegen. Sie fuhr erschrocken hoch.

"Inwiefern enttäuscht?", fragte sie zurück. Sie räusperte sich, als sie erkannte, dass ihre Stimme ihre Verwirrung und Fassungslosigkeit verriet.

"Dass ich nicht deinen Vorstellungen eines Mannes entspreche." In seinen Augen war der listige Ausdruck zurückgekehrt. Sein Gesicht zeigte jedoch noch die Auswirkungen der Anstrengung.

Lena senkte verlegen den Blick. Er hatte sie längst durchschaut und die ganze Zeit an der Nase herumgeführt, erkannte sie. Doch ihr gebührte es nicht anders. Sie hätte sich über ihn besser informieren sollen. Es geschah ihr nur recht.

"Ich werde mich nun nach Ersatz umsehen müssen", gab sie schnippisch von sich. Sie räusperte sich, als sie bemerkte, dass sie in ihre alte Gewohnheit zurückfiel. "Warum hast du mir davon nichts erzählt?", wollte sie wissen und deutete auf die kleinen Wesen.

"Weil du es mir nicht geglaubt und mich vielleicht auch noch verspottet hättest", antwortete er. Ihre Blicke trafen sich und Lena wusste, dass er damit nur allzu recht besaß. Er kannte sie besser, als sie sich selbst.

"Ich hätte dich vermutlich nicht enttäuscht", gab sie überraschend zu, während sie versuchte die Schamesröte, die ihr in die Wangen schoss, zu unterdrücken. "Aber ein Versuch wäre es immerhin wert gewesen."

Namarch warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Er schätzte sie tatsächlich treffender ein, als sie erwartet hatte.

"Ich frage mich, warum du mich dann nicht wieder fortgeschickt hast", überlegte sie laut. Gute Freunde waren sie sicherlich nicht. Schließlich gönnte man nur guten Freunden ein derartig bedeutendes Erlebnis.

"Glaube mir, dass ich dich als Letzte eingeladen hätte, in diesem Augenblick bei mir zu sein", sagte er ihr geradeheraus ins Gesicht. "Doch ich hatte Angst es nicht zu schaffen und dann allein zu sein." Er streckte seine verkrampften Glieder ein wenig, beobachtete für einen Moment seine Nachkommen und fand schließlich Lenas Blick wieder. "Ich machte so ziemlich alles falsch, was es falsch zu machen gab", gestand er. "Ich flüchtete mich aus Angst vor meinem Vater in diesen Auftrag. Er hat davon keine Ahnung. Wenn er es wüsste, wäre mir mehr als die Prügelstrafe sicher. Ich entzog mich mit der Flucht nach Mandereth der Obrigkeit der Gleensherren und ich flüchtete aus Angst, die Schmerzen nicht aushalten zu können, unter die heiße Dusche."

"Was ist falsch daran?", wollte Lena wissen. "Das heiße Wasser wirkt entspannend."

"Ebenso für die Panzerplatten, die eventuell nicht brechen, weil sie dann zu weich sind und im schlimmsten Fall an den falschen Stellen reißen können", erklärte Namarch. "Die Schmerzen sind leichter zu ertragen, aber es dauert länger und ist unter Umständen tödlich."

Lena nickte nur und quälte ein verständiges Lächeln hervor. Für sie klang dies ebenso harmlos, wie die Geburt eines Kindes ihrer Rasse. Warum sollten Männer nicht auch die Schmerzen einer Geburt erleiden müssen. Sie stutzte kurz. War er etwa kein Mann? Sie sah hoch.

"Dann bist du demnach kein Mann, sondern eine Frau", schlussfolgerte sie laut.

"Keines von beiden", antwortete Namarch mit einem amüsierten Lächeln. Es fiel ziemlich müde aus. "Vielmehr eine Verbindung beider Geschlechter. Oder besser gesagt, ein Drittes, welches sich selbst vermehren kann."

Lena musste sich Gewalt antun, ihn nicht anzustarren und ihren offenstehenden Kiefer nach oben zu klappen. Sie wusste sowenig über andere Lebensformen, dass sie nicht einmal im Entferntesten an die Möglichkeit einer Selbstvermehrung gedacht hatte. Wie dumm sie nur war, schalt sie sich selbst.

"Und was geschieht jetzt?", wollte sie wissen, nur um von ihrer eigenen Verlegenheit abzulenken. "Ich meine, damit. Und mit unserem Auftrag." Sie deutete kurz auf die Nachkommen.

"Sie sollten eigentlich erst an Emorcho kommen", entgegnete er. "Doch durch die Aufregung und die Anstrengung geschah dies früher. Ich hoffe, sie nehmen keinen Schaden daran." Er beobachtete sie kurz. "Und was den Auftrag anbelangt", fuhr er fort. "Solange sie an einem sicheren Ort sind, werden sie uns nicht hinderlich sein. Im Gegenteil. Ich kann mich jetzt wesentlich freier bewegen." Er räusperte sich. "Es dauert noch ein paar Tage und ich bin wieder der Alte."

"Hoffentlich", schnaufte Lena. "Der alte Namarch gefiel mir wesentlich besser." Dann senkte sie ihren Blick. "Ich muss mich entschuldigen. Ich sollte besser auf dich hören. Scheinbar bin ich kein guter Soldat."

"Ehrgeiz packt jeden, der partout etwas erreichen will", antwortete Namarch. "Es liegt nur am Einzelnen, diese Gier nach Karriere in die richtigen Bahnen zu lenken. In einem unbedarften Augenblick kann man schon mal nach dem falschen Grashalm greifen."

"Soll das heißen, du bist mir nicht mehr böse?" Hoffnungen keimten in Lena auf.

"Ich könnte dir für deine unüberlegte Tat ordentlich den Hintern strammziehen", schimpfte er und ließ gleich darauf ein kleines Lächeln erkennen. "Wir können von Glück reden, dass das Wappen von Sirth Einfluss auf die Trouborgher besitzt. Sonst hätten wir unser Testament machen können. Was aber wiederum beweist, dass Magalan die Finger im Spiel hat. Wir müssen nur noch herausfinden, wie diese ganzen Puzzleteile zusammenpassen."

"Jemand verschachert seine Strafgefangenen an Mandereth", versuchte Lena zu recherchieren. "Die Zahlungen für diese illegale Aktion gehen über die Grenzen des Zentralbundes zurück zum Botschafter und weiter nach Sirth. Die Einkünfte für die Mehrerträge durch das Mehr an Arbeitern geht denselben Weg."

"Woher willst du das wissen?", erkundigte sich Namarch. "Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass irgendwelche Transaktionen über Sirth gehen."

"Aber du sagtest doch, der Botschafter hänge mit drin. Und der kostspielige Hofstaat seines Bruders müsse unterhalten werden. Wie könnte dies anders geschehen, als auf diesem Wege?"

Namarch überlegte kurz. Er erhob sich gemächlich, von Anstrengung und Schmerzen ausgemergelt, steif und müde und setzte sich zu Lena auf den Boden. Für einen Moment beobachtete er seine Nachkommen, strich über die pralle Fruchthülle eines der kleinen Leiber und sah wieder hoch. Er schien tatsächlich über Lenas Theorie nachgedacht zu haben.

"Das wäre zu offensichtlich", sagte er schließlich. "Das Haus des Sirth würde sich mit Schande beladen, wenn dies der Wahrheit entspräche. Es besitzt genug Rechte an Merodinius-Minen, Kalem- und Ffatsa-Förderanlagen. Genug, um für alle Zeiten im Prunk zu leben. So etwas hat es eigentlich gar nicht nötig."

"Weißt du eigentlich noch, was du sagst?", fragte Lena und betrachtete ihn eingehend. "Einmal behauptest du, der Botschafter müsse für die Unterhaltung des Hofes sorgen. Dann wieder, dass sie es gar nicht nötig haben. Was entspricht jetzt der Wahrheit?"

"Die Wahrheit ist, dass manche Betuchte nicht genug bekommen können", erklärte er wissend. "Es ist gut möglich, dass sich Magalan und andere Familienmitglieder den Rachen noch voller stopfen wollen. Aber die Beweise dafür fehlen uns noch. Zudem wäre es glatter Wahnsinn, mit ungleichmäßiger Verteilung der Erträge eine Revolution zu entfachen. Denn dann hätte niemand etwas davon." Er verstummte kurz. "Da der König von Mandereth Distrikt Fünf zu einem Sperrgebiet erklären ließ, muss er ebenso beteiligt sein."

"Es wird verzwickt", bemerkte Lena feststellend. "Dass der Botschafter mit drinhängt, ist jedenfalls sonnenklar."

"Was ist, wenn ein enger Vertrauter von ihm den Betrug vollzieht und er ihn nicht persönlich anklagen möchte? Der Hilferuf kam schließlich von ihm, nicht von Mandereth oder Trouborgh." Namarch sah gedankenverloren hoch.

"Und wer?", wollte sie wissen.

"Jemand, der bis dato sein vollstes Vertrauen genießt. Oder zumindest den Privatzugang des Botschafters nutzen kann, ohne Aufsehen zu erregen."

"Sekretär? Assistent?"

"Irgendetwas in dieser Richtung", nickte Namarch. "Vielleicht sogar ein enges Familienmitglied."

Lena drehte ihren Kopf plötzlich betreten zur Seite und biss sich auf die Lippen. Da sich Namarch wieder seinem Nachwuchs widmete, war ihm dies entgangen.

"Wie lange müssen sie dort drin bleiben?", erkundigte sie sich. Ihre Stimme war heißer. Sie räusperte leise und setzte schnell ein künstliches Lächeln auf, als Namarch hochsah.

"Bis die Fruchthülle von allein reißt", erklärte er mit einem Achselzucken. "Ich weiß nicht, wie lange dies dauert." Er verzog leicht sein Gesicht, richtete seinen Oberkörper gerader und beobachtete wieder die unförmigen Gebilde, die in ein weiches Nest aus Handtüchern eingebettet noch den unschuldigen Schlaf eines Ungeborenen schliefen. "Als ich mich für eine Karriere als Soldat entschied, dachte ich nicht im Traum daran. Normalerweise passiert es erst im späteren Alter."

"Und als du gemerkt hast, was mit dir passiert, hast du einen Rückzieher gemacht, einer Mitbewerberin deine Lösungsdaten geschenkt und bist untergetaucht." Lena schnaufte. "Wenn wir beide gewusst hätten, was wir uns damit einhandeln, hätten wir wohl anders entschieden, was?"

"Ich denke nicht." Er sah hoch. "Für mich hätte es geheißen, unter der Aufsicht meines Vaters in einen goldenen Käfig gesperrt zu werden. Es ist eine große Ausnahme, in so jungen Jahren Nachkommenschaft zu erhalten. Für die Gleensherren, sowie für meinen Vater gelte ich als nicht reif genug für eine solche Aufgabe."

"Fühlst du dich denn selbst reif genug dazu?"

"Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hatte ich noch einiges anderes vor."

"Was sind eigentlich Gleensherren?", wollte sie wissen.

"Die Obrigkeit der Gleens ist wie ein religiöser Wächter. Er überwacht sämtliche unserer Handlungen und überprüft, ob stets alles nach den überlieferten Sitten und Gebräuchen verläuft. Nichts geht ohne sie. In allen Angelegenheiten und Fragen müssen sie zu Rate gezogen werden. Ihn nicht zu achten und zu befolgen, ist mit Blasphemie gleich zu setzen."

"Da hast du dir ein ganz schönes Schlamassel eingebrockt", gab sie mit verzogenem Gesicht von sich.

"Für jemanden mit Nachkommenschaft ist das eigene Leben vorbei. Es sei denn, man wird zu den Gleens gezählt. Das wollte ich nicht akzeptieren."

"Das werden sie nicht verstehen. Und erst recht nicht dein Vater."

Namarch schnaufte. Dafür musste er sich noch etwas einfallen lassen. Sich zu verstecken, bis er seine Nachkommenschaft gebar, war eine Sache. Eine andere nun, seinem strengen Vater und den Gleensherren den neuen Sachverhalt zu erklären.

Der Brustpanzer sandt einen stechenden Schmerz aus. Tchengo Namarch wusste, dass dies noch ein paar Tage anhalten würde, solange bis sich die harten Panzerschichten wieder zurückgebildet hatten. Müdigkeit überkam ihn. Seine Augen wurden schwer. Er hatte die Strapazen noch lange nicht überstanden. Schwerfällig hievte er sich auf die Beine, nahm das Handtuchnest auf die Arme und trug es in den Wohnraum, wo er es direkt unter einer Wärmelampe platzierte. Die Lampe war eigentlich für das exotische Aquarium bestimmt. Doch wichtiger als bunt schillernde Wassertiere waren ihm seine Nachkommen.

"Ich brauche noch etwas Schlaf", sagte er, während er die Embryos in der weichen Haut mit einer zusätzlichen Decke umhüllte. Er wusste, sie würden die Wärme genießen.

"Ich bleibe hier", rief Lena schnell und ließ sich auch schon in einen Sessel fallen. Sie war ihm hinterher gelaufen, wie eine verliebte Glucke oder ein allzu neugieriges Mädchen. "Leg dich ruhig noch aufs Ohr. Ich wecke dich, sollte sich etwas Wichtiges ereignen." Als sie bemerkte, dass sie sich albern benahm, räusperte sie sich und drehte ihr rot gewordenes Gesicht zur Seite. Sie war es nicht gewohnt, dass ein nahezu Fremder im Lendenschurz vor ihr herumlief. Namarch hatte beinahe wieder seine alte Gestalt zurückerhalten. Zwar wirkte er noch immer ein wenig aufgedunsen und aufgeschwemmt, doch lange nicht mehr so schlimm und man konnte erkennen, dass es sich allmählich besserte. Er war ständig schweißbedeckt. Das Mehr an Flüssigkeit, das sich während der Schwangerschaft in seinem Körper angesammelt hatte, musste erst wieder ausgeschieden werden.

Während sich Namarch in sein Schlafzimmer zurückzog, lehnte sich Lena bequem in ihrem Sessel zurück. Und es dauerte nicht lange, da übermannte auch sie der Schlaf.

 

"He, wach auf", rief jemand in ihren unbequemen, traumlosen Schlaf hinein. "Bist du im Koma." Sie wurde hart angepackt und geschüttelt. Ihre Augen ließen sich nur mühevoll öffnen. Blinzelnd erkannte sie eine dunkle Gestalt vor ihr, die dumpf durch den Nebel stechend, als Tchengo Namarch erwies. Sie stieß ihn von sich.

"Auf die Beine", befahl er barsch. "Draußen ist die Hölle los."

Lena gähnte herzhaft und streckte ihre steifen Glieder. Noch immer verwirrt sah sie um sich. Namarch hatte wieder sich in seine unförmige Robe gehüllt. Als er davon überzeugt war, sie endlich aus ihrem Tiefschlaf geholt zu haben, begann er in seinem Gepäck nach würdevolleren Kleidungsstücken zu suchen.

"Was ist denn los?", erkundigte sich Lena müde. Ihr Magen strahlte eine gewisse Leere aus. Sie sah sich nach einem Frühstückstablett suchend um, fand jedoch keines.

"Das reinste Chaos", rief Namarch hektisch, während er die Robe über den Kopf streifte und sich wieder halb nackt, nur im Lendenschurz präsentierte. "Ein Schwarm von blutrünstigen Insekten scheint in alle gefahren zu sein. In der Botschaft rennen alle wild durcheinander." In höchster Eile tauschte er die Robe gegen ein Paar Hosen aus einem lederartigen, matt schimmerndem Material und ein grob gewebtes Hemd mit einem aufgestickten Rastermuster. Er war beinahe wieder der Alte. "Soweit ich erfahren konnte, befindet sich eine Armee von wild entschlossenen Manderethern auf der einen Seite der Botschaft und auf der anderen Seite sind die halben Bewohner von Trouborgh versammelt, jederzeit bereit, die Botschaft zu stürmen. Und dazwischen - entweder sie kriegen sich gegenseitig in die Wolle oder sie streiten sie sich um die besten Plätze. Nachdem du nicht wachzubekommen warst, versuchte ich Verbindung mit der Basisstation in Dorous aufzunehmen. Doch die können nicht einschreiten. Sie haben mit demselben Problem zu kämpfen." Er schnaufte, als er Lena betrachtete und bemerken musste, dass sie sich keinen Millimeter von ihrem Sessel fortbewegt, geschweige denn erhoben hatte. "Ich möchte wissen, was nun wieder passiert ist." Er betrachtete sie leicht genervt. "Ich denke, dein Bürgerkrieg ist nun Realität. Und nun ist es deine Aufgabe, die Wogen wieder zu glätten."

"Meine?", rief sie entsetzt und sprang endlich auf ihre Füße.

"Deine", bestätigte er nickend. "Du bist doch der offizielle Leiter dieser Mission. Ich für meinen Teil versuche Botschafter Magalan zu einer Erklärung zu bewegen. Bis jetzt ist er mir aus dem Weg gegangen und hatte sich nur zu äußerst knappen und missmutigen Bemerkungen niedergelassen."

"Soll ich etwa Armeen aufmarschieren lassen?", fragte sie ungläubig. Sie konnte sich nicht gänzlich mit dem Gedanken anfreunden, die Befehlshaberin der Niederschlagung einer Revolution zu sein.

Sie wurde leider um ihre Antwort gebracht. Namarch hatte sein Appartement verlassen, ohne sie eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen. Sie schnaufte, sah sich hilflos um, als würde irgendwo die Lösung für das Problem stehen, nahm sich dennoch ein Herz und verließ ebenfalls das Appartement. Sie musste Verbindung mit der Einheit aufnehmen. Vielleicht hatte dort bereits ein beherzter Offizier die Angelegenheit in die Hand genommen und wartete nur noch auf ihre Bestätigung.

 

Wie Namarch erzählte, war die ganze Botschaft in Aufruhr. Sämtliche Angestellte liefen hektisch durcheinander, riefen sich Befehle, Anweisungen oder einfach nur Berichterstattungen zu, versuchten sich oder ihre Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen oder gingen eiligst auf ihre Posten. Lena schnappte von drei vorbeieilenden Sicherheitsangestellten auf, dass das ganze Gelände von wütenden Massen umstellt war. Ihr Vorhaben, sich persönlich zu ihrer Einheit zu begeben, gab sie somit auf, machte auf dem Absatz kehrt und machte sich in die Kommunikationszentrale auf.

"Können sie mir eine Komm-Leitung zur Basis-Einheit herstellen?", bat sie den Mann mit dem Stöpsel im Ohr.

"Unsere Frequenzen werden gestört", berichtete er kopfschüttelnd. "Aber ich kann es versuchen." Er tippte bereits eifrig auf dem Tastenfeld vor ihm herum, wippte dann und wann mit dem Kopf, dann strahlte sein Gesicht schlagartig auf. "Hier Botschaft des Zentralbundes", rief er in das winzige Mikrofon vor seinen Lippen. "Militäreinheit in Dorous, können sie mich hören?"

Ein Krächzen, Rauschen und eine Vielzahl durcheinander kreischender Hochfrequenztöne antworteten ihm, doch auch eine schwach hörbare Stimme.

"Basiseinheit Dorous. Wir können sie schwach hören. Sprechen sie."

Lena übernahm den Ohrstöpsel und das Mikrofon des Funkers. "Hier spricht Officer Lena McKenzie. Erstatten sie mir bitte Bericht."

"Da gibt es nicht viel zu berichten", kam es durch das Rauschen. "Wir werden von einer aufgebrachten Menge belagert. Noch halten die Schutztore. Aber es werden stetig mehr. Ich gab bereits Befehl zur Evakurierung des Zivilpersonals. Ist das in Ordnung, Sir. Ähm, Verzeihung. M‘am, Offizer McKenzie?", verbesserte er sich schnell.

"Selbstverständlich", antwortete sie geschäftig. "Unternehmen sie nichts, bevor es die Angelegenheit nicht unbedingt erfordert", befahl sie. "Und versuchen sie, Schutz für die Botschaft zu schicken."

"Verzeihen sie", rief die Stimme durch das immer stärker werdende Rauschen. "Aber die Botschaft kann sich selbst beschützen. Sie besitzt eine weitaus besser ausgestattete Sicherheitseinheit und wesentlich mehr Männer, als wir. Und ich habe mir sagen lassen, dass die Schutzvorrichtungen mühelos jedem Ansturm widerstehen können. Ich brauche hier allerdings jeden Mann. Soll ich trotzdem jemanden zu ihnen schicken?"

"Nein", rief Lena heißer, ihr vor Verlegenheit rot angelaufenes Gesicht tief gebeugt. Als Oberbefehlshaberin dieser anfangs simplen Überprüfungsmission hätte sie darüber Bescheid wissen müssen. "Besteht eine Möglichkeit, Captain Braun zu erreichen, um ihm die Situation mitzuteilen und Verstärkung anzufordern?", wollte sie wissen.

"Ist bereits geschehen", entgegnete er. "Die Anordnung erfolgte von Tchengo Namarch. Geht das in Ordnung?"

"Natürlich", knurrte Lena. Sie kam sich plötzlich so überflüssig vor. "Versuchen sie die Verbindung aufrecht zu halten und informieren sie mich über besondere Vorkommnisse." Irgendetwas musste sie von sich geben, sonst hätte sie gar nicht erst nach Trouborgh kommen brauchen.

"Wir geben unser Bestes", antworteten beide Funker beinahe gleichzeitig.

Lena nickte, räusperte sich würdevoll und marschierte wieder davon. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie nur noch Sinnloses und Überflüssiges tun konnte. Sie musste etwas an diesem Gefühl ändern und begab sich daher auf die Terrasse der Botschaft, welche einen Rundumblick über das gesamte Gelände bot. Sie wollte sich selbst ein Bild von der Lage machen. Obwohl ihr Namarch und einige Botschaftsangestellte die Situation mitgeteilt hatten, erschrak sie über die Massen an aufgebrachten und wütend durcheinander schreienden Leuten, die sich vor den hohen Schutzmauern versammelt hatten. Die Mauern, sonst tief im Boden versunken, schienen die einzigen Barrieren zwischen der wütenden Meute und ihnen zu sein. Sie bezweifelte, dass sie lange standhalten konnten.

Das Geschrei der aufgebrachten Menge ließ das ganze Gebäude erzittern. Einige der Belagerer hatten bereits begonnen, die Mauern mit Hilfe von Leitern, Stricken, Enterkatapulten und blosen Händen zu erklimmen, scheiterten jedoch immer wieder an diversen Sicherheitsmaßnahmen. Unter Strom gesetzte Zwischenstücke, hervorschnellende Haken, Spitzen, Stacheln und rotierende Schneidkegel, sowie aufmerksames Wachpersonal, die übereifrige Kletterer wieder in die Tiefe beförderten. Lena beobachtete das Treiben eine Weile, dann bemerkte sie, dass sie - abgesehen von Sicherheitsmännern, die aufmerksam die Umgebung beobachteten - nicht allein auf der Terrasse war. Hinter einer Wand aus hochrankendem Gewächs standen zwei Gestalten, in ein hitziges Streitgespräch vertieft. Durch die staubbedeckten Blätter hindurch erkannte Lena den Botschafter Sirth Magalan und das Rastermuster von Namarchs Hemd. Die beiden bedienten sich jedoch einer Sprache, deren Lena nicht mächtig war, und machte daher jedes Lauschen sinnlos. Zum ersten Mal wünschte sie sich, sie hätte die weitreichenden Kenntnisse des Hofzöglings Namarch.

Die lebhafte Unterhaltung endete in einer Ohrfeige für Namarch. Wenig später tauchte Magalan hinter der Rankwand auf. Sein Gesicht, sonst gütig und stets höflich, war nun zornesrot. Seine Augen funkelten böse und ließen den alten Mann wie einen unheimlichen Dämon erscheinen. Er fauchte wütend, als er Lena entdeckte, warf Namarch noch einige letzte scharfe Worte entgegen und dampfte dann davon, wie eine wild gewordene Furie. Die nette Begrüßung, die sie dem Botschafter zukommen lassen wollte, blieb ihr im Halse stecken. Verwundert sah sie dem alten Mann hinterher.

Namarch atmete einige Male tief durch, bis er sich schließlich wieder gänzlich unter Kontrolle hatte. Die hitzige Unterhaltung hatte ihn mehr erregt, als er zulassen wollte. Doch ein Wort hatte das andere gegeben, dann waren sie schließlich mit wenig schmeichelhaften Bemerkungen aufeinander losgegangen, bis dem Botschafter die Hand ausrutschte und vor Zorn rauchend davondampfte. Mit einem tiefen Seufzer registrierte er Lena zwar, die wie die Unschuld selbst unter einem Türstock stand und dem Botschafter nachsah, ließ sich aber zu keiner weiteren Äußerung verleiten.

"Was hast du Captain Braun berichtet?", wollte Namarch barsch wissen. Ihr Kopf flog herum. Für einen Moment starrte sie ihn entsetzt an.

"Ich? Nichts. Ähm. Warum?", begann sie zu stottern. Sie musste sich Mühe geben, die aufkeimende Röte zu bekämpfen.

"Ich möchte zu gerne wissen, warum er mir das böse Wort Verräter in so verächtlichem Ton an den Kopf warf. Was hast du in deinem Bericht erwähnt? Irgendwelche Mutmaßungen?"

Lena war nicht fähig zu antworten.

Namarchs Augen funkelten ebenso böse, wie die des Botschafters. Ihr Schweigen schien ihm Antwort genug zu sein. "Ist dir eigentlich klar gewesen, dass es zwischen dem Zentralbund und Mandereth I nur eine öffentliche Funkverbindung gibt und daher jeder, der ein Interkom-Gerät besitzt, mithören kann?"

Sie war nicht einmal fähig, den Kopf zu schütteln.

"Was hast du Captain Braun berichtet?", wiederholte er energischer. "Etwa den Unsinn, den du gestern Nacht von dir gegeben hast?"

Ihr hochrot anlaufendes Gesicht war nicht mehr zu vermeiden gewesen. Und als wäre dies die einzig richtige Antwort auf seine Frage gewesen, schallte eine harte Ohrfeige und brachte ihr Ohr eine Weile zum Klingeln. Tränen schossen in ihre Augen.

"Die gebührt eigentlich dir", zischte er wütend. "Du bist dir hoffentlich im Klaren darüber, dass du diesen Krieg zu verantworten hast. Die Leute hier springen sich gegenseitig an die Kehle, weil jeder jeden verdächtigt und im besonderen Maße die Botschaft des Zentralbundes und alles, was damit zusammenhängt." Er packte sie hart am Arm und stieß sie zurück in das Gebäude. "Sieh schnellstens zu, dass du die Angelegenheit wieder bereinigst. Solange du keine hieb- und stichfesten Beweise vorzeigen kannst, ist es unfair allem und jedem gegenüber, den du damit anklagst, so viel Dreck er oder sie auch sonst am Stecken haben mag."

"Ich weiß nicht, was ich tun soll", schluchzte sie. "Du bist der bessere Diplomat."

"Du hast diese Suppe eingebrockt", knurrte er. "Nun besorge dir das notwendige Handwerkszeug und löffle sie aus. Laß dir aber nicht allzu viel Zeit damit." Damit ließ er sie einfach stehen und marschierte davon.

Lena sank an der Wand entlang zu Boden und brach in Tränen aus. Das hatte sie nun von ihrem Übereifer. Das hatte sie nun von Namarchs Ergebnissen. Sie hätte intensiver nachdenken, oder gar nicht erst den TEC annehmen sollen. Auf jede Sünde folgt die Strafe, wielange dies auch dauern mochte. Sie hätte mehr auf ihre Großmutter hören sollen, die mit diesem Spruch versuchte, ihre Enkelkinder zu besserem Verhalten zu erziehen.

"Meine Spezialität ist der Kampf Mann gegen Mann. Und dabei hätte ich wohl bleiben sollen, daheim bei uns auf den Straßen und meine Unschuld verteidigen. Das ist das Einzige, was ich bisher erfolgreich tun konnte", sagte sie laut vor sich hin und bedauerte sich selbst.

Über die Mauern der Botschaft hinweg ertönte wütendes Geschrei. Die Belagerer versuchten unermüdlich, die starken Wälle mit Rammböcken, Katapulten, einfachen Schleudern, Strickleitern oder bloßen Händen zu überwinden. Vereinzelte Flugobjekte, die ihr Glück durch die Luft versuchten, wurden mit präzisen Treffern zu Notlandungen gezwungen. Lena beobachtete das Geschehen eine Weile, dann entschloss sie sich, eine Meldung an Captain Braun zu verfassen. Sie musste der Aufruhr ein Ende bereiten und wenn es ihren eigenen Kopf kostete.

Fest entschlossen, ihre gesicherte Stellung und ihren Traum aufzugeben, begab sie sich zu Namarchs Gemächer. Sie wollte ihn eigentlich bitten, die richtigen Worte zu verfassen, obwohl sie sich nicht sicher war, ob er ihr nach all dem geschehenen noch diesen letzten Gefallen tat.

Schon von weitem, als sie eben in den Flügel zu den Gästeunterkünften eingebogen war, konnte sie den Lärm ausmachen, der durch sämtliche Korridore tönte. Entweder hatte irgendjemand Türen und Fenster geöffnet und der Kampfeslärm von draußen drang ins Innere des Gebäudes, oder im Gästebereich war ebenfalls Aufruhr entstanden. Sie brauchte noch einige Augenblicke, als sie in den Korridor eingebogen war, indem sich Namarchs Gemach befand, um zu begreifen, dass der Lärm aus seinem Appartement kam. Sie beschleunigte ihre Schritte, riss ihre Waffe aus dem Halfter und schlich sich die letzten Meter lautlos an die weit geöffneten Türen.

Im Inneren kämpften mehrere Männer miteinander. Möbel wurden umgestoßen. Glas ging zu Bruch. Schreie, Stöhnen und wütende Rufe untermalten das Geschehen. Sie atmete noch einige Male tief durch und wagte dann einen schnellen Vorstoß.

"Halt, keine Bewegung", rief sie laut und visierte die Personen in den Flickenanzügen an. Für einen Moment erstarrten die Gestalten und blickten sie erschrocken an. Namarch stand atemlos zwischen ihnen, ebenfalls etwas überrascht, fasste sich aber bald und verpasste dem nächststehenden Gegner einen so heftigen Schwinger in den Bauch, dass dieser stöhnend zusammensackte. Der andere Trouborgher ergriff sogleich die Ablenkung, schwang seine Peitsche in einem blitzschnellen Reflex in Richtung Lena und schlug ihr die Waffe aus der Hand, ehe sie reagieren konnte. Das Leder der Sklavenpeitsche, die sie zum ersten Mal in der Nacht gesehen hatte, in der sie mit Namarch in jener dunklen Nacht durch die Stadt gelaufen war, schnitt schmerzhaft in die Haut ihres Handgelenkes, wickelte sich um ihren Unterarm und riss sie mittels eines heftigen Ruckes aus ihrem Gleichgewicht. Sie stolperte und fiel dem peitschenschwingenden Trouborgher beinahe in die Arme. Im letzten Moment rollte sie sich über die Schulter ab und platzierte eine kräftige Faust in die untere Körperregion des Flickenanzuges. Er sackte über ihr zusammen und begrub sie unter sich. Es gelang ihr jedoch, ihn über ihren Rücken zu hebeln und ihn in einen gläsernen Tisch, der das Gerangel bisher wie durch ein Wunder überlebt hatte, zu werfen. Das Glas zersplitterte und einige der Splitter bohrten sich tief in seinen Körper.

Lena fuhr augenblicklich herum, um Namarch zu Hilfe zu eilen, musste allerdings einen kräftigen Haken einstecken, bevor sie die Lage neu abschätzen konnte, und landete geradewegs auf dem sterbenden Trouborgher, der bereits dem Tode nahe, verzweifelt versuchte, die dolchähnlichen Glassplitter aus seinem Körper zu ziehen. Seine Mühen waren vergebens. Der Rempler von Lena beförderte ihn endgültig ins Jenseits.

Eine Ledergerte sirrte durch die Luft und wickelte sich um ihren Hals. Mit einem kräftigen Ruck zog sie sich so fest um ihre Kehle, dass es in ihrem Hals knirschte und ihr die Luft wegblieb. Sie strampelte und zerrte an der Peitsche, ihre Kräfte ließen jedoch bald nach und so drohte sie in ein düsteres Loch zu sinken. Bevor sie endgültig die Besinnung verlor, konnte sie noch eine Gestalt ausmachen, die sich auf ihren vermeintlichen Mörder stürzte, jedoch nicht auf dessen blitzschnelle Reaktion gefasst war und nach einem wohlgezielten Schlag ins Gesicht, hart mit dem Kopf gegen die Wand knallte. Lena konnte noch den dumpfen Schlag hören, dann sank sie in eine Welt ohne Geräusche, ohne Gefühle, ohne Himmel und Erde, ohne Tag und Nacht, ohne Sonne und Mond.

 

 

* * *

 

 

Ein heller Strahl, der direkt ihre Augen traf, riss sie aus ihrer Ohnmacht. Sie blinzelte und versuchte in einer reflexartigen Bewegung, den Strahl fortzuwischen, musste jedoch bald feststellen, dass weder ihre Arme, noch ihre Beine, geschweige denn auch nur eines ihrer Körperteile reagieren wollte. Nur zögerlich fanden die Befehle ihre Ziele und auch nur, um an den Nervenenden schmerzhaftes Pritzeln zu entfachen.

Sie stöhnte, schlug die Augen auf und fand sich in einer sterilen weißgrauen Welt, mit ebenso weißgrauen Gestalten wieder, die sich über sie beugten, ihre weißgrauen Fühler nach ihr ausstreckten und sie begrapschten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie sich in einem Hospital befand. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Statt dessen wurde sie von einer Welle gleißenden Schmerzes überschwappt, deren Ursprung aus ihrer eigenen Kehle zu kommen schien.

"Sie sind in Sicherheit", sagte eine gütige Stimme. Eine warme Hand legte sich auf ihre kalte Haut. "Ihr Kehlkopf ist gequetscht. Sie sollten sich eine Weile in Schweigen hüllen."

Ihre Lippen formten ein lautloses Wort: Namarch.

Der Arzt hatte verstanden. "Tchengo Namarch", sagte er mit seiner gütigen Stimme. Ein kleines Lächeln verzierte seine schmalen Lippen. "Ihm geht es den Umständen entsprechend."

"Was heißt das?", wollte sie wissen. Ihre Stimme klang wie ein heiseres Krächzen, verzerrt durch atmosphärische Störungen und schlechten Empfang. Und es schmerzte.

"Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Nasenbein", erklärte er ruhig, während er die Reaktion von Lenas Pupillen überprüfte. Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis, legte er sein blendendes Instrument beiseite und strich besänftigend über ihre Stirn.

"Was ist mit ...?", wollte sie fragen.

"Wenn sie nicht endlich den Mund halten, werde ich ihnen einen Knebel verpassen", schimpfte der Arzt streng. "Sie verlieren ihre Stimme, wenn sie sich nicht daran halten."

Lena nickte folgsam und richtete den Blick gen Decke.

"Botschafter Sirth Magalan möchte sie sprechen", berichtete er. "Aber denken sie bitte daran, dass sie ihm nicht antworten dürfen." Damit gab er seinen Platz an den Botschafter weiter.

"Offizer McKenzie", begann Magalan noch immer erregt. "Sie haben mich sehr enttäuscht.

Lena nickte nur. Sie sah ihren Fehler ein. Durch ihre Unbedachtsamkeit hatte sie eine Revolution ausgelöst. Der rettende Engel, der diese ganze Misere mit einem Fingerschnippen in Luft auflösen konnte, ließ sie leider noch eine Weile zappeln.

"Eigentlich sollte ich mich um sie keine Sorgen machen", schimpfte der Botschafter weiter. "Ich sollte sie erbarmungslos ihren Schmerzen und ihrem schlechten Gewissen überlassen. Sie haben mich in ziemlich ernst zu nehmende Schwierigkeiten gebracht. Was haben sie sich eigentlich dabei gedacht?"

Lena unterdrückte die Träne. Weinen half nun auch nicht weiter. Was sie nun brauchte, war ein verdammt guter Plan.

"Wo ist Namarch?", flüsterte sie so leise sie konnte. Doch der Arzt hatte es gehört und bestrafte sie dafür mit einem bösen Blick.

"Namarch?", fragte Magalan, als hätte er diesen Namen zum ersten Mal gehört. "Er ist noch ohne Bewusstsein. Apropos", rief er und richtete sie gerader. "Namarch war tragend und jetzt ist er es nicht mehr. Wo sind seine Nachkommen?"

Lena sah ihn fragend an. Dann schüttelte sie vorsichtig den Kopf. Doch eine schlimme Ahnung verursachte in ihr eiskaltes Erschaudern. Bei dem Überfall mussten sie die hilflosen Neugeborenen in ihrer Fruchthülle entdeckt und mitgenommen haben. Um für zusätzlichen Druck zu sorgen, waren sie allemal recht.

"Wissen sie es nicht, oder wollen sie es nicht verraten?", fuhr Sirth Magalan in seinem strengen Verhör fort. "Wenn sie entführt wurden, kann uns das die Beine unter dem Körper entziehen."

Eine Träne rann über ihre Wange. Mit Magalans Worten war sie in einen tiefen Tümpel aus düsterer Verzweiflung gestürzt. Ihr gedankenloser Fehler wurde mit jedem Mal gravierender. Irgendwann würden die erbosten Minenbesitzer und die geprellten Arbeiter ihre letzten Geschütze auffahren und Botschaft und Basis in Dorous, nebst Insassen in Schutt und Asche verwandeln. Zudem würde Namarch sie in winzige Stücke zerfleischen, sobald er davon erfuhr. Abgesehen von dessen Vater, der sie statt seines ungehorsamen Sohnes verprügelte, bis das Fleisch von ihren Knochen fiel. Ihretwegen war dies alles geschehen.

Sie wollte sich von ihrem Krankenbett erheben, nachdem sie sich kurzerhand dazu entschlossen hatte, die drei hilflosen Nachkommen um jeden Preis zurückzuholen. Doch eine fürsorgliche Hand hielt sie davon ab.

"Das bringt jetzt auch nichts", sagte der Botschafter besänftigend, alle Strenge und Groll abgelegt. "Bis jetzt stellte noch niemand Forderungen. Wo wollen sie daher mit der Suche beginnen? Legen sie sich wieder hin." Er drückte sie sanft zurück.

"Ich habe Angst", gestand sie leise. Sie bekam plötzlich panische Angst vor Namarch und seiner Rache, mehr als vor der wütenden Menge, die eisern die Botschaft belagerte.

"Davonlaufen ist wohl die schlechteste Lösung", bemerkte der Botschafter belehrend. "Was uns vielleicht helfen könnte, wäre eine Richtigstellung an den Zentralbund. Doch sämtliche Nachrichtenverbindungen sind unterbrochen. Es gibt keine Möglichkeit durchzukommen." Er betrachtete sie streng. "Ich habe den ganzen Tag versucht, den Vorsitzenden der Minenarbeiter Wes Kreep und den König von Mandereth zu einem Treffen zu überreden. Doch da sie mich in ihrem Bericht an Captain Braun schwer belasteten, wollen sie mir kein Gehör schenken. Ich weiß zwar, dass sie noch der Schonung bedürfen, doch die angespannte Lage erwartet eine baldige Reaktion. Ich erwarte von ihnen, dass sie sich entschuldigen und ihre wahre Gründe offenlegen."

"Was für Gründe?", wollte sie wissen.

"Dass sie diesen Bericht allein aufgrund der versprochenen Beförderung verfasst haben, die sie erhalten hätten, wenn dieser Auftrag erfolgreich ausgeführt worden wäre. Dass ihre Recherchen über die Missstände in der Abrechnung, zum Zeitpunkt der Abgabe des Berichtes zu unzureichend waren und daher noch keinerlei Aufschluss über die wahren Täter geben konnten."

"Das ist eine Lüge", protestierte sie und musste sich räuspern, als ihre Stimmbänder den Dienst versagten.

"Ich weiß nicht, was sie herausgefunden haben, doch dass ich hinter den Unterschlagungen stecken soll, ist eine so unglaubliche Unterstellung, dass ich kaum Worte dafür finde."

"Es war jemand von der Botschaft", sagte sie leise.

"Und es war ihre Aufgabe, diesen jemand zu finden."

"Sie wissen es", sagte sie ihm auf den Kopf zu.

"Und wenn ich es wüsste. Es widerspricht meinen Grundsätzen, die meiner persönlichen Obhut überlassenen Personen öffentlich anzuklagen."

Lenas Augen weiteten sich. Plötzlich kannte sie die wahren Schuldigen. Namarch hatte recht. Es war jemand von der Botschaft, jemand der ungehindert Zugang zu allen persönlichen Bereichen des Botschafters besaß, ohne Aufsehen zu erregen. Sirth Magalan wusste es die ganze Zeit, wollte seine beiden Enkelkinder jedoch nicht selbst belasten und der Veruntreuung überführen. Für diese Zwecke hatte er Hilfe vom Zentralbund angefordert, die in Gestalt von Tchengo Namarch und Lena McKenzie erschienen waren und prompt weiteres Unheil gestiftet hatten.

"Was nun?", wollte sie wissen.

"Sie werden sich auf ihre Beine begeben und die beiden Streithähne an einen Tisch bestellen. Dann werden sie eine Entschuldigung und eine Erklärung abgeben und die wahren Täter vor den Richter schleifen."

"Wollen sie das wirklich?", erkundigte sie sich. Ihre Stimme wurde immer schlimmer. Der Arzt hatte es längst aufgegeben, sie mit strafenden Blicken daran zu erinnern, dass sie schweigen sollte. Er war aus ihrem Blickfeld verschwunden und kümmerte sich nun scheinbar um andere Patienten, die gehorsamer waren.

"Ich würde das sonst nicht von ihnen verlangen", nickte der Botschafter. "Und ich würde ihnen raten, die Angelegenheit zu erledigen, bevor Namarch wieder zu sich kommt. Wenn er nur halbwegs seinem Vater nachkommt, können sie ihr blaues Wunder erleben."

Sirth Magalan schürte ihre Angst vor Namarch nur noch mehr. Er erreichte damit aber auch, dass sie entschlossener an die Sache heranging. Einen Fehler zuzugeben, war ohnehin schon schwer genug. Wenn davon aber das Wohl eines ganzen Planeten und alles was damit zusammenhing, abhängig gemacht wurde, war es noch schwerer. Die Wahrscheinlichkeit einen weiteren Fehler zu begehen, wurde unter diesem Druck nur noch größer.

Seufzend erhob sie sich schließlich, kämpfte gegen ihren abstürzenden Blutdruck an und stellte sich, auf den alten Mann stützend, auf ihre Beine. Ihre Knie waren schwach, trugen ihre Last aber tapfer. Ihre Schritte waren vorsichtig, brachten sie aber bald zum Ausgang des Lazareths. In ihrem Augenwinkel entdeckte sie noch den Arzt, der sie mit einem letzten verzweifelten Blick bedachte, dann folgte sie dem Botschafter, um eine schwierige Pflicht zu erfüllen.

 

 

* * *

 

Lenas Kehle war wie zugeschnürt. Auch ohne die Quetschung hätte sie Schwierigkeiten gehabt, auch nur einen Ton von sich zugeben, als sie mit Botschafter Magalan in das Versammlungsgebäude gegangen war. Die beiden Parteien saßen nun streng voneinander getrennt, jeweils auf der gegenüberliegenden Seite des tischähnlichen Podestes und machten allesamt ein verärgertes Gesicht. Keiner würdigte den Anderen in der Gegenpartei mit einem Blick oder bedachte ihn eines Wortes. Als die beiden eintraten, wurden sie sogleich von einem eisigen Schweigen empfangen.

Lena schluckte. Die dunkelgrünen Trouborgher schmollten auf der einen Seite des Saales. In ihrer Mitte Wes Kreep, mit vor der Brust verschränkten Armen. Auf der anderen Seite betrachteten die kleinwüchsigen Manderether in ihren violetten Trachten, ihre Hände oder beschäftigten sich mit der dicken Luft, indem sie große Löcher in sie hineinstarrten, ohne irgendjemanden anzublicken.

Der Botschafter marschierte zielstrebig in die Mitte des Saales, warf die Arme waagrecht von sich, sodass seine weiten Flügelärmel aufflatterten, und brachte damit die schweigende Menge zum Schweigen. Es waren ohnehin nur die Hälfte aller Parlamentarier erschienen. Eine Vielzahl der sandgelben Sitze waren unbesetzt. Obwohl auch noch nach einigen Augenblicken, keiner mehr verstummen musste, blickte sich Magalan streng um.

"Hört mich an, Volk von Trouborgh und Mandereth", begann er schließlich in drei verschiedenen Sprachen, wie Lena inzwischen herauserkennen konnte. "Mit mir gekommen ist die Tochter von McKenzie. Schenkt ihren Worten Gehör und Glauben."

Ein Raunen ging durch die Zuhörer. Ein jeder wusste, auch ohne es gesagt zu bekommen, wer die Begleiterin war und schienen sich nicht so recht damit anfreunden zu können, ihr zuzuhören, geschweige denn ihr Glauben schenken zu können.

"Hört mich an", sagte sie heißer und räusperte sich, als ihre Stimme zu versagen drohte. "Ich muss mich bei euch allen entschuldigen. Ich habe etwas Unverzeihliches getan. Etwas, das böses Blut und Unfrieden zwischen vormals eng befreundeten Völkern stiftete." Sie räusperte sich abermals. Botschafter Magalan übersetzte ihre Rede und nickte ihr zu. "Mein Bericht an meinen Vorgesetzten Captain Braun war voreilig und zu diesem Zeitpunkt nicht den Tatsachen entsprechend. Zutreffend ist, dass der Täter unter den Botschaftsangehörigen zu suchen ist. Nicht zutreffend und wie in meinem Bericht fälschlich genannt ist, dass Botschafter Sirth Magalan die Untaten begangen hat." Ein weiteres Raunen wog durch den Saal. Köpfe wandten sich zu einem kurzen Gespräch den Nachbarn zu, dann widmeten sie sich wieder der Rednerin. Lena schluckte. Ihre Kehle brannte wie Feuer. Sie musste es aber unbedingt bereinigen. Einen Bürgerkrieg entfacht zu haben, lastete so schwer auf ihr, dass sie beinahe mühelos über sich hinaus gehen konnte. "Inzwischen sind wir dem wahren Täter auf der Spur und werden ihn selbstverständlich der Gerichtsbarkeit des Bündnisses übergeben. Ich möchte mich in aller Form bei sämtlichen Betroffenen entschuldigen und bitte sie um die Einstellung ihrer Kämpfe. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass die Schuldigen vor Gericht kommen und die Geschädigten entlastet werden."

Wes Kreep erhob sich und richtete eine Frage an den Botschafter.

"Er möchte wissen, wer es ist", übersetzte Magalan.

"Um nicht noch weitere Streitigkeiten hervorzurufen, wird die Identität bis auf Weiteres geheim gehalten", gab sie diplomatisch von sich. Namarch wäre Stolz auf sie gewesen.

"Er möchte den Namen wissen, oder er zieht seine Männer nicht zurück", übersetzte Magalan die barsche Forderung des Minenarbeiterführers.

"Wenn die Belagerungen und die Übergriffe nicht gestoppt werden, sind wir gezwungen Gegenmaßnahmen zu treffen", sagte sie streng, obwohl sie keinerlei Ahnung hatte, wie sie diese Drohung in die Tat umsetzen konnte. Sie waren abgeschnitten. Die Basis in Dorous konnte nur sich selbst als Verstärkung einsetzen.

"Die Botschaft wurde vom Bund der Sternensysteme entsandt", sagte Magalan, als der König von Mandereth das Wort erhob. "Die vermeintlich unparteiischen Prüfer wurden ebenfalls vom Bund der Sternensysteme geschickt. Wie können wir da sicher sein, dass die Angelegenheit nicht einfach unter den Tisch gekehrt wird?"

"Sagen sie ihm, dass es ihm jederzeit frei steht, eigene Berechnungen über die unterschlagene Summe auszuführen", erwiderte sie, an Magalan gewandt. "Das gilt auch für die Trouborgher. Sobald Tchengo Namarch wieder genesen ist, werden wir Kundige aus beiden Parteien einladen, die Aufteilungen wieder richtigzustellen." Damit erinnerte sie sich selbst an etwas. "Außerdem bitten wir die Entführer von Namarchs Nachkommen, diese wieder zurückzubringen, ehe der Zorn des Hauses Namarch über die Täter hereinbricht."

"Ich würde dies nicht erwähnen", sagte Magalan und strich sich über sein Kinn. "Keiner von beiden würde dies zugeben."

"Das verlange ich auch nicht. Sie sollen sie einfach zurückgeben. Und wenn sie sie des Nachts einfach vor der Tür der Botschaft aussetzen, wie Findelkinder. Sie sollen sie zurückbringen, und das möglichst rasch. Das Leben der Nachkommen steht auf dem Spiel. Und das ist all meine Unkompetenz nicht wert. Außerdem haben sie nichts damit zu tun. Es sind unschuldige Kinder und daher als Druckmittel pietätlos. Sagen sie ihnen das. So wie ich es ihnen eben gesagt habe." Ihre Stimme wurde immer kieksiger. Sicherlich dauerte es nicht mehr lange, bis sie gar kein Wort mehr herausbrachte.

Botschafter Magalan übersetzte, während Lena die Reaktion der Zuhörer musterte. Einige der Trouborgher nickten, andere behielten ihr versteinertes Gesicht bei. Doch keiner wollte sich zu der Entführung bekennen. Lena hoffte inständig, dass die Nachkommen auftauchten, noch ehe Namarch wieder das Bewusstsein erlangte.

"Sind sie damit zufrieden?", erkundigte sie sich bei dem Botschafter.

"Ich hoffe, dass dies ausreicht", gab er achselzuckend von sich. "Es gab inzwischen zuviel böses Blut und es ist zu viel geschehen. Das vormals grenzenlose Vertrauen wird es sicherlich niemals mehr geben."

"Namarch hatte Recht", erwiderte sie geknickt. "Ich hätte niemals soweit kommen dürfen." Insgeheim hatte sie sich dazu entschlossen, den Dienst zu quittieren, sobald sie zurückgekehrt waren.

"Sie haben sicherlich auch ihre guten Seiten", sagte er mit einem verstecktem Grinsen. "Sie wissen sie nur nicht einzusetzen."

Lena beobachtete weiterhin die Reaktionen der Versammelten und schnaufte schließlich aus. Keiner der Anwesenden schalt auf sie ein, oder schimpfte mit seinem Nachbarn über sie. Zumindest zeigten sie es nicht so offenkundig, wie sie es gewohnt war. Niemand durchbohrte sie mit strafenden Blicken oder zeigte sich erbost über ihre Unfähigkeit. Stattdessen keimten immer intensivere Diskussionen auf. Erst in kleinen Zweier- oder Dreiergruppen, dann schlossen sich immer mehr zusammen, bis schließlich die Hauptredner und eine Vielzahl der Zuhörer in zwei großen Gruppen um die jeweiligen Oberhäupter versammelt waren und sich im dezenten aber energischen Tonfall unterhielten. Immer wieder schickte Lena verstohlene Blicke zu Botschafter Magalan, der die Reaktionen seiner Schäfchen viel besser zu deuten wusste, und musste sich ergebnislos selbst ein Bild machen.

Endlich, nach vielen Minuten und zahlreichen Diskussionen, die für Lena niemals zu enden schienen, bauten sich die beiden Oberhäupter, Wes Kreep und der kleine König der Manderether nebeneinander auf dem tischähnlichen Podest auf und entließen ihre Erklärungen wechselweise, als hätten sie es zuvor stillschweigend abgesprochen.

"Sie sind einverstanden", übersetzte Magalan, nicht ohne deutliche Erleichterung. "Sie werden sich zurückziehen und sämtliche Aktivitäten einstellen, bis die Situation geklärt ist."

"Heißt das auch, dass sie nichts mehr abbauen werden?", erkundigte sich Lena vorsichtshalber.

"Das soll es heißen", nickte Magalan.

"Das wird ihnen eine ganze Menge kosten", wusste sie inzwischen.

"Und dem Bündnis ebenfalls", gab der Botschafter hinzu. "Die Preise werden in die Höhe schnellen und für einige Zeit wird der Markt verrückt spielen. Ich rate ihnen daher, sich zu beeilen, Offizer McKenzie."

"Sobald ich genug stichhaltige Beweise habe, gebe ich es an das Gericht weiter", erwiderte sie entschlossen und musste sich krampfhaft zurückhalten, vor Nervosität an der Lippe zu kauen. "Was ist mit Namarchs Nachkommen?"

"Sie weisen es zurück, werden der Sache aber nachgehen."

"Sie sollen sich beeilen." Ihre Stimme hörte sich immer katastrophaler an. Sie konnte nun kaum mehr als ein piepsiges Krächzen herausbringen. Sie wirbelte herum und wollte schon die Terrassen wieder hinaufklettern, als der Botschafter sie zurückhielt.

"Warten sie noch einen Moment. Sie müssen die Versammelten zuerst gehen lassen, sonst sieht es wie eine Flucht aus."

"Ich flüchte nicht", kiekste sie. "Ich mache mich schleunigst an die Arbeit." Sie hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wie sie das Versprechen in die Tat umsetzen konnte, doch sie war sich sicher, dass sich irgendetwas ergeben würde. Ohne sich weiter um die Versammlung und den Botschafter zu kümmern, eilte sie aus dem Gebäude und ließ sich zur Botschaft zurückbringen.

 

 

* * *

 

Tchengo Namarch war noch immer ohne Bewusstsein. Das Glück schien ihr wenigstens einmal hold zu sein und eine Unannehmlichkeit auf später verschieben zu wollen. Sie schloss sich in Namarchs Appartement ein, betrachtete gedankenverloren das Chaos und marschierte planlos zwischen den zerbrochenen oder umgeworfenen Mobiliarteile auf und ab. Sie musste nachdenken. Sie musste eine Möglichkeit finden, den Verdächtigen ihr Vergehen nachzuweisen. Da sie kein Computergenie war, schloss sich die Analyse per Datenverarbeitung aus. Auf frischer Tat würde sie auch niemanden ertappen können, da alle Beteiligten durch den Tumult gewarnt waren. In ihrer Hoffnungs- und Ratlosigkeit begann sie, sämtliche Sachverhalte noch mal in ihrem Gedächtnis zu sammeln und neu auszuwerten. Sie musste feststellen, dass sie wahrlich kein Kriminalstratege war. Doch plötzlich schoss ihr eine Idee in den Kopf, wie ein brillanter Geistesblitz. Beinahe fluchtartig eilte sie aus dem Appartement und machte sich auf in Richtung der Privatunterkünfte der Botschaftsangehörigen.

Die Räume des Botschafters und der seiner Enkeltöchter waren mit allem Komfort ausgestattet, was sich ein hochwohlgeborenes Haupt ausdenken konnten. Bequeme Sitzmöglichkeiten, prunkvolle Wandfassetten, glitzernde Kronleuchter und Räumlichkeiten, in welchen man eine ganze Festgesellschaft unterbringen konnte. In aller Windeseile untersuchte sie die Zimmer der beiden jungen Frauen, die es scheinbar nicht geschafft hatten, vor der Evakuierung der Botschaft zurückzukehren. Sie machte sich aber keinerlei Sorgen um die beiden. Wenn sie es waren, wussten sie sicherlich ein sichereres Plätzchen. Lena fand Schmuck, die eine ganze Hofdamenschar hätte verzieren können - ungewöhnlicherweise nicht in einem gesicherten Safe- und eine kleinere Menge Bargeld, was aber beides nicht auf einen Tatverdacht hinführen konnte. In beiden Zimmern, die einander angrenzten und nur durch eine Tür getrennt waren, standen Schreibtische und Computerterminals. Auch wenn sie nicht wusste, wie sie den Dingern Informationen entlocken sollte, schaltete sie sie ein und hämmerte auf der Tastatur herum. Aus der Lektion mit Namarch hatte sie gelernt, auf Ungereimtheiten zu achten und so überflog sie die lange Zahlenkolonnen, bis sie auf Unstimmigkeiten stieß. Hektisch speicherte sie alle Vorgänge auf Speicherchips ab und durchsuchte auch die Datenbanken auf dem anderen Terminal. Sie wunderte sich zwar, dass keiner der Terminal, wie auch die Türschlösser mit Zugangscodes versehen waren, doch in Anbetracht der Lage, schienen sämtliche Sicherheitsmaßnahmen außer Kraft gesetzt worden zu sein - oder jemand hatte wohlsorglich gehandelt.

Lena blickte kurz auf, ließ ihren Blick durch die Räumlichkeiten schweifen und entdeckte etwas Merkwürdiges an einer Bücherwand. Einer der Lesewerke stand merkwürdig schief. Sie erhob sich und ging darauf zu. Hinter dem Buch befand sich eine Taste. Wagemutig betätigte Lena sie und die Bücherwand glitt zur Seite. Die Enkeltochter des Botschafters musste nachlässig gewesen sein, als sie das letzte Mal diesen Geheimplatz benutzte. Hinter der Bücherwand befand sich ein weiterer Terminal und holografische Karten von Minengebieten, deren Stellungen nun allesamt rot blinkten. Bis auf eine - Distrikt Fünf. Lena schaltete den Terminal ein und schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie wünschte sich Namarch an ihrer Seite, wusste aber auch im gleichen Moment, dass die dann nur noch Schwierigkeiten haben würde. Namach würde sie wegen seiner verschwundenen Nachkommen ansprechen, Antworten und Taten fordern und keinen Gedanken mehr für ihren Auftrag übrig haben.

Der Terminal spuckte dieselben hieroglyphischen Daten aus, wie die beiden anderen Terminals, und Lena versuchte, so viel wie möglich auf Speicherchips zu bannen. Dann wirbelte sie herum und eilte zur Krankenstation zurück.

Namarch war noch immer nicht bei Bewusstsein. Mitleidig und besorgt betrachtete sie ihn eine Weile, drückte dem Arzt die Chips in die Hand und instruierte ihn, sie Namarch zu geben, sobald er erwachte. Lena war sich sicher, dass er damit mehr anzufangen wusste, als sie. Dann eilte sie zur Fährenplattform hinaus. Die Privatfähre des Botschafters stand dort abflugbereit. Lena bezweifelte, dass sie irgend jemand aufhalten würde. Mit einem flüchtigen Blick registrierte sie, dass die aufgeregten Truppen rund um die Botschaft ihren Abzug tätigten, und hob auch schon in die Lüfte ab.

Die Mine in Distrikt Fünf war die Einzige, die noch förderte. Scheinbar gehörte sie zum Privatbesitz des Botschafters, seines Adelsgeschlechtes oder des Zentralbundes. Jemand, der sich einen Dreck um die Entscheidungen des kleinen Königs kümmerte und auch keine Angst vor Bestrafung besaß, musste der Herr dieser Förderanlagen sein. Wahrscheinlich wussten der König und der Anführer der Minenarbeiter ebenso gut Bescheid, wie der Botschafter selbst. Doch keiner zeigte sich imstande genug, die Enkeltöchter, die ebenfalls dem Sirth-Geschlecht angehörten und waschechte Prinzessinnen waren, anzuzeigen oder ihnen auf die Finger zu klopfen. Während die Offizierin die Fähre zu Höchstleistungen trieb, reimte sich der Rest ihres Verdachtes zusammen.

Die beiden Mädchen - Lena versuchte sich an ihre Namen zu erinnern - Meriga und Tasha, glaubte sie - mussten sich mit den Zugeständnissen einfacher Prinzessinnen dritten Grades nicht zufriedengeben und sich andere, lukrativere Einnahmequellen gesucht haben. Das Geschäft mit Sträflingen versprach gute Gewinne. Für Nachschub war ständig gesorgt. Der Obolus an hohen Strafsteuern für den Handel mit nicht dem Bündnis angehörigen Planetensystemen fiel durch die hohen Gewinne nicht sonderlich ins Gewicht und die Kosten für Förderanlagen, Verbrauchsmaterialien und Verschiffung wurden ohnehin von der ansässigen Minengesellschaft getragen. Unter dem Strich blieben ihnen demnach allein die Erträge für den Verkauf des abgebauten Fördergutes - Lena wusste nicht einmal genau, was dort eigentlich abgebaut wurde. Im Grunde ging es nicht um ungerechte Verteilung des Gewinnes, erkannte sie endlich. Es handelte sich einzig um einen Hilferuf der Minengesellschaft, die sich mit Magalan zusammentat, da auch er nicht mutig genug war, echte Sirth-Prinzessinnen anzuzeigen. Als Lena ihren Bericht an Captain Braun verfasste, schienen sie in Panik geraten zu sein und die Belagerung der Botschaft und der Basis in Dolous schien ihnen der einzige Weg gewesen zu sein, die Prüfer auf den richtigen Weg zurückzuführen. Dass sie dabei Namarchs und ihr Leben aufs Spiel setzten, wunderte sie, doch im selben Moment erinnerte sie sich wieder an die Sklavenpeitschen. Kein Troubourgher lief mit einer Peitsche herum. Die Einbrecher mussten von Meriga und Tashra persönlich geschickt worden sein, um die Prüfer zu eliminieren.

Lenas Wut steigerte sich. Wie dumm war sie nur gewesen. Sie hatte sich mit Namarch einen persönlichen Kleinkrieg geliefert, anstatt die Augen offen zu halten und auf wichtige Indizien zu richten.

Die graugelbe Staubwolke von der Förderanlage auf Distrikt Fünf war bereits am Horizont zu sehen. Lena überflog die Cockpit-Anzeigen und jubelte im Stillen. Magalans Privatfähre war mit Waffen ausgestattet. Diesmal würde sie sich näher heranschleichen, als beim letzten Mal. Sie musste das Herz des Territoriums erreichen, bevor die beiden Frauen ihre tödlichen Schützen losschicken konnten. Denn sie wusste, dass sie diesmal nicht so glimpflich davonkommen würde. Erstens besaß sie das königliche Amulett nicht bei sich und zweitens, würde ihr Auftauchen in Distrikt Fünf dafür sorgen, dass sich die beiden Frauen erkannt fühlen mussten.

Lena steuerte die Fähre so tief sie konnte und flog hoch konzentriert über die niederen Hügel, tiefen Schluchten und vom Wind aufgewirbelten graugelben Staubschleier. Wie aus dem Nichts tauchte neben ihr ein Jagdflieger auf und bellte Befehle in ihr Komm-Gerät. Sie erinnerte sich daran, dass sie beim ersten Mal nicht gewarnt worden waren, erinnerte sich aber auch sofort daran, dass sie damals ihre Kommunikationseinheit gar nicht aktiviert hatte. Lena ignorierte die Warnungen und Befehle zum sofortigen Landen und flog weiter. Wenn sich hier tatsächlich Strafgefangene aufhalten sollten, dann war es nur selbstverständlich, dass schärfere Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollen von Nöten waren. Aber dass sie auch die Privatfähre, mit dem deutlichen Symbol der Botschaft aufzuhalten gedachten, machte sie mehr als stutzig. Vermutlich verrichteten in den Minen nicht nur Strafgefangene Fronarbeit, was ihre Vermutung nur noch mehr bestätigte. Sklavenpeitschen, schoss es in ihr Hirn. Natürlich. Die beiden Enkeltöchter hatten mit irgendeiner verruchten Macht oder auch den Delogo‘ons selbst ein Abkommen, die hilflose Völker überfielen und Arbeiter nach Mandereth verschleppten. Lenas Wut kochte immer mehr auf. Warum war ihr das nicht schon viel früher eingefallen? Sie hätte sich, Namarch, dem freundlichen Botschafter Sirth Magalan und den beiden Völkern der Manderether und der Troubourgher sehr viele Unannehmlichkeiten ersparen können.

Die Hauptförderanlage kam in Sicht. Ihr Begleiter bombardierte sie unaufhörlich mit wilden Drohungen und Befehlen. Vermutlich hielt ihn das deutliche Sympol an den Flanken der Fähre doch von einem tödlichen Schuss ab. Lena drückte einen Knopf, suchte die Frequenz zur Basis in Dorous und gab eine Meldung durch. Es war ihr gleichgültig, ob die Verbrecher dort unten, oder ihr wütender Begleiter ihre Nachricht abfangen und verstehen konnten. Diesmal war sie sich so sicher, wie seit Langem nicht.

Dort unten, in den staubgelben, einstöckigen Gebäuden mussten die beiden Frauen hocken und sich ihrer Gewinne freuen. Sie bezweifelte allerdings, dass sie sie tatsächlich antreffen würde. Es war alles zu einfach.

Lena entschloss sich zu einer Kurzschlussreaktion. Sie wendete die Fähre, drehte ihre Geschütze und pustete den verdutzten Begleiter, der bis zum Schluss noch in sein Kommgerät gebrüllt hatte vom staubig gelben Himmel. Erst als ein Feuerball auf den Sandboden niederraste, vollführte sie eine engere Kurve und steuerte wieder auf das niedere Gebäude zu. Sie sah auf dem Dach ferngelenkte Geschütze, die hochfuhren und sich ihr Ziel suchten, als sie sich näherte. Unten auf dem Boden gingen dunkle Gestalten in Stellung, hievten Raketenwerfen auf ihre Schultern und versuchten, den Eindringling zu erledigen. Doch nun befand sich Lena in ihrem Element. Die Fähre war zwar nicht gerade das geeigneste Kampfgefährt, ihr blieb im Moment jedoch nichts anders übrig, als alle Möglichkeiten bis zum Letzten auszuschöpfen. Sie hatte mit ihrem Auftauchen, erst einmal die Leute der unlauter arbeitenden Mine aufschrecken wollen. Nun musste sie sie hinhalten, bis die Verstärkung von der Basis kam, und versuchen, die Verdächtigen nicht davonkommen zu lassen. Die Geschütze auf dem Dach des einstöckigen Gebäudes schossen einige Warnsalven auf sie ab. Trotz allem schien man das Symbol an der Flanke der Fähre zu achten. Auch wenn der wagemutige Pilot sich nicht zuerkennen gab und auf die Identitätsaufforderungen der aufdringlichen Funker reagierte, könnte sich ein Botschaftsmitglied im Inneren befinden. Trotz allem respektierten sie den Diplomatenschutz und schossen nur vorbei, anstatt gezielte Treffer zu landen. Doch als Lena das Geschütz und einige am Boden stationierte mobile Schützen beschoss, ließ man alle Vorsicht fallen und eröffnete ebenfalls das Feuer.

Die Fähre besaß keinerlei Abschirmung. Kein magnetischer Schutzschirm würde die Energietreffer ableiten und in den eigenen Umwandler führen. Ihre Außenhülle war den grellroten Lichtblitzen schutzlos ausgeliefert. Es lag nun am Piloten, diesen Mangel auszugleichen. Sie musste den Salven geschickt ausweichen und ihre eigenen Treffer ansetzen. Lena war darin geübt. Es war eines ihrer Lieblingsfächer in der Ausbildung gewesen und nach wie vor, fühlte sie sich mehr als wohl, wenn sie bis auf die Zähne bewaffnet oder in einem fliegenden Objekt saß und die Leute unter ihr herumscheuchen konnte, wie aufgeregte Hühner.

Mit einem Jubelschrei bedachte Lena das explodierende Geschütz auf dem Dach. Mehr als durch Zufall hatte sie es getroffen. Der Beschuss vom Boden aus hatte ihr ziemliche Unannehmlichkeiten bereitet, und nur weil sie der Flugbahn eines zischenden Raketengeschosses ausweichen musste, trafen ihre Mündungsrohre das Geschütz. Trotz allem stolz auf sich selbst, blickte sie auf das Inferno hinunter. Ein Sieg für sie.

Weitere dunkel gekleidete Gestalten stürmten aus dem Gebäude. Sie schienen sich ihrer ziemlich sicher zu sein. Vermutlich wussten sie genau, dass sie es nur mit einer einzigen, ziemlich mager bewaffneten Fähre zu tun hatten, die eigentlich mit vereinter Kraft leicht bezwungen werden musste. Doch sie hatten nicht mit Lenas Flug- und Schießkünste gerechnet. Ehe der Nachschub in Stellung gehen und ihre Geschützgeräte in Position bringen konnten, waren sie von Lena vernichtet worden.

Jemand quäkte in ihre Kopfhörerbuchse. Lena erschrak und verriss ihr Ziel, sodass sich die tödliche Salve in einem tosenden Wirbelsturm verwandelte und nichts weiter traf als graugelber Staub.

“Botschaftsfähre, bitte kommen,” vernahm sie die Stimme, die ihr gleich bekannt vorkam. “Hier Basis Dorous.” Es war die Stimme jenes Mannes, mit dem sie schon einmal per Funk kommuniziert hatte.

“Hier Botschaftsfähre,” rief sie und drückte den Auslöseknopf für ein verheerendes Feuer, das sich mit vehementer Geschwindigkeit über den Boden fraß. Eine blinkende Warnleuchte informierte sie darüber, dass bald ihre Energiereserven für die Geschütze aufgebracht waren. “Ich bin im Moment sehr beschäftigt. Schicken sie sofort so viele Einheiten, wie sie entbehren können.” Lena hoffte darauf, dass der Mann ebenfalls ihre Stimme wiedererkannte, und ärgerte sich, dass ihre Meldung nicht zum Anlass genommen worden war, Verstärkung zu schicken.

“Verstärkung ist unterwegs. Müsste in Kürze bei ihnen sein. Der Stationskommandant würde gerne den Grund für diese Aktion wissen.”

“Das erkläre ich alles, wenn ich zurück bin. Könnten sie für mich in Erfahrung bringen, ob Tchengo Namarch wieder zu sich gekommen ist?”

Es entstand eine kleine Pause. Dann meldete sich der Funker wieder. “Nach der letzten Auskunft befindet er sich bei Bewusstsein. Der Stationskommandant erhielt von ihm die Aufforderung, die Privaträume zweiter Botschaftsangehöriger zu versiegeln. Wir wissen zwar, dass wir ihnen und dem Prüfer jede Unterstützung geben und ihren Anweisungen Folge leisten sollen, doch in die Privatsphäre eines Mitgliedes der Botschaft und eines Angehörigen des Sirth-Geschlechtes einzudringen, wird einiges an Aufsehen erregen.”

“Tun sie es einfach,” zischte Lena. Um ein Haar wäre sie getroffen worden. Der Offizier hatte sie einen Moment abgelenkt. Sie steuerte die Fähre auf das Dach des Gebäudes, wo ihr Treffer auf das Geschütz ein großes Loch hinterlassen hatte.

“Jawohl”, rief der Mann und schien nicht recht zu wissen, wie er sie ansprechen musste. Rangmäßig war sie ihm unterlegen. Doch ihre Aufgabe setzte sie über alle Range hinweg. “Basis Dourous, Ende,” kam es, dann knackte es ein letztes Mal und es herrschte endlich Funkstille in ihrem Kopf. Beinahe perfekt setzte sie die Fähre auf dem Dach ab, sprang heraus, ohne sich um die noch immer laufenden Motoren zu kümmern und hastete nach unten. Wenn sie sich nicht allzu sehr getäuscht hatte, dann würden dort unten Meriga und Tashra sein und in aller Windeseile sämtliche Beweiße vernichten.

Und tatsächlich erwischte sie die beiden, wie sie in aller Hektik Fernbomben verteilten. Lena riss ihre Waffe heraus und legte sie auf die beiden jungen Frauen an.

“Halt. Keine Bewegung.” Die beiden Enkelinnen starrten sie erst wütend, dann entsetzt und schließlich so unschuldig und nymphenhaft an, wie sie es stets an der Seite ihres Großvaters taten. Die Schwester hatten sich jedoch schnell wieder unter Kontrolle und erwiderten Lenas festen Blick. “Ich muss sie beide verhaften,” fuhr Lena entschlossen fort. Etwas in den Gesichtern der jungen Frauen sagte ihr, dass sie sehr gut aufpassen sollte. “Ich muss sie wegen Betrugs und Unterschlagung festnehmen.”

“Komm,” rief eine der beiden - Lena wusste nicht wer, Meriga oder Tashra - “Ehe der Rest hier ist, sind wir über alle Berge.” Ungeachtet der Waffe und der entschlossenen Offizierin, schnappte sie sich zwei weitere Fernbomben und schickte sich an, sie in einer Ecke des Zimmern zu deponieren. Während Lena ihr folgte, machte die andere eine Bewegung in die andere Richtung. Sie hatte richtig vermutet. Sie versuchten ein Ablenkungsmanöver. Doch Lena war gewappnet. Sie schoss der Einen knapp vor die Füße und zielte der Anderen nur wenige Zentimeter an ihrem Kopf vorbei. Gesteinsbrocken regneten auf sie nieder und die Sirth-Prinzessin zuckte erschrocken zurück.

“Seien sie nicht so töricht, irgendwelche Dummheiten machen zu wollen,” sagte Lena selbstsicher, dann knallte es hinter ihr und etwas legte sich kalt, schneidend und schnalzend um ihren Hals. Mit einem Ruck wurde sie rückwärts gezogen und landete geradewegs vor den Füßen eines Mannes in einer Flickenuniform. Ein breites Grinsen blickte auf sie herab. Eine weiterer Manderether trat auf ihre Hand, bevor sie ihre Waffe hochreißen und den Kerl erledigen konnte. Mit einem Schrei musste sie ihre Pistole aufgeben.

“Gut gemacht,” rief eines der Prinzessinnen. “Seht endlich zu, dass ihr fertig werdet.” Sie packte weitere Fernbomben aus und klebte sie ziellos an allen möglichen Einrichtungsteilen und Wänden und Decken, während sich die beiden Manderether Lena annahmen. Sie zerrten sie hoch wollten sie eben an einen Pfosten binden. Als eine Erschütterung einen Teil der Decke herunterkommen ließ. Durch die neue Öffnung erkannte Lena, dass die Verstärkung eingetroffen war. Ein Schwarm von wendigen Kampfflugzeugen raste über das Gelände und ackerte den staubigen Boden mit gezielten Schüssen auf. Schreie ertönten. Die beiden Manderether wurden sichtlich nervös.

“Beeilung,” rief eines der Enkelinnen und warf einem der Bewacher eine Tasche zu. Lena nutzte die Gelegenheit und riss sich aus dem Griff des Anderen, warf sich mit aller Kraft gegen ihn und rempelte ihm noch im Fallen einen harten Ellbogen in die Brustknochen, bis es in dessen Leib dumpf krachte. Sie rollte auf ihm ab, schnappte sich die Peitsche und versuchte sich im Schwingen dieser Waffe. Etwas ungeschickt erwischte sie einige Leuchtröhren, die in einem elektrischen Knistern und halllosem Knall zerplatzten. Glasregen ging nieder und erreichte dasselbe Ergebnis. Sie sorgte für einige Verwirrung. Die beiden Frauen waren stehen geblieben und hatten ihre Arme schützend hochgehalten. Der andere Manderether hatte die Tasche fallen gelassen. Lena warf sich auf ihn, wickelte die Peitsche um dessen Hals und zog zu.

In unmittelbarer Nähe des Gebäudes explodierte etwas. Der Boden bebte und weitere Teile der halb zerstörten Decke kamen herunter. Lena vernahm ein Quietschen über ihr und nahm sich vor, das Gebäude so bald wie möglich zu verlassen. Ihre Fähre, die ebenfalls auf dem Dach parkte, musste ins Rutschen gekommen sein und wenn sie herunterfiel, würde sie sicherlich explodieren und alles Leben im Inneren des Gebäudes zerstören - zumal das Innere mit Fernbomben nur so gespickt war.

So fest sie konnte zurrte sie die Ledergerte um den Hals des Manderethers und bemerkte gerade noch im letzten Moment einen Schatten in ihrem Augenwinkel. Sie wirbelte mit dem Manderether herum und der Schlag traf in geradewegs ins Gesicht. Lenas Bemühungen, ihn zu erdrosseln waren damit mit einem Mal zunichtegemacht. Sie stieß den zuckenden Leichnam von sich und rappelte sich schnell auf ihre Füße, ehe die Prinzessin wenig ehrenhaft, ihre Stange ein weiteres Mal herumschwang, um ihr eigentliches Ziel zu treffen. Geschickt hatte Lena es ihr aus den Händen geschlagen und verpaßte der schlanken, graziösen jungen Frau, die besser in sanft fließende Gewänder, kostbaren Schmuck und einer wesentlich wirtlicheren Gegend passte, einen Tritt in den Bauch. Die sonst so lammfrommen Mädchen, die an der Seite ihres Großvaters so unschuldig und harmlos dreinlächelten, entpuppten sich rasch als unberechenbare Wildkatzen. Als auch die andere auch noch in den Kampf eingriff, hatte Lena alle Mühen, sich ihrer Haut zu erwehren.

Sie hatte der Einen die Stange zwar aus der Hand geschlagen, dafür schnappte sich kurzerhand die Andere das Instrument und ging ebenso auf Lena los, während die Erste ihr Glück mit bloßen Händen und Füßen versuchte. Lena wirbelte herum, versetzte der vermutlich Älteren einen weiteren Tritt in den Magen, während sie mit bloßem Unterarm den Schlag der Eisenstange abfälschte und ihn in einen Pfosten rasen ließ. Der Pfosten, ein vermeintlich extrem stabil aussehender Granitpflock, der die Decke abstützte, gab unter der Wucht des Schlages nach und fiel polternd in sich zusammen. Die Decke knirschte und knackste. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das Gewicht der Fähre auch noch den Rest der Decke zum Einstürzen brachte.

Die Jüngere, die mit den wenigeren Lachfältchen im Gesicht, stürzte sich mit ihrem Schlaginstrument erneut auf Lena, während die Andere sich eine Peitsche geschnappt hatte und sie nun knapp über dem Kopf ihres Opfers schnalzen ließ. Lena duckte sich blitzschnell, sprang aus der Hocke wieder hoch und rempelte eine der Mädchen um. Sie kamen ächzend auf dem Boden auf und rangen miteinander. Ein Lederriemen legte sich ihr um den Hals und riß sie ruckartig von ihrer Gegnerin herunter. Lena fasste nach hinten, vergriff sich in der langen, dunklen Haarpracht und hebelte sie kraftvoll über ihre Schulter, um sie auf ihre Schwester zu werfen. Diese war jedoch geistesgegenwärtig genug, gerade noch im letzten Moment herumzufahren und den Körper auf den harten Boden niederplumpsen zu lassen.

Lena entdeckte ihre Waffe und wollte sich schon danach bücken, als sie einen harten Schlag ins Gesicht bekam. Sie flog über die Kante einer Brüstung, die scheinbar in einen tieferen Bereich des Gebäudes führte. So etwas wie der Keller oder Ähnliches. Lena dachte eigentlich hart auf Steinstufen aufzukommen, doch sie plumpste geradewegs in die Arme eines weichen Körpers, der nicht darauf gefasst, das Gleichgewicht verlor und mit ihr die Stufen hinunterpolterte.

Schnell rappelte sie sich wieder auf und wollte diesem jemand schon einen heftigen Haken verpassen, um ihn sogleich wieder aus dem Rennen zu werfen, als sie geradewegs in ebenso verdutzte grüne Augen blickte.

“Namarch?”, rief sie überrascht. “Was um alles ...” Sie verschluckte den Rest, als es über ihr krachte. Sie duckte sich schnell an die Brüstungswand und blickte nach oben. Staubschwaden quollen in die Tiefe des Abganges. Das Krachen hatte sich eindeutig metallisch angehört. Vermutlich war endlich die Fähre im Inneren des Gebäudes gelandet. Sie spähte über den Rand der Brüstung hinaus und zuckte auch schon wieder zurück. Der scharfkantige Kolben einer abgebrochenen Eisenstange verfehlte sie nur um Haaresbreite. “Was machst du hier, zum Kuckuck?”, rief sie, als hätte sie keine anderen Sorgen. “Ich dachte, du wärst für eine Weile aus dem Verkehr gezogen.”

“Glaubst du wirklich, ich lasse mir das hier entgehen?” Er nahm eine Waffe aus einem Depot in seinem Rücken und drückte sie ihr in die Hand. “Wer ist da oben?”

“Zwei niedliche kleine Mädchen,” gab Lena mit einem Husten zurück, als die Staubschwaden ihre Atemwege erreichten. “Sie haben das ganze Gebäude vermint. Es wird gleich in die Luft fliegen.”

“Ich gebe dir Deckung”, rief er zurück, entsicherte seine Waffe und schob sich die Brüstungswand hoch. In der kurzen Zeit ihrer Trennung, während er in einem tiefen Koma im Lazarett lag, hatte er weitere Pfunde Gewicht und Flüssigkeit verloren. Er war beinahe wieder der Alte, jener stattliche junge Krieger, der Lena mit einem einzigen Blick in Verlegenheit bringen konnte. Sein Haar hatte wieder jenen Glanz und jene Fülle erhalten, die sie während ihres Testrainings an ihm bewunderte. Die Kragenknöpfe seines Hemdes standen offen und offenbarten noch einen Rest des Panzers, der sich nach der Schwangerschaft allmählich wieder zurückgebildet hatte. Lena schluckte und zwang sich, sich wieder auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie nickte ihrem Partner zu und sprang mit einem Satz nach oben. Zeitgleich schoss auch Namarch aus der Deckung und feuerte einige Schüsse ab. Er traf die Eisenstange, die daraufhin im hohen Bogen durch die Luft segelte und ließ weitere Gesteinsbrocken von der Decke regnen. Sie knirschte abermals und wackelte. Die Fähre hing mit einer Landestütze bereits im Inneren. Die Antriebsturbinen surrten immer noch. Lena wünschte sich, sie hätte sich die Zeit genommen, alle Aggregate abzuschalten. Die Gefahr, dass die Decke auf sie niederfiel und unter sich begrub, war schon hoch genug. Der Abgasausstoß brauchte nicht auch noch die Minen auslösen.

Eine der Frauen schien die Absicht von Lena und Namarch erkannt zu haben und verschanzte sich hinter einem Pfosten. Als sich Namarch weit genug herausgewagt hatte, sprang sie mit einem wilden, einer Raubkatze ähnlichen Schrei aus ihrer Deckung und rempelte ihn wie eine Dampframme einfach um. Er hatte Mühe nicht wieder die Stufen hinunterzupoltern. Gerade noch im richtigen Moment bekam er die Brüstungskante zu fassen und fing sich ab. Lena lieferte sich mit der anderen Sirth-Enkelin ein heißes Schussgefecht. Am Klang des Feuerausstoßes erkannte die Offizierin, dass sich ihre Gegnerin ihre Laserpistole geholt hatte. Auch mit der fremden Waffe war die Prinzessin ein guter Schütze. Lena fand sich kaum in der Lage, aus ihrer Deckung herauszugehen und das Feuer zu erwidern. Doch dann kam ihr unerwartet der Zufall zu Hilfe. Ein weiteres Stück der Decke kam herunter. Die Fähre rutschte quietschend und kreischend noch ein Stückchen tiefer in den Innenraum des Gebäudes. Staub, Gesteinsbrocken und ein berstender Pfosten, der dem Druck nicht mehr gewachsen war, zwangen die Prinzessin sich auf den Boden zu werfen und die Arme über den Kopf zu legen. Lena war mit wenigen Schritten bei ihr, zerrte sie hoch, entriss ihr erst die Waffe und schlug ihr damit fest ins Gesicht. Jämmerlich klagend und um ihre zerstörten Schönheit besorgt, fiel die Frau auf den Boden und presste die Hände vors Gesicht.

Lena zerrte sie an ihren Haaren wieder hoch, presste die heiße Mündung ihrer Waffe an den Hals ihrer Gegnerin und hielt inne. Namarch und die ältere Schwester lieferten sich ein handfestes Gemenge. Mit gekonnten Hieben, Tritten, Ausweichmanövern, Angriffssprüngen und verzerrten Gesichtern tänzelten sie umeinander herum, als vollführten sie einen abstrakten Hochzeitstanz. Namarch, der bis vor Kurzem noch eine steife, unbewegliche, fette Qualle war, bewegte sich überraschend geschmeidig und wendig, so wie sie es im Testtraining an ihm gesehen hatte. Dann und wann bremste er einen Vorgang abrupt ab, verzog sein Gesicht und bog sich steif in eine andere Richtung. Doch im Großen und Ganzen hatte er seine alte Form wiedererlangt. Seine Gegnerin stand ihm im Nichts nach. Scheinbar gehörte es zum Pflichtprogramm jedes Hofzugehörigen, neben geistige Bildung auch Kampftraining zu erhalten. Sie konterte seine Schläge beinahe mühelos und brachte den weitaus größeren und kräftigeren Mann sogar zum Schwitzen.

Beeindruckt beobachtete Lena die beiden, bis ihr Opfer einen Fluchtversuch wagte und sie sich schnell wieder an ihre eigentliche Aufgabe konzentrierte. Es war Namarch, in welcher Gestalt auch immer, der sie derart konfus machte, dass sie einen Fehler nach dem anderen beging. Sie zerrte die Sirth-Prinzessin an ihrem Haarschopf zurück und brüllte durch den Lärm, von Kampfgetümmel, Krachen, Explodieren und umfallendem Mobiliar.

“Es ist vorbei, Meriga, Tashra oder wer auch immer. Hört auf.” Sie drückte der Anderen die Mündung fester in den Hals, sodass diese vor Schmerz und Angst aufschrie und worauf endlich deren Schwester reagierte. Keuchend hielt sie inne, betrachtete das jämmerliche Abbild der Anderen, verzog ihr Gesicht und holte schneller aus, als es je einer der Anwesenden je gedacht hätte. Namarch erhielt einen vollen Schlag ins Gesicht. Seine ohnehin bereits angeschlagene Nase erhielt einen weiteren heftigen Rempler. Mit einem undefinierbaren Laut sackte er zusammen und war für wertvolle Sekunden außer Betrieb gesetzt. Lena fluchte, als sie sah, wie die Ältere auf Namarchs Waffe, die nahe beim Treppenabgang lag, hechtete, mit ihr abrollte und noch im Fallen und abrollen auf Lena ansetzte. Diese hatte zwar einen Schuss abgefeuert, doch der war ins Leere gegangen. Sie musste sich selbst zu Boden fallen lassen, um dem sicherlich tödlichen Treffer zu entgehen. Der zweite Schuss der Prinzessin sollte den Prüfer eliminieren. Doch da war Lena bereits wieder auf den Beinen. Mit einer blitzschnellen Reaktion hatte sie ihrem bereits überwältigten Opfer einen Schlag auf den Kopf verpasst, sodass diese für einige Augenblicke benommen war. Einem, auf den Straßen ihrer Heimatstadt antrainertem Reflex folgend, war sie wieder aufgesprungen und feuerte mehrere kurz hintereinander liegende Schussfolgen ab. Eine davon traf die Waffe in der Hand ihrer Gegnerin, die den Abzug bereits betätigt und Namarch genau ins Visier genommen hatte. Der Schuss wurde ein wenig abgelenkt, sodass er sein Ziel nicht mehr ganz genau traf. Dennoch schrie Lena entsetzt auf, als Namarch mit einer aufstaubenden Rauchwolke rücklings katapultiert wurde. Im nächsten Moment, ohne lange darüber nachzudenken, legte Lena direkt auf die Prinzessin an und presste ihren Finger auf den Auslöser. Ein Laserblitz aus Namarchs Waffe verfehlte sie nur knapp und versenkte ihr das Haar. Kurze Zeit später fiel die Prinzessin von einem tödlichen Blitz mitten ins Herz getroffen über die Brüstung und den Treppenabgang hinunter.

Keuchend sank Lena zunächst auf die Knie nieder, doch als sie ein Stöhnen vernahm, rappelte sie sich wieder auf und kroch beinahe auf allen Vieren zu Namarch.

“Kannst du nicht aus der Schusslinie gehen, Partner?”, schimpfte sie, zerrte das Hemd auseinander und verzog das Gesicht, als der Geruch von verbranntem Fleisch in ihre Nase drang. Der Panzer hatte die größte Wucht abgehalten und ihn vermutlich das Leben gerettet. Nur ein paar Zentimeter weiter links und der Energieblitz hätte den empfindlichen Spalt getroffen, der sich für die Nachkommenschaft geöffnet hatte und nun einen stark geröteten Streifen darstellte. Dennoch war er ernsthaft verletzt und musste sofort behandelt werden.

Ein weiteres Krachen ließ sich nicht zur Ruhe kommen. Die Fähre rutschte noch ein Stückchen tiefer, in den Innenraum, als ein weiterer Stützträger der Belastung nicht mehr gewachsen war. Lena sprang auf ihre Beine, kletterte mutig über eine Landestütze auf die Fähre, kroch bäuchlings in das offenstehende Cockpit und schaltete alle Aggregate ab. Die Maschinen kühlten sich knisternd ab. Lena lächelte zufrieden und musste sich sogleich festhalten. Durch ihr Gewicht bekam die Fähre Übergewicht und plumpste nun endlich entgültig in die Tiefe. Sie wurde hart an die Seitenkonsole und dem Sichtfenster geschleudert. Geborstenes Glas aus Sichtinstrumenten und Abdeckungen zerschnitt ihr die Hände, als sie versuchte, ihren Kopf zu schützen. Doch zu ihrem Glück war die Fähre nicht mehr viel tiefer gefallen und der Aufschlag verursachte bei ihr nicht mehr als ein paar Schnittwunden und Blutergüsse.

Sie kroch wieder aus dem Cockpit und sah sich unversehens, der immer noch leicht benommenen Sirth-Prinzessin gegenüber, die sich von Lenas Schlag gerade so weit erholt hatte, dass sie die Lage erkannte und zu einem letzten verzweifelten Versuch sich zu retten startete. Geistesgegenwärtig, noch ehe Magalans Enkeltochter ihr Ziel richtig anvisieren konnte, riss Lena ein aus dem Cockpit herausgebrochenes Instrument heraus und schleuderte es in ihre Richtung. Es traf sie an der Schulter. Sie stolperte rückwärts und fiel dabei geradewegs Namarch in die Arme. Er entriss ihr sofort die Waffe und warf sie von sich. Ergeben ließ sie nun mit sich verfahren und leistete keinen Widerstand mehr, als Lena sie auf die Beine zerrte und mit Handschellen fesselte.

Erleichtert schnaufte Lena durch, als sie ihren Blick über das Chaos wandern ließ.

“Ich werde Hilfe für dich holen,” sagte sie schließlich, zwang die Prinzessin mit einem kräftigen Druck auf die Schultern niederzuknien und entschwand durch den Treppenabgang, der eine Art Zwischenschleuse war, um den schweren Staub draußen zu halten. Lena musste ihre Augen anstrengen. Das Kampfgetümmel hatte dicke Schwaden aufgewirbelt, durch die kaum eine weitere Sicht möglich war, doch dann entdeckte sie die Jagdmaschine, mit der Namarch gekommen war, lief darauf zu und rief über Funk medizinische Hilfe an. Zufrieden mit sich selbst, kehrte sie in das Gebäude zurück.

“Was machst du eigentlich hier?”, schimpfte sie, während sie sein Hemd vorsichtig von der Wunde entfernte. “Hast du befürchtet, ich vermassle schon wieder etwas?”

“So in etwa”, gab er gequält von sich. Er verhielt sich ganz still, als ihre Hände geschickt den stark beschädigten Stoff entfernten. “Als mir der Stationskommandant erzählte, was du vorhast, war ich nicht mehr zu halten. Im Grunde jedoch war ich nur eifersüchtig. Ich wollte die Militärlaufbahn nicht nur einschlagen, um von meinem Vater und den strengen Gleensherren zu entkommen, sondern auch um endlich mal etwas erleben zu können. Die ganze Angelegenheit mit der Nachkommenschaft brachte mich schließlich um meine Ziele.”

“Und als du endlich wieder einigermaßen einsatzfähig warst, begann das Abenteuer ohne dich, richtig?”, schlussfolgerte sie. “Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich nicht schon wieder eine Katastrophe heraufbeschwörte. Ich hätte auch die ganze Sirth-Sippschaft gegen mich aufbringen können, wenn ich auch dieses Mal daneben gelegen wäre. Da wäre es dann das Beste gewesen, du wärst ganz weit entfernt gewesen.”

“Magalan machte eine seltsame Bemerkung, die mich schließlich überzeugte.”

“Was für eine denn?”

“Er sagte, du wärst endlich auf dem richtigen Pfad,” erwiderte Namarch und verzerrte sein Gesicht, als Lena einen Stofffetzen abzupfte, der mit verbranntem Fleisch verschmort war. “Er wusste es die ganze Zeit, richtig? Aber warum sagte er nichts?”

“Hättest du deinen Vater verraten, wenn du wüsstest, dass er Dummheiten macht?” gab sie zu Bedenken. “Er liebt seine Enkelkinder, das spürt man deutlich. Er brächte es nicht übers Herz, sie persönlich anzuklagen. Das würde wahrscheinlich auch seine ganze hochkarätige Verwandtschaft gegen ihn aufbringen. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Er musste jemanden anderen für sich arbeiten lassen und sich so unschuldig danebenstellen, als hätte er von nichts gewusst.”

“Was für ein kompliziertes Hofgeplänkel,” entfleuchte es Namarch. Er lehnte seinen Kopf an die Wand und blickte über sich zur Decke. “Wie einfach ist es, wenn man geradeheraus und spontan reagieren kann.”

“Meine Geradlinigkeit und Spontanität hat einen ziemlichen Wirbel veranstaltet. So gut ist es auch wieder nicht.” Sie betrachtete die Wunde und schnaufte resigniert. Was sie hatte tun können, hatte sie bereits getan. Mehr war ihr nicht möglich. Sie stand dennoch auf, kletterte wieder in das Wrack der Fähre und brachte einen Medi-Pack zum Vorschein. Eine kühlende und schmerzlindernde Auflage würde ihm sicherlich gefallen, dachte sie und platzierte es vorsichtig auf der Wunde. “Kommst du allein zurecht?”, fragte sie besorgt. “Ich muss nach draußen und den Jungs helfen. Schließlich habe ich noch eine Pflicht zu erfüllen, trotz dem ganzen Blödsinn den ich fabriziert habe.”

“Ich komm schon klar,” nickte er und richtete die Waffe auf die Prinzessin, die es nicht gewagt hatte, sich auch nur einen Millimeter zu rühren.

Lena eilte nach draußen, wo sie sofort von dicken, trockenen Schwaden graugelben Staubes empfangen wurde. Die Jungs von Dorous hatten es inzwischen geschafft, die Aufseher und sämtliche Mitarbeiter unter Kontrolle zu bringen und sie abzuführen. Sie winkte einigen bewaffneten Kampffliegern, die sich aus ihrer Flugkabine bemüht hatten, in das Innere des Gebäudes zu gehen und die Verdächtige herauszuholen. In ihrem Schlepptau befanden sich einige Sanitäter, die sich Namarch annehmen würden. Im Grunde gab es für Lena nichts mehr zu tun. Sie setzte sich in die nächste Jagdmaschine und flog nach Dorous, wo sie einen vorläufigen Bericht an Captain Braun verfasste.

 

* * *

 

Captain Braun verhielt sich bemerkenswert zurückhaltend, was ihre Fehler in Bezug der Aufruhr in Mandereth I, dem Förderplanetensystem betraf. Er lauschte interessiert ihrem persönlichen Bericht und betrachtete dann die Marke und die Dienstwaffe, die Lena vor ihn auf den Tisch legte.

“Warum wollen sie aufgeben?” fragte er überrascht und sah endlich hoch.

“Ich bin höchstens für eine Sturmbatallion geschaffen, doch das ist nichts für mich. Ich würde ständig irgendwelche törichten Fehler begehen. Und ihre Anweisung an Tchengo Namarch, mir alles beizubringen, was ich für die Wiederholungsprüfung benötige, war gut gemeint, doch ich denke, dass es nichts bringen wird. Ich werde die Prüfung nicht wiederholen.”

“Ich hatte sie nicht für so nachgiebig gehalten. Ich dachte, sie würden für die neue Chance wie ein Stier kämpfen.”

“Das hätte ich vermutlich auch getan, wenn nicht einiges geschehen wäre. Doch nun bin ich der festen Überzeugung, dass auch eine zweite Chance nichts bringen wird.”

“Sie sind ein guter Offizier, McKenzie. Sie besitzen gute Führungsqualitäten. Man muss sie nur etwas ausbauen und an ihnen herumfeilen, dann wird aus ihnen auch ein guter Stratege und Diplomat.”

“Vielleicht will ich gar kein Diplomat werden,” gab sie resigniert von sich. “Bitte erkennen sie meine Kündigung an, Captain Braun.”

“Wovor haben sie Angst?”, erkundigte er sich streng und blickte ihr dabei fest in die Augen.

Lena öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder. Das war ein persönliches Problem, das sie mit sich selbst und Namarch aushandeln musste. Sie hoffte, Namarch niemals wieder zu sehen.

“Wenn sie es erlauben, möchte ich meine Gründe nicht nennen,” sagte sie daher. Tränen schossen ihr in die Augen.

“Hat Namarch sie dazu bewogen, ihren Abschied einzureichen?”, wollte er wissen.

“Nein.” Niemals wieder wollte sie jemanden ankreiden. Sie musste ihre Beschuldigungen erst selbst widerlegen, bevor sie jemanden an den Pranger stellte, oder ihn etwas bezichtigte. In diesem Fall stimmte es sogar. Nicht Namarch selbst hatte sie zu ihrer Entscheidung überredet, sondern sie selbst. In langen durchwachten Nächten hatte sie sich endgültig dazu durchgerungen. Jemand wie sie durfte nicht mehr auf die Öffentlichkeit losgelassen werden und erst recht nicht die Verantwortung über ganze Planeten tragen. “Es war meine eigene Entscheidung. Bitte nehmen sie mein Gesuch an.”

“Ich werde es mir überlegen, McKenzie. Bis zu meiner Entscheidung sind sie suspendiert.”

“Danke, Captain.” Sie nickte dankbar, obwohl das weniger war, als sie erhofft hatte. Und es war weitaus weniger, als sie zunächst erwartet hatte. “Wann wird das Verfahren eingeleitet?”, fragte sie.

“Was für ein Verfahren?”, fragte Braun unschuldig zurück.

“Das Verfahren gegen mich”, erklärte sie. “Immerhin bin ich dafür verantwortlich, dass es auf Mandereth beinahe einen Bürgerkrieg gab. Ich bin dafür verantwortlich, dass der König von Mandereth die Minen schließen ließ und es zu Preisstürzen und Engpäßen auf dem Markt kam.”

“Ich weiß nicht, wovon sie sprechen”, gab der Captain achselzuckend von sich. “Die Minen waren nicht länger als ein paar Tage geschlossen. Es gab genug Vorrat auf dem Markt, sodass die Preise nicht beeinflusst wurden. Und was den Aufstand auf Mandereth betrifft, so teilte mir der Botschafter mit, dass es früher oder später ohnehin dazu gekommen wäre. Der Botschafter ist übrigens ein Bruder des Königs, wussten sie das?”

“Das wusste ich”, nickte sie.

“Sie haben demnach nichts getan, was die Lage verschlechtert hätte.” Er betrachtete sie. “Ist es deswegen? Wollen sie deswegen ihren Dienst quittieren? Es wird vielleicht eine Anhörung geben, aber auf keinen Fall ein Verfahren und schon gar nicht gegen sie. Die Anhörung dient allein der Darstellung des Sachverhaltes. Eine Berichterstattung vor der Kommission, weiter nichts.” Er betrachtete Lenas Dienstmarke gedankenverloren, dann kehrte er mit einem seufzend zurück. “Sie bleiben weiterhin suspendiert”, fuhr er fort. “Solange, bis sie die Prüfung erfolgreich bestanden haben.”

“Ich möchte sie nicht wiederholen,” rief Lena verzweifelt.

“Ich brauche Leute wie sie”, sagte er. “Sie sind entschlusskräftig und mutig. Selbst Botschafter Sirth Magalan spricht in den höchsten Tönen von ihnen.”

Lena blickte ihn hoffnungslos an. In ihrem Innersten rebellierte es heftig. Sie wollte die Prüfung um keinen Preis noch einmal machen. Sie wollte sich um keinen Preis noch einmal all dieser Schmach und Enttäuschung aussetzen.

“Soll ich jemanden darum bitten, ihnen zu helfen?”

“Nein”, rief sie und biss sich sogleich auf die Lippen.

“Sie haben die einmalige Chance, sich aus dem Dreck zu erheben. Warum wollen sie die Gelegenheit partout nicht wahrnehmen?”

Sie wollte ihm ins Gesicht schreien, dass sie Angst davor hatte, ein weiteres Mal zu versagen. Ihr größter Fehler war noch nicht bis zu Captain Braun durchgerungen. Ein Fehler, der sicherlich niemals bekannt werden würde, denn er ging nur Namarch und sie etwas an - sie hatte die Nachkommenschaft vergessen. Als sie Hals über Kopf abreiste und dabei die Männer zurückließ, die ihr zur Unterstützung mitgegeben wurden, hatte sie auch Namarch und seine immer noch verschwundenen Kinder vergessen. Sie hatte sich keine Gedanken mehr darüber gemacht. Niemand hatte sie erwähnt und so vergaß sie die hilflosen Wesen einfach, die scheinbar noch immer in der Gewalt ihrer Entführer befanden.

Sie besaß panische Angst vor Namarch. Adrenalin schoss in ihre Adern, wenn sie nur daran dachte. Sie hatte das Leben seiner Kinder aufs Spiel gesetzt und vermutlich verloren.

“Ich will es nicht”, sagte sie einfach. “Darf ich gehen? Bitte.”

Captain Braun nickte nur, nahm Marke und Dienstpistole und legte sie in seinen Safe. “Sie sind bis auf Weiteres suspendiert,” sagte er, bevor Lena die Türe wieder schließen konnte. “Bis sie die Prüfung bestanden, oder ich es mir anders überlegt habe.”

Lena schnaufte, salutierte, wirbelte auf dem Absatz herum und flüchtete davon.

 

Vor diesem ganzen Schlamassel, der ihr Leben einen weiteren Stoß in den Morast versetzt hatte, war sie viel auf den Werften gewesen und hatte den Arbeitern zugesehen. Ihr Vater war ebenfalls Arbeiter in der Werft und sie hatte ihm immer gern beim Arbeiten zugesehen. Es hatte sie jedes Mal mit Geborgenheit, Stärke und Frieden erfüllt, wenn sie seine gestählten Muskeln beobachten konnte. Diesmal flüchtete sie sich geradewegs in dieses Gefühl. Sie versuchte verzweifelt, wieder Oberhand über ihre eigene geschundene Seele zu bekommen. Doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Ganze Nächte lang sie wach in ihrem Bett oder heulte wie ein Schlosshund.

“Es ist nicht ganz einfach, dich zu finden", sagte eine Stimme hinter ihr und sie fuhr, wie von einer Tarantel gestochen hoch. Ihr Gesicht musste so großes Entsetzen widergespiegelt haben, dass der Mann, der sich unbemerkt herangeschlichen hatte, nur amüsiert lächeln konnte.

“Namarch”, formten ihre Lippen blutleer. Ihr Blut raste durch ihre Adern. In ihren Ohren begann es, zu tosen. Instinktiv zog sie den Hals ein. Vermutlich würde er sich nun an ihr rächen wollen.

Tchengo Namarch betrachtete sie musternd, dann flaute sein fröhliches Lächeln ab. “Habe ich dich erschreckt?", fragte er besorgt.

“Das hast du? Wie geht es dir?” Sie deutete auf seine Schulter, die bei dem letzten Gefecht getroffen wurde.

“Ein Hoch auf die Medizintechnik", rief er und straffte seine Brust. Sämtliche überflüssige Fettpölsterchen waren inzwischen gänzlich verschwunden. Als er langsam auf sie zukam, bewegte er sich wieder so graziös und geschmeidig, wie es bei ihrer ersten Begegnung an ihm gesehen hatte. Immerhin waren inzwischen mehr als zwei Monate vergangen. Zwei Monate, in denen Lena orientierungslos herumgesessen hatte und selbst nicht wusste, was sie mit ihrem erbärmlichen Leben anfangen sollte.

“Es ist fast nichts mehr zu sehen", fuhr er fort. “Warum bist du so schnell abgereist? Ich hatte erwartet, dass du zumindest wartest, bis ich im Lazareth wieder zusammengeflickt wurde.”

“Ich ...” Lena schluckte. Sie entschied sich kurzerhand, es endlich über sich zu bringen. Sein Auftauchen in der Werft musste keinen anderen Hintergrund haben, als dass er sich für den Verlust seiner Nachkommenschaft rächen wollte. “Ich habe zu viel Mist gebaut,” bemitleidete sie sich selbst. “Ich wollte so schnell wie möglich weg und dem Ganzen ein Ende bereiten. In der ganzen Euphorie, endlich etwas richtig gemacht zu haben, habe ich schließlich etwas Wichtiges vergessen. Es tut mir leid.”

“Wofür musst du dich bei mir entschuldigen?", erkundigte er sich verwirrt. “Was hast du vergessen?”

“Deine Nachkommen. Sie sind verschwunden. Ich habe sie einfach vergessen.” Lena hätte am liebsten so laut gebrüllt, dass es die ganze Werft gehört hätte. So sehr lag ihr dies auf dem Herzen.

“Wieso verschwunden?” Namarch sah sie fragend an. Doch dann erhellte sich sein Gesicht und er lachte kurz auf. “Du dachtest, sie wären entführt worden?” Er kicherte, beruhigte sich aber rasch wieder. “Jetzt erst verstehe ich Botschafter Magalans Bemerkung. Er sagte unentwegt, ich solle dir die Besorgnis bezüglich meiner Nachkommenschaft nehmen. Warum kann er sich nicht besser ausdrücken?” Er lachte erneut, rief sich aber sofort wieder zum Ernst. “Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich einen geeigneteren Platz als die Wärmelampe und ein paar Handtücher für sie gefunden habe. Noch bevor der ganze Rummel losging, brachte ich sie in Botschafter Magalans Gewächsgarten, wo ein Terrarium steht. Er benutzte es zwar nicht für seinen ursprünglichen Zweck, irgendwelche exotischen Echsenarten am Leben zu erhalten, sondern nur um die Bedingungen für ein paar empfindliche Pflanzen zu schaffen. Die Bedingungen waren ideal: feucht und warm, beinahe wie im Brutkasten. Sie fühlten sich sehr wohl darin. Es tut mir leid, aber das war in der ganzen Aufregung irgendwie untergegangen.”

Lena brach in sich zusammen. Tränenströme flossen über ihre Finger und schüttelten ihren Körper. Wut, Verzweiflung, Angst und Trauer brachen auf einmal aus ihr heraus.

“Es tut mir leid. Ich hätte es dir sicher gesagt, wenn wir nur einen Moment zur Ruhe gekommen wären.” Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Ein warmer Strom ging von ihm aus und sie fühlte sich gleich viel besser.

Sie schüttelte den Kopf, schniefte ihre Tränen tapfer hinunter und wischte über ihr nasses Gesicht.

“Ich hatte solche Angst, dass du mich dafür auch noch verantwortlich machst,” gestand sie. “Ich habe dir soviel Schwierigkeiten gemacht, dass ...”

“Einen Moment", rief er und brachte sie damit zum Schweigen. “Angefangen hat das doch alles mit einem Vergehen von mir. Wäre ich nicht gewesen, der dich zu dem Tausch der TEC‘s überredet hätte, wäre das doch gar nicht geschehen. Demnach bin ich an allem schuld.”

“Hast du denn breitere Schultern als ich?", fragte sie spitz und schniefte den Rest ihres Tränenschwalles hinunter.

“Nein, die besseren Beziehungen”, grinste er. “Und nun zu einem anderen Punkt. Willst du wirklich aufgeben? Captain Braun machte mich halb verrückt. Er gab mir die Schuld dafür, dass du den Dienst quittieren willst. Ist das wirklich dein Ernst?”

“Du warst doch selbst davon überzeugt, dass ich nicht für diesen Job geeignet bin.”

“Mag sein, aber ich wäre sehr enttäuscht, wenn du das Handtuch werfen würdest. Ich für meinen Teil werde mich noch einmal durch das Testtraining quälen. Was ist mit dir?”

Lena schüttelte den Kopf.

“Ich hatte gehofft, etwas von dir lernen zu können.”

“Etwas von mir lernen können?”, wiederholte sie ungläubig. “Was kann ich, was du nicht kannst?”

“Mit einer fast unbewaffneten Fähre einen Jagdflitzer vom Himmel fegen", antwortete er. “Ich möchte gerne wissen, wie du das geschafft hast.”

Lena starrte ihn an. In jenem Moment, als sie eine Spitzkehre gemacht und auf Kollisionskurs gegangen war, hatte sie nicht daran gedacht, etwas Bemerkenswertes getan zu haben. Es war das Botschaftssymbol, das den Pilot davon abgehalten hatte, nicht sofort auf sie zu feuern, wie es bei ihrem ersten Besuch in Distrikt Fünf geschehen war. Es war der Überraschungsmoment und eine gehörige Portion Glück, die sie schließlich eine empfindliche Stelle an der Jagdmaschine finden ließ. Die Waffen der Fähre waren eigentlich nicht dafür ausgelegt, einen Schutzschirm zu durchbrechen.

“Mit den Dummen ist oft das Glück,” sagte sie achselzuckend und versuchte sich in einem zaghaften Lächeln. “Was ist mit deinen Nachkommen? Und deinem Vater?”

“Die drei sind bei Magalan bestens aufgehoben,” grinste Namarch. “Ich werde mich tunlichst davor hüten, meinem Vater etwas davon zu erzählen. Wie auch Botschafter Magalan den Mund halten wird. Schließlich wusste er von Anfang an, warum seine Enkelinnen die Einöde auf Mandereth auf sich nahmen.” Er betrachtete sie eingehend. “Was ist nun? Ich dachte, wir könnten uns gemeinsam auf die schweißtreibende Arbeit machen, den Test zu wiederholen.”

“Ich werde mehr als Körpertraining brauchen", seufzte sie. “Mir fehlen dir Grundkenntnisse in allem.”

“Kein Problem", rief er und breitete die Arme aus, ließ sie aber bald wieder sinken. “Soll ich dir ein Geheimnis verraten?”

“Welches denn?”

“Du bist das erste Wesen seit Langem, das meinen Namen kennt und weiß, was dahinter steckt und sich in meiner Nähe trotzdem ganz zwanglos und natürlich verhält. Alle anderen bemühten sich bislang über alle Maßen, mir zu gefallen. Ich bin froh, jemanden wie dich kennengelernt zu haben, der mir zeigte, wie das richtige Leben sein kann. Ich hatte Angst, dich wieder zu verlieren.”

Lena lächelte, wischte ihre feuchten Hände an ihrer Hose ab und reichte ihm die Hand.

“Können wir dann gute Freunde sein?", fragte sie. Wenn ihre zitternden Gefühle schon nicht erwidert wurden, dann war sie zumindest froh, ihn als Freund an ihrer Seite zu wissen.

“Das hoffe ich doch,” lachte er und schlug ein. Doch sogleich, als sich ihre Hände gefunden hatten, zog er sie an sich und umarmte sie. “Sehr gute Freunde", gab er leise von sich.

 

 

Ende

 

 

Impressum

Texte: Ashan Delon
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

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