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Sara'ishtra - Die Kriegerin der anderen Welt

 

Wo immer Nadja hinging, traf sie auf diese Frau. Schon seit Wochen wurde sie von ihr verfolgt. Anfangs hielt sie es für dumme Zufälle, doch als sich ihre Begegnungen immer mehr häuften, erwachte Skepsis in ihr. Gleichgültig, was sie tat, wohin sie ging, stets war diese Frau in der Nähe. Beim Einkaufen lief sie ihr ständig über den Weg, beim Joggen, rannte sie desöfteren an ihr vorbei, als sie wie beiläufig auf einer Parkbank saß, oder an einer Mauer lehnte. Im Kino saß sie ein paar Reihen vor oder hinter ihr. In der Disco, traf sie sie auf der Tanzfläche, selbst in dem Feinkostladen, in dem Nadja als Verkäuferin arbeitete, begegnete sie ihr. Obwohl die Frau noch ein einziges Wort zu ihr gesprochen hatte, war Nadja fest davon überzeugt, dass sie etwas von ihr wollte. Nicht umsonst lief sie ihr wochenlang hinterher.

Was ihr anfangs amüsant vorkam, bereitete ihr immer mehr Angst. So versuchte Nadja ihre Gewohnheiten zu ändern. Doch nichts half. Diese Frau war stets am selben Ort, an dem sich auch Nadja befand. Sie schien die Absichten ihres Opfers bereits im voraus zu kennen. Nadja überlegte sich mehrmals, zur Polizei zu gehen, aber immer wieder verwarf sie diesen Gedanken. Solange ihr diese Frau nichts antat, konnte sie nichts tun. Sie traute sich bald nicht mehr ihre Wohnung zu verlassen. So blieb sie hingegen ihrer Gewohnheit am Wochenende zu Hause. Selbst die Verabredung mit Richard, ihrem langjährigen Freund, sagte sie ab. Sie versperrte sämtliche Fenster und Türen, nahm den Hörer von der Gabel, riß die Kabel aus der Türglocke heraus und freute sich auf ein ruhiges Wochenende und zwei Tage, ohne verfolgt zu werden.

Die Ruhe in ihrem selbst gewählten Gefängnis wurde bereits am Samstagabend gestört, als jemand an die Haustüre klopfte. Da sie Richard abgesagt hatte, konnte es nur eine einzige Person sein. Nadja krallte ihre Hände in das Polster der Couch. Sie würde nicht öffnen, schwor sie sich. Wenn die Frau es wagte, in ihre Wohnung einzubrechen, besaß Nadja einen Grund die Polizei zu rufen, sagte sie sich und schielte nach dem Telefon. Erneut klopfte es an ihrer Türe.

"Nadja", rief eine weibliche Stimme. "Ich muss dich sprechen."

Nadja biss sich auf die Lippen. Es schien tatsächlich diese Frau zu sein. Sie weigerte sich zu antworten.

"Ich weiß, dass du da bist", rief die Stimme wieder. "Es ist wichtig. Ich muss mit dir reden."

Nadja rührte sich nicht vom Fleck. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals.

"Du brauchst keine Angst zu haben", beteuerte ihr die Frau durch die Türe. "Ich will nur mit dir reden, sonst nichts. Aber nicht durch die Türe. Bitte, Nadja, mach auf. Es ist sehr wichtig."

"Wer sind sie?" gab Nadja endlich Antwort.

"Ich bin Brunhilde Steglin", antwortete sie.

"Was wollen sie von mir?" wollte Nadja wissen.

"Lediglich mit dir reden", kam die Antwort.

Ihre Stimme verriet, dass sie die Wahrheit sprach. Nadja kämpfte mit sich. Einerseits wollte sie die Frau endlich loswerden, andererseits interessierte sie sich brennend für das unheimlich Wichtige, was diese wildfremde Frau mit ihr zu besprechen hatte.

"Um was geht es?" nahm die Neugierde Oberhand von ihr.

"Ich habe ein Geschenk für dich, " köderte die Stimme hinter der Tür.

"Ein Geschenk?" Die Neugierde schwappte über Nadja wie eine Springflut einen Strand einnahm. "Legen sie es vor die Türe und gehen sie endlich."

"Das geht nicht", rief die Frau zurück. "Es ist kein Gegenstand."

"Was ist es denn dann?"

"Bitte laß mich rein", bat sie erneut. "Bitte. Es ist wichtig."

Nadja erhob sich zögernd und ging langsam zur Türe. Sie überlegte, was nun richtig wäre. Wenn sich diese Frau nur Einlass erflehen wollte, um sie auszurauben, sollte sie die Türe besser nicht öffnen. Wenn sie aber tatsächlich nur mit ihr reden wollte, dann wäre es unbarmherzig, sie wieder wegzuschicken. Nadja stand ratlos an der Türe und starrte sie an, als könne sie durch sie hindurch, die Antwort auf ihre Fragen sehen. Noch immer wusste sie nicht was sie tun sollte.

"Wie kann ich sicher sein, dass sie mir nichts anhaben wollen, wenn ich sie hereinlasse?" fragte sie nach einer Weile.

"Du hast mein Wort."

Nadja legte vorsichtig die Hand auf die Klinke. "Ich weiß nicht", sagte sie laut vor sich hin.

"Keine Angst", versicherte ihr Brunhilde. "Du brauchst vor einer alten Frau keine Angst zu haben."

Langsam drehte Nadja den Schlüssel herum und drückte die Klinke herunter. Sie war überrascht, als sie nicht aufgestoßen wurde. Zögerlich öffnete sie die Tür. Vor ihr stand die Frau, die sie seit Wochen überall hin verfolgte.

"Danke", sagte sie.

"Was für ein Geschenk?" wollte Nadja wissen.

"Ein Name", war die Antwort.

Nadja starrte sie kurz ungläubig an, dann wollte sie die Türe wieder zuwerfen, doch die Frau war bereits in den Türrahmen getreten und verhinderte es.

"Was soll das?" schimpfte Nadja.

"Ich muss dir einiges dazu erzählen." Brunhilde drückte die Türe wieder auf und trat wie selbstverständlich ein. "Keine Sorge", versicherte sie ihr nochmals. "Ich will dir nichts anhaben, sondern dir nur diesen Namen schenken. Doch vorher muss ich dir einiges erklären."

"Auf diese Erklärungen bin ich gespannt", maulte Nadja. Sie ärgerte sich über die Frechheit dieser Frau und über ihre eigene Naivität. Sie dampfte zurück zu ihrem Sofa, ließ sich hinein plumpsen und blickte den Eindringling erwartungsvoll an.

"Nun?" forderte sie. "Erzählen sie mal."

Brunhilde setzte sich ihr gegenüber. "Es ist ein besonderer Name", begann sie und lehnte sich bequem zurück. "Er ermöglicht es dem Besitzer, wundervolles zu tun, nämlich Menschen zu helfen, die in Not sind."

Nadja sah sie ungläubig an. "Was ist das für ein Name?" fragte sie.

"Wenn ich ihn ausspreche, geht er unweigerlich in deinen Besitz über. Doch ich muss dir unbedingt vorher alles darüber erzählen, damit es dich nicht unerwartet trifft. Ich bin zu alt, um ihn weiter zu führen. Meine Reaktionen lassen nach. Ich muss immer damit rechnen, eines Morgens nicht mehr aufzuwachen. Daher will ich ihn weitergeben, bevor es zuspät ist. Und du bist diejenige, die ihn weitertragen soll."

"Warum gerade ich?" fragte Nadja dazwischen.

"Du bist die richtige dafür."

"Woher wollen sie das denn so genau wissen?"

"Ich habe dich beobachtet. Aber ich wusste es bereits von der ersten Begegnung an."

"So?" machte Nadja skeptisch. "Wie können sie so etwas beurteilen?"

"Ich beurteile nicht, ich weiß es." Die alte Frau lächelte freundlich.

"Woher?"

"Mein Gefühl sagt mir das."

"Kann es sich nicht vielleicht täuschen?"

"Es kann sich nicht täuschen. Das wirst du irgendwann selbst merken, wenn du selbst eine Nachfolgerin für dich suchst."

Wieder sah Nadja etwas ungläubig drein. Sie fühlte sich von dieser Frau veräppelt.

"Was wollen sie eigentlich genau von mir?" fragte sie deshalb.

"Ich heiße Brunhilde", antwortete die Frau statt dessen. "Das förmlich SIE kannst du weglassen." Sie machte trotz allem einen sympathischen Eindruck. Doch Nadja blieb skeptisch.

"Also gut, Brunhilde", sagte sie. "Was willst du eigentlich von mir?"

"Ich möchte, dass du meine Nachfolgerin wirst", antwortete sie mit einem Lächeln.

"Nachfolgerin von was?"

"Die den Namen nach mir trägt." Brunhilde ließ die skeptischen Fragen über sich ergehen und schien ihr alles genau erklären zu wollen. So holte sie tief Luft, bevor sie weiter redete. "Der Name ist der Schlüssel zu einer Pforte zwischen dieser Welt und einer anderen. Die Besitzerin wandert von einer zur anderen und hilft Menschen, die in der anderen Welt in Not geraten sind."

Spätestens jetzt hielt Nadja ihre Besucherin für verrückt. Sie setzte sich aufrechter.

"Aber ich muss dich warnen", fuhr Brunhilde fort. "Du darfst den Namen in dieser Welt nicht aussprechen. Nur in Gegenwart deiner Nachfolgerin, wenn es an der Zeit ist. Du darfst ihn nicht für deine eigenen Zwecke benutzen und dich nicht widersetzen, wenn er dich in die andere Welt schickt, oder wieder zurück bringt."

"Jetzt reicht es", schimpfte Nadja und erhob sich. "Bitte gehen sie."

Brunhilde blieb sitzen. "Du glaubst mir nicht", sagte sie mehr bestätigend.

"Absolut nicht." Nadja marschierte zur Wohnungstüre und wollte sie bereits öffnen.

"Warte", rief Brunhilde. "Wie kann ich dich davon überzeugen, dass ich die Wahrheit spreche? Ich weiß, es klingt verrückt, aber es gibt diese Welt tatsächlich. Und sie ist wesentlich schöner, als diese hier. Hier ist es unmenschlich und jeder kümmert sich nur um seine eigenen Probleme. Doch in der anderen Welt gibt es noch Menschlichkeit. Jeder braucht jeden. Du wirst es selbst erkennen."

"Nichts werde ich", rief Nadja erbost und riß die Tür auf.

Brunhilde blieb sitzen.

"Es entstehen für dich keinerlei Nachteile. Alles was von dir verlangt wird, ist dem Namen ein Leben zu geben. Du kannst, wie bisher weiterleben, ohne etwas ändern zu müssen. Niemand wird es bemerken. Nicht einmal dein Freund."

"Ich lasse es gar nicht erst soweit kommen", rief Nadja erregt. "Raus!"

Brunhilde sah sie enttäuscht an. "Weil viele so reagieren wie du, werden es immer weniger. Für die jungen Menschen in dieser Welt existiert nur noch ihr Leben, ihre Karriere, ihre Freuden und ihre eigenen Bedürfnisse. Keiner hat mehr Zeit für Fantasie und Abenteuer. Das sind eben Dinge, die in diese kalte Welt aus Beton, Chrom und Glas nicht hinein passen. Ich befürchte, bald wird es keine Ajola-Kriegerinnen mehr geben und die Menschen in der anderen Welt hoffen vergebens." Brunhildes Worte wurden beinahe flehend. Sie hob den Kopf und blickte Nadja unvermindert an. "Wie kann ich dich davon überzeugen?"

Nadjas Finger verkrampften sich um die Türklinke. Die Frau klang keineswegs verrückt. Alles was sie sagte, erschien als ob sie es tatsächlich erlebt hätte. Doch Nadja schüttelte den Kopf. Die Existenz einer anderen Welt, ließ sich mit ihrem klaren Verstand nicht vereinbaren. Diese Welt hier ist wirklich und nur diese existiert.

"Bitte Nadja", flehte Brunhilde. Sie erhob sich endlich aus dem Sofa und ging langsam auf sie zu. "Ich mache dir einen Vorschlag. Zurückgeben kannst du den Namen nicht mehr. Aber wenn es dir nicht gefällt, kannst du dich sogleich auf die Suche nach einer Nachfolgerin machen. Du musst auch nicht viel dafür tun. Sie läuft dir selbst über den Weg."

"Und wenn das Jahre auf sich warten läßt?" gab Nadja berechtigt zum Bedenken.

"Ich weiß nicht, wie lange es im Allgemeinen dauert. Als ich den Entschluss faßte, den Namen abzugeben, bin ich im nächsten Moment dir begegnet."

"Und dieser Zufall macht mich zu einem Glückspilz", maulte Nadja. Sie hätte die Frau am Liebsten mit Gewalt aus ihrer Wohnung geworfen. Doch sie sah noch sehr rüstig aus. Zweifellos hätte Nadja Mühe gehabt, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

"Ja", nickte Brunhilde. "Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass du es bist, der ich den Namen übergeben kann. Du bist selbstbewusst und lebensfreudig, hast Sinn für Extravagantes. Deine Phantasie ist noch nicht durch den Stumpfsinn des Alltages zunichte gemacht. Du kannst mir nicht Glauben machen, dass dich die Aussicht auf ein Abenteuer nicht reizt." Sie betrachtete Nadja erwartungsvoll. "Was hältst du nun von meinem Vorschlag?"

"Ich weiß nicht", gab Nadja ratlos von sich. Ihre Knöchel zeichneten sich weiß durch ihre Haut ab. Sie betrachtete ihre Knochen, als wären sie im Moment am Wichtigsten.

"Ich bin immerhin fair", bearbeitete Brunhilde das Mädchen weiter. "Ich könnte, wenn ich wollte, ihn einfach aussprechen, ohne dass du etwas dagegen tun kannst und dich deinem Schicksal überlassen. Aber ich tu es nicht. dass du mit deiner ganzen Kraft hinter dem Namen stehst, ist mir wichtiger, als ihn endlich abgegeben zu haben."

Endlich schloss Nadja langsam die Türe. In ihrem Kopf rangen Für und Wider in einem wilden Kampf miteinander.

"Was muss ich denn tun?" erkundigte sie sich vorsichtig. Obwohl sie immer noch nicht so recht daran glaubte, hielt sie es für das Beste, fürs Erste darauf einzugehen. Zum Einen, um mehr zu erfahren, sie war neugierig geworden. Zum Anderen, um endlich Brunhilde zufrieden zu stellen und sie so bald, wie möglich wieder loszuwerden.

Auf Brunhildes Gesicht erschien ein Lächeln.

"Das liegt alles in deinem Ermessen", erwiderte sie. "So wie du dich entscheidest, wird es geschehen." Sie nahm Nadjas Hände in die ihren. Nadja zuckte leicht zusammen und hätte ihre Hände wieder zurückgezogen, wenn da nicht ein kleines vertrautes Gefühl gewesen wäre. Brunhildes Hände waren irgendwie wie die Hände von Nadjas Mutter. Sie versprachen Schutz.

"Glaube mir", begann Brunhulde erneut. "Du wirst Gefallen daran finden. Ich hielt meine Vorgängerin ebenfalls für verrückt und willigte nur ein, um sie schnell loszuwerden. Doch dann gefiel es mir." Sie grinste. "Dir wird es mit Sicherheit ebenso ergehen."

Nadja glaubte nicht daran, obwohl Brunhilde das aussprach, was sie selbst dachte. Über die Berührung ihrer Hände, bemerkte Brunhilde, dass das Mädchen zu zittern begann.

"Solltest du irgendwelche Probleme haben, kannst du jederzeit zu mir kommen." Bei dem Wort Probleme sah Nadja hoch. "In welche Situation du auch immer geraten solltest, denke daran, dass dir niemals etwas passieren kann. Habe keine Angst, Nadja. Du wirst es schon schaffen." Bevor sie endlich zu ihrem Hauptanliegen kam, drückte sie Nadjas Hände sanft. "Darf ich ihn jetzt endlich aussprechen?" bat sie lächelnd.

Nadja nickte und hoffte, ihre Ohren würden das nun kommende nicht aufnehmen.

"Sara'ishtra ist der Name", kam Brunhilde endlich heraus.

Für Nadjas Ohren klangen diese Worte irgendwie vertraut, als ob sie sie schon irgendwann gehört hätte. Als der Name fiel, spürte sie einen kurzen stechenden, kaum spürbaren Schmerz in ihrem Kopf, der so bald darauf wieder vergessen war.

"Viel Glück, Nadja", wünschte Brunhilde, umarmte das Mädchen kurz und verschwand dann so überraschend schnell, als hätte sie es eilig gehabt, eine Verabredung nicht zu verpassen.

Sara'ishtra, sagte sich Nadja immer wieder. Dieser Name befand sich nun in ihrem Besitz. Sie überlegte, was alles auf sie zukommen könnte, als sie endlich bemerkte, dass Brunhilde längst verschwunden war. Sie schüttelte den Kopf. Es konnte doch nur Unfug sein. Es gab keine andere Welt und dieser exotische Name war nicht mehr als ein leeres Wort. Entschlossen, diese Angelegenheit schnellstmöglich wieder zu vergessen, schaltete sie den Fernseher ein und setzte sich wieder in ihr Sofa. Brunhilde war verrückt und Nadja glaubte sich klaren Verstandes genug, nicht an die Worte dieser Frau zu glauben. Dennoch ging ihr dieser Name nicht mehr aus dem Kopf. Selbst als sie in ihrem Bett lag und in die Dunkelheit starrte, musste sie an ihn denken. Wenn sie den Namen in ihrem Gedächtnis klingen ließ, hörte er sich so vertraut an, wie ihr eigener Name. Das kleine Schmunzeln verging Nadja, als sie an die Warnungen dachte. Aber ebenso schnell tat sie auch dies als Unfug ab. Einer Frau, die wirres Zeug von anderen Welten redete, sollte man nicht glauben. Genauso gut, sollte man auch ihre Warnungen nicht beachten. Nadja zog sich die Decke über den Kopf und versuchte einzuschlafen. Sie lauschte in die stille Nacht, zählte die Ticks und die Tacks ihres Weckers und hörte dem Knistern der Matratze zu. Diese Geräusche war sie gewohnt.

 

Sie stutzte daher, als neue dazu kamen. Das Zwitschern eines Vogels, der hoch oben am Himmel ein Liedchen sang, das Wispern des Windes im langen Gras, das Sirren von tausender kleiner Insektenflügeln. Statt dem Geruch von Waschmittel und Daunen, stieg ihr der Duft von betörenden Blüten, frischem Gras und feuchtem Erdboden in die Nase. Eine senkende Sonne brannte auf ihrer Haut und als sie die Augen öffnete und sich umsah, befand sie sich inmitten einer großen Wiese mit hüfthohem, wildwucherndem Gras und Pflanzen und Blumen, die ihr so exotisch erschienen, wie der Name, den sie nun trug. Vor Staunen blieb ihr der Mund offen. Träumte sie nur, oder war es das, wovon Brunhilde sprach, die andere Welt.

Vorsichtig bewegte sie sich und stellte fest, dass ihr dieser Körper gehorchte. Sie sah an sich hinunter und entdeckte an sich eine Kleidung, die sie nur aus Kostümfilmen kannte. Sara'ishtra trug Beinkleider aus fein gegerbtem Leder, an deren Aussenseiten ein Schlitz vom Knöchel bis zur Hüfte reichte. Sobald sie sich bewegte, gab dieser Schlitz ihr ganzes Bein frei, aber sobald sie still stand, umhüllte das Leder ihre Beine gänzlich und ließ nichts mehr erkennen, außer den in Ledersandalen steckenden Füßen. Über ihre Zehen krabbelten knapp drei Zentimeter große Ameisen. Sara'ishtra schüttelte ihre Beine aus, um die kitzelnden Insekten abzuschütteln. Sie fühlte sich irgendwie größer. Ihre Hände waren lang, schmal und drahtig. Ihre Arme muskulös. Etwas längliches, schweres drückte auf ihren Rücken und als sie danach fühlte, erkannte sie es als ein Schwert. Sie erschrak. Wo war sie nur?

Sie schloss die Augen und als sie sie wieder öffnete, fand sie sich immer noch in dieser Wiese. Erstaunt blieb Sara'ishtra lange Minuten stehen und betrachtete sich und die Umgebung, bis sie eine Rauchfahne am Horizont entdeckte. Wie von selbst bewegte sie sich darauf zu. Das lange Gras strich an ihren Beinen entlang und streichelte ihre Haut. Der betörende Duft von tausenden von Wildblüten umwob sie, wie eine dicke Parfümwolke. Solche Empfindungen konnten nur Wirklichkeit sein, leuchtete ihr ein. Brunhilde war nicht verrückt. Es gab diese andere Welt tatsächlich.

Sara'ishtra ging stetig auf diese Rauchfahne zu. Sie wusste nicht wieso, oder was sie dort erwartete. Ihr war aber vollkommen klar, dass sie dorthin gehen musste. Bald konnte sie das dem Rauch zugehörige Feuer entdecken. Am Ende der Wiese standen einige Häuser in Flammen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Dort waren Menschen in Not und sie war imstande ihnen zu helfen. Die Bewohner des kleinen Dorfes hasteten in heller Aufregung durcheinander. Sie liefen schreiend und flehend hin und her, versuchten ihr spärliches Hab und Gut aus den Flammen zu retten und mussten sich dabei vor den tödlichen Schlägen von finster dreinblickenden Männern in Acht nehmen. Andere rannten mit Speeren, Haken und Beilen bewaffnet den Räubern entgegen und versuchten mit ihren primitiven Waffen etwas auszurichten. Doch als sie die Besucherin entdeckten, blieben sie wie angewurzelt stehen, vergaßen die Suche nach einem Blutopfer oder die Rettung ihrer Habseligkeiten und starrten die Frau an. Ein paar Männer ließen ihre Waffen fallen und rannten davon. Weinende Frauen fielen auf die Knie und bedankten sich gen Himmel. Diejenigen, die vor Schreck und Entsetzen nicht weglaufen, oder auf die Knie fallen konnten, blieben stehen, oder wichen ängstlich zurück. Diese Reaktion auf ihr Auftreten amüsierte Sara'ishtra. Eine Frau ließ sich vor ihr auf die Knie fallen, küßte ihr die Füße und bedankte sich mehrmals für ihr Erscheinen. Sara'ishtra blieb stehen. Sie fragte sich, was hier wohl geschehen sei und weshalb sie hier war.

Die Frau zu ihren Füßen weinte bitterlich, als hätte sie eben das Schlimmste ihres Lebens erlebt. Ihre Kleidung hing in Fetzen, ihr Gesicht war aufgeschwollen, ihre Lippen von einigen harten Schlägen dick und blutig. Sara'ishtra beugte sich zu ihr nieder und versuchte sie zu beruhigen. Ihre eigene Stimme klang so fremdartig für sie, dass sie einen Moment verstummte. Doch sie faßte sich schnell wieder.

Als sie diese Welt betreten hatte, war sie in eine andere Hülle geschlüpft. Sie nahm sich vor, Brunhilde über diese andere Gestalt auszufragen. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Gestalt war, oder was sie zu bedeuten hatte. Ihr Erscheinen verursachte bei den Dorfbewohnern jedenfalls eine Reaktion, aus der sie schloss, dass ihnen diese Gestalt bekannt vorkam. Doch wer oder was war sie?

Das Schwert auf ihrem Rücken drückte hart auf ihre gebeugte Wirbelsäule. Dennoch machte ihr dieser Schmerz nichts aus.

Ein Dutzend Männer bauten sich plötzlich um sie herum auf. Sara'ishtra hob den Kopf und blickte in die finsteren Mienen von äußerst ungehobelten Gesellen, die schon allein wegen ihrer Bewaffnung nicht zu den Dorfbewohnern gehören konnten. Um ihre zahlenmäßige und zweifellos auch an Kräften gelegene Überlegenheit wohlwissend, schwangen sie grinsend schwere Schwerter und Äxte und zeigten mit gezückten Pfeilen und Speeren auf die Frau in ihrer Mitte. Die Aufmachung der Männer erinnerte an Wikinger.

Sara'ishtra erhob sich langsam. Zweifelsohne wollten sie etwas von ihr. Sie begann ängstlich zu zittern und verhielt sich nach außen hin dennoch ruhig. Am liebsten hätte sie sich zu der Frau vor ihren Füßen gesellt, aber dazu schien es zu spät zu sein. Seltsame Kopfschmerzen, oder eher ein Vorgefühl auf das Eintreffen von etwas Bösem, quälten sie zudem.

Die wimmernde Frau kroch aus Angst vor den unheimlichen Männern davon. Nun stand Sara'ishtra allein, umringt von siegesgewiss grinsenden und grimmig dreinblickenden Kämpfern. Sie wünschte sich, sie könnte augenblicklich in ihre Welt zurückkehren, aber nichts geschah.

Ein besonders gefährlich aussehender Krieger, mit langer Zottelmähne und ebenso verfilztem Rauschebart trat hämisch grinsend auf sie zu. In seinen Händen hielt er ein schwergewichtig aussehendes Breitschwert. Er schwang es lässig hin und her, als ob es nur eine Weidenrute wäre. Instinktiv faßte Sara'ishtra nach ihrer Waffe.

"Welche eine Überraschung", keuchte der Wikinger heißer. "Endlich gibt mir Eine von euch heiligen Huren die Ehre." Seine Augen, obwohl sie klein und rund, wie Kichererbsen waren und beinahe unter den buschigen Augenbrauen verschwanden, strahlten seine ganze Begeisterung über dieses Zusammentreffen aus. Der grinsende Mund entblößte zwei Reihen schwarzer Zähne. Sara'ishtra konnte den drohenden Kampf förmlich riechen. Sie vermutete, was nun kommen würde und was von ihr verlangt würde. Ihr inneres Zittern wurde stärker und sie bat verzweifelt darum, in ihre Welt zurückkehren zu dürfen. Doch es hatte niemand Erbarmen mit ihr. Auch wenn sie kurz die Augen schloss und sich hinfort wünschte, änderte sich nichts an ihrer Lage. Sie wollte davonlaufen, doch sie bewegte sich nicht. Statt dessen nahm sie ihre Waffe vom Rücken. Sie lag schwer in ihrer Hand und sie bezweifelte, dass sie damit parieren konnte. Zu ihrer Überraschung jedoch, hob sie sie mühelos hoch und hielt erfolgreich entgegen, als der grobe Kerl auf sie losstürmte. Sara'ishtras Herz pochte wild. Erneut wurde sie von sich selbst überrascht. Sie staunte über ihre Fähigkeit sich graziös und wendig zu bewegen. Ihre Beine führten Schritte, wie von selbst aus. Ihre Arme wusste genau, wo sie das schwere Eisen plazieren sollten und ihr Körper bog, streckte, drehte und wendete sich, als würde er den lieben langen Tag nichts anderes tun. Brunhilde hatte ihr versichert, dass gleichgültig in welche Situation sie geriet, ihr niemals etwas passieren konnte. Sie schöpfte daraus etwas Mut. Wenn es stimmte, könnte sie sich aus jeder Situation heraus retten. Sie hoffte es inständig.

Dem bärtigen Haudegen war das Grinsen längst vergangen. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er kniff die Lippen zusammen und kämpfte verbissen um einen Sieg. Es war nicht so leicht, wie er es sich vorgestellt hatte. Obwohl Sara'ishtra eine eher zierliche Statur besaß, saßen unter ihrer Haut wahre Kraftpakete, die darauf trainiert waren, lang anhaltend angespannt zu sein und ausdauernd die nötigen Reserven freizugeben. Ein solches Können und eine solche Kondition waren ungewöhnlich für eine Frau. Aber schließlich war sie eine Ajola-Kriegerin und der Bärtige hatte sie unterschätzt. Wenn er nicht aufpaßte, schälte sie ihm die Haut vom Fleisch. Eine Niederlage stand ihm kurz bevor. Um es vielleicht doch noch für sich zu entscheiden, brüllte er nach seinen Männern, die nur darauf gewartet hatten, in den Kampf eingreifen zu dürfen. Doch auch dies konnte Sara'istra nicht aus der Fassung bringen. Sie änderte ihre Taktik, verkürzte die Atempausen auf das Notwendigste und bewegte sich wie eine Kampfmaschine in Vollaktion. Erst jetzt bekam sie den Schmerz ihrer überanstrengten Muskeln zu spüren. Es war jedoch ein gewohntes Gefühl für sie. Bald lag die Hälfte der Männer erschlagen am Boden. Der Rest verlor immer mehr den Kampfesmut. Immer wieder angefeuert durch die Schreie ihres Anführers stürzten sie sich stets aufs Neue auf die Frau, hatten aber keine Chance. Als besäße sie die Kraft von zwanzig starken Männern und die Ausdauer eines wütenden Stieres, kämpfte sie und erschlug einen nach dem anderen. So stand ihr bald der vollbärtige Mann erneut allein gegenüber. Sein Mut war bedeutend gesunken, das Glitzern in seinen Augen längst verschwunden und sein Schwert vollführte nur noch müde Bögen. Er keuchte wie ein hochträchtiges Rindvieh und brachte so unartikulierte Schreie, wie ein Neandertaler hervor. Er war am Ende und sah seine nahe Niederlage deutlich vor Augen. Verzweifelt, die drohende Verletzung seines Stolzes verhindernd, kämpfte er, bis ihm die schwere Waffe aus den kraftlosen Händen geschlagen wurde. Er schrie auf, fletschte die Zähne und wollte sich auf sie stürzen, um sie mit seinen blosen Händen umzubringen. Sara'ishtra holte zum letzten Schlag aus und trennte ihm den rechten Arm, knapp unter der Ellenbeuge ab. Sie weigerte sich ihn zu töten. Er war ihr auch mit Waffe unterlegen gewesen. Sie kam zu der Einsicht, dass sie sich von ihm in Nichts unterschied, wenn sie ihn nun tötete. Zufrieden mit sich, nahm sie dem wimmernden Mann das Versprechen ab, niemals mehr etwas Unrechtes zu tun. Ob er sich daran hielt, konnte sie nicht sagen. Sollte er sein Versprechen eines Tages brechen, würde er irgendwann erneut einer Ajola-Kriegerin gegenüberstehen. Dann würde er an die Begegnung mit Sara'ishtra erinnert werden und hoffentlich noch eine Strafe erteilt bekommen.

Als sie von ihm abließ, stürmten die Dorfbewohner freudig auf sie ein, umarmten sie, schüttelten ihr dankbar die Hände und tanzten um sie herum. Denn Dunnar Bär, so hieß der nun einarmige Bärtige, machte ihnen schon eine Weile das Leben schwer. Er raubte ihre Ernten, brannte Haus und Hof nieder und ermordete und verschleppte Dorfbewohner. Sara'ishtra hatte sie von einer Plage befreit. Ihr zu Ehren veranstalteten die glücklichen Menschen ein Fest. Es wurde getanzt, gesungen. Alles was den Bewohnern an Eßbarem und Trinkbarem übriggeblieben war, wurde aufgetischt und ihrem Ehrengast vorgesetzt. Sara'ishtra wusste nicht wie lange sie noch in dieser Welt verweilen durfte. Sie willigte trotzdem ein, als ihr eine innere Stimme dazu riet. Der Kampf hatte sie hungrig gemacht.

 

Ein langanhaltendes lautes surrendes Geräusch riß sie aus ihrem schönen Traum. Nadja fuhr hoch und starrte den Wecker an, als hätte sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben gehört. Für einen endlos langen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie sah sich um und erkannte ihr Schlafzimmer. War es nur ein Traum gewesen?

Im Zeitlupentempo schlug sie die Decke auf. Aber als sie erneut auf den Wecker sah und die Uhrzeit erkannte, verfiel sie wieder in ihre gewohnte morgendliche Hektik. Sie sprang aus dem Bett und eilte ins Bad. Ihr erster Blick galt ihrem Spiegelbild. Doch sie wurde enttäuscht. Das was ihr so entsetzt entgegen starrte, war sie selbst, Nadja. Die exotischen, dunklen Augen, dieses hochwangige, schöne Gesicht, die schwarzen, dichten Haare, die vollen dunkelroten Lippen, all das war verschwunden. Alles war weg. Nur noch sie, Nadja, dieses unscheinbare, graue Pflänzchen war geblieben. Sie war wieder sie selbst. Oder war es doch nur ein Traum gewesen?

Nadja schüttelte den Kopf. Alles was sie erlebt hatte, war so wirklich gewesen. Der Duft der Blüten, das Streicheln des vorbei streichenden Grases, der Kampf mit Dunnar Bär, der Schmerz ihrer Muskeln, das Gesicht im Wein. Es musste Wirklichkeit gewesen sein. Doch nein. Nadja blickte ihr immer noch aus dem Spiegel entgegen.

"Blödsinn", schrie sie sich selbst an, drehte den Wasserhahn der Dusche auf und brauste sich eiskalt ab. Nadja war fest entschlossen diesen seltsamen Traum zu vergessen.

Doch immer wieder wurden ihre Gedanken darauf zurück gelenkt. Wenn Gläser auf einander klirrten, sah sie erschrocken hoch und dachte einen Schwertkampf zu sehen. Plapperten im Radio mehrere Stimmen durcheinander, wähnte sie sich auf dem Fest der Dorfbewohner. Je öfter ihr dies passierte, desto mehr zweifelte sie an ihrem Verstand. Sie musste unter Leute und mit eigenen Augen sehen, dass sie in ihrer Welt war. Nadja schüttelte den Kopf. Wenn sie an die andere Welt und an diese dachte, fand sie sich in ihrem seltsamen Traum gefangen.

Sie hatte vor Richard zu besuchen. Doch schon im Treppenhaus verwarf sie diese Idee und ging in ihre Wohnung zurück.

"Guten Abend", sagte eine Stimme hinter ihr.

Nadja fuhr herum. "Was soll das?" schrie sie Brunhilde an. "Mit welchem Trick hast du mich verhext?"

Brunhilde ließ sich durch Nadjas Erregung und ihrer lauten Stimme nicht beeindrucken. Sie lächelte sanft.

"Beruhige dich", sagte sie. "Wenn du mit mir reden willst, stehe ich zur Verfügung." Brunhilde blieb ruhig.

"Du hast mir einiges zu erklären." Nadja schloss die Türe wieder auf und schob Brunhilde in die Wohnung. Als sie allein waren, konnte sich Nadja nicht mehr zurückhalten.

"Das war kein Traum, was ich heute Nacht erlebt hatte", brüllte sie los.

Brunhilde schüttelte nur lächelnd den Kopf.

"Was war das?" schimpfte Nadja.

"Du erinnerst mich irgendwie an mich selbst. Als ich damals den Namen bekam, reagierte ich genauso. Ich glaubte es ebenfalls nicht, bis ich es selbst erlebt habe. Ich starb beinahe vor Angst und hätte nach meiner Rückkehr meine Vorgängerin am Liebsten umgebracht." Brunhilde grinste frech.

Nadja schnaubte nach Luft.

"Was soll das ganze?" fragte sie nach einer Weile und ließ sich in einen Sessel fallen.

"Du bist nun eine Ajola-Kriegerin", erklärte Brunhilde in aller Ruhe und setzte sich neben sie. "Bitte verzeihe mir, wenn ich dir nicht gleich alles erzählt habe. Doch ich befürchtete, dich dann zu verlieren. Du brauchst keine Angst zu haben, Nadja. Dir kann nichts passieren." Sie legte ihre Hand freundschaftlich auf Nadjas Schulter. Diese ließ mit sich geschehen. Nadja wusste nicht mehr, wie sie reagieren sollte. Einerseits hatte ihr dieser Ausflug gefallen, obwohl sie anfänglich vor Angst schier zerflossen war. Andererseits, dies nun ihr Leben lang tun zu müssen, das behagte ihr nicht sonderlich. Sie wollte plötzlich mehr wissen.

"Was ist das, eine Ajola-Kriegerin?" fragte sie deshalb.

Brunhilde lächelte zuversichtlicher. "Für die Menschen in der anderen Welt ist sie eine Botin des Friedensgottes. Es gibt Tempel ihm zu Ehren. Solltest du irgendwann einmal die Gelegenheit haben, dann besuche einen solchen. Es ist wie heimzukehren in den Schoß deiner Mutter." Brunhilde geriet ins Schwärmen. "Es ist ein wundervolles Gefühl, wenn du Menschen auf diese Art aus ihrer Not helfen kannst." Sie sah Nadja fragend an.

"Wo ist diese andere Welt?" wollte Nadja wissen.

"Ich weiß es nicht", schüttelte Brunhilde leicht den Kopf. "dass es sie gibt, ist wichtiger. Wem hast du denn auf die Finger geklopft?"

"Dunnar Bär", antwortete Nadja bereitwillig.

Auf Brunhildes Gesicht huschte ein freches Grinsen. "Hat es ihn endlich erwischt, dieses Ungeheuer. Ich wünschte mir schon seit langem, ihn in die Finger zu kriegen. Doch es sollte nicht meine Tat werden." In ihren Worten klang Neid mit. "Er muss es auf die Spitze getrieben haben, dass die armen, notleidenden Leute endlich erhört wurden." Sie tätschelte Nadjas Schulter. "Du kannst dir sicher denken, welchen Gefallen du diesen Leuten getan hast."

Nadja nickte.

"Geht das nun jede Nacht so?" wollte sie wissen.

Brunhilde zog ihre Achseln hoch. "Je nachdem", antwortete sie. "Es geschieht aber nur, wenn du längere Zeit absolut ruhig bist. Also kurz vor dem Einschlafen oder während des Schlafes. Es wird dich nicht in Schwierigkeiten bringen."

Nadja lächelte schwach.

"Wie ist es möglich, dass ich so gut kämpfen kann?" fragte sie.

"Das bist nicht du, die kämpft, sondern sie. Sie besitzt die Erfahrung von vielen Generationen und sie ist unbesiegbar. Also, was auch immer passiert, der Sieg ist stets ihrer. Du bist nur ihre Lebenskraft. Aber ohne dich ist sie nicht mehr, als ein Name. Aus dir schöpft sie all ihre Kraft, die sie braucht."

"Ich verstehe das nicht ganz", wand Nadja ein. "Existiert sie nun wirklich, oder nicht?"

"Die wahre Ajola-Kriegerin ist vor vielen Jahren gestorben. Sie vermachte all ihr Können und ihren Körper diesem Friedensgott, dem sie auch zu ihren Lebzeiten diente. Du bist der Geist, der diesem Erbe zum Leben verhilft."

Nadja starrte Brunhilde entgeistert an. Das eben gehörte überstieg etwas ihr Fassungsvermögen. Sie war in einer Welt aufgewachsen, in der nur die realen, die sichtbaren Dinge existierten. Nun wurde sie mit einem Mythos konfrontiert, der aus einem phantastischen Roman stammen könnte.

"Gibt es so etwas wirklich?" stammelte sie.

"Alles ist möglich", erwiderte Brunhilde lächelnd. "Das ist ja das Schöne daran."

 

Nadja fand mit der Zeit tatsächlich Gefallen an ihrer neuen Aufgabe. Sie rettete Dörfer vor Plünderungen, Kinder aus schier ausweglosen Situationen, in die sie sich meist selbst gebracht hatten, Mittellose vor dem endgültigen Hungertod, schlichtete Streitereien, klopfte allzu Eifrige auf die Finger und brachte verirrte Wanderer auf den rechten Pfad zurück. dass sie, außer mit Brunhilde, mit niemandem über ihre Abenteuer reden konnte, fand sie eigentlich schade. Gern hätte sie Anderen von dieser so ganz anderen Welt erzählt. Aber sie wusste auch, dass ihr niemand glauben und sie für verrückt halten würde.

Bis auf ein einziges Mal, wurde sie stets Nachts, kurz vor dem Einschlafen auf die Reise geschickt. Dieses eine Mal, war während des Sonnenbadens am Baggersee, wo sie vor sich hindöste. Als sie zurückkehrte, erkannte sie freudig, dass obwohl viele Leute um sie herum waren, niemand etwas gemerkt hatte. Sie war nur eben eingeschlafen.

Niemand bemerkte etwas von ihrem Doppelleben, auch Richard nicht. Obwohl ihm eine gewisse Veränderung an ihr nicht entgangen war, auf die er sie eines Tages ansprach. Doch er vermutete eher ein psychisches, oder ein typisches Frauenproblem. Er bot seine Hilfe an, falls sie sich aussprechen wollte, da er sich Sorgen um sie machte. Je aufdringlicher Richard wurde, je härter er darauf drängte, dass sie sich ihm anvertraute, desto mehr dachte Nadja über die Bedeutung ihrer Beziehung nach. Sie stellte nach einer Weile fest, nach den vielen Jahren, in denen sie schon miteinander gingen, war vieles zur Gewohnheit geworden. Zum Alltag, dem sie sich einfach hingaben, ohne viel darüber nachzudenken. Ob sie irgendwelche Ausflüge zusammen unternahmen, Essen gingen, oder Abends fernsahen, sogar wenn sie miteinander schliefen. Es war alles alltäglich, Dingen die sie schon tausendmal getan hatten. Nadja versuchte daher etwas Neues in ihre Beziehung zu bringen. Doch Richard verstand dies falsch.

Ein Streit entbrannte. Da Nadja nicht den Mut besaß, ihr Leben, diese Routine, durch das Ende ihrer Beziehung durcheinander zu bringen, gab sie nach. Wie so oft fand die Versöhnung im Bett statt.

Während Richard gleich danach eingeschlafen war, lag sie noch lange wach. Sie fühlte sich selbst betrogen. Wieder zählte sie das Ticken des Weckers, lauschte Richards Atemzügen und dem Knistern der Matratze. Sie wünschte sich sehnsüchtigst in die andere Welt gleiten zu können, doch sie war noch zu aufgewühlt und ihre Gedanken noch zu erregt. Daher zwang sie sich zur Ruhe. Aber je mehr sie sich beruhigen wollte, desto schneller ging ihr Puls. Tränen stiegen in ihre Augen. Sie stellte sich vor, sie läge inmitten einer großen Wiese, die Sonne brannte auf sie hernieder, Bienen, Schmetterlinge und Hummeln flatterten um sie herum. In ihre Nase stieg der Duft von tausenden von Blüten. Sie roch das Gras und die Erde, auf der sie lag. Unter ihr erzitterte der Boden von den Regenwürmern, Wühlmäusen und Maulwürfen, die sich durch ihn hindurch bohrten. Abgestorbene Wurzeln und trockenes Gras piekte sich durch den Stoff ihrer Kleidung und bohrte sich angenehm schmerzhaft in ihre Haut, und sie hörte das Rauschen des Sommerwindes, der fast liebevoll die langen schlanken Grashalme streichelte und sie sanft hin und wer wiegte. Aber auch Stimmen drangen an ihr Ohr.

Sara'ishtra öffnete die Augen und musste blinzeln, als ihr grelles Licht entgegen schlug. Als sie erkannte, dass sie endlich in der ersehnten anderen Welt war, setzte sie sich freudig auf. Doch ihre Freude währte nur von kurzer Dauer. Mindestens zehn Schwertspitzen zeigten urplötzlich auf sie. Es hätte ihr mit Sicherheit nicht viel Mühe gekostet, sich dieser Männer zu entledigen, obwohl sich ihre Waffe noch auf ihrem Rücken befand. Sie entschloss sich jedoch, sich gefangen nehmen und fesseln zu lassen. Bisher hatte sie sich noch aus jeder Situation retten können und sie war sich sicher, dass sie einen Ausweg fand, wenn es brenzlig wurde. Sie machte sich deswegen keine Sorgen und hielt still, als man ihr die Waffe abnahm und sie fesselte.

In den Gesichtern der Männer war deutlich die Freude darüber zu erkennen, eine Ajola-Kriegerin überrascht und überwältigt zu haben. Sie pikten die Gefangene mit ihren Schwertspitzen und schubsten sie unsanft vorwärts. Mit derben Witzen und Sprüchen machten die Männer ihre Freude lauthals kund. Sara'ishtra erfuhr so, dass ihr Zusammentreffen nur ein Zufall war. Die Männer waren im Begriff auf Raubzug zu gehen, als sie buchstäblich über die Frau stolperten. Mit dem größten Fang, den sie je erbeutet hatten und erbeuten konnten, kehrten sie zurück in ihr Lager. Gut gelaunt, lachend und Sprüche klopfend hüpften sie um ihre Gefangene herum, piesackten sie nicht nur mit Worten und malten sich im Geiste die Belohnung aus, die sie erwarten würde.

Die Männer führten ihren Fang in eine Schlucht, in der vor vielen Jahren einmal Wasser geflossen, den Weg gebahnt und die Steine ausgewaschen haben mag. Jetzt war der Fluss ausgetrocknet und die vom Wasser geschliffenen Nischen bildeten einen hervorragenden Unterschlupf für eine Räuberbande.

Sara'ishtra schätzte die Zahl der Männer ab, die neugierig aus ihren Löchern gekrochen kamen, auf mindestens zweihundert. Wie viele sich noch in den Höhlen verbargen, vermochte sie nicht zu sagen. Die Männer scharrten sich mit staunenden Gesichtern, derben Bemerkungen und mehr oder weniger ehrlich gemeinten Beglückwünschungen um die so erfolgreichen Jäger. Sie zupften an der Beute herum, als wollten sie sich ein kleines Stückchen ihres Anteiles bereits jetzt nehmen, stießen ihr Ellbogen und Dolchspitzen in die Rippen und behandelten sich auch sonst nicht sonderlich sanft. Die eine oder andere zweideutige Bemerkung, ließ das Blut der Frau in Wallung geraten. Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben und abzuwarten.

Die vom Jägerglück beseelten Räuber hatten alle Hände voll zu tun, ihren Fang in einem Stück vor ihrem Anführer abzuliefern. Sie strahlten beinahe mit der Sonne um die Wette und warfen sich verheißungsvolle Blicke zu, als sie endlich vor ihrem Herrn standen.

Der Anführer dieser Räuberbande war mehr als hocherfreut über seine neue Gefangene. Ein breites Grinsen verzog sein Gesicht zu einer häßlichen Fratze. Obwohl sie wie Tiere in Höhlen hausten, auf dem harten Steinboden schliefen und direkt vom Bratspieß aßen, war ihr Anführer wie ein hoher Herr gekleidet. Sein zerfurchtes und von zahlreichen Schlägen demoliertes Gesicht paßte so gar nicht zu seiner Kleidung. Er trug viel Schmuck zur Schau und stolzierte wie ein aufgeplusterter Gockel hin und her. Als er Sara'ishtra entdeckte, legte er sich noch mächtiger ins Zeug.

"Welch eine Augenweide in meinem bescheidenen Heim", rief er freudig und machte eine galante Verbeugung, die mangels Übung etwas zu steif ausfiel. Er übertünchte dies mit seinem breiten Grinsen. "Welch glücklichem Ereignis habe ich es zu verdanken, dass mich eine von euch besuchen kommt?" Er schien vergessen zu haben, dass sie von seinen Männern gefangen genommen wurde. Die Männer sahen sich um ihre Belohnung geprellt und blickten sich mit finsteren Mienen an. Doch keiner wagte zu protestieren.

Ihr Hauptmann übersah dies mit einer selbstsicheren Geste und widmete sich nur seinem unfreiwilligen Gast. "Ich sollte eigentlich all meine Unternehmungen abblasen", fuhr er nachdenklicher fort. "Denn wenn eine von euch auftaucht, ist Ärger angesagt." Er blieb vor ihr stehen und grinste sie breit an. Seine Augen begutachteten die Frau vor ihm mit magischer Ausziehungskraft.

Sara'ishtra machte sich nicht die Mühe seine Gedanken zu erraten. Sie kannte sie ohnehin.

"Sag mir, schönes Kind", begann er erneut und trat näher an sie heran. "Was suchst du in dieser Gegend?"

Auch wenn sie es gewusst hätte, sie würde es ihm nicht sagen. Rauhe Finger strichen über ihr Gesicht. Sie zwang sich, still zu halten. Mit den Händen auf den Rücken gefesselt, fiel es auch ihr schwer, sich zu befreien. Sie war sich aber sicher, dass irgendwann eine passendere Gelegenheit kommen würde.

"Ärger machen", antwortete sie und erschrak über ihre eigene Stimme, wie immer, wenn sie das erste Mal nach dem Wechsel der Welten, ihre andere, so ganz andere, als ihre eigene Stimme hörte, die weit weniger fester und entschlossener klang. Doch sie faßte sich schnell und fügte etwas ihren Worten, die sie so abrupt abgebrochen hatte hinzu, um sich keine Schwäche zu geben. "Wie du bereits gesagt hast." Sie hob energisch ihr Kinn und entzog ihm dadurch ihr Gesicht.

Sein breites Grinsen verschwand für einen kurzen Moment. Doch auch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und zog bald wieder den Mund breit.

"Dann sollte ich mir also Sorgen machen", lachte er und forderte seine Leute auf, es ihm gleich zu tun. Noch während sie höhnten und kicherten, sprach er weiter.

"Ich glaube, in deiner Lage wird es dir nicht leicht fallen Ärger zu machen. Den Ärger könntest eher du bekommen." Er legte seine Finger, wie eine Schraubzwinge um ihr Kinn und riß sie unsanft zu sich herum. Seine gute Laune versiegte schlagartig und sein Gesicht verzog sich zu einer gräßlichen und faltenreichen Grimasse, aus der böse funkelten Augen blickten. Mit dem plötzlichen Umschwung seiner Stimmung, verstummte auch das Gelächter seiner Gefolgsmänner. Tödliche Stille trat ein. Der eiserne Griff um ihr Kinn schmerzte, doch Sara'ishtra hielt still.

"Wie dumm von dir, dich erwischen zu lassen", bemerkte er höhnisch.

"Vielleicht war es Absicht?" preßte Sara'ishtra aus ihrem zusammengepreßtem Kiefer hervor.

"Ob Absicht, oder nicht, du machst mir keinen Strich durch die Rechnung", drohte er.

Sara'ishtra entriß ihm mit Gewalt ihr Gesicht. Es schmerzte und rote Striemen zeigten sich bald darauf dort, wo sich kurz zuvor die Zangen angesetzt waren. Sie zwang sich es zu ignorieren.

"Abwarten", gab sie selbstsicher von sich.

Der Anführer war nicht bereit, das Quälen aufzugeben. Er holte sich sein Opfer zurück. Stärker denn je drückten die harten Schraubzwingen auf ihre Kieferknochen. Sara'ishtra widerstand der Versuchung, vor Schmerz aufzuschreien. Ein weiterer Versuch, sich zu befreien, mißlang.

"Du gehörst jetzt mir, meine Teuerste", zischte er, nahe vor ihrem Gesicht. "Aus diesem Grund werde ich bestimmen, was du zu tun hast und was nicht. Hast du das verstanden?"

Wenn Sara'ishtra ihre Lippen auseinander gebracht hätte, hätte sie ihn angespuckt. Er widerte sie an und am liebsten würde sie wieder in ihre Welt zurückkehren. Auch wenn sie sich dafür erneut in Richards Arme begeben musste.

Seine Frage verlangte eine Antwort. Selbst ein kurzes Zucken der Augenlider hätte ein "Ja" bedeutet. Deshalb versuchte sie völlig bewegungslos zu sein.

"Hast du das verstanden?" wiederholte er eindringlicher. Doch auch diesmal erhielt er keine Antwort. "Ich werde schon dafür sorgen, dass du es verstehst", zischte er und zog ihr Gesicht noch näher. Eine Gänsehaut lief über ihren Körper, als sich seine Lippen hart auf die ihren drückten. Ihre Zähne drohten dem Druck nachzugeben. Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihre Hände fesseln ließ. Die Fesseln hielten sie von ihrem dringenden Bedürfnis ab, noch weitere Furchen in sein Gesicht hineinzukratzen.

Er löste sich von ihr ebenso plötzlich, wie er sie sich genommen hatte.

"Du wirst es noch genießen", flüsterte er beinahe. "Es ist wesentlich besser, als in der Gegend umher zu reisen und Ärger zu machen." Dann stieß er sie hart von sich. Sie fiel in die Arme der Männer, die sie gefangen genommen hatten. "Ihr Idioten, habt sie mir angeschleppt", brüllte er plötzlich seine Männer an. "Dann sorgt gefälligst auch dafür, dass sie keine Dummheiten anstellt."

Abrupt drehte er sich um und überließ die Männer sich selbst. Verwirrt, verärgert und Zähne knirschend zerrten sie ihre Gefangene hoch und schleppten sie durch zahlreiche Höhlen und ausgewaschenen Nischen. Weit abseits von ihren Kameraden, zwangen sie sie auf den Boden und banden sie an einem Pferdepflock fest. Den ganzen Weg dorthin stritten und maulten sie miteinander. Sie schalten sie, sie nicht gleich getötet zu haben und verwünschten den Moment, indem sie die Kriegerin entdeckten. Nun war es ihnen unmöglich sie zu töten, denn ihr Anführer interessierte sich für die Frau in der Kriegerin. Äußerst mißmutig, um ihre Belohnung geprellt, brüllten sie herum und ließen sich an harmlosen Büschen und Felsbrocken aus. Wenn es Sara'ishtra nicht in eine noch unangenehmere Situation gebracht hätte, hätte sie lauthals losgelacht. So amüsierte sie sich im Stillen und versuchte jeden einzuschätzen. Dabei fiel ihr einer besonders auf. Er wurde von den anderen Angelo genannt, war von kräftiger Statur und besaß dunkle Augen in einem weich geschnittenem Gesicht, das eher zu einem Familienvater, denn zu einem Räuber paßte. Anders als seine Kumpanen setzte er sich in eine Ecke und ließ seine Wut in aller Ruhe ausdampfen. Kein lautes Wort war über seine Lippen gekommen, keine wüste Beschimpfung. Still und scheinbar ganz in sich gekehrt, brütete er vor sich hin. Die anderen ließen ihn in Ruhe und kümmerten sich nur um ihren Frust.

Als er bemerkte, dass er beobachtet wurde, sah er hoch und fing Sara'ishtras Blick ein. Zum ersten Mal, seit sie die Ajola-Kriegerin war, verspürte sie eine gewisse Verlegenheit. Sie blinzelte, wie ein kleines Kind das bei einer verbotenen Handlung ertappt wurde und wand sich ab. Doch sie spürte Angelos Augen noch lange auf ihr lasten. Es war ihr irgendwie peinlich und doch gefiel es ihr.

Ihr heutiger Fang hatte ihnen keine Einkünfte eingebracht. Außer Ärger, war nichts für sie abgefallen. Sie mussten Erfolge vorweisen können. Entweder etwas Eßbares, oder wertvolle Dinge anschleppen. Aber sie hatten nichts. Nichts außer einem lästigen Klotz am Bein, auf den sie sogar noch aufpassen mussten. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als nochmals auszuziehen und auf Fang zu gehen. Aber Einer musste zurückbleiben und die Gefangene bewachen. Nach langen DisKussionen entschieden sie sich für Angelo. Dieser hatte sich zwar ohnehin mehr oder weniger freiwillig zur Verfügung gestellt, doch ohne Debatte schien dies nicht abgehen zu können. Schließlich musste ihrer Räuberehre gerecht werden. Angelo verzichtete nicht gerne auf seinen Anteil, auf den er nur ein Recht besaß, wenn er beim Fang mitgewirkt hatte, doch er blieb im Lager.

Seine Kumpanen vermuteten etwas anderes, hinter der plötzlichen Bereitwilligkeit. Ihnen konnte es nur Recht sein, solange sich ihr Anteil dadurch vergrößerte.

Sara'ishtra wusste nicht, ob es gut, oder schlecht war, mit ihm allein zu bleiben. Der Gedanke daran bereitete ihr Unbehagen und Neugierde zugleich. Er war anders als seine Kumpanen, wesentlich ruhiger und gefaßter. Sein Verhalten wirkte in dieser Umgebung deplaziert. Er paßte irgendwie nicht zu ihnen.

Nachdem seine Freunde verschwanden, setzte er sich in die Ecke zurück und schien sich für nichts mehr, nicht einmal mehr für seine Gefangene zu interessieren. Er machte es sich bequem, schloss die Augen und gedachte anscheinend ein Nickerchen zu machen. Sara'ishtra beobachtete ihn dabei. Sie fühlte sich von ihm seltsam magisch berührt. Ein Gefühl, das sie schon seit langem nicht mehr gespürt hatte. Ein Gefühl, das ihr so willkommen war, wie ein Gewitterregen nach einer langen Dürre, und vor dem sie so viel Angst hatte, wie ein junges Mädchen vor dem ersten Kuss. Dieser Räuber erweckte in ihr das Bedürfnis, sich an seine Schulter zu lehnen und sich von ihm umarmen zu lassen. Ein Bedürfnis, das so stark wurde, dass sie ihre Augen nicht mehr von ihm nehmen konnte. So passierte es, dass sich ihre Blicke erneut trafen, als Angelo seine Augen öffnete und sie unvermindert ansah. Erneut fühlte sie sich bei etwas Verbotenem ertappt. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und zwang ihren Kopf, sich zur Seite zu drehen.

"Es war also Absicht gewesen", brach er das Schweigen. Sara'ishtra weigerte sich zu antworten, zudem war sie nicht fähig dazu. "Und wir waren so dumm, darauf hereinzufallen", sprach er weiter. "Es gehört uns eigentlich nicht anders." In seiner Stimme klang deutlich Selbstverachtung mit. "Mit ein wenig Überlegen hätten wir es eigentlich merken müssen." Er fluchte leise vor sich hin.

Sara'ishtra überließ ihn sich selbst und kümmerte sich um ihre Fesseln. Sie musste vorsichtig sein und durfte sich nichts anmerken lassen.

"Wie heißt du?" wollte Angelo plötzlich wissen.

Sara'ishtra überlegte kurz, ob sie ihren Namen preisgeben sollte. Doch da sprudelte er bereits wie von selbst über ihre Lippen.

"So?" machte Angelo, als hätte er eine Sache lediglich bestätigt haben wollen. Er zog eine Augenbraue hoch und betrachtete sie kritisch. "Ich hatte schon einmal eine Begegnung mit einer Ajola", erzählte er bereitwillig.

Diesmal machte Sara'ishtra "So?"

Angelo starrte vor sich ins Leere und war plötzlich nicht mehr bereit, mehr aus seinem Leben zu berichten. Die Kriegerin schloss daraus, dass es kein sehr schönes Erlebnis gewesen sein konnte. Die Neugierde ließ sie weiter nachhaken.

"Was ist passiert?" wollte sie wissen.

Langsam hob er den Kopf und betrachtete sie nachdenklich.

"Was willst du hier?" fragte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Sara'ishtra wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie glaubte, sie hätte sich selbst in diese Welt befördert, zu einem Zeitpunkt, zudem sie nicht hier zusein brauchte. Es gab also nichts für sie zu tun, obwohl sie sich sicher war, dass der Anführer der Räuberbande, etwas im Schilde führte.

"Es kommt darauf an, was er vor hat", erwiderte sie.

"Wer?" hakte Angelo nach.

"Der widerliche Kerl von vorhin."

Angelo lachte kurz auf. "Du bist die erste Frau, die Lux Barris für widerlich hält."

"Dann wurde das höchste Zeit."

Angelos Miene erhellte sich etwas. Seine Augen blickten nicht mehr so finster drein und um seine Lippen spielte sogar ein kleines Schmunzeln. "Laß ihn das nicht hören", riet er. "Das würde seinen Mannesstolz verletzen. Du könntest dann tatsächlich Ärger bekommen."

"Ich habe bereits weitaus stärkere Männer bezwungen", gab Sara'ishtra leichthin zurück. "Lux Barris wird keine Schwierigkeiten darstellen."

"Du bist dir ja sehr sicher", stellte er amüsiert fest.

"Wieso sollte ich nicht?"

"Du bist eine Gefangene, gefesselt und ohne Waffen." Sein Blick wanderte hinüber zu ihrem Schwert, das gelangweilt an einer Wand lehnte.

"Das wird nicht immer so sein." Sara'ishtra hatte es geschafft, ihre Fesseln ein wenig zu lockern, so dass sie ihr rechtes Handgelenk etwas drehen konnte. Nun machte sie sich daran den Knoten zu lösen.

"Ist das Schwert nicht zu schwer für eine Frau?" wollte Angelo wissen.

"Reine Übungssache", erwiderte sie.

"Ich kenne viele kämpfende Frauen, aber keine würde sich freiwillig mit einer so großen und schweren Waffe abmühen." Er betrachtete sie wieder und schien sie genau abzuschätzen, ob sie tatsächlich in der Lage sein würde, ihre eigene Waffe zu führen. Sara'ishtra hielt inne, solange er sie eingehend musterte. Seine Augen auf ihrem Körper verursachten ein Kribbeln, wohin sie auch wanderten.

"Ich würde es zu gerne sehen", gab er plötzlich von sich.

"Es liegt in deiner Macht", erwiderte sie und versuchte unschuldig zu lächeln.

"Es muss einen Grund haben, warum du dieses schwere Ding mit dir herumschleppst", ließ er sich nicht beirren. "Du tust es mit Sicherheit nicht aus Spaß. Du kannst mit ihm umgehen." Er schüttelte den Kopf. "Ich ließ mich zwar von meiner Beutegier zu etwas Dummen überreden, aber das passiert mir kein zweites Mal. Wenn ich dich losbinde, ziehst du mir eins über, und weg bist du. Nein!" Er schüttelte erneut den Kopf. "So dumm bin ich nicht."

"Dann wirst du es nie erleben", lächelte sie und versuchte einen Finger in eine Schlaufe zu bohren.

"Ich kann warten", erwiderte er und setzte sich bequemer zurecht. Er schloss erneut die Augen und erklärte damit die Unterhaltung als beendet.

Sara'ishtra musste ihn beschäftigen. Wenn er vollkommen ruhig war, könnte er vielleicht hören, wie sie sich ständig bewegte, und Verdacht schöpfen.

"Was hast du gemacht, bevor du Räuber wurdest?" fragte sie deshalb. Doch darauf erhielt sie keine Antwort. Er schien sie nicht einmal gehört zu haben. "Du bist kein Räuber. Du paßt nicht zu ihnen", versuchte sie es weiter. "Was ist passiert, dass du dich für diese Art des Lebenswandels entschieden hast?" Auch darauf erhielt sie keine Antwort. Die Zeit war zu kurz, als dass er eingeschlafen sein könnte. Angelo musste noch wach sein und sie gehört haben. Entweder wollte er sie nicht hören, oder er weigerte sich zu antworten. Vielleicht waren ihm die Fragen zu persönlich und er erklärte sich nicht bereit, seiner Gefangenen aus seinem Leben zu erzählen. Sara'ishtra versuchte es anderes.

Die Schlaufe war locker.

"Diese andere Ajola-Kriegerin, der du einmal begegnet bist, wie hieß sie?" Behutsam zog sie die Schlaufe aus dem Knoten.

Angelo öffnete die Augen und starrte an die Felsendecke, weigerte sich jedoch weiterhin auf ihre Fragen einzugehen. Sara'ishtra schalt sich, ein Thema aufgegriffen zu haben, das ihn bereits einmal aufgeregt hatte. Verzweifelt suchte sie nach etwas anderem, womit sie ihn beschäftigen konnte. Je weiter sie die Schlaufe aus dem Knoten zog, desto fester zog sich die andere. Ihre Finger schmerzten durch die verdrehte und verkrampfte Haltung. Sie hielt einen Moment inne und bewegte ihre Finger, um sie zu lockern. Dabei achtete sie darauf, dass sie keine unbedachte Bewegung machte und beobachtete ihren Aufpasser genauestens. Sollte er etwas bemerkten, bevor sie auch nur eine Hand frei bekam, waren ihre Mühen umsonst gewesen. Angelo schien nichts zu merken. In Gedanken versunken, bewegungslos und stumm, konnte ihn scheinbar nichts aus seiner Ruhe bringen. Er starrte an die Decke, als wolle er mit seinem Blick Löcher hineinbohren. Sara'ishtra tat es beinahe Leid, dass sie unangenehme Themen anschnitt. Noch nie verspürte sie für einen Gegner Mitleid. Die wenigen Male, in denen sie Gnade walten ließ, betrafen Gegner, die ohnehin keine Chance mehr hatte, oder deren Weiterleben in Schande, die größere Strafe bedeutete. Doch bei Angelo war es etwas anderes. Sie hielt es für ihre Pflicht, sich bei ihm zu entschuldigen, was auch immer passiert war, was auch immer ihn dazu gebracht hatte, sein Dasein als Räuber zu fristen. Sara'ishtra besaß kein Recht noch länger in unangenehmen Erinnerungen herumzuwühlen.

"Es tut mir leid", entschuldigte sie sich deshalb.

Genau dies schienen die Zauberworte gewesen zu sein, die ihn aus seinen Gedanken herausreißen konnten. Er betrachtete sie, als könne er nicht glauben, was er eben gehört hatte. Sara'ishtra unterbrach ihre Arbeit und erwiderte seinen Blick, obwohl ihr Herz dabei schneller schlug und Verlegenheit aufkeimte. Der Ausdruck in seinem Gesicht verlor zusehends an Härte.

"Wofür entschuldigst du dich?" wollte er wissen.

"Ich hätte nicht fragen dürfen", antwortete sie. "Es geht mich schließlich nichts an. Verzeih mir bitte, wenn ich alte Wunden wieder aufgerissen habe. Ich konnte nicht wissen ... ."

Angelo lachte plötzlich auf. Es war kein heiteres Lachen. Eher Hohn und Spott für sich selbst. "Ihr verflixten Weiber", schimpfte er und erhob sich.

Sara'ishtra glaubte ihren Befreiungsversuch erkannt. Fieberhaft versuchte sie aus der Fessel herauszukommen. Sie drehte und wendete ihr Handgelenk, kam aber nur langsam voran. Es war noch nicht weit genug gelockert.

Angelo war zwar aufgesprungen, kam jedoch nicht näher.

"Ihr biegt es euch hin, so wie ihr es braucht", brüllte er, vor plötzlich aufkeimendem Zorn. "Ihr seid alle gleich. Ob ihr nur eurem Mann dient, oder irgendeinem Herrn, der nur als Geist in verlassenen Ruinen existiert."

Sara'ishtra konnte sich seinen Wutausbruch nicht erklären. Sie vermutete jedoch, dass es etwas mit seinen Erinnerungen zutun haben musste. Obwohl Angelo keine Anstalten machte, näher an sie heranzutreten, kämpfte sie weiter um ihre Befreiung. Als er sie direkt ansprach, schrak sie leicht zusammen.

"Du bist die Schlimmste von Allen." Er baute sich nur knapp vier Meter von ihr entfernt auf. "Du zerstörst das Leben eines rechtschaffenen Mannes, treibst ihn in dieses Dreckloch und plötzlich geht es dich nichts mehr an. Das ist einfach großartig."

Sara'ishtra starrte ihn fassungslos an. Sie hatte plötzlich begriffen. Sie war die Ajola-Kriegerin gewesen, der er einmal begegnet war. Schnell korrigierte sie sich. Nicht sie, sondern ihre Vorgängerin Brunhilde. Aber für Angelo gab es nur Sara'ishtra. Sie wusste nicht mehr, was sie tun oder sagen sollte. Denn jedes Wort könnte seine Wut noch mehr steigern. Sie bezweifelte, dass er ihr glauben würde, denn sie hatte tatsächlich keine Ahnung, von dem was ihm angetan worden war.

"Wie war das?" erinnerte er sie lautstark. "Arrogante Schweine brauchen eine Abkühlung. Man muss sie in ein Schlammloch werfen. Ich sitze nun schon beinahe drei Jahre in diesem Schlammloch fest. Ist dir das genug? Bist du nun zufrieden?"

Ihre rechte Hand war endlich frei.

Angelo ging zu Sara'ishtras Schwert, riß es aus der Scheide, schwang es kurz durch die Luft und betrachtete es, als hätte er sein Leben lang danach gesucht und es endlich gefunden.

"Dieses verdammte Ding", fluchte er. "Ich sollte es in das Feuer werfen, in dem es geschmiedet wurde. Nur dumm, dass es längst erloschen ist." Er kam damit langsam auf Sara'ishtra zu, ließ das blanke Metall aber nicht aus den Augen.

Sie beobachtete ihn, während sie versuchte auch ihre linke Hand aus der Schlaufe zu ziehen. Die Männer hatte ihre Hände wohlsorglich einzeln an den Pfosten gebunden. In Angelos Augen war ein Funkeln, das dringend nach Genugtuung verlangte. Gerne hätte sie ihm dies gegeben, wenn damit nicht ihr eigenes Leben verknüpft wäre. Zwar wusste sie, dass ihr nichts passieren konnte. Aber da sie den Namen noch nicht lange trug, war sie es noch nicht gewohnt, auch dementsprechend zu handeln und es darauf ankommen zu lassen.

"Wie viele unwissende Tölpel hast du diesem verdammten Stahl schon geopfert?" wollte er wissen. Das war keine Frage gewesen, eher eine Beleidigung.

Endlich war auch ihre linke Hand frei. Er war aber noch zu weit entfernt, als dass sie sich hätte auf ihn werfen können. Wäre sie aufgesprungen und hätte sich auf ihn gestürzt, wäre ihm noch genügend Zeit geblieben, mit dem Schwert auszuholen und sie zu erschlagen. Sara'ishtra wollte kein Risiko eingehen. Deshalb blieb sie sitzen und wartete auf die geeignete Gelegenheit.

Viel zu langsam kam er näher.

"Ich wette, sie sind genauso auf dich hereingefallen", schimpfte er. "Du durchtriebenes Weibstück. Du versteckst dich nur hinter deiner Ajola-Fassade. In Wirklichkeit, bist du nichts anderes, als wir alle. Aber dies läßt sich schnell feststellen."

Er grinste plötzlich auffallend gefährlich. Das Glitzern in seinen Augen signalisierte beinahe Wahnsinn. Langsam holte er aus, visierte sein Ziel an und ließ das Schwert, wie das Beil eines Henkers auf Sara'ishtra niedersaußen. Doch bevor es sein Ziel erreichen konnte, hatte sich dies zur Seite gerollt. Der Streich ging in den Boden. Ein gräßliches Geräusch von aufklingendem Metall erschütterte das Echo in der Nische. Angelo fluchte laut und holte sofort zum nächsten Schlag aus, doch da trat ihm Sara'ishtra so kräftig ans Bein, dass es ihm den Boden unter den Füßen wegfegte und er stürzte. Sie ließ ihm nicht die Zeit, sich von seinem Schrecken zu erholen. Der Tritt ins Gesicht erfolgte schneller, als er den Mund zu schließen vermochte. Knirschend klappten die Kiefer aufeinander und bissen ein Stück der Zunge ab. Augenblicklich füllte sich sein Mund mit Blut. Angelo spuckte und hustete. Sein Augenlicht ging im vom Schmerz hervorgerufenen Tränenmeer unter. Sie entriß ihm die Waffe, die er noch immer in der Hand hielt. Schnell sprang sie auf, stieß ihn mit dem Fuß um und legte ihm die Spitze auf die Brust, gerade dort wo das Herz saß.

"Hör auf, Angelo", befahl sie. "Ich bin eine Ajola, was sich eben bewies." Es tat ihr weh, ihn so demütigen zu müssen. Ihr blieb jedoch keine andere Wahl. Sie wollte ihn nicht schlagen, doch, wie immer in gefährlichen Situationen, übernahm ihr Körper die Herrschaft über sie, ohne dass, oder noch ehe sie etwas dagegen tun konnte.

Aus seinen Mundwinkeln rannen kleine Blutbäche. Er spuckte und hustete und schien sich um die Gefahr auf seiner Brust nicht zu kümmern, oder es noch gar nicht bemerkt zu haben.

"Wenn du klug bist", fuhr sie fort. "Unternimmst du nichts weiter. Ich will dich nicht töten müssen. Also bitte verhalte dich ruhig."

Angelo murmelte etwas. Doch seine Worte gingen im Blutstrom unter. Er blieb aber liegen.

"Sag mir, was Lux Barris plant", forderte sie.

"Ich denke nicht daran", zischte er und spuckte dabei Blut.

"Er hat nichts Gutes im Sinn und ich will wissen, was", blieb sie standhaft. Als Angelo sich weigerte zu antworten, versuchte sie es mit überreden. "Sie werden denken, du hättest mich laufen gelassen, oder warst zu dumm mich zu bewachen. Sie werden dich töten, wenn sie erkennen, dass ich nicht mehr da bin. Ob du es nun verraten hast, oder nicht, sie werden dich töten."

"Und wenn", zischte er und spuckte abermals aus.

Sara'ishtra drückte ihm die Spitze fester auf die Brust. Angelo schien weder vor ihr, noch vor ihrer Waffe Angst zu haben.

"Na, los", brüllte er und warf sich der tödlichen Waffe entgegen. Sie hätte sich in sein Herz gebohrt, wenn Sara'ishtra sie nicht rechtzeitig zurückgezogen hätte.

"Nein", schrie sie. "Laß das. Ich will dich nicht töten."

"Warum?" schrie er zurück und rückte nach. "Ist es nicht genug? Macht es dir Spaß mich noch mehr zu quälen?" Er hatte Schwierigkeiten bei der deutlichen Aussprache, da ihm seine Zungenspitze fehlte und der Blutstrom nicht versiegen wollte. Es schien ihm aber nichts auszumachen, obwohl er immer wieder ausspucken musste, da sich sein Mund stets aufs Neue mit Blut füllte.

"Nein", schüttelte Sara'ishtra energisch den Kopf. "Weder, noch. Du läßt deine Wut an der Falschen aus. Bei Gelegenheit werde ich dir das erklären." Sie zog ihre Waffe zurück und eilte zu der Scheide. Ihre innere Stimme signalisierte ihr Gefahr. Sie musste schnellstens verschwinden.

Angelos Zorn versiegte in seiner vollendeten Verwunderung. Er beobachtete sie dabei, wie sie ihr Schwert wieder auf den Rücken schnallte und konnte nicht glauben, was er sah. Sie weigerte sich, ihn zu töten. Er vermutete, dass sie ihn in diesem Dreckloch zurücklassen würde, und dass es ihr noch lange nicht genug an Strafe war.

"Los, komm", befahl sie. "Wir müssen hier weg."

"Wohin?" wollte er wissen. Wut keimte wieder auf, doch als sie ihn aufforderte mit ihr zu fliehen, starrte er sie erneut verblüfft an.

"Egal wohin", erwiderte sie und wartete ungeduldig darauf, dass er sich endlich erhob. "Nur schnell weg. Es werden bald unangenehme Gesellen kommen. Da möchte ich nicht mehr hier sein. Was ist mit dir? Nun komm schon."

Angelo blieb liegen und schüttelte langsam den Kopf.

"Hast du wirklich vor, dich von Lux Barris zerfleischen zu lassen?" fragte sie. "Also, dann beweg dich."

Sie drehte sich um und stieg den schmalen Grat zum Flussbett hinunter. Zufrieden lächelte sie, als sie hinter sich eilends näher kommende Schritte hörte. Nur kurz wand sie sich um, und nur um sich zu vergewissern, dass es auch tatsächlich Angelo war.

"Geh voran", befahl sie.

"Was hast du vor?" wollte er wissen und hielt sie zurück.

Er hatte sie am Arm gepackt und hart zurückgezogen, so dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Sein Griff war fest, aber nicht so fest, dass er schmerzte. Sara'ishtra blieb stehen. Seine Berührung versetzte ihr heißkalte Schauer. Sie biss sich auf die Lippen und schluckte dieses Gefühl hinunter. Es war in diesem Moment unangebracht. Ihre innere Stimme schrie immer lauter. Wenn sie nicht weiterging, würden sie entdeckt werden.

Der Grat war von beiden Seiten des ausgetrockneten Flussbettes gut zu überblicken. Eine Biegung trennte Sara'ishtra von den Herannahenden.

"Zu verschwinden", erwiderte sie und wand sich nach Angelo um. Erneut musste sie gegen dieses willkommene Gefühl ankämpfen. So Blutüberströmt und energisch, wie er sie ansah, hätte sie sich ihm am Liebsten um Verzeihung flehend an den Hals geworfen, ihm zum nächsten Fluss geführt und sein Blut fürsorglich abgewaschen. Sie drehte sich wieder um.

"Ich möchte diesem Widerling nicht noch einmal begegnen", sagte sie schnell und riß sich los. "Ein Kuss von ihm hat mir gereicht." Sie sprang weiter den Grat hinunter und kletterte über die Felsen am Grund des Flussbettes. Da sie ihm den Rücken zugekehrt hatte, entging es ihr, wie ihr Angelo fassungslos nachstarrte.

Ihre innere Stimme schrie so laut, wie tausende von Vögel an einem herrlichen Sonnenaufgang. Ihr Körper ließ es nicht mehr zu, dass sie sich noch einmal nach Angelo umdrehte. Sie hoffte, er würde ihr folgen. Erleichtert atmete sie auf, als sie ihn dicht hinter sich, über die Felsen klettern hörte. Angelo hatte sie bald eingeholt und führte sie auf einem schmalen, steilen Grat wieder aus dem Flussbett heraus. Alsbald tauchten sie im dichten Wald, auf der anderen Seite des Flussbettes, unter und verschwanden aus dem Blickfeld etwaiger Verfolger.

Sara'ishtras innere Stimme verstummte langsam. Sie fühlte sich wesentlich wohler, als sie von dieser Stimme nicht mehr, wie ein Fuchs von einer Meute gejagt wurde. Ihre Gedanken gehörten nun wieder ganz ihr selbst und die wanderten wieder hin zu Angelo. Sie beobachteten ihn, wie er sich bewegte, wie er geschickt durchs Dickicht glitt, wie er die Äste auf die Seite schob oder über am Boden liegendes Geäst und Felsen stieg. Sie wusste nicht, was Brunhilde ihm angetan hatte. Es musste jedenfalls so gravierend gewesen sein, dass er aus Rache töten würde. Er tat ihr leid und wenn es etwas genutzt hätte, würde sie mit tausend demütigen Entschuldigungen um Vergebung bitten. Sie war sich aber sicher, dass er keine einzige annehmen würde.

Angelo schien es zu spüren, dass er beobachtet wurde. Er ging immer langsamer, bis er endlich stehen blieb. Mit dem Rücken zu ihr gekehrt, wartete er auf etwas, das nur er kannte. Sara'ishtra wagte es nicht, ihn anzusprechen und wartete mit ihm. Ein Schweigen umschloss sie. Gelegentlich störte ein vorbeifliegender Vogel die Ruhe und zwitscherte munter vor sich hin, während er hoch über den Baumwipfeln in einer seichten Prise segelte. Rascheln im Unterholz und das leichte Rauschen des Windes, wenn er seicht durch den Nadelwald strich, unterbrachen das Schweigen für kurze Zeit. Endlich machte auch Angelo dem Schweigen ein Ende.

"Weshalb bist du zurückgekommen?" wollte er wissen. Er spuckte geronnenes Blut aus und wand sich dann nach ihr um. "Du sagtest, du wolltest nie wieder in diese Gegend kommen."

Sara'ishtra musste sich räuspern, bevor sie antworten konnte.

"Das Schicksal ist es", erwiderte sie. "Was mich in viele Winkel dieser Welt bringt."

Angelo legte fragend den Kopf schief. Er hatte scheinbar eine andere Antwort erwartet.

"Das Schicksal?" fragte er nach.

Sara'ishtra nickte. "Es liegt nicht in meiner Hand. Böse Buben und Not gibt es überall. Auch an Orten, an denen ich bereits war."

Erneut legte Angelo den Kopf schief.

"Aber du hättest nicht gedacht, mich je wieder zu treffen", gab er von sich.

"Ich habe überhaupt nicht gedacht, jemanden wie dich zu treffen", antwortete sie frei heraus.

"Jemanden wie mich?" wiederholte er ungläubig. Er baute sich vor ihr auf. "Was ist eigentlich los mit dir? Du hast dich verändert. Vor einem Kerl wie Lux Barris davon zu laufen, wäre dir früher im Traum niemals eingefallen. Du hättest es sogar richtig herausgefordert. Wovor hast du eigentlich Angst? Bin ich der böse Bube, hinter dem du her bist?"

Sara'ishtra schüttelte den Kopf. "Obwohl du zu seinen Gefolgsmännern gehörst, bezweifle ich, dass du jemals ein richtig böser Bube warst." Ihre eigenen Worte waren ihr plötzlich peinlich. Sie verstummte und biss sich auf die Lippen, um nicht weiterreden zu können.

"Was?" rief Angelo fassungslos und quoll auf, wie ein Hefekuchen im Dampfbad. "Habe ich eben richtig gehört?" Seine Augen funkelten wie dunkle Sterne in einem Meer aus hellem Wasser. "Du bezweifelst, dass ich jemals ... ." Er verstummte und starrte sie an. Seine Sprachlosigkeit ließ es nicht zu, dass er weiterredete. "Also das ... ", konnte er es nicht fassen. Er schüttelte den Kopf und schnappte nach Luft, wie ein Fisch an Land.

Sara'ishtra beobachtete ihn mit gemischten Gefühlen. Zu gerne hätte sie gewusst, was ihm Brunhilde alles an den Kopf geworfen hatte.

Angelo musste sich setzen.

"Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du ein Spiel mit mir spielst. Aber ich mache nicht mit. Ich bin einmal auf dich hereingefallen. Das reicht mir. Geh, wohin du willst, aber laß mich in Ruhe."

dass er sich bequemer zurechtrückte, unterstrich seine Entschlossenheit, keinen einzigen Schritt mehr zu tun.

"Ich würde es dir gerne erklären", gab sie leise von sich. Sie hätte sich am Liebsten zu ihm gesetzt, doch sie wusste, dass ihm das nicht Recht sein würde. Daher blieb sie stehen.

"Du kannst dir deine Erklärungen sparen", maulte Angelo beleidigt und weigerte sich, zu ihr aufzusehen.

"Du würdest es ohnehin nicht glauben", erwiderte sie, doch im nächsten Moment schwenkte sie um. Angelo war so schlimm mitgespielt worden, dass er ein Recht darauf besaß, den Grund für den seltsamen Wandel zu erfahren. Sie wusste nicht, ob sie es ihm sagen durfte, doch ihr Bedürfnis, ihm die Wahrheit zu sagen, war so stark, dass sie nicht mehr anders konnte. Sie kniete sich zu ihm nieder, worauf er ein Stück wegrückte.

"Hör zu", begann sie. "Du läßt deinen Mißmut wirklich an der Falschen aus."

Als Angelo aufspringen wollte, hielt sie ihn zurück.

"Bitte", flehte sie. "Hör mir zu. Ob du es glaubst, ist dir überlassen. Aber was ich dir jetzt erzähle, ist die Wahrheit."

Er weigerte sich und riß sich los. Doch ein weiteres aufrichtiges Bitte, stimmte ihn endlich um.

Als sich Sara'ishtra sicher sein konnte, dass er ihr zuhörte, begann sie.

"Ich ... ." Plötzlich wusste sie nicht mehr weiter. Es gab eine Menge darüber zu erzählen und nun wusste sie nicht mehr, wo sie anfangen sollte. "Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll", sagte sie deshalb. "Ich konnte es selbst kaum glauben. Erst als ich das erste Mal in diese Welt kam. Ich komme aus einer ganz anderen Welt. Genauso wie meine Vorgängerin, auf die du so sauer bist. Sara'ishtra lebt hier, aber nicht ich. Verstehst du?" Sie verstummte und beobachtete Angelo. Aus seinen Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er sie für verrückt hielt. Deshalb fuhr sie fort.

"Die richtige Sara'ishtra ist vor vielen Jahren gestorben. Sie vermachte ihren Körper Ajola. Doch ein Körper ohne Leben ist nur eine leere wertlose Hülle. So holt sich Ajola dieses Leben aus einer anderen Welt - aus der Welt, in der ich lebe." Erneut machte sie eine Pause und betrachtete Angelo. In Sara'ishtras Welt besaßen die Menschen noch einen Aberglauben und beteten zu allen möglichen Göttern. Aus diesem Grund hoffte sie inständig, dass auch Angelo an die wundersame Macht von Göttern glaubte.

Er wusste, dass Sara'ishtra ein Geschöpf von Ajola war, doch was die Kriegerin eben erzählte, erschien ihm äußerst merkwürdig. Er schüttelte den Kopf und wollte etwas sagen, doch Sara'ishtra ließ ihn nicht zu Wort kommen.

"Ich arbeite als Verkäuferin in einem Feinkostladen", erzählte sie. "Tagsüber. Und Nachts bringt mich Ajola hierher in den Körper von Sara'ishtra." Es kam ihr töricht vor. Deshalb sprach sie nicht weiter. "Sie hätte es nicht tun dürfen", schlug sie plötzlich ein anderen Thema auf. "Wir sind hier, um Menschen zu helfen und nicht, um sie ins Unglück zu treiben. Was auch immer passiert ist, sie hätte nicht so weit gehen dürfen, dass du auf die schiefe Bahn gerätst. Irgendwann wärt ihr euch wieder gegenüber gestanden und sie hätte ihren Fehler geradebiegen müssen. Das wäre aber dann nicht mehr so glimpflich für dich ausgegangen. Gut, dass sie den Namen zwischenzeitlich abgab, an mich. Ich habe nicht die Absicht, dich noch weiter in das Schlammloch zu stoßen, oder dich gar zu töten." Sie setzte dabei ein freundliches Lächeln auf. Es sollte ihn etwas milde stimmen. Und tatsächlich ...

Ob nun durch ihr Lächeln, oder von ihren Worten veranlaßt, Angelos finsteres Gesicht erhellte sich ein wenig.

"Es tut mir leid, was dir passiert ist", fügte sie hinzu, als sie dies erkannte. "Wären wir uns früher begegnet, wärst du noch ein rechtschaffener Mann." Erst jetzt ließ sie es zu, dass Angelo etwas sagen durfte. Er schien noch zu überlegen, wie er reagieren sollte. Auf seinem Gesicht spiegelte sich der Kampf um das Für und Wider. Er war hin und her gerissen und betrachtete Sara'ishtra mit Augen, die eher zu einem neugierigen Kind gehören konnten, denn zu einem erwachsenen Mann. Sie ließ ihm die Zeit darüber nach zudenken und versuchte ihn nicht noch weiter zu beeinflussen. Sie konnte sich denken, was in diesem Moment durch seinen Kopf ging. Aber helfen konnte sie nicht. Er musste allein zu einer Entscheidung kommen. Daher erhob sie sich wieder und entfernte sich einige Schritte.

 

"Was nun", hörte sie ihn fragen.

Sie schrak zusammen. Alles hatte sie erwartet. dass sie langwierige Erklärungen abgeben musste, oder sich vielmals für etwas entschuldigen musste, das sie gar nicht getan hatte. Doch auf die Frage, was nun weiter passieren sollte, war sie nicht gefaßt. Sie drehte sich um und zog ratlos die Schultern hoch. Als sie Angelo, wie ein kleines Häufchen Elend zu ihren Füssen sitzen sah, bekam sie Mitleid und sie musste sich zusammenreißen, nicht zu ihm zu eilen, ihn in ihre Arme schließen und ihn zu trösten. Sie rief sich noch rechtzeitig ihre Aufgabe in Erinnerung - Lux Barris.

Sie drehte sich wieder um und entfernte sich noch weiter, damit sie nicht in Versuchung geriet, ihren Gefühlen nachzugeben und konzentrierte sich auf Lux Barris.

"Was hat er vor?" fragte sie und fügte schnell hinzu, wen sie damit meinte. Sie hörte, wie er sich erhob.

"Glaubst du wirklich, du kannst mir eine verwirrende Geschichte erzählen und ich verrate deswegen den Mann, der mich aus dem gröbsten Dreck gezogen hat", gab er ihr zu bedenken.

Sara'ishtra bekam dadurch ihre Fassung zurück. Sie wand sich nach ihm um.

"Du kannst es dir aussuchen", sagte sie. "Entweder du hilfst mir, oder wir stehen uns früher oder später mit scharfen Klingen gegenüber."

Angelo ließ sich nicht erschüttern.

"Man sagt", begann er mit selbstsicher erhobenem Kopf. "dass eine Waffe niemals den Mensch töten kann, der es geschmiedet hat."

Sara'ishtra brauchte eine Sekunde, bis sie begriffen hatte und antworten konnte.

"Vielleicht nicht töten, aber verletzen", konterte sie und wand sich schnell wieder um. Wenn sie wieder zurück war, hatte sie einiges mit Brunhilde zu bereden.

Ohne zu wissen, wohin sie eigentlich gehen wollte, folgte sie einem kleinen Trampelpfad. Wortlos folgte ihr Angelo. Ihre letzten Worte schienen ihn seines stolzen Dampfes beraubt zu haben, oder er gab sich in Anbetracht ihrer Drohung geschlagen. Erst als Sara'ishtra den breiteren Pfad einem engen und verwachsenen, der noch tiefer in den Wald führte, vorzog, meldete er sich wieder zu Wort.

"Was ist?" fragte er und blieb an der Abbiegung stehen. "Willst du nicht hingehen?"

Eigentlich wollte sie nachfragen, wohin sie nicht gehen wollte, doch kurz bevor sie es aussprechen konnte, fiel es ihr ein. Sie wusste es, ohne zu fragen, nickte kurz und ging dann den schmäleren Weg.

Kurze Zeit später trafen sie auf eine kleine verwahrloste Kapelle, inmitten einer Lichtung. An einigen Stellen waren zwar mit Steinen, Lehm und Erde Ausbesserungen vorgenommen worden, doch dies konnte den Verfall nicht lange aufhalten. Sara'ishtra verspürte den unwiderstehlichen Drang die Kapelle zu betreten und gab nach. Es war etwas, was sie tun musste. Vorsichtig schritt sie über die Schwelle. Im Innenraum roch es modrig und staubig zugleich. Der Kot von vielen Tieren verpestete die Luft. Nachdem sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, erkannte sie eine Art Altar, auf dem zahlreiche Dinge lagen. Steine, zerbrochene Tonkrüge, aber auch noch erhaltene Töpfe und Schüsseln, abgestorbenes Gestrüpp, vertrocknete Blumen und Äste. In den Ritzen des aus Felsblöcken erbauten Altars wuchs spärliches Gras und Moos. Ein kleines Loch im Dach gab ihnen Wasser und Licht. Es war aber nicht hell genug, um alles erkennen zu lassen. Sara'ishtra stolperte über etwas am Boden. Sie wagte sich dennoch tiefer hinein und kniete vor dem Altar nieder. In der Wand hinter dem Felsenaltar waren seltsame Zeichen eingeritzt. Obwohl sich Sara'ishtra sicher war, niemals zuvor solche Schriften gesehen zu haben, konnte sie sie entziffern. Es waren die Namen der Ajola-Kriegerinnen. Auch ihrer stand dort. Einige schienen mit einem Reibeeisen, oder mit scharfen Krallen unleserlich gemacht worden zu sein. Sie fragte sich, wer so etwas machen konnte. Im selben Moment erinnerte sie sich an Brunhildes Worte. Er werden immer weniger. Ein ausgelöschtes Wort bedeutete eine nicht mehr existierende Ajola-Kriegerin.

Obwohl der Tempel einen jammervollen Eindruck machte, fühlte sich Sara'ishtra darin wohl. Wie Brunhilde es sagte, es war wie heimkehren in den Schoß der Mutter. Sie fror nicht, fühlte sich nicht unbehaglich. Die schlechte Luft und der miserable Zustand des Tempels störten sie nicht im geringsten, obwohl sie diese Vernachlässigung ärgerte. Doch solange sie hier war, glaubte sie zu Füssen ihres Vaters zu knien, getröstet zu werden, die Kraft für neue Taten, oder den Segen für zukünftige Entscheidungen zu erhalten. Am Liebsten wollte sie diesen Ort nie wieder verlassen. Doch sie wusste, dass sie ihrer Bestimmung folgen musste. Immer wieder las sie die Namen an der Wand und versuchte auch die zu entziffern, die unkenntlich gemacht wurden. Die leserlichen Namen klangen in einer eigenartigen, gewohnten Weise in ihrem Ohr, die schwer entzifferbaren, eher wie ein, in einem endlosen Raum ausgesprochenes Wort. Es verlor sich irgendwo und kam nicht bis zum letzten Buchstaben. Meist hörte es spätestens in der Mitte einfach auf.

Sara'ishtra überlegte sich, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, diese Namen wieder zum Leben zu erwecken. Kaum hatte sie dies gedacht, gelang es ihr einen der Namen zu entziffern. Er prägte sich ihr genauso ein, wie der Name, den Brunhilde ihr vermacht hatte.

Langsam erhob sie sich. Sie würde jemanden für diesen Namen finden, schwor sie sich. Dann räumte sie sämtliches Gestrüpp, Unrat und Scherben vom Altar und stellte die erhaltenen Sachen geordnet auf. Es musste einen Grund geben, weshalb sie hier standen, dachte sie sich und rückte einen großen Krug in die Mitte In dessen Inneren schepperte etwas, als sie ihn aufsetzte. Vorsichtig glitt ihre Hand hinein und brachte einen kleinen Dolch zum Vorschein. Er war einfach gehalten, ohne Schmuck und Verzierungen. Ein längliches Stück Metall zu einer Waffe umgearbeitet. Die eine Seite breit und handlich, die andere spitz zulaufend, flach und deren Kanten scharf geschliffen, gerade lang genug, um in einer ausgebreiteten Hand zu verschwinden und das richtige Gewicht, um durch einen Wurf ein Ziel zu treffen. Als sie ihn zurücklegen wollte, stieß sie so unglücklich an den Krug, das dieser umkippte und zerbrach. Sara'ishtra erschrak und fühlte sich schuldig, doch als ihr Blick erneut über die Namen glitt, wusste sie, dass Ajola es so gewollt hatte. Es war Absicht gewesen, dass sie den Dolch fand und behalten sollte. Er nahm ihr daher die Gelegenheit, ihn zurückzulegen. So steckte sie ihn unter ihr Hemd in den Gürtel. Der kurze Dolch verschwand.

Als Sara'ishtra den Tempel verließ, schlug ihr grelles Tageslicht entgegen. Sie blinzelte. Obwohl sie beinahe blind war, konnte sie mehrere dunkle Gestalten ausmachen, die eilends auf sie zukamen. Mit wendiger Schnelligkeit zog Sara'ishtra ihre Waffe und hielt dagegen, dort wo sie eine Klinge vermutete. Metall klang auf Metall. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit, doch wie durch ein Wunder gelang es ihr, sich zu behaupten. Ihre Gegner, sie wusste nicht, wieviele, drei, vier, vielleicht auch fünf, waren schnell geschlagen, und eben, als sie den letzten niederstreckte, konnte sie eine weitere Gestalt erkennen. Er war Lux Barris.

Er hielt dem am Boden liegenden Angelo eine Schwertspitze auf die Brust.

"Einen Schritt näher", schrie er. "Und er ist tot."

Sara'ishtra blieb augenblicklich stehen, hielt sich aber für einen plötzlichen Angriff bereit.

"Deine Drohung macht mir wahrlich Angst", erwiderte sie. Ihre Stimme verriet aber, dass sie es keineswegs so meinen konnte.

"Du verflixtes Biest", zischte Lux Barris. "Wie macht ihr das nur immer?" Es war zwar eine Frage gewesen, sie verlangte jedoch keine Antwort.

Sara'ishtra schwieg. Sie warf einen kurzen Blick auf Angelo. Eine frische Blutspur rann über sein Gesicht. Seine Augen drückten den gehörigen Respekt aus, den er vor seinem Anführer hatte. Erneut überkam sie dieses Gefühl. Sie musste ihn befreien und wieder gutmachen, was Brunhilde verbrach.

Lux Barris winkte seinen Männern, die daraufhin Angelo packten und wegzerrten.

"Laß ihn frei", forderte Sara'ishtra und machte einige Schritte auf ihren Gegner zu.

"Meine Liebe", grinste dieser. "Du scheinst mich nicht zu kennen. Ich kann nunmal Verräter nicht ausstehen. Da sind Ungeheuer, die einem alles Schöne zerstören. Sie gehören unschädlich gemacht." Er zog entschuldigend die Schultern hoch.

"Laß ihn frei", wiederholte Sara'ishtra eindringlicher. "Oder du bist tot."

"Du drohst mir", lachte er. Doch sein Lachen erstarrte bald.

Schneller als ein Augen zucken konnte, war Sara'ishtra vorwärts gesprungen, hatte sich dabei um die eigene Achse gedreht und zwei Männer, die am nähesten gestanden hatten, erledigt. Im Nu fand Lux Barris eine Schwertspitze an seinem Hals. Ein drittes Mal sprach sie ihre Forderung aus. Diesmal blieb ihm keine andere Wahl, als nachzugeben. Ein kurzer Wink und Angelo war frei. Sara'ishtra deutete ihm durch eine Kopfbewegung an, dass er verschwinden sollte. Nur zögerlich entfernte er sich. Er schien Angst um sie zu haben. Nicht ohne Grund, denn von Lux Barris Männern waren noch mindestens zwanzig übriggeblieben. Daher brachte er sich in eine bessere Situation, nahm einem ehemaligen Kameraden das Schwert ab und stellte sich zum Kampf bereit auf.

"Verschwinde", befahl Sara'ishtra, ohne von ihrem Opfer zu lassen.

"Niemals", gab Angelo zurück. "Ich will mehr von dieser Geschichte hören."

"Dazu ist später auch noch Zeit."

"Ein zweites Mal, falle ich nicht auf dich herein. Diesmal kommst du mir nicht aus."

Sara'ishtra erlaubte es sich nur für einen kurzen Augenblick, sich nach Angelo umzudrehen, doch dies genügte Lux Barris. Er stieß das Schwert von sich und beförderte die Frau mit einem kräftigen Schlag ins Gesicht außerhalb des Sicherheitsabstandes. Noch bevor sie sich fangen konnte, warf er sich auf sie, schlug ihr die Waffe aus der Hand und drückte sie mit seinem Gewicht auf den Boden. In seinem Gesicht erschien dieses triumphierende Grinsen, das allzugierige Männer für gewöhnlich überfiel, wenn sie kurz davor standen, eine Frau zu vergewaltigen. Lux Barris war kräftig, mehr als Sara'ishtra ihm zutraute. Er drückte sie so fest, dass ihr die Luft wegblieb. Ein harter, äußerst unangenehmer Kuss preßte sich auf ihre Lippen. Vor Anstrengung und Ekel wurde es ihr beinahe übel. Sara'ishtra hörte wie Angelo besorgt nach ihr rief. Doch auch sein Schrei wurde bald unterbrochen. Lux Barris nahm ihre Handgelenke in eine Hand, während die andere an ihrer und seiner Kleidung nestelte.

Als er sich leicht erhob, um seine Hose öffnen zu können, gelang es Sara'ishtra ihr Knie zwischen seine Beine zu zwängen und es ruckartig hochzuziehen. Lux Barris zuckte im selben Moment mit einem Schrei zusammen. Er krallte sich an ihr fest, doch mit Hilfe ihrer Zähne konnte sie ihn veranlassen, sie loszulassen. Schnell kroch sie unter ihm hervor. Besorgt hielt sie nach Angelo Ausschau. Er war von den übrigen Männern umringt und konnte sich nur einigermaßen halten, wenn er immer wieder um die Bäume und Büsche herumsprang und sie zwischen sich und seine Angreifer brachte. Sie sah frische Blutspuren an ihm in der Sonne glänzen, sprang auf und wollte ihm zu Hilfe eilen. Doch bevor sie ihr Schwert erreichte, brachte sie etwas zu Fall. Jemand klammerte sich an ihren Fuß. Sara'ishtra fuhr herum. Lux Barris hangelte sich in windeseile zu ihr hoch. Noch ehe er sie erneut mit seinem Körper bedecken und niederdrücken konnte, fuhr ihre Hand zu ihrem kleinen Dolch und hielt ihn so, dass er direkt hineinlief, bevor er ihn rechtzeitig bemerken konnte. Sein Grinsen gefror augenblicklich. Leere Worte entquollen seinen Lippen. Noch im Sterben klammerten sich seine Hände um ihren Hals und drückten fest auf ihre Luftröhre. Sara'ishtra röchelte. Sie bekam keine Luft mehr. Ihre Kraft reichte nicht aus um in der winzigen Bewegungsfreiheit, die ihr blieb, den Leib von sich zu stoßen und ihren Hals zu befreien. Ihre Lunge schmerzte. Kurz bevor sie in die Ohnmacht stürzte, erlöste sie der Tod des Mannes von ihrer Qual.

Sara'ishtra glaubte nie wieder atmen zu können. Ihre Kehle sendete bei jedem Schlucken und bei jedem Husten stechende Schmerzen aus. Ihre Lunge brannte wie Feuer. Obwohl sie liebend gern aufgesprungen wäre und Angelo geholfen hätte, musste sie erst an sich denken. Sie musste erst wieder zu sich finden, bevor sie neue Taten vollbringen konnte. Ganz langsam musste sie ihre Lunge wieder ans Atmen gewöhnen.

Um sie herum hörte sie Männer rennen, springen und schreien. Metall klirrte auf Metall, oder trieb mit einen dumpfen Knacks in einen Baumstamm. Um sie kümmerte sich keiner. Vermutlich dachten die Männer sie sei tot, noch von Lux Barris erwürgt, bevor er starb, oder sie hatten den Tod ihres Anführers noch nicht bemerkt. Sara'ishtra blieb ruhig liegen und holte vorsichtig Luft. Auch auf die Gefahr hin, dass Angelo in der Zwischenzeit überwältigt werden würde. Wenn sie nicht dafür sorgte, dass sie wenigstens einigermaßen Einsatzfähig war, würde sie niemanden mehr helfen können. Nur noch ein paar Atemstöße und sie war wieder soweit, sagte sie sich.

Doch plötzlich spürte sie, wie sie doch noch in die Ohnmacht abzurutschen drohte. Sie kämpfte dagegen an, doch unbarmherzig glitt sie tiefer in die Schwärze. Ihre Schmerzen verloren sich darin. Sara'ishtra wehrte sich dagegen, schließlich musste sie Angelo helfen.

Verzweifelt kämpfte sie gegen ihre Ohnmacht an, doch immer tiefer rutschte sie ab, immer tiefer in die Schwärze hinein.

 

"Ist ja alles in Ordnung, Kleines", hörte sie plötzlich eine ihr bekannte Stimme. Hände, deren Berührungen sie kannte, legten sich auf ihr Gesicht. "Ist doch nur ein Traum", versuchte diese Stimme sie zu trösten.

Nadja öffnete die Augen und fuhr hoch, als sie Richard über ihr erkannte.

"Beruhige dich doch", rief Richard und versuchte sie daran zu hindern, aus dem Bett zu springen. Nadja entwischte ihm und rannte ins Badezimmer.

Sie war zurück.

Und Angelo?

Immer wieder stellte sie sich diese Frage. Was würde mit ihm geschehen? Er war des Todes, wenn sie ihm nicht zu Hilfe eilte. Sie konnte ihm nicht mehr helfen. Sie war in ihrer Welt, er in der seinen. Nadja ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen. An der Türe klopfte es und wenig später stand Richard neben ihr. Er strich ihr sanft über die Schultern. Sie haßte es plötzlich und stieß ihn energisch von sich.

"Das muss ja der absolute Horror unter den Alpträumen gewesen sein", gab er schulterzuckend von sich. "Vielleicht hilft es dir, wenn du darüber redest?"

Nadja blickte in den Spiegel. Sie sah aus, als hätte sie einige Nächte durchgemacht. Das kühle Wasser beruhigte ihr aufgeschwollenes Gesicht in keinster Weise. Sie schüttelte den Kopf, nicht weil sie sich weigerte, Richard von ihrem Traum zu erzählen, sondern weil ihr vor ihr selbst graute und weil sie um Angelos Leben fürchtete. Er war von der Ajola-Kriegerin ein zweites Mal enttäuscht worden.

"Komm, Nadja", sagte Richard und nahm sie wieder in den Arm. "Erzähle es mir. Du wirst sehen, du fühlst dich dann besser."

"Nein", schrie sie und stieß ihn erneut von sich.

"Beruhige dich, Kleines." Richard hielt sie fest. "Ist ja gut. Der Traum ist vorbei."

"Es war kein Traum", rief sie und rempelte ihm so derb in den Magen, dass er stöhnend zusammenzuckte. "Sie werden ihm umbringen. Ich muss ihm helfen." Nadja eilte zurück ins Schlafzimmer, zog sich rasch an und wollte eben die Wohnung verlassen, als Richard aus dem Badezimmer kam, noch immer die Hand auf dem Bauch und das Gesicht schmerzhaft verzogen.

"Nadja, nicht", flehte er. "Es wird ja alles wieder gut. Es war doch nur ein böser Traum." Er dachte, ihr Traum hätte sie so geschockt, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat.

 

Doch Nadja wusste es besser. Sie musste zurück in Angelos Welt und ihn retten. dass sie in dieser Nacht keine Ruhe mehr finden würde, leuchtete ihr ein. Daher suchte sie sich einen anderen Platz. Beinahe fluchtartig rannte sie aus ihrer Wohnung, die Treppen hinunter und die Straßen entlang auf der Suche nach einem Platz, an dem sie einschlafen konnte.

Es war vier Uhr morgens. Die Vögel kündigten den neuen Tag an. Ihr fröstelte, doch sie wollte nicht daran denken. Sie lenkte ihre Gedanken in diese andere Welt, zu Angelo. In einem Park setzte sie sich auf eine Bank, versuchte sich zu beruhigen und an die Wiese zu denken, mit den duftenden Feldblumen, den im seichten Wind wiegenden Grashalmen, den surrenden Insekten und der heißen Sonne. Doch es gelang ihr diesmal nicht. Entweder war sie noch zu aufgewühlt, oder ihre Gedanken schweiften ständig zu Angelo ab. Nadja blieb sitzen, bis die Sonne über der Stadt aufgegangen war. Enttäuscht spazierte sie durch die erwachende Stadt. Angelo schien verloren.

Als sie an einer Kirche vorbeikam, folgte sie einer spontanen Eingebung und ging hinein. Das Gotteshaus war beinahe leer. Nur wenige Frühaufsteher saßen in den Reihen und beteten, gänzlich in sich versunken. Nadja kniete sich vor den Altar und betrachtete das Kreuz, so wie sie es in dieser alten Ruine getan hatte. Doch hier standen keine Namen an der Wand.

"Bitte", flehte sie leise. "Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Aber ich bitte dich, laß mich zu ihm. Ich muss ihm helfen. Sie werden ihn umbringen." Nadja verstummte. Ihre Stimme war immer lauter geworden. Die Akkustik warf ihre letzten Worte durch den ganzen Saal. Als ihr das klar wurde, blickte sie peinlich berührt um sich. Doch die wenigen Besucher waren so in ihr eigenes Gebet vertieft, dass sie nichts bemerkten.

"Ich weiß", flüsterte Nadja wieder dem Kreuz zu. "Viele Leute knien vor dir und bitten um Hilfe. Dann schickst du ihnen eine vor uns. Jetzt aber bitte ich um Hilfe, für Angelo. Bitte schicke mich zurück und laß mich ihm helfen. Er ist zwar in Lux Barris Bande, doch er ist nicht wirklich böse. Bitte gib ihm noch eine Chance und laß mich ihn retten."

Trännen verwischten ihren Blick. Sie glaubte, jede Minute, die ungetan verstrich, würde Angelos nahen Tod noch näher bringen. Ihr Flehen vor diesem Kreuz brachte sie auch nicht zu Angelo. Sie setzte sich auf eine Bank, zwang sich zur Ruhe und versuchte erneut an das Feld zu denken. Doch die Stunden verstrichen, und sie saß noch immer in der Kirche.

Sie sah auf die Uhr. Sie hätte schon längst in der Arbeit sein müssen. Doch daran konnte sie jetzt nicht denken. Vielleicht konnte ihr Brunhilde helfen, fiel ihr plötzlich ein. Sie machte sich auf den Weg.

Brunhilde war nicht zu Hause. Resigniert setzte sich Nadja auf die Stufen vor ihrer Haustüre und wartete. Erst als der Tag wieder zur Neige ging, kam sie in Begleitung einer jungen Frau nach Hause. Überrascht und mit einem seltsamen Blick, der erahnen ließ, dass sie Probleme vermutete, begrüßte sie Nadja.

"Was ist los?" fragte sie.

"Ich brauche deine Hilfe", flehte Nadja und warf dem Mädchen einen Blick zu. Sie redete nicht weiter.

Brunhildes Blick folgte dem von Nadja.

"Du kannst reden", sagte sie und schob die zwei durch die Haustüre. "Das ist meine Enkelin Sabine. Sie weiß davon." Brunhilde legte Schlüssel, Tasche und Jacke einfach auf den Garderobenschrank und ging ins Wohnzimmer.

"Also", begann sie. "Wo liegt dein Problem?"

Nadja brauchte nur ein Wort zu sagen. "Angelo" und Brunhildes Gesicht erstarrte. Unangenehm berührt drehte sie sich um und ging wortlos in die Küche. Nadja folgte ihr.

"Du musst mir helfen", forderte sie. "So kannst du wieder gutmachen, was du damals angestellt hast."

Brunhilde fuhr abrupt herum.

"Nein", rief sie. "Was auch immer mit dem Kerl passiert ist, er hat das bekommen, was er verdiente."

"Du hast ihn zu einem Räuber werden lassen", hielt Nadja lautstark dagegen.

"Hoffentlich hast du ihm ordentlich auf die Finger geklopft", rief Brunhilde wütend.

"Nein, habe ich nicht. Nicht er war der Grund, sondern Lux Barris." Bei dem Namen des Anführers huschte ein kleines Schmunzeln über Brunhildes Gesicht. Es verschwand aber ebenso schnell, wie es aufgetaucht war.

"Hat es diesen aufgeblasenen Gockel endlich erwischt", murmelte sie ärgerlich. "Lang genug hat es gedauert."

"Was hast du mit Angelo gemacht?" fuhr Nadja zwischen Brunhildes Überlegungen.

"Das was er verdient", keifte die alte Frau.

"Er war der Waffenschmied, der das Schwert schmiedete, richtig?" bohrte Nadja weiter. "Es hat etwas mit diesem Schwert zu tun. Was ist passiert?"

"Hat er es dir nicht erzählt?" fragte Brunhilde, erwartete aber nicht wirklich eine Antwort. "Ich werde es nicht tun. Dieses arrogante Schwein, hat seine gerechte Strafe bekommen, damit ist die Sache für mich erledigt."

"Nein, ist sie nicht", rief Nadja wütend. "Jetzt fängt es nämlich erst richtig an. Durch dich ist er in diesen Schlamassel geraten. Deswegen musst du mir helfen, ihn zu retten."

"Nichts dergleichen werde ich tun."

"Sie werden ihn umbringen."

"Schön", schrie Brunhilde. "Ein Aasfresser weniger." Sie schlüpfte an Nadja vorbei und dampfte ins Wohnzimmer zurück. Dort saß Sabine in einer Ecke des Sofas und beobachtete die zwei Frauen mit einem erschrockenen Blick. Halb besorgt und halb ängstlich die Finger nervös ineinander geknotet, sah sie von einer zur anderen und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.

"Du kannst das doch nicht ernst meinen", rief Nadja und folgte ihrer Vorgängerin. "Du warst schließlich auch mal eine Ajola und dazu verpflichtet Menschen in Not zu helfen. Na schön. Jetzt ist eben Angelo in Not und braucht Hilfe. Sage mir nur, was ich tun muss, um zu ihm zu kommen."

"Selbst wenn ich es könnte, ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als ihm zu helfen."

"Was ist nur passiert, dass du ihn so haßt?"

"Du kennst ihn nicht. Das ist ein ganz durchtriebener Kerl. Paß nur auf, im Handumdrehen wickelt er dich um den Finger."

"Was ist passiert?" wiederholte Nadja eindringlicher.

Brunhilde drehte sich wortlos um, setzte sich zu Sabine und war nicht mehr bereit, weiter darüber zu diskutieren.

"Nein", sagte sie nach einer Weile kopfschüttelnd. "Bei jedem anderen, hätte ich alles getan, was du von mir verlangst. Selbst für diesen Auerhahn von Lux Barris. Doch niemals für Angelo."

"Er war nahe daran mich umzubringen", gab Nadja von sich. Brunhilde nickte nur. Sie konnte sich denken, wie er reagiert hatte.

"Bitte, hilf mir", flehte Nadja. "Wenn du schon nicht bereit bist, ihm zu helfen, dann tu es wenigstens für mich."

"Und wenn", entgegnete Brunhilde kopfschüttelnd. "Es ist unmöglich."

"Ich habe es einmal geschafft, mich selbst in die andere Welt zu bringen", gestand Nadja. "Aber es klappt nicht noch einmal."

"Es hat noch nie geklappt. Das glaubst du nur, weil du es dir gewünscht hast und dann ist es geschehen. Aber in Wirklichkeit hast du keine Kontrolle darüber."

Nadja starrte sie wortlos an. Resigniert setzte sie sich einfach auf den Fußboden.

"Dann wird er sterben", flüsterte sie traurig. "Vielleicht ist er schon tot."

"Wie ich sehe, hat er es bereits geschafft, dich einzuwickeln", stellte Brunhilde fest. "Er tut recht unschuldig, doch er ist hinterhältig und durchtrieben. Vergiß ihn. Du kannst ihm nicht helfen."

"Er war bereit für mich an Lux Barris Verrat zu begehen."

"Dieser Kerl ist bereit an jedem Verrat zu begehen, wenn ihm das einen Vorteil bringt." Brunhilde streichelte tröstend über Nadjas Kopf. Sie merkte, wieviel es der jungen Frau bedeutete. Doch sie glaubte Angelo besser zu kennen. "Wenn er wirklich nicht sterben dürfte, dann hätte dich Ajola nicht vorzeitig von dort weggeholt."

Nadja hob langsam den Kopf.

"Mag sein, dass er so war, als du ihn getroffen hast", gab sie leise von sich. "Aber ich glaube nicht, dass er noch immer so ist."

"Vergiß ihn", sagte Brunhilde kopfschüttelnd. "Er ist nicht eine einzige Träne wert. Er gehört zu der besonders gefährlichen Sorte, die es nie soweit kommen lassen, dass eine von uns seinetwegen in die andere Welt geschickt wird."

"Ich glaube das einfach nicht."

"Es ist so."

Nadja schüttelte den Kopf. Sie konnte sich Angelo nicht als gemeinen, hinterhältigen Kerl vorstellen. Ihr kamen seine letzten Worte wieder in den Sinn. "Er sagte, er wäre auf dich hereingefallen."

Brunhilde lachte kurz auf.

"So war das also. Auf mich hereingefallen. Hör nicht auf ihn. Er bringt es fertig, einem Neugeborenen den Hals umzudrehen und biegt es dann als Selbstmord hin."

"Ich glaube es trotzdem nicht."

"Es ist vorbei. Niemand kann ihm mehr helfen. Es wird das Beste sein, wenn du die ganze Sache schnell vergißt."

 

Doch Nadja konnte es nicht vergessen. Angelo hatte etwas in ihr bewirkt, was Richard in all den Jahren, in denen sie mit ihm zusammen war, nicht geschafft hatte. Nach einer Tasse Kaffee, fühlte sie sich zwar etwas besser, aber die Sorge um Angelo wollte nicht von ihr weichen. Als sie Brunhilde spät abends verließ, ging sie nocheinmal in die Kirche. Diesmal kniete sie nicht vor dem Altar, sondern setzte sich in eine Bank und grübelte vor sich hin. Sie wusste, wenn sie nach Hause ging, hatte sie Richard noch lange Erklärungen abzugeben und dazu war sie noch nicht bereit. Sie brauchte noch etwas Ruhe, wollte allein sein und beten, dass es irgendjemanden geben würde, der Angelo half.

Sie war allein in der Kirche. Niemand sonst besuchte das Gotteshaus.

Irgendwann setzte sich jemand neben sie. Nadja hob den Kopf und erkannte Sabine, Brunhildes Enkelin. Sie musste ihr gefolgt sein. Woher sonst wusste sie, wo sie Nadja finden konnte.

Sabine lächelte freundlich. Ihrem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass sie nicht wusste, ob sie etwas sagen durfte, oder besser den Mund hielt. Immer wieder setzte sie an, überlegte es sich aber dann doch anders und schwieg.

"Ich würde dir zu gerne helfen", flüsterte sie endlich, nach langem Ringen. Ihre Stimme war so leise, wäre die gute Akustik nicht gewesen, Nadja hätte kein Wort verstanden.

Sie nickte zum Dank für dieses Angebot. Aber sie wusste, dass Sabine ihr am allerwenigsten würde helfen können.

"Wie kommt es, dass du davon weißt?" fragte Nadja leise.

Sabine holte tief Luft, bevor sie antwortete.

"Als ich klein war, erzählte mir meine Oma vor dem Einschlafen oder einfach nur so zur Unterhaltung Geschichten von Rittern, Räubern, Prinzessinnen, einfachen Leuten und Königen. Sie haben mich immer so fasziniert, dass ich nie genug davon bekam. Irgendwann fragte sich sie, woher sie all diese Geschichten kannte und sie erzählte es mir."

"Und du hast das einfach so geglaubt?"

"Sie waren zu wirklichkeitsgetreu, zu lebendig um Märchen zu sein."

"Trotzdem. Es waren mit Sicherheit Dinge dabei, die es nicht geben kann."

Sabibe lächelte wieder. "Oma bewunderte mich oft wegen meiner großen Phantasie. Alles was sie erzählte, konnte ich umsetzen, in Bilder. Ich male, weißt du. Omas Geschichten habe ich alle in Bildern festgehalten." Sie verstummte und seufzte traurig. "Ich würde alles darum geben", begann sie leiser. "Wenn ich es selbst erleben könnte. Aber Oma sagte, es ist unmöglich. Sie hätte mich gerne als ihre Nachfolgerin gehabt, aber es hat nie geklappt." Sie sah hoch und lächelte Nadja zaghaft an. "Ich beneide dich darum."

Nadja lächelte zurück.

"Seit Oma nicht mehr Sara'ishtra ist, gibt es keine Geschichten mehr. Ich möchte aber so gerne mehr erfahren." Sabines Stimme flehte nach Erlösung. "Erzählst du mir von der anderen Welt", bat sie.

Als Sabine den Namen der Kriegerin ausgesprochen hatte, ging ein Ruck durch Nadja. Erst dachte sie, ihn durch Sabines Unachtsamkeit für immer verloren zu haben, doch dann fiel ihr plötzlich dieser andere Name ein, den, den sie entziffern konnte. Ihre Hände wurde plötzlich kalt und dieses Wort drängte aus ihr heraus, wie eine verdorbene Speise aus ihrem Magen. Nadja musste sich zusammennehmen, um ihn ihr nicht entgegen zu brüllen.

"Ich brauche dir nichts zu erzählen", erwiderte sie. "Ich habe etwas anderes für dich, was dir bestimmt besser gefallen wird."

Sabines Lächeln verschwand. Ihre Enttäuschung über die Absage war größer, als die Neugierde auf das was Nadja ihr anzubieten hatte.

"Wie würde es dir gefallen, dir deine Motive für die Bilder selbst zu holen?" fragte Nadja.

"Ich?" stammelte Sabine. "Du gibst mir deinen Namen ab?"

"Nein", schüttelte Nadja den Kopf. "Mir ist es gelungen, einen unleserlichen Namen zu entziffern. Mit dir könnte er wieder leben."

Sabines Gesicht hellte sich schlagartig auf.

"Du meinst, ich darf selbst in die andere Welt und das tun und erleben, was Oma getan und erlebt hat, und nach ihr du?"

Nadja nickte.

"Das ist toll", rief Sabine begeistert aus. Als ihre Stimme von allen Wänden zurückgeworfen wurde und sie beinahe zu erschlagen drohte, zuckte sie zusammen. Doch die Pein auf ihren unachtsamen Gefühlsausbruch hielt nicht lange an. "Bitte, sprich ihn aus", bettelte sie, froher Erwartung.

Nadja schmunzelte über die Begeisterung dieses Mädchens.

"Du musst dir angewöhnen, den Namen, völlig gleichgültig welchen, in dieser Welt niemals auszusprechen", gab sie ihr zu bedenken.

Sabine nickte heftig. Sie hätte in diesem Moment alles versprochen, nur um den Namen zu hören.

Als Nadja merkte, dass sie Sabine nicht länger hinhalten konnte, sprach sie ihn endlich aus.

"Estara'teja", sagte sie und verspürte gleichzeitig unendliche Erleichterung.

Sabine wiederholte den Namen und ließ ihn genießerisch auf der Zunge zergehen, wie ein Stück köstlicher Schokolade.

"Scht", machte Nadja. "Gewöhne dir das endlich an, sonst bist du ihn schneller los, als dir lieb ist."

Schnell schloss Sabine ihren Mund, wie eine Tür, die der Wind zugeschlagen hatte. Sie lächelte glücklich.

"Wie kann ich dir nur danken?" fragte sie leise und beantwortete ihre Frage gleich darauf selbst. "Ich weiß. Wenn ich in der anderen Welt bin, werde ich mich gleich auf die Suche nach diesem Angelo machen." Sie drückte ihr einen Kuss auf die Wange. "Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin. Endlich darf ich selbst etwas tun." Sabines Begeisterung war beinahe nicht mehr aufzuhalten.

Nadja wünschte sich dieselbe Begeisterung aufbringen zu können. Doch als sein Name gefallen war, keimte die Sorge um ihn mehr denn je auf.

"Hat dir Brunhilde erzählt, was passiert ist?" wollte sie wissen. "Weswegen ist sie so sauer auf ihn?"

Sabine musste sich erst wieder auf den Boden zurückholen, bevor sie antworten konnte.

"Viel erzählte sie nicht", erwiderte sie. "Es muss ihr irgendwie unangenehm sein, darüber zu sprechen. Ich habe es mehrmals versucht, musste ihr aber jedes Wort aus der Nase ziehen. Es ging um ein Schwert. Alles was ich erfahren konnte, war, dass er sich geweigert hat, es ihr zu geben. Ich nehme an, dass sie es unbedingt haben wollte und es ihm mit Gewalt wegnahm. Oma sagte einmal, er habe fiese Tricks angewandt. Er muss sich dagegen gewehrt haben."

"Er schmiedete dieses Schwert", warf Nadja ein.

Sabine nickte kurz und berichtete weiter.

"Wenn ich auf dieses Thema zu sprechen kam, war Oma plötzlich immer sehr still. Ich vermute, sie weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat. Aber zum Zugeben von Fehlern, war sie noch nie bereit gewesen", fügte sie achselzuckend hinzu.

"Mehr weißt du darüber nicht?" fragte Nadja.

Sabine schüttelte den Kopf.

"Das ist glaube ich, die einzige Geschichte, von der sie so gut wie gar nichts erzählte. Ich fragte sie einmal, wie er aussieht, weil ich ihn malen wollte. Sie sagte nur, er besäße treue Augen. Ist das wahr?"

Nadja überlegte kurz. Konnte sie seine dunklen Augen, als treu bezeichnen? Jedenfalls besaß er nicht die gefährlichen Augen eines Verbrechers. Wenn er sie ansah, konnte sie weich werden. Daher nickte sie. Vielleicht traf es nicht ganz zu, aber dies war nun völlig gleichgültig. Angelo war verloren. Gegen die Übermacht hatte er keine Chance gehabt.

"Danke", sagte Sabine und verabschiedete sich und bald war sie wieder allein.

Sie blieb noch eine Weile sitzen, verspürte aber bald Müdigkeit und verließ die Kirche. Sie hoffte bald ins Bett gehen zu können, einzuschlafen und in der anderen Welt aufzuwachen. Sie hoffte inständig, dass Angelo noch am Leben war.

 

Als sie nach Hause kam, sprang ihr Richard aufgebracht entgegen.

"Mensch, wo warst du?" rief er besorgt. "Ich habe die ganze Stadt nach dir abgesucht. Du warst nicht im Geschäft. Dein Chef hat hier angerufen. Wo warst du nur? Ich habe mir echte Sorgen um dich gemacht."

Nadja stöhnte genervt. Sie war doch noch nicht bereit, einen Kampf mit ihm zu führen.

"Ich bin müde", gähnte sie. "Können wir das morgen früh besprechen?"

"Ich hoffe, du hast dich von deinem Alptraum erholt." Er streichelte sanft über ihr Gesicht. An der Stirn verharrte er ein wenig, als wolle er fühlen, ob sie erhöhte Temperatur hatte. "Geht es dir jetzt besser, Kleines?" Er klang wirklich besorgt, doch Nadja störte es. Sie drehte den Kopf zur Seite.

"Mir geht es gut", maulte sie gereizt. "Ich bin nur müde."

"Wenn du ein Problem hast, sollten wir darüber reden, Kleines." Er versperrte ihr den Weg zum Schlafzimmer.

"Begreifst du nicht, dass ich jetzt nicht will", keifte sie ihn an.

"Ist ja gut", versuchte er sie zu beruhigen. "Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du dich hinlegst. Wir reden morgen darüber." Er geleitete sie ins Schlafzimmer, überwachte mit Adleraugen ihre allabendlichen Auszieh- und Zubettgehzeremoniell und wunderte sich anscheinend überhaupt nicht darüber, wie schnell sie ins Bett gekrochen war. Zu Nadjas Erleichterung ließ er sie allein.

 

Sie hoffte inständig Angelo zu finden und ihn retten zu können. Doch ihre Hoffnungen und Bitten waren vergebens. Als sie durch ein gräßliches, rasselndes Geräusch aus ihrem Schlaf gerissen wurde, stellte sie fest, dass sie diese Nacht nicht auf Reisen gegangen war. Sie schob dies Sabines Unachtsamkeit zu. Ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie ihre besondere Fähigkeit für immer verlor. Vor Wut und Trauer hämmerte sie auf ihr Kissen ein. Irgendwann erkannte sie, dass sie getan hatte, was sie hatte tun können. Sie ging, als wäre nichts geschehen zur Arbeit, entschuldigte ihre Abwesenheit am Vortag mit Unwohlsein und versuchte an etwas anderes zu denken, als an Angelo.

Es war vorbei, sagte sie sich immer wieder. Es war vorbei.

Nach der Arbeit suchte sie beim fernsehen Zerstreuung. Sie wusste, Richard wollte noch vorbeikommen. dass er noch nicht hier war, bedeutete, er war aufgehalten worden und musste Überstunden machen. Sie war froh darüber und bedankte sich im Stillen bei seinem Chef.

Das Telefon klingelte.

Mißmutig ging sie ran. Es war Sabine, die sofort, vor lauter Ungeduld übersprudelnd von ihrem ersten Abenteuer erzählte. Nadja hätte gleich wieder eingehängt, wenn sie nicht nach einem Wort von Angelo gelechzt hätte. So horchte sie sich mehr oder weniger interessiert Sabines begeisterte Erzählung an und musste zum Schluss vernehmen, dass niemand, wen Sabine auch fragte, etwas von einem Angelo gehört hatte. Auch sie war enttäuscht. Aber sie schwor Nadja, nicht aufzugeben.

Nadja wünschte sich sehnlichst selbst auf die Suche gehen zu können. Zähneknirschend dachte sie, dass es ihr nun unmöglich war. Es war vorbei.

Im Fernsehen lief ein alter Kostümfilm, der sie an die andere Welt erinnerte. Früher hätte sie über die plumpen Szene und Dialoge gelacht, heute ärgerte sie dies. Die Kampfszenen sahen gestellt aus, der Held gewann immer und brachte sich spielend mit einem Lächeln auf den Lippen, aus jeder noch so ausweglosen Situation. Die Geliebte des Helden, lief halbnackt über den Bildschirm und die Bösen machten, stets böse Miene. Es ärgerte sie.

Daher beschloss sie, sich dies nicht länger anzutun. Richard ließ auf sich warten. Sie kuschelte sich in ihr Sofa und versank bald in einen Halbschlaf. Im Hintergrund lief der Ton des Filmes ab, während Nadja sich im schwarzen Nichts wiegte. Pferde galoppierten und Schwerter prallten aufeinander. Die Titelmelodie zog sich durch den ganzen Film und tauchte in verschiedenen Szenen, mit verschiedenen Instrumenten immer wieder etwas abgeändert auf. Im Stillen summte sie diese Melodie mit, bis sie plötzlich stutzte.

Irgend etwas war anders. Waren es die Instrumente oder die Melodie? Oder beides?

Sie lauschte.

 

Etwas hatte sich verändert. Musik drang an ihr Ohr. Es war aber nicht mehr dieselbe. Sie öffnete die Augen und blickte in einen sternenklaren Himmel. Beinahe hätte Sara'ishtra vor Freude lauthals aufgeschrien, doch sie biss sich schnell auf die Lippen. Den Fehler, vorzeitig entdeckt zu werden, wollte sie nicht noch einmal aufkommen lassen.

In nicht allzuweiter Ferne wurde ein Fest gefeiert. Leise und vorsichtig erhob sie sich. Auf ihrem Rücken spürte sie die gewohnte Last. Unter ihrem Gürtel drückte etwas Hartes gegen ihre Haut. Glücklich, wieder hier, in dieser anderen Welt zu sein, erlaubte sie sich einen Jauchzer, aber ganz leise. Einen HandKuss schickte sie gen Himmel.

Der Vollmond erleuchtete die Umgebung beinahe so hell, wie das große Feuer. Ein Freudenfest, stellte Sara'ishtra fest. Sie fragte sich, weshalb sie hier war, wenn sich die Leute so freuten, dass sie ein Feuer erzündeten. Vorsichtig schlich sie näher. Würde von irgendwo her Gefahr auf sie eindrohen, befiel sie ein unangenehmes Gefühl, das sie warnen sollte. Doch diesmal war nichts. Kein unangenehmes Gefühl, keine Gefahr. Daher ging sie bedenkenlos in das Dorf. Sara'ishtra hätte zugerne gewusst, was es zu feiern gab. Die Leute tanzten singend und lachend um das große Feuer herum. Alles was Musik und Lärm erzeugte wurde benutzt und geschlagen. Die Tische und Bänke waren überladen mit allerlei Köstlichkeiten. Sara'ishtra fühlte sich an ihren ersten Auftrag erinnert. Danach hatte es ebenfalls eine Feier gegeben.

Eine junge Frau lief ihr entgegen. Obwohl Sara'ishtra sicher war, sie noch nie zuvor gesehen zu haben, kam sie ihr bekannt vor. Die Frau stach durch ihr Aussehen enorm von den Dorfbewohnern ab. Das strohblonde Haar, zu zwei langen Zöpfen über die Brust gelegt und ihre bleiche, fast weiße Haut, die im Licht des Feuers leuchtend rot schimmerte, fiel so sehr auf, wie ein falsch eingeschlagener Ton in einem Chor. Sie erweckte den Eindruck einer nordischen Schönheit. Erst als Sara'ishtra ihre Kleidung näher betrachtete, kam ihr eine Vermutung auf. Sie ähnelte der ihren.

"Sara'ishtra", rief die andere Ajola-Kriegerin. "Schön, dass du endlich da bist." Sie begrüßte sie freudig, wie eine alte Freundin. "Ich bin Estara'teja", klärte sie die Lage.

Sara'ishtra starrte sie kurz an, bevor sie Brunhildes Enkelin begrüßen konnte.

"Komm mit", rief Estara'teja und zog sie mit sich fort.

"Was wird hier gefeiert?" wollte Sara'ishtra wisen.

Anstatt konkret auf die Frage zu antworten, kam eine Gegenfrage. "Hast du schon mal gegen einen fünf Meter großen Grizzly gekämpft?" Sie streckte ihre Arme in die Luft, erreichte aber bei weitem nicht seine wahre Größe.

"Nein", entgegnete Sara'ishtra kopfschüttelnd.

"Es ist wahnsinn", rief Estara'teja freudig aus und umarmte stürmisch ihre Freundin. "Ich bin dir so dankbar dafür.

"Ist ja gut", wehrte diese ab und lachte mit ihr. "Was sagte eigentlich Brunhilde dazu?"

Estara'teja wurde schlagartig ernst. Sie blieb stehen und blickte einige Sekunden lang betreten zu Boden.

"Sie weiß es nicht", gab sie endlich von sich, aber so leise, dass es vom Lärm der Feierlichkeiten beinahe übertönt wurde und fast nicht zu hören war. Sie hob den Kopf. "Weißt du, als ihr erzählte, Oma wollte mich als ihre Nachfolgerin haben, es aber nie geklappt hat, habe ich gelogen. Sie wollte es nie. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie es nie abgegeben. Sie würde es sogar mit ins Grab nehmen. Ich glaube, sie ist gezwungen worden, aufzuhören."

"Von wem?" fragte Sara'ishtra neugierig.

"So panisch, wie sie reagierte, nehme ich an, von Ajola selbst."

"Gibt es das?"

Estara'tejas Gesicht hellte etwas auf. "Natürlich", rief sie aus. "Du kannst mit ihm Verbindung aufnehmen, wie er mit dir. Hat dir Oma nie erklärt, wie das geht?"

Sara'ishtra schüttelte den Kopf. Sie begann auf Brunhilde wütend zu werden. "Dir erklärte sie es wohl?" Es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage. Außerdem glänzte in jedem Wort der Neid mit.

"Ich habe Oma einmal dabei beobachtet und es ebenfalls versucht." Sie zuckte mit den Schultern. "Aber man muss dazu wohl eine Ajola sein. Es hat nie funktioniert." Freundschaftlich legte sie den Arm um ihre Freundin. "Ich bat Ajola, dich zu mir zu schicken. Er war einverstanden, dass wir gemeinsam auf die Suche nach Angelo gehen und ihn wieder auf den rechten Pfad zurückbringen."

Sara'ishtra konnte nichts sagen. Sie war sprachlos.

"So kann ich wieder gutmachen, was Oma angestellt hat", fuhr Estara'teja fort. "Und du kannst den Namen wieder reinwaschen."

"Was meinst du mit reinwaschen?" hakte Sara'ishtra nach.

"Unter deinem Namen wurde etwas Unrechtes getan. Das muss wieder in Ordnung gebracht werden."

"Sagte Ajola das?"

Estara'teja nickte. "Das schaffen wir schon", ermutete sie ihre Freundin. "Ich trug mir keine geringere Bürde auf, als ich versprach, dir zu helfen."

"Warum tust du das?" wollte Sara'ishtra wissen.

"Ich bin dir etwas schuldig", erwiderte sie achselzuckend. "Ohne dich wäre ich nicht hier. Und noch etwas. Ajola ist dir sehr dankbar, dass du versucht hast, einen Namen zu entziffern. An das hat schon lange keine mehr gedacht. So schulde ich dir das Doppelte."

"Es war nur reine Neugierde", wehrte sie ab.

"Verliere sie bloß nicht, deine Neugierde", riet ihr Estara'teja lachend. Sie räusperte sich kurz, damit sie normal und etwas gefaßter weiterreden konnte. "Von den Leuten hier, erfuhr ich, dass eine halbe Tagesreise von hier zur Fuß, ein Waffenschmied namens Angelo gelebt haben soll." Wie sie das "zu Fuß" aussprach, ließ deutlich erkennen, wie hoch erfreut sie über die hier geläufigen Fortbewegungsmittel dachte. Sara'ishtra hätte sich auch lieber in ein Auto gesetzt und wäre dort hingefahren. Doch hier gab es keine Autos. Man musste Pferde benutzen, oder eben zu Fuß gehen. "Sie wissen aber nicht, wo er jetzt ist", fuhr Estara'teja fort. "Es ist immerhin ein Anfang."

"Gibt es hier irgendwo einen ausgetrockneten Fluss, oder eine Schlucht?"

"Nicht dass ich wüßte." Estara'teja drehte sich um und fragte den Nächstbesten. Enttäuscht wand sie sich wieder um, als dieser mit dem Kopf schüttelte.

Sara'ishtra konnte sich an Berge in nicht allzuweiter Ferne erinnern, doch es war zu dunkel, um welche zu erkennen.

Am nächsten Morgen brachen sie auf. Zu ihrer Erleichterung führte der Weg zu dem Dorf, indem der Waffenschmied gelebt haben soll, in dieselbe Richtung, in der auch die Berge standen.

Nach tatsächlich einem halben Tag Fußmarsch, in dem Estara'teja alle Einzelheiten ihres Kampfes mit dem Grizzly erzählen musste, trafen sie auf ein kleines Dorf, von einigen größeren Hütten mit Gemüsegärten, Schweinepferchen und kleineren Baracken, die als Stall, Lager oder auch als Schlafstätte genutzt wurden. Sie fragten nach einem Waffenschmied.

Ein alter Mann zeigte auf einen verkohlten Haufen Schutt. Der steinerne Ofen ragte wie ein Mahnmal aus dem Berg von Tod und Verwüstung. Schnellwucherndes Efeu hatte ihn bereits bezwungen. Erschüttert standen die zwei Frauen vor der vor langer Zeit zerstörten Hütte.

"Was hat Oma nur gemacht?" fragte Estara'teja fassungslos.

"Das möchte ich auch nur zu gerne wissen", erwiderte Sara'ishtra.

Einige Dorfbewohner waren zusammengelaufen und beobachteten die beiden Ajola-Kriegerinnen aus sicherer Entfernung. Sie tuschelten miteinander und zeigten immer wieder auf die Gäste. Sara'ishtra vermutete, dass sie sie wiedererkannten. Erst drei Jahre waren seitdem ins Land eingegangen, da konnte es gut möglich sein, dass sich jemand an sie erinnerte. Estara'teja erkannte dies ebenfalls und dachte dasselbe.

"Ich glaube, hier haben wir keine Freunde", bemerkte sie und sah sich um. Immer mehr Bewohner trafen sich und diskutierten hinter vorgehaltener Hand. Einige begannen immer lauter zu schimpfen. Andere ließen sich davon ermutigen, mit ihren Mistgabeln und Eggen zu drohen. Die Ajola-Kriegerinnen spürten, dass von den Dorfbewohnern keine größere Gefahr ausging. Sie verhielten sich daher ruhig. Obwohl den Leuten Unrecht getan wurde und sie daher ärgerlich waren, besaßen sie genug Respekt oder nicht genug Mut, zwei Ajola-Kriegerinnen anzugreifen. Als sich Sara'ishtra umdrehte und zu dem alten Mann ging, wichen sie zurück.

Sara'ishtra spürte ihre bösen Blicke schwer auf ihr lasten. Sie konnte es ihnen nicht verübeln, obwohl sie ihr damit Unrecht taten. Aber die Bewohner konnten nicht wissen, dass in der Ajola-Kriegerin nun eine andere Seele wohnte. Sie beugte sich zu dem alten Mann herunter und fragte ihn nach einem ausgetrockneten Fluss, oder einer Schlucht.

Statt zu antworten, kreischte er auf, wie ein empörtes Waschweib und schrie immer wieder.

"Böse Geister, Ungeheuer."

Sara'ishtra drehte sich schulterzuckend zu Estara'teja um. Sie wusste nicht, ob er die beiden Frauen, oder die Schlucht meinte.

"Wo sind böse Geister?" fragte sie daher den Greis.

Er deutete auf einen Hügel und kreischte immer wieder. "Böse Geister."

Sara'ishtra reimte sich einiges zusammen. In der angegebenen Richtung musste sich der Ort befinden, an dem die bösen Geister ihr Unwesen trieben und nachdem der Alte so aufgebracht war, als sie ihm nach dem Flussbett fragte, musste dieser unheimliche Ort und ihr gesuchtes Ziel ein und dasselbe sein. Bevor sie Estara'teja, die die Dorfbewohner beobachtete, zu sich winkte, hatte sie noch eine Frage an den Alten.

"Ist ein Ajola-Tempel in der Nähe?"

Der Alte zeigte in dieselbe Richtung.

Die beiden Kämpferinnen verließen das Dorf in dieser Richtung.

Auf der anderen Seite des Hügels, an dessen Fuße, kamen sie zu dem Ajola-Tempel. Hier hatte Sara'ishtra Angelo zum letzten Mal gesehen. Doch weder von ihm, noch von seinen Kameraden war etwas zu sehen. dass sie nicht geträumt hatte, dass es tatsächlich passiert war, bewießen ihr der zerfurchte Boden, die abgeknickten Bäume und Büsche und Blutspuren, über die ganze Lichtung und zwischen den Bäumen verteilt. Das Gefühl zu spät gekommen zu sein, nahm immer mehr Besitz von ihr. Traurig lehnte sie sich gegen einen Baum und betrachtete den Ort.

Plötzlich fiel ihr auf, dass jemand ein Stück an der Mauer des Tempels repariert hatte. Sie war sich sicher, dass es vorher nicht da gewesen war. Vorsichtig betrat sie den Tempel. Ihre Augen brauchten wieder einige Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie tastete sich in Richtung Altar. Dort wartete sie, bis sie besser sehen konnte. Hinter sich spürte sie die Anwesenheit von Estara'teja.

"War es hier?" flüsterte sie ehrfurchtsvoll.

Sara'ishtra nickte stumm und suchte den Namen. Er stand nun in deutlich lesbaren Buchstaben unter dem ihren. Sie war sich sicher gewesen, dass er vorher an einer anderen Stelle gestanden hatte. Vielleicht sollte dies ein Deut auf die Kriegerin sein, die einem erloschenen Namen wieder zum Leben verholfen hatte. Sara'ishtra empfand Stolz, als sie dies erkannte. Sie nahm sich fest vor, noch weitere zu entziffern. Doch vorher musste sie Angelo finden und ihn retten - falls er noch am Leben war.

Gedankenverloren wanderte ihr Blick über den Innenraum und dem Altar und fand alles unverändert vor. Die Tonscherben lagen noch an dem Platz, an dem sie sie zusammengeschoben hatte. Das Gestrüpp und der Unrat bedeckten noch immer die Kothaufen in den Ecken.

"Ich möchte zugerne wissen, wo er ist und ob er noch am Leben ist", sagte sie leise.

"Wir werden ihn finden", versuchte Estara'teja die Sorgen ihrer Freundin zu zerstreuen.

Sara'ishtra drehte sich zu ihr um.

"Was ist, wenn sie ihn umgebracht haben?" fragte sie. "Dann war alles umsonst."

Darauf hatte Estara'teja nichts zu erwidern.

Sara'ishtra verließ die Kapelle. Sie hob schützend die Hand vor die Augen, musste aber dennoch blinzeln. Die Sonne würde bald untergehen und sie hatte noch nicht einmal eine Spur, oder auch nur einen Anhaltspunkt, wo sie weitersuchen sollte. Der Boden war von den Kämpfen zerfurcht. Sie suchte ihn nach Spuren ab. Viele Fuße hatten ihn zerwühlt, viele Hiebe zerschnitten. Sara'ishtra suchte nach Schleifspuren. Verwundete oder Tote, die weggeschleppt worden waren. Sie fand eine, die in den Wald zurückführte, in eben diese Richtung, aus der Sara'ishtra mit Angelo gekommen war, in genau derselben Richtung, in der das ausgetrocknete Flussbett lag. Sie rief nach Estara'teja.

Erst nach einigen Minuten und nach nochmaligem Rufen kam diese aus dem Tempel gelaufen. Im Gehen halfterte sie ihr Schwert auf den Rücken. Sara'ishtra fragte sich zwar nach dem Grund, der sie veranlaßt hatte, ihre Waffe abzulegen, doch sie sprach es nicht aus. Ihre Gedanken waren bei einer anderen Sache und dies erlaubte es nicht, sich um eine Andere zu kümmern. Als sie erkannte, dass ihr Estara'teja folgte, ging sie den Schleifspuren hinterher. Sie konzentrierte sich auf die Spurensuche und kümmerte sich nicht um ihre Kollegin.

Die Spuren waren mehr als deutlich. Es mussten mehrere Verletzte oder Tote weggeschleppt worden sein. Sara'ishtra erinnerte sich, dass sie selbst bereits sechs oder sieben niederstreckte.

Bald kamen sie an einer frisch aufgewühlt Stelle vorbei, als hätte hier jemand vor kurzem umgegraben. Sara'ishtra erkannte sofort, was dies bedeutete - ein Grab.

Sie haßte es, doch sie brauchte Gewißheit. So nahm sie ihr Schwert vom Rücken und benutzte es als Grabwerkzeug.

"Das kannst du dir sparen", gab Estara'teja von sich. "Angelo ist nicht da drin."

Sara'ishtra hielt inne.

"Woher willst du das wissen?" fragte sie.

"Ajola sagte es mir."

"Warum hast du mir das nicht früher erzählt?" maulte Sara'ishtra eifersüchtig.

"Ich erfuhr es selbst erst vorhin", erwiderte sie.

"Wann vorhin?"

"Eben, im Tempel."

Das war es also, sagte sich Sara'ishtra. Deswegen brauchte sie so lange. Sie wurde neidisch auf Estara'teja, wegen deren Fähigkeit mit Ajola sprechen zu können. Aber wenn sie deswegen mit ihr einen Streit anfing, war die Suche nach Angelo vielleicht zum Scheitern verurteilt. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte nicht mehr daran zu denken.

"Sagte er noch irgendetwas?" fragte sie mit einem, nicht gänzlich unter Kontrolle geratenen neidischen Ton.

Estara'teja musste es bemerkt haben. Sie lächelte entschuldigend.

"Er wurde überwältigt. Als sie ihn weggebracht haben, war er noch am Leben. Aber wo er jetzt ist, weiß Ajola nicht." Entschuldigend zog sie die Schultern hoch. "Sein Wirkungskreis ist begrenzt", gab sie vorsichtig von sich. "Nur wenn jemand in einem seiner Tempel betet, erfährt er was so passiert. Deswegen hat er ja seine Kriegerinnen."

"Sie werden ihn zurück in ihr Lager gebracht haben", schlussfolgerte Sara'ishtra kühl und versuchte ihre Gedanken vom Neid abzulenken. Ohne einen weiteren Kommentar, säuberte sie ihr Schwert, plazierte es wieder auf ihrem Rücken und ging weiter, in Richtung Flussbett. Sie konzentrierte sich nur noch auf Angelo.

Nun, da sie wusste, dass er zumindest, als er fortgebracht wurde, noch am Leben war, keimte Hoffnung in ihr auf. Sie musste ihn retten. Nicht nur, um ihren Namen zu säubern, sondern auch ihres Gefühles wegen. Irgendetwas in ihr, ließ sie gedankenlos hinter ihm herlaufen und alles tun, um ihn für sich zu gewinnen. Dieses Etwas verspürte sie zum ersten Mal, als sie Richard kennenlernte. Er verlor sich jedoch mit der Zeit. Nun keimte es wieder auf. Angelo war der Grund. Sara'ishtra konnte sich nicht erklären, warum. Er hatte nichts getan, was ihr imponieren könnte. Er versuchte nicht einmal sie zu küssen. Mit keinem Wort erwähnte er, dass er sie vielleicht mochte. Im Gegenteil! Er hatte sogar versucht, sie umzubringen. Dennoch ging ihr Angelo nicht mehr aus dem Kopf. Sie vermutete, dass Mitleid oder Pflichtgefühl dies in ihr hervorrieren.

Eben als sie den Kopf schütteln und diese Gedanken abwerfen wollte, befiehl sie ein anderes Gefühl - Gefahr. In ihrem Kopf dröhnte es nur noch danach. Sie blieb stehen und lauschte. Auch Estara'teja spürte es. Sie horchte ebenfalls in den Wald. Doch außer den natürlichen Geräuschen, war nichts zu vernehmen. Der Wind rauschte durch das Nadelgehölz, ab und zu knackte ein Baumstamm, oder ein Specht hämmerte ein Loch in das Holz, und dennoch ließ die beiden Frauen die Ahnung nach Gefahr nicht los.

Ein helles Sirren schreckte die Beiden herum. Estara'teja konnte sich gerade noch rechtzeitig auf den Boden werfen. Ein Pfeil bohrte sich in Höhe ihrer Brust in einem Baumstamm. Schnell kroch sie hinter einen Baum und sah angestrengt in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Auch Sara'ishtra ging in Deckung. Sie unternahmen nichts, bevor sie ihre Gegner nicht sehen konnte. Keine von Beiden trug einen Bogen. So mussten sie sich solange verstecken, bis es zu einem Nahkampf kommen konnte.

Die Frauen nickten sich zu. Sie waren sich einig.

Erneut zischte ein Pfeil durch die Luft und traf den Baum, hinter dem sich Sara'ishtra verschanzte. Im Unterholz knackte Gestrüpp und raschelte Farn. Leises Geflüster strich durch den Wald. Offensichtlich versteckten sich mehrere Personen zwischen den Büschen.

Sara'ishtra nickte Estara'teja zu und beinahe gleichzeitig schlichen sie aus ihrer Deckung und krochen aus verschiedenen Richtungen auf die Angreifer zu. Dabei versuchten sie auf keinen trockenen Ast zu treten. Sara'ishtra entdeckte eine Gestalt, die sich hinter einem niederen Busch verdingte. Vorsichtig schlich sie näher. Sie erkannte in dem Mann, einen von Angelos Kameraden. Vielleicht konnte sie ihn zu einer Auskunft bewegen, dachte sie und zog ihren Dolch aus dem Gürtel. Doch bevor sie ihn erreichen konnte, brüllte jemand lautstark los und ein Pfeil verfehlte nur um haaresbreite ihren Kopf. Sie war unvorsichtig gewesen und hatte ihre Deckung verlassen. Schnell sprang sie auf, zog ihr Schwert und wehrte die Hiebe der Männer ab, die sich laut brüllend auf sie stürzten. Obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, jemals mit einem Schwert und einem kurzen Dolch gekämpft zu haben, verstand sie es, beide Waffen optimal einzusetzen. Kam ein Gegner für ihr langes Schwert zu nahe, erledigte sie das mit der kurzen Waffe, beinahe wie von selbst. Dieser Körper war eine perfekte Kampfmaschine. Doch trotz allem musste sie ihre Gedanken bei der Sache halten. Sie schubste ihre Verwunderung beiseite und konzentrierte sich gänzlich auf den Kampf.

Dort wo sich Estara'teja zuletzt aufgehalten hatte, wurden ebenfalls Stimmen laut und wenig später klirrte auch dort Metall auf Metall. Sara'ishtra versuchte die Gegner zu zählen. Lux Barris Bande war groß. Sie wunderte sich dennoch über die reichliche Anzahl der Männer, aber noch mehr über ihr Erscheinen überhaupt. Für gewöhnlich verlor eine Räuberbande mit dem Tod ihres Anführers jeglichen Halt. Die Machtkämpfe der Nachfolger rissen alle Abkommen, Freundschaften und Pakte auseinander. Entweder war Lux Barris noch am Leben, was Sara'ishtra für sehr unwahrscheinlich hielt, oder sein Nachfolger war stark genug, die Männer unter Kontrolle zu halten, was sie eher in Betracht zog.

Irgendjemand brüllte erneut Befehle. Daraufhin zogen sich die Überlebenden rasch zurück.

Estara'teja kam angelaufen.

"Was hätte das sein sollen?" fragte sie atemlos.

Sara'ishtra zuckte nur ratlos mit den Schultern und sah sich suchend nach noch einem lebenden Räuber um, der ihr eine Antwort geben könnte. Die Meisten waren bereits tot, einer starb in ihren Händen, die übrigen wachten auch nach heftigen Schütteln nicht aus ihrem Koma, oder brachten außer Stöhnen und undeutlichem Gestammel nichts brauchbares hervor. Sara'ishtra fluchte leise vor sich hin. Sie hätte zugerne etwas über Angelo erfahren. Estara'teja säuberte ihre Klinge an einem Grasbüschel.

"Ich habe irgendwie das Gefühl, dass dies noch nicht alles war", gab sie nachdenklich von sich. "Ich wette, sie lauern irgendwo auf eine günstigere Gelegenheit." Sie steckte die Waffe zurück. "Was machen wir jetzt?"

Sara'ishtra betrachtete sie, jedoch ohne sie wirklich zu registrieren. Ihre Gedanken waren noch bei Angelo.

"Ist alles in Ordnung?" fragte Estara'teja besorgt.

Sara'ishtra nickte und riß sich los.

"Dann laß uns mal nachsehen, wohin sie sich verkrümelt haben", sagte sie schnell und folgte den Männern in den Wald. Sie wusste, wo sich Lux Barris Lager befand und folgte daher mehr ihrem Wissen, als den Spuren. Zum Glück lag beides auf demselben Weg.

Als der Wald aufhörte und die felsige Gegend des Flusses begann, bewegten sie sich vorsichtiger vorwärts. Ihr Gefühl warnte sie rechtzeitig.

Die Spuren der geflüchteten Räuber verloren sich im steinigen Gelände, führten aber zweifellos über den trockenen Fluss ins Lager. Sara'ishtra hütete sich davor, ihnen zu folgen. Daher blieb sie im Schutz des Waldes und schlich nahe am Rand des Flussbettes entlang. Sie rechnete jederzeit mit auf der Lauer sitzenden Spähern, oder einem erneuten Angriff, denn sie glaubte nicht, dass Lux Barris, oder sein Nachfolger nach bereits einem mißlungenen Versuch aufgaben. Es machte sie nur stutzig, dass sich keiner mehr sehen ließ.

Die Vermutung, dass sie irgendwo hin gelockt werden sollten, bestärkte sich immer mehr in ihr. Sara'ishtra war bereit in die Falle zu laufen. Sie war eine Ajola und sie musste endlich anfangen, als eine solche zu denken und zu handeln.

Obwohl ihre Ahnung auf Gefahr immer akkuter wurde, je weiter sie ging, kehrte sie nicht um. Nur kurz wand sie sich nach Estara'teja um, erkannte, dass diese ihr folgte und schlich weiter. Sie waren dicht dran, rechnet in jeder Minute mit einem Übergriff und machten sich auf alles gefaßt. Irgendwann hatte Sara'ishtra das Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Sie wand sich um, tat so, als ob sie nach Estara'teja sehen sollte und suchte mit flinkem Blick die Gegend ab. Estara'teja zeigte mit einem kurzen Wink, wo sie den Beobachter suchen sollte. Sie hatte ihn bereits gefunden. Sara'ishtra überlegte kurz, ob ihr der Mann noch hilfreich sein konnte. Denn sie würden mit Sicherheit bald erfahren, was sie wissen wollten. dass sie noch nicht angegriffen worden waren, zeugte davon, dass sie sich auf dem rechten Weg befanden. Sie ließ ihn unbeschadet und ging weiter, ihrer bösen Ahnung entgegen. Es kostete ihr einige Mühe, absichtlich in eine Falle zu laufen, doch die Sorge um Angelo trieb sie stetig vorwärts.

Ein Pfiff gellte plötzlich durch die Luft und schreckte die Frauen hoch, obwohl sie sich auf derartiges gefaßt gemacht hatten. Binnen kurzem waren sie umringt von Männer, deren Anzahl ausreichte um selbst zwei Ajola-Kriegerinnen nichts mehr ausrichten zu lassen. In Sara'ishtras Kopf hämmerte die Ahnung auf Gefahr, wie ein akuter Migräneanfall. Dennoch ließ sie ihre Waffen stecken. Sie blickte in Gesichter, in denen der Triumpf glänzte, wie ein Diadem in der Sonne. Ein jeder der Männer hätte sich liebend gern sofort auf sie gestürzt. Sie hielten sie jedoch zurück und gewahrten einen ausreichenden Abstand, waren aber zum Angriff jederzeit bereit. Ein Befehl, vermutete Sara'ishtra, eventuell aber auch die Achtung vor den Ajola-Kriegerinnen.

Einer der Männer zwängte sich aus der Menge und trat mit einem fiesen Grinsen in den Sicherheitsabstand. Er schien, mit seinen Leuten im Rücken und um sich herum, keine Angst mehr vor den beiden Frauen zu haben. Bedenkenlos näherte er sich ihnen und betrachtete sie mit einem Blick, der die Beiden ärgerte. Trotz allem wagte er sich nicht näher an sie heran, als ein Schwert umgreifen konnte.

"Willkommen", grinste er und verzog dabei das Gesicht zu einer Grimasse. Die untergehende Sonne zauberte ihm unheimliche Schatten ins Gesicht. Es ließ ihn gefährlich erscheinen. Vielleicht war er sich dessen bewusst, denn er ließ diese Maske stehen. Er warf einen kurzen Blick auf Estara'teja, wand sich aber gleich wieder Sara'ishtra zu. "Du hast Unterstützung mitgebracht", gab er feststellend von sich. "Das hätte ich nicht gedacht." Er drehte sich um und begann sich über die Unfähigkeit zu amüsieren. Gröhlend riß er derbe Witze, erwähnte aber Angelo mit keinem Wort. Er sagte nichts, worauf sich schließen ließ, dass Angelo noch lebte, ihn mit ihr in Verbindung brachte, oder ihn überhaupt kannte.

"Und wer bist du?" rief Sara'ishtra etwas gereizt und ungeduldig.

Der Mann drehte sich wieder um. Er amüsierte sich noch immer. Sein Grinsen wurde breiter.

"Du musst jetzt mit mir vorlieb nehmen", erwiderte er. Diesmal kam er ihr so nahe, wie er zuvor nicht gewagt hatte. "Ich hoffe doch, dass du mich liebevoller behandelst." Er nahm ihr Kinn in seine Hand und drückte zu, als sie es ihm entreißen wollte. Sara'ishtra schimpfte über ihn im Stillen. Dieser Kerl war um nichts besser, als sein Vorgänger Lux Barris. Sie war nicht bereit gewesen, sich Lux Barris hinzugeben. Sich diesem Kerl hingeben zu müssen, mißfiel ihr erst Recht. Völlig gleichgültig, was danach passierte, sie wollte ihm gleich anfangs zeigen, was sie davon hielt. Ihr Hände waren diesmal nicht gefesselt. So schmetterte sie ihm mit aller Kraft die Faust in den Magen und als er sie losließ und zusammensackte, schob sie einen ebenso kräftigen Haken an sein Kinn nach. Das genügte fürs Erste, sagte sie sich und baute sich breitbeinig vor ihm auf.

"War das liebevoll genug?" rief sie spöttisch.

Der Mann zu ihren Füssen stöhnte. Obwohl sie ihren Anführer zusammengeschlagen hatte, griffen seine Leute nicht ein. Teils mit erschrecktem, teils mit amüsiertem Gesicht beobachteten sie das Geschehen, waren jedoch nicht bereit zu helfen. Ein strikter Befehl, vermutete Sara'ishtra, oder vielleicht doch Ehrfurcht. Sie sah sich um. Einige grinsten, andere mussten ihre Zähne zusammenbeißen, um sich nicht sofort auf die aufsässige Frau zu stürzen. Nicht alle standen voll und ganz hinter ihren neuen Chef.

Sara'ishtra überlegte, wie sie dies ausnutzen konnte. Als sie sich vorhin umgesehen hatte, suchte sie auch nach einem bestimmten Gesicht. Sie fand es jedoch nicht, was sie ein wenig traurig, aber auch froh stimmte. Entweder hielten sie ihn irgendwo gefangen, oder er konnte fliehen. dass er vielleicht schon tot war, zog sie lieber nicht in Betracht.

Je länger der Mann zu ihren Füssen brauchte, um sich von den zwei Hieben der Frau zu erholen, desto lauter kamen spöttelnde Bemerkungen auf. Ein Anführer, der sich von einer Frau in die Knie zwingen ließ, schien nicht mehr als solches akzeptiert zu werden. Die Für- und Widerstimmen wurden immer lauter. Es dauerte mit Sicherheit nicht mehr lange, bis sie sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, freute sich Sara'ishtra insgeheim. Wenn sie beide Glück hatten, konnten sie das darauffolgende Durcheinander zur Flucht benutzen.

Doch soweit kam es nicht.

Erneut ertönte ein schriller Pfiff und die Männer waren augenblicklich still. Der Verdacht, dass der Mann zu ihren Füßen nicht der neue Anführer war, bestätigte sich in Sara'ishtra, als sich die Menge teilte und weitere Männer mit Fackeln näher kamen. In ihrer Mitte ging ein Mann, dessen Erscheinungsbild allein schon signalisierte, dass er der neue Chef war. Sein Gesichtsausdruck glich einer grimmigen Maske und wurde durch das Dämmerlicht der fast gänzlich untergegangenen Sonne und dem flackernden Licht der Fackeln noch unterstrichen. Unbeeindruckt marschierte er durch seine Leute und die Art, wie diese zurückwichen, deutete auf den gehörigen Respekt hin, der seiner Person gebührte. Er blieb vor den Ajola-Kriegerinnen und dem noch immer am Boden liegenden Mann stehen.

"Hast du Probleme, Callo?" fragte er seinen Mann.

Dieser stöhnte und rappelte sich auf. Als er ihn endlich registrierte, schrak er leicht zusammen. Die fiese Ausdruck war längst aus seinem Gesicht gewichen.

"Ich erinnere mich, dir befohlen zu haben, Eindringlinge zu verjagen und sie auf keinen Fall in die Nähe des Flussebene kommen zu lassen." Die Stimme des wirklichen Anführers war barsch und unerbittlich. Sie duldete keine Widerrede.

"Ich ... ich", stammelte Callo. "Sie ist es, die ... ." Weiter kam er nicht.

"Der Befehl war klar und deutlich gewesen", unterbrach eine donnernde Stimme. "Selbst du müßtest ihn verstanden haben. Was soll dieses Aufgebot? Brauchst du ein ganzes Heer, um zwei Weiber zu verjagen?"

Callo zuckte mit den Schultern. "Es sind Ajola-Kriegerinnen", rief er entschuldigend.

"Es ist völlig gleichgültig, wer in mein Gebiet eindringt." Er machte einen Schritt auf Callo zu und tippte ihm mit einem Finger hart auf die Brust. "Du hast sie zu verjagen."

"Aber sie hat doch ... ." Wieder wurde er am Weiterreden gehindert. Diesmal durch einen Kinnhaken. Die Leute ringsum zogen die Köpfe ein. Callo schrie auf. Als er sich wieder vom Boden erhob, führte quer über seinen linken Unterkiefer ein breiter Schnitt. Erst jetzt entdeckte Sara'ishtra den Ring an der rechten Hand des Anführers.

"Verschwinde", zischte dieser böse und sein Gegenüber beeilte sich nur allzu gerne, bald möglichst eine große Distanz zwischen sich und ihm zu bringen.

Sara'ishtra war sich nun sicher. Der neue Anführer dieser Bande besaß die nötige Stärke den Zerfall zu stoppen und die Leute unter Kontrolle zu halten.

Abrupt wand er sich zu ihr um.

"Du hast mir einen Gefallen getan", sagte er barsch, ohne jegliches Gefühl von Dankbarkeit. "Besser hätte ich es selbst nicht machen können."

Sie wusste, was er meinte. Aber sie weigerte sich, zu antworten.

"Allein diesem Umstand verdankst du, dass du noch am Leben bist. Und jetzt verschwinde von hier, bevor ich es mir anders überlege." Er wand sich zum Gehen.

"Ich gehe nicht ohne ihn", hielt sie ihn zurück.

Langsam drehte er sich wieder um.

"Ohne wen?"

"Angelo."

"Wer ist das?"

"Er gehörte zu Lux Barris Bande und war mit mir am Tempel, als ich dir diesen kleinen Gefallen tat."

Der Mann schien ernsthaft zu überlegen, wen sie wohl damit meinen könnte. Doch er schüttelte den Kopf. Dann wand er sich seinen Gefolgsleuten zu.

"Wißt ihr, wen sie meint?" fragte er, erntete jedoch nur Kopfschütteln und Verneinung. "Gibt es nicht bei uns", sagte er, wieder zu Sara'ishtra gerichtet. Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. Er drehte sich um, war nicht mehr bereit, sich weiter mit ihr zu unterhalten. "Schafft sie fort", befahl er dem Nächstbesten.

"Nicht ohne Angelo", rief ihm Sara'ishtra hinterher. "Mich kriegt hier niemand weg. Ich habe noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen. Bevor dies nicht geschehen ist, wirst du keine Ruhe vor mir haben."

Dies schien ihn beeindruckt zu haben. Er blieb stehen.

"Das heißt also, du willst hier bleiben." Dann erst drehte er sich um. "Ich kann hier keine Weiber gebrauchen. Sie stiften zuviel Unruhe. Meine Männer sollen nicht mit dem Schwanz, sondern mit dem Kopf denken."

"Ich bezweifle, dass auch nur ein einziger der hier anwesenden Männer überhaupt denken kann." Sara'ishtra baute sich breitbeinig und stolz erhobenen Hauptes vor dem Mann auf. Sie konnte die Art und den Ton, wie er über Frauen sprach nicht ausstehen.

Eine Raunen ging durch die Menge. Kühne Worte waren über die Lippen der Frau gekommen. Doch zum ersten Mal huschte über das Gesicht des Räuberhauptmannes ein Schmunzeln.

"Ich weiß, dass man dich nicht töten kann", sagte er mit einem gefährlichen Ton. "Vor langer Zeit, hörte ich von einem Fall. Da sei bei einem Kampf einer Ajola-Kriegerin ein Ohr abgetrennt worden sein. Vielleicht sollte ich dir die Zunge herausschneiden, bevor du noch mehr zänkische Reden führen kannst."

"Versuche es", reizte sie ihn, obwohl jeder Nervenstrang in ihrem Körper zitterte.

"Nein", erwiderte er trocken und schüttelte langsam den Kopf. "Die Mühe kann ich mir sparen. Ich hörte danach, dass sie etwas später mit Ohr wieder aufgetaucht war." Er grinste gefährlich. Es verschwand aber bald darauf. "Und jetzt verschwinde endlich." Erneut wand er sich zum Gehen.

"Nicht ohne Angelo", rief ihm Sara'ishtra hinterher.

"Hartnäckig, wie alle Weiber, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben", stöhnte der Anführer. "Ihr unterscheidet euch in Nichts von gewöhnlichen Frauen." Er ging langsam auf sie zu. "So gerne ich es täte und nur um dich endlich loszuwerden, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen. Niemand hier kennt diesen Kerl." Dazu machte er eine allumfassende Handbewegung. "Du kannst dir gerne aus diesen Männern hier, einen aussuchen. Und dann verschwinde endlich." Sein letzter Satz war äußerst ärgerlich.

Sara'ishtra zwang sich, nicht darauf zu reagieren.

"Du bist der Nachfolger von Lux Barris, oder etwa nicht", erwiderte sie und hielt seinem Blick stand.

Er antwortete nicht, sondern wartete auf das Weitere.

Als Sara'ishtra an ihr erstes Zusammentreffen mit Lux Barris zurückdachte, erinnerte sie sich an die Männer, die an dessen Seite gestanden und der Unterhaltung aufmerksam zugehört hatten. Sie glaubte, den nun vor ihr Stehenden, bei diesen Männern gesehen zu haben. "Er war bei denen, die mich vor Lux Barris führten", erzählte sie.

"Was hat er dir denn angetan, dass du so hartnäckig bist?"

"Ich glaube nicht, dir das erzählen zu müssen", antwortete sie schnippisch.

Er brauchte einen Moment, bis sich seine Vermutung verstärkte. Ein breites Grinsen entblöste seine Zähne.

"Er wird dir doch wohl nicht deine Unschuld geraubt haben", lachte er. Anders als bei Lux Barris fielen die Gefolgsmänner nicht mit ein. Sie warteten noch ab. "Den Kerl muss ich kennenlernen." Seine Heiterkeit legte sich jedoch bald wieder. "Ich verstehe dich, das kränkte dich so sehr, dass du ihn umbringen willst. Aber ich kann dir trotzdem nicht helfen. Hör zu, Mädchen. Ich habe lange genug meine Zeit mit dir verschwendet. Mit reicht es jetzt. Wenn du und deine Freundin nicht bald von hier verschwinden, werde ich mir doch doch die Mühe machen, euch irgend ein Körperteil anzuschneiden. Und glaube mir, ich gebe mich mit einer Zunge oder einem Ohr nicht mehr zufrieden. Auch wenn es euch wieder nachwachsen sollte. Die Schmerzen, die ihr dabei haben werdet, sind Bestrafung genug." Er drehte sich abrupt um. Noch um Gehen, brüllte er seine Männer so donnernd an, dass sie ängstlich zusammenzuckten. Er ließ sich selbst von Sara'ishtras wütendem Nachrufen nicht mehr aufhalten.

Mehrere Hände griffen nach den Ajola-Kriegerinnen und zerrten sie fort. Sie wehrten sich nicht allzusehr dagegen, denn es waren selbst für sie zu viele.

 

Längst war die Sonne hinter einem Hügel verschwunden und die Nacht hereingebrochen, als sie plötzlich zum stehenbleiben angehalten, unsanft an einen Baum gestoßen und dort festgebunden wurden. Die Räuber wollten nur sichergehen, dass sie ihnen nicht wieder folgten, denn sie vergriffen sich weder an den Frauen, noch an den Waffen. Obwohl sie sich darüber aufregten, dass sie ihrem Trieb nicht nachgeben durften, ließen sie die Beiden in Ruhe. Sara'ishtra bewunderte die Macht, die der neue Anführer über seine Männer besaß. Es machte ihr aber auch Angst. Er konnte sie selbst in seiner Abwesenheit, davon abhalten, sich an den Frauen zu vergehen.

Ein Großteil der Räuber war bereits in den nächtlichen Wald verschwunden, noch bevor die beiden Frauen richtig festgebunden werden konnten. Eine Handvoll Männer, so schätzte Sara'ishtra, blieb zurück und vollendete die Arbeit. Sie ließen ihren Unmut an den Fesseln aus und zogen so fest an, dass die Kriegerinnen oft die Zähne zusammenbeißen mussten, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien.

"Gute Nacht, meine Kleine", sagte eine Männerstimme zu Estara'teja. Dann gab es einen dumpfen Schlag und Sara'ishtra spürte, wie sich die Fesseln strammer zogen, als ließe sich jemand in sie hinein sinken. Dieselbe Stimme widmete sich auch ihr. "Mit einem schönen Gruß von Angelo", flüsterte er, nahe vor ihrem Gesicht, drückte ihr einen unsanften Kuss auf den Mund und beförderte auch sie mit einem harten Schlag an die Schläfe ins Nichts.

Als sie wieder zu sich kam, war sie zu ihrer Überraschung noch immer an den Baum gefesselt. Sie hatte eigentlich erwartet, nicht nur in die Ohnmacht, sondern auch zurück in ihre Welt katapultiert zu werden.

Es war heller Tag. Das Licht der Sonne bahnte sich einen Weg durch das schier undurchdringliche Dach des Waldes. Sie freute sich, dass sie noch hier war. Die getroffene Schläfe sendete schmerzhafte Impulse aus. Sara'ishtra musste die Augen schließen, denn jede Bewegung, selbst das Tageslicht, reizte ihren empfindlichen Kopf.

Jemand zog an den Fesseln. Da erinnerte sie sich wieder an Estara'teja.

"Bist du wach?" fragte sie und stöhnte gleich darauf auf. Ihre Stimme brachte den gewaltigen Resonanzraum in ihrem Kopf schmerzhaft zum Schwingen.

"Ich weiß noch nicht so Recht", kam die Antwort. "Ich fühle mich irgendwo dazwischen, auf irgendeinem Abstellgleis."

Sara'ishtra musste lachen, bereute es aber gleich darauf. Ein stechender Schmerz jagte durch ihren Kopf. Sie fühlte sich im Grunde wie Estara'teja. dass die Männer nur immer so grob sein mussten.

Sie zerrte an den Stricken und hörte wie Estara'teja kurz aufstöhnte. Die Fesseln waren strammgezogen und die Knoten wohlweislich in unerreichbarer Ferne.

"Kommst du an meinen Dolch?" fragte Sara'ishtra, atmete aus und hielt die Luft an um ihrer Freundin genug Spielraum zu geben. Estara'teja schob sich um den dicken Stamm herum, streckte und dehnte sich, zog an den Stricken, dass Sara'ishtra die Zähne zusammenbeißen musste, reichte aber nicht herum.

"Ihr seht aus, als würdet ihr in Schwierigkeiten stehen", rief eine Stimme aus dem Wald.

Die Köpfe der Kämpferinnen fuhren herum. Zwischen den Bäumen trat ein Mann hervor, der einen dürren klapprigen Gaul hinter sich herzog. Das Tier scheute vor der Enge des Dickichtes, doch er zog es erbarmungslos weiter. "Ihr seid Ajolas, richtig?" wollte er bestätigt haben, wartete jedoch nicht auf eine Antwort. "Ich hörte, dass Eine in der Nähe ist." Er zog ein Messer aus seinem Gürtel und machte sich daran, die Fesseln durchzuscheiden, jedoch ohne die Zügel loszulassen. "Selbst mein Vater, bekam nie eine zu Gesicht. dass ich gleich zwei treffe, muss etwas zu bedeuten haben", fuhr er fort. Er schien sich selbst gerne reden zu hören, denn er gönnte sich nur sehr kurze Atempausen, geschweige denn, schwieg solange, dass die Ajola-Kriegerinnen zu Wort gekommen wären. Diese hätten es ohnehin nicht gewagt ihn zu unterbrechen, denn die Gefahr, dass er daraufhin ihre Befreiung vergessen würde, war zu groß. "Wer hat euch denn in diese Lage gebracht?" fragte er und schien diesmal eine Antwort zu erwarten, denn die daraufhin folgende Pause währte etwas länger.

"Lux Barris Männer", antwortete Sara'ishtra.

"Lux Barris?" wiederholte er ungläubig. "Ich dachte, ihn gäbe es nicht mehr Solodes ist doch jetzt der Anführer, nehme ich zumindest an. Dieser kaltblütige Kerl wird sich diese einmalige Gelegenheit nicht nehmen lassen. Nachdem Lux Barris nicht mehr ist. Auf soetwas wartet er doch schon lange." Während er das Messer zurücksteckte und sich die Frauen von den restlichen Fesseln selbst befreiten, murmelte er ununterbrochen weiter laut vor sich hin. "Wir können uns jetzt auf einiges gefaßt machen. Barris ließ wenigstens uns Arme und Bauern zufrieden. Doch Solodes ist mit der Auswahl seiner Opfer nicht ganz so zimperlich. Eigentlich schade um Barris. War nichts mehr zu machen. Er war bereits tot." Der Mann zog das Tier näher an sich.

"Wie meinst du das?" unterbrach Estar'teja. "Er war bereits tot?"

"Ich fand ihn und noch weitere seiner Männer niedergemetzelt, oben am Tempel", berichtete er. "Ich schleppte sie alle in den Wald und begrub sie, bevor die Wölfe über sie herfallen konnte. Sie hätten es zwar verdient, nicht nur Barris, der über viele junge Mädchen aus der Gegend Schande gebracht hat. Doch man muss auch an die Leute denken, die in der Nähe wohnen. Und an den Tempel und seine Aufgabe. Wenn Rudel von blutgierigen Wölfen herumstreunen, ist es lebensgefährlich durch den Wald zu laufen und den Tempel zu besuchen. Zwar schade um die Mühen, aber trotzdem." Er wischte sich die Hände an seiner schmutzigen Kutte ab, als haftete noch immer der Schmutz dieser ekelhaften Arbeit an seinen Fingern. Er holte tief Luft und wechselte das Thema. "Ich dachte, dass ihr Ajolas immer allein unterwegs seid. Kommt ihr wegen Solodes zu zweit?."

"Nein", erwiderte Sara'ishtra kopfschüttelnd.

"Doch nicht wegen mir?" fragte er mit äußerst besorgtem Ausdruck in seinen Augen. "Ich weiß, ich weiß", rief er sogleich entschuldigend. "Ich sollte mich mehr um den Tempel kümmern. Doch ich muss auch an meine Familie denken. Zu meines Vaters und Urgroßvaters Zeiten war sie besser beieinander. Ich muss jedesmal eine weite Strecke zurücklegen. Ich legte mir sogar ein Pferd zu, damit ich schneller hin und wieder zurück komme ... ."

"Halt mal die Luft an", unterbrach Estara'teja heftig. "Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst." Der Mann schien tatsächlich die Luft anzuhalten, denn zum Antworten musste er ausatmen und Luft holen.

"Ich bin für den Ajola-Tempel zuständig", erklärte er. "Einer meiner Vorfahren wurde von einer Ajola-Kriegerin aus der Not geholfen. Er schwor ihr zu Ehren einen Tempel zu errichten. Seitdem geht das Amt vom Vater auf den Sohn über. Nun bin ich an der Reihe. Ich weiß, ich vernachlässige den Tempel. Aber ich tu, was ich kann. Aber ich muss mich auch um meine Familie kümmern. Es ist ... ."

"Ist ja schon gut", unterbrach diesmal Sara'ishtra den Redefluss des Mannes. "Ich kann dich zwar verstehen, den Tempel könntest du aber trotzdem etwas besser in Schuß halten. Und nun beruhige dich, deinetwegen sind wir nicht hier."

Er verzog sein Gesicht, da er Sara'ishtras Bemerkung nicht ganz verstehen konnte. Sie ärgerte sich ein wenig über ihn, widmete sich aber gleich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe.

"Hast du einen Namen?" fragte sie ungeduldig.

"Sam", erwiderte er.

"Kennst du einen Angelo, Sam?" wollte sie als Nächstes wissen.

"Im Dorf hinter dem Hügel gab es einmal einen Waffenschmied namens Angelo. Vor einigen Jahren schloss er sich den Räubern aus der Schlucht an. Ein dummer Entschluss, würde ich sagen. Sein redliches Leben wegen Gold und Abenteuer aufzugeben. Irgendetwas muss passiert sein, doch die Leute aus dem Dorf, bei denen ich manchmal Material zur Ausbesserung des Tempels besorge, erzählen nichts. Scheint ihnen peinlich zu sein. Ein paar Mal sah ich ihn, als ich am Tempel arbeitete. Er zog mit einigen Kumpanen am Tempel vorbei. Seid ihr wegen ihm hier?" wollte er wissen. Dann schüttelte er den Kopf. "Die Mühe könnte ihr euch sparen. Er ist nur ein kleiner Fisch, in dem großen, übelriechenden Tümpel, da unten in der Schlucht. Solodes wäre es eher wert. Macht ihr diesem Angelo den Garaus, besorgt sich Solodes zehn neue Leute. Aber ich denke, es stört ihn nicht einmal, einen seiner Männer zu verlieren. Er würde ihn vielleicht sogar höchstpersönlich ausliefern."

"Wir wollen Angelo nicht umbringen", erklärte Sara'ishtra. "Sondern retten."

Sam legte fragend den Kopf schief. Es schien etwas Neues für ihn zu sein, dass gleich zwei Ajola-Kriegerinnen einen Räuber retten wollten.

"Hast du Angelo noch einmal gesehen, nachdem du Lux Barris und seine Männer begraben hast?" wollte Estara'teja wissen.

"Gestern erst", nickte Sam.

"Und wo", waren die Beiden begierig auf die Antwort.

"In der Schlucht", erzählte er. "Ich suchte nach passenden Steinen für die Ausbesserungen am Tempel. Sie machten sich wie immer lustig über mich. Ich bin wohl der Einzige, der in ihre Nähe darf, ohne gleich umgebracht zu werden. Sie wollen es vielleicht nicht wahrhaben, doch ich denke, dass sie mehr Angst vor Ajolas Rache haben, als sie zugeben möchten." Sam grinste Stolz auf sein ungeheueres Glück.

"Soll das heißen, er ist nicht ihr Gefangener?" wollte Sara'ishtra wissen.

"Es sah für mich nicht so aus", schüttelte Sam den Kopf. "Er trug eine frische Wunde, quer über seine linke Wange. Vielleicht ist er in eine Prügelei hineingeraten, aber sonst ging es ihm sehr gut." Sam zuckte entschuldigend mit den Schultern. Er konnte sich die Sorge der Kriegerinnen um einen Räuber nicht erklären und versuchte sich darüber lustig zu machen.

"Er hat gelogen", schimpfte Sara'ishtra ärgerlich. Sie wusste, was die frische Verwundung zu bedeuten hatte.

"Dieser Scheißkerl wusste von wem wir sprachen", rief Estara'teja erzürnt. Auch sie hatte erkannt, dass die Verwundung nur von Solodes Ring herstammen konnte. Dieselbe Verwundung, die auch Callo seit kurzem im Gesicht trug.

Sam legte seinen Kopf schief und machte einige Schritte rückwärts. Er konnte sich den plötzlichen Wutanfall der beiden Frauen nicht erklären und schien sich zu fragen, wer mit Scheißkerl gemeint war.

"Wenn Angelo wieder in die Bande aufgenommen wurde", dachte Estara'teja laut nach. "Besteht vielleicht eher die Möglichkeit ihn mit heiler Haut heraus zu holen."

"Ich kann das nicht glauben", schüttelte Sara'ishtra den Kopf. "Er sollte mich bewachen, was ihm nicht gelang. Als sie uns eingeholt hatten, stellte er sich auf meine Seite. Er hat gegen seine eigenen Kameraden gekämpft. Und jetzt nehmen sie ihn wieder auf. Nein!" Entschlossen schüttelte sie den Kopf. "Niemand nimmt wissentlich einen Verräter in seine Reihen auf."

"Denk an die Wunde. Der Ring. Solodes wird ihm wieder seine Meinung eingetrichtert haben. Und bei der Entscheidung zwischen weiterleben in Mißtrauen oder Sterben, wird er sich für Leben entschieden haben", schlussfolgerte Estar'teja.

Sara'ishtra wusste, dass sie Recht hatte. Jeder normal Denkende, hätte sich so entschieden. Sie verspürte plötzlich den starken Drang den Tempel besuchen zu müssen. Sie kämpfte nicht dagegen an, denn wenn es tatsächlich so war, wie sie vermutete, was keine Eile mehr angesagt.

"Ich muss nachdenken", sagte sie entschlossen und wand sich an Sam. "Zeig mir den Weg zum Tempel", forderte sie.

Sam nickte, riß sein Tier herum und zerrte es durch das Dickicht.

"Was hast du vor?" wollte Estara'teja wissen.

"Ich weiß es noch nicht", antwortete Sara'ishtra und folgte Sam. Sie sehnte sich nach dem Gefühl, dass sie überkam, als sie den Ajola-Tempel betrat. Sie sehnte sich nach der Geborgenheit, die sie dort umhüllen würde. Gleich in welchem Zustand der Tempel war, allein Ajolas Anwesenheit gab ihr die Genugtuung, die sie ersehnte.

Sam zog das arme Tier durch das dichte Gestrüpp. Es besaß keinen Sattel. So war das Fell an den stark hervorstehenden Knochen der Wirbelsäule stark abgenutzt. Es lahmte auf einem Vorderbein, doch Sam schien dies alles keineswegs zu stören.

Nach einer knappen Stunde Fußmarsch, quer durch den Wald, über steinige Wege, sandige Plätze und schließlich wieder Wald, kamen sie zum Tempel zurück. Je näher sie kamen, desto größer wurde das Verlangen in Sara'ishtra. Sie ließ sich von niemandem abhalten, die kurz vor dem Verfall stehende Kapelle zu betreten. Selbst nicht wenn sie tatsächlich eingestürzt wäre. Dunkelheit umfing sie wieder. Ihre Augen starrten in undurchdringliches Schwarz. Sie fühlte sich wesentlich besser. Dieses starke und beinahe schmerzhafte Verlangen löste sich in dieser Dunkelheit in Nichts auf. In ihrem Rücken spürte sie die Anwesenheit von Estara'teja. Eine zarte Hand legte sich auf ihre Schulter.

"Lege deine Waffen auf den Boden", flüsterte Estara'teja und schickte sich bereits an, ihre eigenen abzulegen.

Sara'ishtra zog ihr Schwert und den kleinen Dolch und legte es neben sich auf den Boden. Dann kniete sie nieder, an der Stelle, wo sie stand. Ungeachtet des Unrates, der sich eventuell dort befinden konnte. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Im Stillen fragte sie sich, was sie nun als Nächstes tun sollte. Zu ihrer Überraschung antwortete eine Stimme.

"Konzentriere dich auf das, was du ihn fragen willst", gab Estara'teja leise von sich.

Sara'ishtra ließ ihren Blick nicht von dem einfachen Altar mit den Tonscherben. Die in den Wand eingeritzten Namen der Ajola-Kriegerinnen leuchteten wie eine matte Neonbeleuchtung aus der Dunkelheit heraus. Sie zwang sich vollkommen ruhig zu sein, selbst auf die Gefahr hin, wieder in ihre Welt zu gleiten. Die angenehme Kühle im Inneren des Tempels fuhr erfrischend in ihre Glieder. Ihr Körper zog aus dieser Kühle die Energie, die er brauchte, um neue Taten zu vollbringen und lebte wieder auf. Sie fühlte sich gut, besser denn je. Ihr eigener Name leuchtete plötzlich heller, als die anderen. Langsam las sie jeden Buchstaben, einer nach dem Anderen. Und immer wieder, bis sich in ihrem Kopf ein Wort formte, das wie ihr Name klang.

"Willkommen", sagte plötzlich eine tiefe Stimme in ihrem Kopf. Sara'ishtra schrak leicht zusammen. Im selben Moment jedoch wusste sie auch, wem diese Stimme gehörte. und gab sich wie von selbst hin. "Deine Sorgen sind unbegründet, deine Suche ist vorbei. Ich rief dich zu mir, weil der Grund deines Aufenthaltes in dieser Welt, hier bei mir ist. Du und deine Schwester, seid schon zu lange eurer Welt fern. Aber ich gebe euch noch die Zeit, Schuld und Versprechen einzulösen."

"Wo ist er?" formten sich die lautlosen Worte in ihrem Mund. Die tiefe, sanfte Stimme Ajolas ließ leichte, kühle, aber auch sehr angenehme Schauer über Sara'ishtras Haut laufen. Ein Gefühl, das sie am Liebsten niemals mehr missen wollte.

"Nicht weit von euch entfernt", erwiderte Ajola. "Er kam nicht aus freien Stücken. Ich rate euch, eure Mission schnellst möglich zu beenden, damit ihr bald wieder in eure Welt zurückkehren könnt." Mit diesen Worten zog sich Ajola von seiner Jüngerin zurück.

Sara'ishtra blieb zurück wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter ins Bett gebracht worden war und nun allein in dem dunklen Zimmer blieb. Sie schüttelte den Kopf und sah sich verwirrt um.

"Was sagte er?" stürzte Estara'teja sogleich auf sie ein.

"Er sagte, wir sollten uns beeilen", erzählte Sara'ishtra, immer noch verwirrt von diesem Erlebnis. Sie blickte sich um und suchte den Mann mit dem sie eben sprach. Da entdeckte sie einen Schatten in einer dunklen Ecke des Tempels. Sie erhob sich und schlich näher. Was sie fand, war nicht Ajola, sondern Angelo, gefesselt und geknebelt und besinnungslos.

"Hilf mir", rief sie Estara'teja zu und zerrte den leblosen Körper aus der Ecke.

"Ist das etwa Angelo?" fragte Estara'teja und packte mit an.

"Ist es", bestätigte Sara'ishtra. "Ajola meinte, er wäre nicht aus freien Stücken gekommen. Sam hatte demnach Recht. Solodes brachte es sogar fertig, ihn höchstpersönlich auszuliefern. Ich schätze unser Besuch gestern abend, veranlaßte ihn, Angelo abzuschieben, bevor wir ihm größere Schwierigkeiten bereiten können.

Die Ajola-Kriegerinnen zerrten ihn hinaus ins Licht und erschraken beinahe. Die Männer, die Angelo zum Schweigen brachten, hatten es gründlich getan. Sein Gesicht war blutig geschlagen. Das aus mehreren Platzwunden gelaufene Blut, bereits getrocknet und verkrustet. Knebel und Fesseln waren so fest gezogen, dass sich die Knöchel unter den Gelenken bläulich zeigten und die Haut weiß und blutleer schimmerte. Sara'ishtra schnitt schnell die Stricke durch und befreite ihn von der Mundfessel.

"Wir brauchen Wasser", rief sie Sam zu, der die Frauen nur mißtrauisch beobachten konnte.

"Hier gibt es kein Wasser", erwiderte er achselzuckend und blieb stehen. Er schien von Ajolas Zauberkunst vollkommen beeindruckt zu sein und war nicht fähig seine erstaunten Augen von Angelo zu nehmen, oder auch nur irgendetwas anderes zu tun.

Angelo stöhnte leise, als das Blut durch seine tauben Gliedmaßen floß und seine Nerven und Blutbahnen schmerzhaft an ihre eigentliche Funktion erinnerte. Sara'ishtra freute sich im Stillen. Ein Lebenszeichen, wenn auch ein kleines. Vielleicht konnte sie endlich das tun, was sie sich schon so lange geschworen hatte - ihm aus diesem Sumpf heraus zu helfen. Sie betrachtete ihn besorgt und je länger sie ihre Blicke über seinen Körper wandern ließ, desto heftiger kehrte dieses seltsame Gefühl zurück, das bereits einmal über sie kam, als sie Angelo beobachtete. Das Gefühl das Richard früher, vor langer Zeit hervorrufen konnte, aber bei ihm nicht mehr zurückkehren wollte. Heißkalte Schauer jagten über ihren Rücken, als sie ihm die blutleeren Hände warmrieb. Jetzt würde alles wieder gut werden.

Estara'teja klopfte ihm vorsichtig auf die Wangen. Sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun können. Nur langsam kam er wieder zu sich. Er blinzelte gegen die grelle Vormittagssonne an und schien nicht so recht in die Wirklichkeit zurückkehren zu wollen. Leise stöhnte er, als er sich leicht bewegte. Estara'teja fuhr seine Gliedmaßen ab, um nach gebrochenen Knochen zu suchen und musste erleichtert den Kopf schütteln. Erst als Angelo weit genug in das Leben zurückgekehrt war, um begreifen und verstehen zu können, was er sah und was sich um ihn herum abspielte, kam eine erste menschliche Reaktion zum Vorschein. Er erblickte Sara'ishtra und verpaßte ihr eine gehörige Ohrfeige. Sofort hielt Estara'teja ihn vor einer weiteren zurück. So schwach er noch war, so heftig seine Glieder von der plötzlichen Anstrengung zitterten, sein Schlag und seine Gegenwehr waren stark genug, dass Estara'teja ihn mit aller Kraft auf den Boden zurück drücken musste.

Sara'ishtra konnte ihn verstehen und gab die Ohrfeige nicht zurück, obwohl sie sie eigentlich nicht verdient hatte. Aber woher sollte Angelo dies wissen.

"Ist dir jetzt besser?" fragte sie ihn verständnisvoll. "Ich würde mich gerne von dir verprügeln lassen, wenn es das ungeschehen machen könnte, was in der Zwischenzeit mit dir passierte. Ich wollte nicht gehen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich Lux Barris' ganze Bande bis zum letzten Mann erledigt. Aber es stand nicht in meiner Macht ... ."

"Du kannst dir weiteres sparen", brüllte er mit schwerer Zunge und spuckte dabei Blut. Er versuchte sich aus Estara'tejas Griff zu befreien, doch sie setzte ihr ganzes Gewicht ein und konnte ihn am Boden halten.

"Ich kann mir denken, dass du sauer bist", ließ sich Sara'ishtra nicht beeindrucken. "Ich will auch alles tun, damit alles wieder in Ordnung kommt."

"Verschwinde", zischte er böse. "Verschwinde endlich aus meinem Leben. Hast du nicht schon genug angerichtet?"

"Ich gehe nicht eher wieder von hier fort, bis du wieder in deiner Schmiede arbeitest", erwiderte sie entschlossen.

"Ach", machte er angewidert und kämpfte erneut gegen Estara'teja an. Doch die blonde Schönheit gestattete es ihm nicht, sich auch nur einen Millimeter vom Boden zu erheben. Er gab es schließlich auf. "Drückt dich dein schlechtes Gewissen", zischte er wütend. "Seit wann denn das? Oder sind dir deine seltsamen Geschichten vielleicht selbst zu Kopf gestiegen?"

"Du wolltest doch mehr hören", erinnerte sich Sara'ishtra.

"Kein Interesse mehr", murmelte er mißmutig und funkelte Estara'teja böse an. "Sag deiner Freundin, sie soll mich loslassen", forderte er.

"Nur wenn du nicht mehr ausflippst", entgegnete sie.

"Nicht mehr was?" rief er.

"Sie macht sich Sorgen um mich", erklärte Sara'ishtra schnell. "Sie weiß, dass du sauer auf mich bist und wenn sie dich losläßt, verprügelst du mich vielleicht doch noch."

"Ich werde mich hüten", zischte Angelo. "Völlig gleichgültig in welch ausweglosen Situation du dich befindest, du kommst stets ohne Kratzer davon. Sollte ich dich wirklich verprügeln, würde mir die Hand schmerzen, ohne dich jemals berührt zu haben und du trägst nicht einen einzigen blauen Fleck auf deiner Haut. Wenn ich da nur an meine jämmerlichen Versuche denke, dich zu töten." Er lachte plötzlich über seine eigenen Mißgeschicke und musste husten, als ein Blutstropfen in den falschen Hals rutschte.

Estara'teja ließ ihn endlich los.

"Dann lege dich nicht mit einer Ajola-Kriegerin an", riet sie ihm.

Er funkelte sie so böse an, dass Estara'teja den Blick von ihm nehmen musste. Sie drehte sich um und gesellte sich zu Sam, der noch immer ganz verklärt dreinblickte. Ein Wunder hatte sich für ihn offenbahrt. Die Hintergründe dieses "Wunders" zu erklären, ging vielleicht über Sams Verstand. Deswegen versuchte es Estara'teja erst gar nicht. Sie ließ ihn in diesem Zustand. Statt dessen beobachtete sie aufmerksam Angelos Versuche sich aufzurichten. Er ließ sich von Sara'ishtra nicht helfen und stieß sie von sich, als sie ihm unter die Arme greifen wollte.

"Ich dachte eigentlich, du hättest verstanden, was ich zu erklären versuchte", gab sie etwas enttäuscht von sich.

"Du meinst deine seltsamen Geschichten, die meinen Verstand verwirren sollten", schmetterte er ihr verächtlich entgegen.

"Es war die Wahrheit. Du darfst nicht allein auf mich böse sein ... ."

"Hör auf damit", rief er beinahe flehend. Doch als Sara'ishtra in seine Augen blickte, erkannte sie, dass er sein Flehen nur spielte. "Ich will davon nichts mehr hören. Erzähl deine Märchen, wem du willst. Es gibt genug Kinder, die du damit erschrecken kannst." Er richtete sich mühsam auf. "Seit ich dich das erste Mal traf, verfolgen mich Pech und Schwierigkeiten auf Schritt und Tritt."

"Vielleicht liegt es daran, dass du aus Rache einen falschen Weg eingeschlugst", erwiderte Sara'ishtra.

"Was wäre denn deiner Meinung nach der richtige Weg gewesen?" wollte Angelo wissen. "Meine Schmiede, die von einer wütenden Amazone dem Erdboden gleich gemacht wurde, wieder aufzurichten? Oder vielleicht bis an mein Lebensende der Sklave eines verrückten Weibes zu sein? Ohne mich." Er schüttelte entschlossen den Kopf und musste feststellen, dass er nur noch aus Schmerz bestand. Behutsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht, richtete er sich auf. Mühsam stellte er sich auf die Beine und konnte sich nur wackelig aufrecht halten.

"Sie erzählt mir leider nicht, was zwischen euch vorgefallen ist. Ich würde dich gerne in ihrem Namen um Verzeihung bitten", gab Sara'ishtra nachdenklich von sich.

"Wenn dieses eine Wort schon vor langer Zeit gefallen wäre, hätte ich vielleicht noch mit mir reden lassen. Doch jetzt." Er schüttelte den Kopf. "Ist es zu spät."

"Ajola verlangt von mir, dass ich den Namen reinwasche", meinte Sara'ishtra. "Was meine Vorgängerin dir angetan hat, muss ich wieder gutmachen."

Angelo schüttelte langsam den Kopf. "Den einzigen Gefallen, den du mir tun kannst, ist dich für immer von mir fernzuhalten."

"Würde ich gerne tun, kann ich aber nicht." Sie erhob sich und baute sich vor ihm auf. "Ich muss dir helfen, irgendwo ein anständiges Leben aufzubauen."

"Pah", machte er angewidert. "Dazu kann ich dich am allerwenigsten gebrauchen."

"Was immer sie dir angetan hat, niemand kann das ungeschehen machen. Aber ich kann dir vielleicht helfen, es wieder wie früher werden zu lassen", versuchte ihn Sara'ishtra zu überreden.

"Wie früher", rief er entsetzt. "Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich noch näher, als dein Arm und dein Schwert zusammen lang sind, an mich heran lasse?"

Sara'ishtra musste einige Sekunden überlegen und das eben gehörte richtig deuten und verarbeiten, ehe sie antworten konnte. "Vielleicht nicht ganz wie früher", antwortete sie hastig, nahm Schwert und Dolch und steckte es in Halfter und Gürtel zurück.

"Früher hättest du nicht so schnell aufgegeben", erwiderte er und wusste anscheinend nicht mehr was er von ihr halten sollte.

"Du hast einmal selbst bemerkt, dass ich nicht mehr wie früher bin", entgegnete Sara'ishtra. "Vielleicht begreifst du endlich, dass ich nicht diejenige bin, die Schuld an deiner jetzigen Situation ist. Jedenfalls sind Estara'teja und ich hier, um dich zurückzubringen, auf den rechten Pfad. Und weigern, oder zu Solodes zurücklaufen nützt nichts. Wir wären schneller wieder hier, als dir lieb ist."

"Solodes würde mir auf der Stelle den Kopf abhaken lassen, wenn er mich in seiner Nähe sieht", antwortete er. "Er hat keine Ahnung, was du von mir willst, aber solange du mit mir beschäftigt bist, kannst du ihm keine Schwierigkeiten bereiten."

"Was hat er denn vor?" wollte Sara'ishtra wissen.

Angelo schüttelte grinsend den Kopf. "Trotz allem kriegst du mich nicht dazu, etwas zu verraten."

"Du sollst uns also von ihm weglocken", schlussfolgerte Sara'ishtra. "Damit er in Ruhe seinen Coup ausführen kann. Für einen Hasen bist du aber recht untalentiert. Du solltest dich normalerweise aufgeschlossen uns gegenüber verhalten."

"Dieses Schwein kann drohen soviel er will", zischte Angelo böse. "Was ich mache, bestimme immer noch ich."

"Wenn du aber nicht tust, was er von dir verlangt und wir tauchen in seiner Nähe auf, bist du deinen Kopf auch los", machte sie es ihm deutlich. "Für irgendetwas musst du dich entscheiden."

"Wie wäre es, wenn du mich einfach vergißt und diesem Solodes deine Klinge zu spüren gibst", schlug Angelo vor.

"Wenn ich wüßte, was er im Schilde führt."

Angelo schüttelte grinsend den Kopf. "Finde das mal schön selbst heraus. Ich dachte, du bist etwas anderes. Was sagtest du, was du wärst? In deinem anderen Leben?"

"Ich verstehe nicht, warum du den Mund hältst", rief Sara'ishtra. "Sieh dich doch an, was er mit dir gemacht hat. Warum gestattest du ihm, dass er mit dir so umspringen kann? Ist das soetwas wie Ganovenehre?"

"Wie was?" fragte er nach und blickte sie fragend an.

"Ach, vergiß es", winkte sie ab und drehte sich energisch um. "Sag mir, was du vor hast und wenn es sich mit unsen Vorstellungen vereinbaren läßt, werden wir dir helfen." Sie winkte Estara'teja zu, die daraufhin näher kam.

"Was hat sie damit zu tun?" wollte Angelo wissen.

"Meine Vorgängerin ist ihre Großmutter", erklärte Sara'ishtra.

"Ist das wieder eine deiner Geschichten?" fragte Angelo und betrachtete Estara'teja eingehend, als ob er in ihren Augen die Wahrheit ablesen könnte.

"Vielleicht", gab Sara'ishtra ein wenig schnippisch von sich. Sie war es leid, ständig Erklärungen abgeben zu müssen. Obwohl sie ihn eigentlich verstehen konnte. Sie fragte sich, was Brunhilde ihm nur angetan haben musste, dass er sich ihr gegenüber so mißtrauisch verhielt. Kurz bevor sie von Angelo getrennt wurde, bevor sie wieder in ihre Welt geschickt wurde, glaubte sie ihn von sich überzeugt zu haben. Doch nun war alles vorbei. Der Zauber der Gefühle war verpufft. Er hatte ihr zwar scheinbar zugehört, doch nichts von dem für wahr angesehen. Enttäuscht seufzte sie leise auf.

"Was machen wir jetzt?" fragte sie und sah dabei ihre Schwester an, wie Ajola sie nannte.

"Ich würde sagen, von hier zu verschwinden", schlug Estara'teja vor. "Bevor hier noch Solodes Männer auftauchen." Mit einem Kopfwink auf Angelo fuhr sie fort. "Wir liefern ihn in seinem Dorf ab, damit er seine Schmiede wieder aufbauen kann. Wer weiß, wieviel Zeit uns noch bleibt."

Ohne sich um Angelo und Estara'teja zu kümmern, oder darauf zu achten, dass sie ihr folgen konnten, marschierte sie in die Richtung, in der sich Angelos Dorf befand. Sie war enttäuscht und ärgerte sich, da sie sich scheinbar umsonst Sorgen machte und umsonst Ajola, Estara'teja und Brunhilde belästigte. Sie hörte noch, wie Estara'teja Angelo vorwärts trieb und sich bei Sam verabschiedete. Ihre Wut auf Angelo und auf Brunhilde ließ es nicht zu, dass sie sich umdrehte und auf die Nachzügler wartete. Doch allmählich, je näher sie der Spitze des Hügels kamen, desto mehr verflog ihre Mißstimmung. Allein bei Brunhilde lag die Schuld und sollte sie ihr über den Weg laufen, würde sie einiges zu hören bekommen.

 

Die Leute aus dem Dorf liefen erneut zusammen, als die Ajola-Kriegerinnen mit dem ehemaligen Waffenschmied zurückkamen. Sie sammelten sich zwischen den Hütten, tuschelten hinter vorgehaltener Hand und warteten mehr oder weniger neugierig, auf das, was weiter geschehen sollte. Angelos ramponiertes Äußeres schrieben viele den Ajola-Frauen zu. Leise schimpften sie, trauten sich aber nicht, ihren Mißmut laut auszusprechen.

Als die Kriegerinnen und Angelo vor der zerstörten Schmiede standen, blickten sie sich betreten an. Sara'ishtra sah demonstrativ zur Seite und schob mit dem Fuß ein Stück halb verwitterte Holzkohle beiseite. Moos bedeckte die offenen Poren. Unkraut wuchs zwischen den zusammengestürzten Balken hindurch und ließ den Haufen von Schutt und Verwüstung wieder lebendig wirken. Obwohl die Bewohner des Dorfes in ihren Vorratskammern mit Sicherheit nie genügend Brennholz für die kalten Nächte und nie genügend Steine hatten, um ihre Hütten zu bauen, rührten sie Angelos zerstörte Hütte nicht an. All die Jahre lagen die verkohlten Teile und der ausgebrannte Schmiedeofen wie ein Mahnmal des Todes inmitten ihres Dorfes.

"Das ist dein Werk", gab Angelo anklagend von sich. "Sieh es dir ruhig an."

"Das von Sara'ishtra", verbesserte sie ihn. "Aber nicht meines."

"Ich habe schon manche Leute die seltsamsten Märchen erzählen hören, wenn es darum ging, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, aber deine ist die Seltsamste", schüttelte er langsam den Kopf.

"Glaubst du nicht an Ajola?" setzte sie ihm entgegen.

Angelo blickte sie nachdenklich an. Er schien tatsächlich darüber nachzudenken, ob ihre Geschichte wahr sein könnte oder nicht. Ajola war ein Gott, den Viele verehrten, um in der Not Hilfe von ihm zu erbeten. Auch er hatte dann und wann eine kleine Opfergabe gegeben und um Hilfe gebeten. Doch bis jetzt konnte er Ajola und seine Kriegerinnen nur mit Ärger und Schwierigkeiten verbinden. Er betrachtete die junge Frau vor ihm eingehender. Er kannte sie als energisches Weib, das sich stets das einfach nahm, wonach es sie begehrte, auch die Arbeitskraft und den Körper eines jungen Schmiedes. Konnte ihre Geschichte tatsächlich wahr sein, schien er sich hinter seiner Stirn zu fragen. Sie hatte sich zweifellos verändert. Sie war nicht mehr diesselbe wie vor drei Jahren. Bereits einmal hätte sie ihn beinahe überzeugen können. Er schüttelte langsam den Kopf und wand sich ab. Aber irgendwie berührte sie ihn mehr als damals, als sie ihm noch wesentlich näher war.

Angelo begann die verkohlten Balken auf die Seite zu räumen. Er ließ diese Arbeit jedoch bald sein, denn die Folgen der Prügel, die ihm Solodes verabreichen ließ, waren noch nicht ganz verheilt. Sein Kopf hämmerte plötzlich schmerzhaft und er setzte sich auf den umgestürzten Amboß. Sein ganzes Hab und Gut war verbrannt. Das Eisen verschmolzen und unrein geworden. Es würde harte Arbeit und viel Schweiß bedeuten, das Leben, das er früher geführt hatte, wieder aufzubauen. Einer plötzlichen Eingebung zufolge, entschloss er sich, den Ofen wieder in Betrieb zu nehmen und die Hütte wieder aufzubauen. Sein Großvater hatte diesen Ofen befeuert, sein Vater und nach ihm er selbst. Angelo war nicht zum Räuber geboren. Er war Schmied und sollte niemals etwas anderes sein. Er holte tief Luft und machte sich wieder an die Arbeit.

Die beiden Ajola-Kriegerinnen beobachteten ihn dabei und sahen ihre Aufgabe als erledigt, ihre Schuld und ihr Versprechen als eingelöst an. Erleichtert sahen sie zu, wie aus teils noch verwendeten alten Teilen der Hütte und teils aus frisch gefällten Bäumen eine neue Schmiedehütte entstand. Angelo gestattete es ihnen nicht, selbst Hand anzulegen. Mit bösen Blicken schickte er sie stets fort, wenn sie Anstalten machten, irgendetwas wegzuräumen. Gen Abend schafften es Angelo und einige Männer, die sich freiwillig bereit erklärt hatten zu helfen, die Hütte wieder aufzustellen. Zwar stand noch längst nicht alles der einstigen Schmiede, doch Stolz und glücklich stand Angelo vor dem Tageswerk und betrachtete es, zufrieden mit sich und seiner Arbeit, in dem rotglühenden Licht der untergehenden Sonne. Der Schweiß glänzte wie frisches Blut auf seiner Haut. Seine Muskeln zitterten vor Anstrengung. Doch er hätte sich keine Pause gegönnt, wenn ihm nicht der schwindende Tag das Licht zum Weiterarbeiten genommen hätte. Jetzt erst widmete er sich wieder den Ajola-Kriegerinnen.

"Ist es das, was du wolltest?" fragte er und zeigte auf die noch sehr provisorische Hütte.

Sara'ishtra nickte und erhob sich. Sie betrachtete das Werk nicht minder Stolz und musste sich zurückhalten, ihn nicht zur Belohnung um den Hals zu fallen.

"Dann bist du ja zufrieden und kannst endlich verschwinden."

"Kann ich", gab sie etwas traurig von sich und räusperte schnell, als sie bemerkte, dass sie schwach wurde. Sie wand sich nach Estara'teja um, die an einem Baumstamm gelehnt zu schlafen schien. Vielleicht sollte sie dasselbe tun, fragte sie sich. Es war mit Sicherheit an der Zeit in ihre Welt zurückzukehren, dachte sie traurig und schickte sich an, sich ebenfalls an den Baum zu lehnen.

Angelo hielt sie zu ihrer Überraschung fest.

"Du läßt dich von mir fortschicken?" bemerkte er ungläubig. "Du hast dich wirklich verändert. Wenn ich das früher von dir verlangt hatte, bist du mit einem Prügel auf mich losgegangen. Was ist nur mit dir geschehen?"

"Wieso sollte ich mich jemandem aufdrängen, der mich nicht in seiner Nähe dulden will?" erwiderte sie und versuchte sich loszureißen, doch Angelos Griff war fest.

"Dich hat das sonst nie interessiert", antwortete er. In seiner Stimme schwang plötzlich eine ungewohnte Sänfte mit. Sara'ishtra drohte schwach zu werden.

"Du scheinst mir nicht zugehört zu haben", maulte sie gereizt. "Ich bin nicht mehr dieselbe, die du ... ."

"Ich weiß", unterbrach er sie. "Deine Vorgängerin." Die Art, in der er dies aussprach, machte deutlich, dass er ihr wohl zugehört hatte, aber nicht so recht an ihren Worten glauben wollte. Es deutete aber auch darauf hin, dass er ernsthaft versuchte es zu glauben.

"Komm mit", befahl er und zog sie bereits mit sich fort, von Estara'teja weg.

Sara'ishtra schüttelte den Kopf, weigerte sich und als ihr Blick wieder auf den Baumstamm fiel, war ihre Schwester spurlos verschwunden. Verwirrt blickte sie um sich. Angelo schien dies nicht bemerkt zu haben und deutete ihren plötzlichen Umschwung als Zustimmung und zog sie weiter. Er schob sie vor seine Hütte und ließ sie sein Werk betrachten.

"Als ich dich das erste Mal traf", begann er. "Weißt du noch, oben im Gellerbach. Nein, du weißt es nicht", verbesserte er sich schnell und in Sara'ishtra keimte Hoffnung auf. "Mich faszinierte deine Eleganz und deine Kraft, mit der du dein Schwert schwingen konntest. Es zerbrach und ich bot dir an ein Neues zu schmieden. Ich dachte, mit dir könnte ich eine Familie aufbauen. dass du eine Ajola bist, erfuhr ich viel zu spät. Da war ich von dir bereits so eingenommen, dass es für mich keine Rettung mehr gab. Hätte ich damals gewusst, was du ... ." Er verstummte plötzlich und betrachtete sie. "Deine Vorgängerin ... für eine Frau war, ich hätte sie niemals zu mir eingeladen. Doch du ... " Er ließ seine Augen über ihren ganzen Körper wandern. " ... Du besitzt ebenfalls diese Eleganz, die mich wieder so faszinierte, dass ich meinen Verstand verlieren könnte. Als du bei dem Tempel die Männer niedergemacht hast, so schnell, dass man beinahe nicht zusehen konnte, war es wieder da. Glaube mir, ich würde für dich alles geben, wenn du nur bei mir bleibst."

Sara'ishtra drehte sich schnell zu ihm um. Noch bevor sie ein Wort der Widerrede sagen konnte, schloss er ihre Lippen mit einem Kuss. Sie sträupte sich dagegen, weniger als die Vernunft ihr riet. Etwas nahm von ihr Besitz. Ein Gefühl, das sie bereits so lange missen musste.

"Ich kann nicht bei dir bleiben", erwiderte sie atemlos.

"Warum nicht?" wollte er wissen. "Ich lege dir alles zu Füssen."

"Nein", rief sie energisch. Sie hatte Angst ihn erneut zu täuschen und wollte sich von ihm lossagen, ehe es zu spät war. "Ich bin eine Ajola-Kriegerin und meine Aufenthalte hier in dieser Welt, wann, wo und wielange, bestimmt allein Ajola. Es liegt nicht in meiner Macht zu sagen, ich bleibe bei dir, so gerne ich es vielleicht täte. Wenn ich meine Arbeit erledigt habe, schickt er mich wieder zurück." Sie überlegte, wie sie es ihm noch besser und einträglicher erklären konnte und ihr fiel Richard ein. "In der anderen Welt habe ich einen festen Freund", erzählte sie deshalb. Sie wusste, es war unfair beiden gegenüber, doch sie wusste sich nicht mehr anders zu helfen.

Angelo schien dies zu treffen. Er blickte sie an, wie ein geblendeter, liebestoller Gockel, der einfach nicht wahrhaben wollte, dass die Henne, die er begehrte, zu einem anderen Hahn gehörte. Er schüttelte den Kopf.

"Aber jetzt bist du bei mir", sagte er leise.

"Wie lange noch", entgegnete Sara'ishtra. "Morgen früh bin ich vielleicht nicht mehr da."

"Bitte, nur heute Nacht", flehte er, dass Sara'ishtra beinahe nicht mehr Nein sagen konnte. "Du bist mir noch einiges schuldig."

"Nein", rief sie verzweifelt. "Tu uns beide einen Gefallen und laß mich gehen. Ich will dir nicht wieder wehtun müssen. Und das wird es unweigerlich, wenn ich hierbleibe."

"muss ich einen Ajola-Tempel um meine Hütte herumbauen, damit du bei mir bleiben kannst?" fragte er ernsthaft.

"Es liegt nicht am Tempel."

"Andere Männer nehmen sich die Frauen, die sie begehren einfach", ließ er nicht locker. "Ich werde mich hüten es zu tun, denn du bist etwas Besonderes. Nicht mehr die Sara'ishtra, die ich kennenlernte. Eine sonderbare Wandlung ist mit dir geschehen. Mag sein, dass deine Geschichte der Wahrheit entspricht. Aber wenn sie es wirklich ist, brenne ich noch mehr darauf das Wesen, das jetzt in diesem Körper wohnt näher kennen zu lernen."

"Vielleicht treffen wir uns irgendwann wieder. Aber wir dürfen nicht enger zusammenbleiben."

"Nur eine Nacht", bat Angelo.

"Wenn du morgen früh aufwachst, werde ich nicht mehr hier sein", versuchte sie ihn von der Unmöglichkeit zu überzeugen. Sie musste plötzlich an Estara'teja denken. "Ich werde gegangen sein, ohne einen Abschiedsgruß zu hinterlassen. Und vielleicht sehen wir uns nie wieder."

"Vielleicht", wiederholte er leise und schloss ihre Lippen erneut mit einem Kuss, bevor sie weiter protestieren konnte. Er hob sie hoch und trug sie in seine Hütte. Sie strampelte und wehrte sich dagegen, wieder zu wenig, als dass es ernst gemeint sein konnte. Im Grunde wollte sie sich nicht weigern, doch sie wusste, dass sie den nächsten Morgen in dieser Welt nicht würde erleben dürfen. Nur eine Nacht, sagte sie sich und gab nach. Sie ließ es zu, dass Angelo ihr Schwert abschnallte und sie auf ein Lager mit zusammengeschlichtetem Stroh bettete. Sie ließ es zu, dass seine Hände über ihren Körper wanderten und jeden Zentimeter ihrer Haut streichelten. Sie ließ es zu, dass ein Stück ihrer Kleidung nach dem anderen auf dem sandigen Boden landete. Sie ließ es zu, dass er ...

 

"Nadja", brüllte jemand nahe an ihrem Ohr.

Sie schlug die Augen auf und entdeckte Richards Gesicht vor ihr. Sie schrak hoch, blickte verwirrt um sich und erkannte traurig, dass sie wieder zurück war. Der Fernseher lief. Der Abspann des Mantel-und-Degen-Films lief gerade ab.

"muss ja ein schwerer Tag gewesen sein, Kleines", meinte Richard und setzte sich zu ihr auf das Sofa. "War ganz schön schwer dich wach zu kriegen."

"Warum musstest du mich unbedingt aufwecken?" maulte sie müde. "Hättest du mich nicht einfach schlafen lassen können?"

"Auf dem Sofa?" fragte er ungläubig, als hätte man von ihm etwas ganz unmögliches verlangt. "Das ist wohl nicht der richtige Ort. Wozu sind Betten da?"

Nadja stöhnte genervt und legte sich zurück. Sie betrachtete den Abspann des Kostümfilmes mit voller Sehnsucht und wünschte sich zu Angelo zurück. Noch immer spürte sie seine Hände auf ihren Körper. Noch immer spürte sie die Erregung, die es in ihr hervorgerufen hatte. Noch immer spürte sie das Gewicht seines Körpers auf dem ihren. Sie sprang beinahe hysterisch von Sofa auf, als Richards Hände über ihren Körper glitten.

"He, was ist los?" rief Richard erschrocken und nahm seine Hände weg.

"Ich bin müde", maulte Nadja und flüchtete beinahe ins Schlafzimmer. Sie konnte Richards Nähe plötzlich nicht mehr ertragen.

"Du bist in letzter Zeit immer müde, wenn ich zu dir komme", rief er ihr hinterher. "Was ist nur los mit dir?" Er tauchte im Türrahmen auf. "Bist du krank, Kleines?" fragte er besorgt.

"Kann sein", erwiderte sie und musste gegen ihre Tränen ankämpfen. Sie drehte sich um, damit Richard ihre immer mehr zuschwellenden Augen nicht sehen konnte. Auf dem Weg ins Bett, ließ sie ihre Kleidung Stück für Stück fallen und kroch unter die Decke. Es schien ihre letzte Zuflucht zu sein. Sie zog die Decke über ihren Kopf und krümmelte sich zusammen.

Richard blieb mitten im Zimmer stehen und wusste nicht mehr, was er tun sollte. Hilflos beobachtete er den zitternden Hügel im Bett und konnte sich zu nichts entschließen.

"He, Kleines", flüsterte er dann endlich, voller Sorge, setzte sich auf die Bettkante und strich sanft über den von Weinkrämpfen geschüttelten menschlichen Hügel. "Willst du nicht endlich mit mir reden? Sollen wir beide morgen zu einem Arzt gehen? Laß mich dir helfen. Dafür bin ich doch da."

Nadja gab keine Antwort. Sie war nicht fähig dazu. Irgendwann bemerkte sie, dass Richard das Schlafzimmer verließ, das Licht löschte und die Türe leise hinter sich schloss. Nun war sie wirklich allein in ihrem Zimmer. Verlassen, von allen. Mutter, Ajola, Angelo und Richard. Ein neuer Weinkrampf tränkte ihr Kissen.

 

Mit Kopfschmerzen erwachte Nadja aus ihrem traumlosen, unruhigen Schlaf. Ihre Augen waren zugeschwollen. Das Gesicht brannte wie im Fieber. Sie schlug die Augen auf. Heller Tag überflutete das Zimmer. Schnell sah sie auf den Wecker. Es war elf Uhr vormittags. Hastig sprang sie aus dem Bett, zog sich eilends an und rannte aus dem Zimmer. Sie konnte nicht schon wieder krank machen.

Im Wohnzimmer kam ihr Richard entgegen.

"Warte", rief er. "Ich meldete dich für heute krank. Du kannst dich ordentlich ausschlafen."

Nadja blieb stehen. Obwohl sie sich über seine Eigenmächtigkeiten ärgerte, war sie ihm dankbar dafür.

"Du siehst schlimm aus, Kleines", bemerkte Richard und strich ihr das vom Schlaf zerzauste Haar aus dem Gesicht. "Was soll ich nur tun, damit es dir wieder besser geht?" Er streichelte sanft über Nadjas kochendes Gesicht und lächelte sie freundlich an. "Ich möchte zugerne wissen, was in deinem kleinen Köpfchen vorgeht. Was ist nur schreckliches passiert, dass du dich derart unmöglich benimmst?" Er drückte sie sanft an sich. Doch dieses Gefühl, nach dem sie sich früher immer gesehnt hatte, war für Nadja nun unerträglich geworden. Sie machte sich von ihm los.

"Du brauchst keine Angst zu haben, es mir zu erzählen", versuchte Richard verständnisvoll zu sein. "Was auch immer es ist."

"Du bist es", rief Nadja fiel zu heftig. "Du erdrückst mich."

"Ich werde mir Mühe geben, nicht mehr so fest zu drücken", schwor Richard.

Nadja schüttelte den Kopf. "Nein, du selbst bist es. Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?"

"Warum?" zuckte er mit den Schultern. "Was habe ich getan?"

"Warum fährst du nicht in den Urlaub und läßt mich allein?" Sie wusste, dass sie unfair wurde, doch ihre Zunge und ihr Gefühl gingen mit ihr durch und sie konnte nicht mehr anders.

"Willst du mich loshaben?" fragte er fassungslos. "Was hast du auf einmal?" Ihm kamen böse Ahnungen. "Hast du einen Anderen?"

Nadja hätte es ihm am Liebsten ins Gesicht geschrieben, doch sie biss sich beinahe schmerzhaft auf die Zunge. Sie durfte es ihm nicht sagen. Richard deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Er musste sich setzen.

"Also ... das ... ", stammelte er fassungslos. "Das hätte ich nicht gedacht. Nicht von dir." Er sah hoch und blickte sie, bis in die Knochen gedemütigt an. "Wie lange hattest du eigentlich vor, dieses Spiel mit mir zu treiben?" wollte er wissen. "Du bist dir mit deinem Neuen wohl noch nicht so ganz sicher, was, und wolltest mich für alle Fälle warm halten?"

"Richard", schrie Nadja. Ihr Blut begann zu kochen. Ihr Fehler legte, sich wie ein Strick um ihren Hals und zog sich selbst immer weiter zu.

"Nein", wehrte er ab und erhob sich. "Erspar dir weitere Einzelheiten. Ich lasse zwar vieles mit mir machen, aber das ist zuviel." Er suchte sich eiligst seine Sachen zusammen und verließ die Wohnung schneller, als Nadja protestieren konnte.

In ihr sträupte sich alles dagegen, Richard zurückzuholen. Deswegen kam kein einziges Wort über die Lippen. Tränen trübten ihren Blick. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht augenblicklich loszuheulen, eilte ins Bad und ertränkte ihre Tränen in einem Schwall kaltes Wasser. Was war nur los mit ihr? Warum geriet sie wegen einem Mann, der nicht einmal in ihrer Welt existierte, derart aus den Fugen? Sie betrachtete sich selbst im Spiegel und verachtete sich. Wie konnte sie nur gemein sein?

Ein freier Tag, sagte sie sich, genoß die ungeahnte Freiheit und ging kreuz und quer in der Stadt spazieren. Sie kam an der Kirche vorbei, in der sie um Rückkehr in die andere Welt gefleht hatte. Zu ihrer Überraschung saß Sabine auf einer Bank. Sie hielt einen großen Malblock auf ihren Knien und kritzelte ein wenig darin herum. Als sich Nadja neben sie setzte, fuhr sie hoch. Ihr erschrockener Gesichtsausdruck verwandelte sich gleich in ein freundliches Lächeln.

"Hallo", rief sie, zu laut für die Kirche. "Ich hoffte, dass du hier her kommst. Oma wollte mir partout nicht verraten, wo du wohnst und ich wusste auch nicht, wie du mit vollem Namen heißt."

Nadja setzte sich milde lächelnd neben sie. "Woher wusstest du, dass ich heute nicht arbeite. Du hättest vielleicht den ganzen Tag warten können."

"Und wenn es eine Ewigkeit gedauert hätte", kicherte sie. "Die Wahrscheinlichkeit, dass du dich an diese Kirche erinnerst stand eins zu ... ." Sie zuckte mit den Schultern. "Na ja. Jedenfalls bist du hier. Ich habe etwas für dich." Damit schlug sie das Deckblatt ihres Malblockes zurück und überreichte ihr Gemälde.

Nadja erschrak leicht als sie es erkannte. Sie begann zu zittern, als sie es näher betrachtete. Es zeigte Angelo bei seiner Arbeit in der Schmiede. Man konnte dem Bild direkt ansehen, mit welcher Kraft er das glühende Eisen bearbeitete. Der Klang des schweren Schmiedehammers klingelte in ihren Ohren. Das Feuer im Schmelzofen war beinahe auf der Haut zu spüren und Schweiß, verbrannte Kohlen und erkaltendes Eisen waren mit ein wenig Fantasie schon nahezu zu riechen. Es war hervorragend getroffen. Sabine war eine begnadete Malerin und verstand es, ihren Bildern genau den treffenden Ausdruck zu geben. Nadja musste erneut mit den Tränen kämpfen.

"Ich malte es gleich nachdem ich aufwachte", erklärte Sabine. "Ich weiß, es ist nicht richtig, wenn ich es dir gebe. Doch ich finde, du sollst es haben." Sie streichelte sanft über Nadjas zitternden Arm. "Er ist total verknallt in dich", bemerkte sie leise.

"In sie, aber nicht in mich", schüttelte Nadja den Kopf.

"Nein", wusste es Sabine besser. "Ich beobachtete ihn, während der ganzen Zeit, als wir zu seinem Dorf zurückgingen. Ich sah den Ausdruck in seinen Augen, mit dem er dich beobachtete. Und ich sah die Blicke, die er dir immer wieder zuwarf, während er seine Hütte wieder aufbaute. Er ist in dich verknallt. Du bist es, die ihr das Leben gibt und du bist es, die er liebt." Sie wischte eine verstohlene Träne von Nadjas Wange. "Mich würde es nicht wundern, wenn noch etwas passiert war, nachdem ich einschlief."

Nadja lächelte ertappt und schniefte traurig. "Meinst du, ich sehe ihn jemals wieder?" fragte sie und betrachtete das Bild wie einen wertvollen Schatz.

"Ich denke, dass du da schon etwas deichseln wirst", grinste Sabine zuversichtlich. "Liebe soll manchmal stärker sein, als alles andere." Sie legte tröstend ihre Hand auf Nadjas Schulter. "Ich mache mir größere Sorgen wegen Solodes. Er führt irgendetwas im Schilde und es ist mit Sicherheit nicht astrein."

"Es liegt wohl nicht an uns, ihm das Handwerk zu legen", erwiderte Nadja, ohne ihren Blick von dem Bild zu lassen. "Ajola wird andere hinschicken. Wir haben ihn bestimmt mehr als zur Genüge gefordert."

"Weißt du, was ich schade finde?" fragte Sabine und gab sich selbst die Antwort auf ihre Frage. "dass wir beide vielleicht niemals mehr zusammen nach drüben geschickt werden. Wir wären doch ein prima Team."

Endlich sah Nadja hoch. Sie musste lächeln. Eigentlich hatte sie nichts gegen diese Idee, doch auch sie wusste, dass es nicht in ihrer Macht stand. "Vielleicht", gab sie leise von sich und betrachtete das Bild wieder.

"Er ist eigentlich ganz nett", bemerkte Sabine und zeigte auf das Bild. "Er sieht eigentlich nicht wie ein Räuber aus und paßt auch nicht zu ihnen."

"Weiß es Brunhilde?" fiel Nadja plötzlich ein.

Sabine senkte den Blick. "Nein", schüttelte sie den Kopf. "Ich werde es ihr auch nicht erzählen. Sie ist schon ungehalten genug, ihren Namen an dich abgegeben haben zu müssen. dass ich nun auch einen besitze, wird sie nicht minder freundlich aufnehmen. Ich verstand mich bisher ganz gut mit ihr und ich möchte an diesem Verhältnis nichts ändern."

"Irgendwann wird sie es erfahren. Was ist mit deinen Bildern?"

"Das kann ich ja genauso gut von dir haben", fand Sabine einen Ausweg. Plötzlich stieß sie Nadja sanft an. "Dreh dich nicht um, aber der Kerl in der letzten Reihe sieht ständig zu uns her. Möchte wissen wer das ist."

Nadja drehte sich trotzdem um und hätte beinahe vor Schreck aufgeschriehen. Auf der letzten Bank saß Richard und beobachtete sie mit aufmerksamen Augen. Er musste ihr gefolgt sein. Schnell schlug Nadja den Deckel über das Bild, drückte es Sabine in die Hand und ging zu Richard.

"Was machst du hier?" fragte sie mit vorgehaltener Hand.

"Ich wollte gerne wissen, was du hier machst", gab er ihr zur Antwort. Seiner Stimme war anzuerkennen, dass er keine Späße mehr mit sich treiben ließ. "Ich wusste nicht, dass du so gläubig bist."

"Bin ich auch nicht", schimpfte sie leise und setzte sich zu ihm in die Bank. "Wir haben uns hier nur zufällig getroffen."

"Wie eine zufällige Bekanntschaft saht ihr beide nicht aus", ließ er nicht locker.

"Was soll das?" wurde Nadja ärgerlich. "Seid wann spionierst du mir hinterher?"

"Ich dachte mir, dass du den freien Tag, den ich dir verschafft habe, nützt, um diesen anderen Kerl zu treffen. Ich wollte ihn sehen. Deshalb bin ich dir gefolgt." Diese geradlinige Unverfrorenheit, mit der er mit der Wahrheit herausrückte, erzeugte bei Nadja eiskalte Schauer.

"Es gibt keinen Anderen", sagte sie schnell.

"So?" machte Richard skeptisch und zog eine Augenbraue hoch. "Du vergißt, dass du in einer Kirche sitzt, Kleines. Dieses Gebäude besitzt eine nahezu perfekte Akustik. Jedes Wort, dass du mit ihr gesprochen hast, habe ich verstanden. Und du willst mir nun erzählen, dass es keinen Anderen gibt." Er wurde lauter. Seine Eifersucht schien mit ihm durchgehen zu wollen.

Nadjas Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie schluckte trocken und wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Ihre Hände zitterten und ihr wurde plötzlich kalt.

"Ich bin nur nicht ganz schlau aus dem geworden, was ihr da eben besprochen habt und hoffe, dass du mir bald eine Erklärung abgibst", fuhr Richard wesentlich ruhiger, aber eiskalt und mit bestimmter Härte fort. Das war keine Bitte, sondern ein unausweichlicher Befehl gewesen.

"Du wirst es mir nicht glauben", erwiderte Nadja heißer.

"Versuche es einfach", schlug er vor. "Vielleicht überrasche ich dich und glaube es doch."

Sie schüttelte den Kopf. "Es ist besser, wenn du es nicht weißt."

"Hör mir mal zu, Nadja", wurde Richard etwas lauter. "Wenn du glaubst, mich einfach so abschieben zu können, dann hast du dich gewaltig geirrt. Ich werde dich nicht so ohne weiteres hergeben. Sollte dieser andere Kerl tatsächlich meinen, dich mir wegnehmen zu können, dann ist er gehörig auf dem Holzweg. Ich werde mich auch nicht einfach hin und her werfen lassen, wie ein Spielball. Ich verlange eine klare Erklärung und ich werde dich nicht eher von hier weggehen lassen, bis du mir alles erzählt hast. Geheimnistuerei in allen Ehren, doch jetzt ist Schluss damit. Du musst dich auch mir gegenüber fair verhalten. Das ist doch wohl das Mindeste, was du mir schuldig bist."

Nadja sah hoch. Noch jemand, dem sie etwas schuldig wäre. Sie verfluchte Brunhilde in diesem Moment in die entfernteste Unendlichkeit. Sie wünschte sich, sie hätte die Frau nie getroffen. Dann wäre ihre Welt noch in Ordnung. Tränen füllten ihre Augen und verwischten ihren Blick.

"Komm mir nicht damit", blieb Richard hart. "Das zieht nicht mehr."

"Du willst also wissen, was mit mir los ist?" fragte sie und wollte es eigentlich nur bestätigen. "Ich bin eine Ajola-Kriegerin geworden. Eine Kämpferin, die in einer anderen Welt in Not geratenen Menschen hilft. Das ist es."

Richard hatte eigentlich ein Geständnis erwartet, doch was er eben gehört hatte, klang eher wie die Lügen eines ungezogenen Mädchens.

"Noch so ein Scherz und ich lege dich hier in aller Öffentlichkeit und in diesem Haus übers Knie", drohte er böse.

"Sabine ist ebenfalls eine Ajola", ließ sich Nadja nicht beeindrucken. "Ich brachte ihren Namen aus der anderen Welt mit. Ihre Großmutter ist meine Vorgängerin."

"musst du unbedingt auch noch andere in deine Lügen mit einbeziehen?" schimpfte Richard. "Es genügt doch schon, wenn du mir deine Märchen auftischst."

"Es sind weder Scherze, noch Märchen und schon gar keine Lügen", erwiderte Nadja fest.

"Darf ich dir etwas zeigen", war plötzlich Sabine neben ihnen. Sie schlug den Block auf und zu Nadjas Überraschung erschien nicht Angelos Bild, sondern das von Sara'ishtra. "Das ist Nadja, wenn sie in der anderen Welt ist", erklärte Sabine. Dann schlug sie noch ein Blatt um. "Und das bin ich." Eine Frau mit blonden Zöpfen kam zum Vorschein. Nach einem weiteren Blatt. "Das ist Sam, der eigentlich den Ajola-Tempel in Schuß halten sollte, aber für alles andere Zeit hat, aber nicht für seine eigentliche Aufgabe." Nadja musste beinahe lachen, über die Treffsicherheit, mit der Sabine Sams klapprigen Gaul auf Papier gebannt hatte. "Das ist der Tempel, aus dem Nadja meinen Namen für die andere Welt hat. Er sieht schäbig aus, nicht wahr? Und das ist ein Dorf, in dem wir zuletzt waren. Die Bewohner wurden von einer Bande Räuber geplagt, die nicht weit davon entfernt in einer Schlucht haußten." Sabine zeichnete das Dorf, wie es auch Nadja in Erinnerung hatte. Sogar die Schmiede war wieder intakt und dicker schwarzer Rauch quoll aus dem Kamin. "Und das ist der Anführer der Bande, Solodes." Sogar den Ring hatte sie nicht vergessen. "Hier bin ich, wie ich mit dem rießigen Bär kämpfe. Und hier feiern wir den Tod der Bestie. Auch S ... ", bremste sie sich noch rechtzeitig ab. "Auch Nadja ist auf dem Bild. Sie ist zwar erst später dazugekommen, aber ich fand, sie gehört auch dazu." Sie hielt ihm das Bild näher vor das Gesicht und wartete seine Reaktion ab.

Richard schüttelte ungläubig den Kopf. Entweder hielt er nun beide für verrückt, oder er glaubte an einen Komplott, der gegen ihn geschworen wurde.

"Die Bilder kannst du dir genauso gut ausgedacht haben", versuchte er es zu erklären.

"Glaubst du", sagte sie selbstsicher. "Ich habe Stapelweise mehr davon, bei mir zuhause. Die meisten Ideen zu den Bildern erhielt ich von meiner Großmutter. Aber jetzt kann ich mir meine Motive selbst suchen, dank Nadja. Du kannst sie gerne alle sehen."

"Nein, danke", wehrte Richard ab und starrte Nadja verwirrt an.

"Sobald ich eingeschlafen bin, schickt mich Ajola in die andere Welt. Mein Körper, der von Nadja, bleibt hier. Alles andere wechselt hinüber. Es klingt verrückt, ich wollte es erst auch nicht glauben, aber es ist so. Drüben schlüpfe ich in den Körper von ... Das Bild, das du von mir gesehen hast. Den Namen dürfen wir in dieser Welt nicht nennen."

Richard erhob sich. Er schüttelte den Kopf, als weigerte er sich diese doch zu konfuse Geschichte zu glauben. "Nein, nein, nein", murmelte er immer wieder vor sich hin. "Ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt. Ich lasse mir diesen Bären nicht aufbinden. Ihr wollt mich nur ablenken, damit ich Nadjas Seitensprung vergesse." Er schüttelte erneut den Kopf. "Ich rechnete im schlimmsten Fall damit, dass du irgendeinen x-beliebigen Kerl, der von seinem Glück nicht einmal eine Ahnung hat, von der Straße holst und ihn präsentierst, nur um den Richtigen zu schützen. Aber das, was ihr beide hier abzieht, ist beinahe schon filmreif. Ihr solltet ein Buch darüber schreiben, und mit diesen tollen Zeichnungen wird es mit Sicherheit ein Hit." Er schien die Frechheit der Mädchen nicht fassen zu können. "Also ich höre mir diesen Käse nicht länger an. Wenn du wieder vernünftig geworden bist, erwarte ich, dass du dich bei mir meldest. Allein." Damit verließ er die Kirche.

Sabine zwinkerte Nadja triumphierend zu. Nadja sprang auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Danke", sagte sie glücklich und um ein wesentliches erleicherter.

"So verrückt die Wahrheit klingen mag, aber das hat ihn glatt umgehauen", grinste Sabine und überreichte ihr den Malblock wieder. "Die anderen Zeichnungen hätten eigentlich eine Überraschung sein sollen. Aber so war es auch ganz nett." Sie kicherte leise und verließ mit Nadja die Kirche.

 

Die nächtlichen Reisen von Nadja in die andere Welt, führten sie nicht mehr in die Nähe von Angelo. Teils war sie froh darüber, denn sie wusste nicht, ob sie stark genug gewesen wäre, diesmal Nein zu sagen. Anderenteils war sie traurig darüber. Sie sehnte sich nach ihm und seiner Nähe. Doch sie sagte sich, dass es gut war so. Richard nahm ihr diese Geschichte übel und ließ sich lange nicht blicken. Er schien darauf zu warten, dass Nadja zu ihm kam und die Lügen aufklärte. Sie hatte ihn beleidigt.

Sabine kam eines Abends mit einem Malblock unter dem Arm zu Nadja. Sie präsentierte ihr eine Zeichnung.

"Weißt du, was das ist?" fragte sie und hielt das Blatt vor ihre Brust. Es zeigte ein hübsches, kleines Häuschen, das im Äußeren und in der darum gezeichneten Umgebung irgendwie an den Ajola-Tempel in der Nähe der Räuberschlucht erinnerte. Es musste ein tüchtiger Sanierungstrupp hingeschickt worden sein, denn es hatte sein Gesicht vollkommen verändert. Mit seinen bunten Steinmauern, den aus buntem Glas bestehenden Fenstern und dem kunstvoll geschmiedeten Gittertor am Eingang, war der Tempel kaum wiederzuerkennen.

"Er ist es", bestätigte Sabine stolz. "Ich war letzte Nacht zufällig dort. Kaum wieder zu erkennen, was?" Sie betrachtete ihr Werk, als wäre sie ebenso Stolz auf ihr Gemälde, wie auf den sanierten Tempel. "Ich traf dort zufällig auf Sam und fragte ihn, ob er unseren Besuch so zu Herzen nahm, dass er den Tempel mal ordentlich in Schuß brachte. Weißt du, was er mir erzählte?"

Nadja schüttelte den Kopf.

"Er war das gar nicht", konnte sie die Neuigkeit kaum noch zurückhalten. "Das war ein Waffenschmied, Angelo. Wahnsinn, was?" Sie grinste über das ganze Gesicht. "Das hat er deinetwegen gemacht. Mann", rief sie plötzlich aus. "Ich wünschte, ich hätte auch so jemanden, der solche Dinge für mich macht. Der Typ ist über beide Ohren in dich verknallt." Sie betrachtete Nadja neidisch, aber auch verständnisvoll.

Nadja musste mit ein paar voreiligen Tränen kämpfen. Sie wand sich ab und musste sich setzen.

"Du tust mir leid", versuchte Sabine sie zu trösten und setzte sich neben sie. Sie klappte den Deckel über das Bild und legte es beiseite. "Als ich den Tempel sah, wie er sich verändert hat, fragte ich Ajola, ob er dich nicht wieder zu Angelo schicken könnte."

Nadja hob den Kopf und schluckte die Tränen hinunter. Sie wartete sehnsüchtig auf die Antwort.

"Er meinte, dass er weiß, weswegen Angelo das tat und deswegen wird er dich nicht absichtlich zu ihm schicken. Es sagte, es gäbe nur Schwierigkeiten und du könntest darüber hinaus vielleicht deine Aufgabe vergessen. Aber er wird dich in deinen Entscheidungen nicht beeinflussen. Nur wenn du vergessen solltest, wer du bist."

Nadja schluckte. Sie sehnte sich so sehr nach Angelo und mit jedem Bild, das Sabine aus der anderen Welt mitbrachte, wurde diese Sehnsucht stärker. Sie lag Nächte lang wach und betrachtete die Zeichnung, die den Waffenschmied bei der Arbeit zeigte. Es hing längst in einem Rahmen an der Wand und jeden Morgen, wenn Nadja die Augen aufschlug, sah sie als erstes dieses Bild.

Bald hing der renovierte Tempel daneben.

Sie wusste, dass sie sich damit verrückt machte. Doch sie brachte es nicht fertig, auch nur eines der Zeichnungen abzunehmen. Die Bilder gaben ihr etwas von der Nähe, nach der sie sich so sehr sehnte.

 

Eines Nachts wachte Sara'ishtra in der Nähe der Räuberschlucht auf und kam gerade noch rechtzeitig, um eine Bauernfamilie vor dem Zugriff einiger, mit äußerst finsteren Absichten versehenen, Burschen zu retten. Den Vater der Familie hatten sie besinnungslos geschlagen und waren gerade im Begriff sich an den Töchtern zu vergehen, als plötzlich die Ajola-Kriegerin auftauchte. In den Gesichtern der armen Bauern erkannte sie Erleichterung. Die finsteren Männer grölten begeistert und stürmten sogleich auf sie ein. Es schien eine Ehre für sie zu sein, der Kriegerin zu zeigen, was sie konnten. Doch bald erhielten sie eine gehörige Lektion. Sara'ishtra schwang ihr Schwert, streckte Zwei nieder, bevor sie auch nur einen Hieb ausführen konnten, schlug einige in die Flucht und stand dem größten und mächtigsten der Gruppe gegenüber. Er hielt eine gewaltige Axt in den Händen und wiegte sie bedächtig auf und ab. Geduldig wartete er ab, bis seine Gegnerin nahe genug heran gekommen war. Er war klüger, als seine Kumpanen und griff nicht als Erster an, sondern ließ Sara'ishtra den ersten Schritt tun.

Die Ajola-Kriegerin war erfahrener, gewandter und sicherer geworden, im Laufe ihrer Zeit als Sara'ishtra. Sie ließ sich anlocken und stürmte selbstsicher vor. Die riesige Axt schmetterte ihr beinahe die Waffe aus der Hand. Sie bemerkte nun, dass ihre Kraft nicht ausreichte, diesen Koloss von Mann zu entwaffnen und änderte ihre Taktik, konnte es aber nicht verhindern, dass die schwere Axt niedersauste und ihr Schwert in zwei Teile schlug. Sara'ishtra reagierte schnell, solange sie ihm noch so nahe stand, zog ihren Dolch aus dem Hemd und rammte es dem Koloss zwischen die Rippen. So siegesgewiß wie er sich vorher gab, so zu Tode erschreckt war er hinterher. Sie hatte ihn nicht tötlich verletzt, doch schlimm genug, dass er vor Entsetzen innehielt, die Axt fallenließ und ängstlich zurückwich. Er stolperte einige Schritte rückwärts, bis ihn der Schreck vollends packte und er schreiend davonlief, wie ein aufgeschrecktes Kind. Sara'ishtra blickte ihm verdutzt hinterher. So etwas war ihr noch nie passiert. Meistens fielen ihre Gegner gleich beim ersten Streich, bevor sie ihre Waffe erheben konnten, oder sie fielen kämpfend, doch wenige liefend vor Angst schreiend davon. Sie lächelte amüsiert, bis sie ihr zerbrochenes Schwert entdeckte. Andächtig nahm sie es in die Hand und steckte die Teile in die Scheide auf ihrem Rücken.

Die geretteten Bauern kamen vorsichtig näher. In ihren Gesichtern konnte sie unendliche Dankbarkeit lesen. Sie lächelte ihnen zu. Eines der jungen Mädchen, dessen Unschuld Sara'ishtra bewahrt hatte, wagte sich ganz nahe. Sie lächelte zurück und versuchte ihre zerrissene Kleidung über die wichtigsten Teile ihres Körpers zu decken.

"Es wird alles wieder gut", versicherte Sara'ishtra und streichelte sanft über die vor Schreck und Angst rotglühende Wange des Mädchens. Es zitterte, aber ihr Lächeln strahlte den ganzen Stolz aus, den sie durch ihre Errettung durch die Ajola-Kriegerin errungen hatte. Sie nahm Sara'ishtras Hand und führte sie zu ihrem Mund. Mit großer Dankbarkeit küßte sie die Fingerspitzen.

"Ist ja schon gut", war es Sara'ishtra peinlich. Sie entzog dem Mädchen ihre Finger und drückte sie an sich. "Die werden euch nicht mehr belästigen." Dann ging sie zu dem immer noch besinnungslosen Familienvater und zog das Mädchen mit sich, ohne es aus ihrem Arm zu lassen.

"Ich danke Ajola, dass er mein Bitten erhörte", weinte die Mutter dankbar und krallte sich im Kittel ihres Mannes fest.

Sara'ishtra vergewisserte sich, dass der Mann noch lebte, bevor sie sich an die Mutter wandte.

"Das ist keine gute Gegend für eine Familie mit Töchtern", bemerkte sie, mit etwas Tadel. "Eine Räuberbande treibt in der Nähe in Unwesen. Ihr solltet euer Hab und Gut nehmen und euch anderswo ansiedeln. Es ist schwer in der Nachbarschaft von ungehobelten Männern, mit beinahe erwachsenen Töchtern zu leben. Erfahren das noch mehr, werdet ihr keine ruhige Minute mehr haben."

"Wo sollen wir denn hin?" jammerte die Frau und zog ihr kleinstes Töchterlein an sich. "Wir sind doch bereits schon dreimal vor den Räubern geflohen. Wir wissen nicht mehr weiter." Ein Tränenschwall ergoß sich über das Köpfchen des vor Angst zitternden Kindes.

"Ihr müßt in eine andere Richtung. Nicht an der Schlucht entlang", riet Sara'ishtra.

"Solodes Männer sind überall", schluchzte sie verzweifelt.

Sara'ishtra atmete tief ein. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. So konnte sie nur tröstend ihre Hand auf die Schulter der geplagten Frau legen.

Ihr fiel plötzlich das Dorf hinter dem Hügel ein. Es lag zwar auch in der Nähe der Schlucht und könnte deshalb vielleicht ebenso bedroht sein. Doch für die Familie war es der letzte Zufluchtsort.

"Hinter dem Hügel dort", sagte sie und wies auf die Spitze eines Berges. "...liegt ein Dorf. Dort werdet ihr mit Sicherheit für eine Weile unterkommen."

Die Frau nickte dankbar. "Werdet ihr uns Schutz gewähren auf dem Weg?" fragte sie unter Tränen. "Bitte geleitet uns dort hin. Wir haben Angst und trauen uns nicht mehr weiter."

Sara'ishtra hätte ihr am Liebsten ein energisches Nein ins Gesicht geschmettert. Doch sie brachte es nicht fertig. Die völlig eingeschüchterte Familie brauchte ihre Hilfe. So nickte sie zustimmend. Augenblicklich warf sich die Frau zu ihren Füßen und küßte sie. Zähneknirschend ließ die Ajola-Kriegerin dies geschehen.

Je näher Sara'ishtra dem Dorf kam, desto nervöser wurde sie. Ihr ganzer Körper sträubte sich dagegen, jemandem Bestimmten gegenüber zustehen. Aber es weigerte sich nicht die Ajola-Kriegerin, sondern das Wesen, das sie am Leben erhielt. Beinahe dankbar und überglücklich eilte sie dem kleinen Tempel entgegen, der zwischen den Bäumen hervorspitzelte. Sie schickte die Familie weiter und versicherte ihnen, dass sie bald bei dem Dorf wären und ihnen nichts mehr geschehen konnte und war bald allein, auf der Lichtung.

Der Tempel war in der Tat kaum wieder zu erkennen. Nur mit viel Fantasie konnte das alte Bild mit dem neuen in Verbindung gebracht werden. Frisch gepflanzte Blumenbeete säumten die sauberen, bunt gefärbten Steine der Außenmauern. Das Sonnenlicht glitzerte in den bunten durchlässigen Glassteinchen und das leuchtend gelbe Strohdach roch noch so frisch nach Stroh, als säße man in einem frisch abgeernteten Getreidefeld. Andächtig berührte Sara'ishtra das kunstvoll geschmiedete Gittertor am Eingang. Harte Arbeit und viel Ausdauer mussten nötig gewesen sein, es herzustellen. Sie öffnete es und stellte, keineswegs überrascht, fest, dass es sich gut geschmiert in ihren Angeln drehte. Das Innere war überflutet vom bunten Licht der Glasfenster, wie der Innenraum einer Kirche, durch dessen bemalte Fenster das Sonnenlicht traf. Der Altar war noch derselbe und Angelo hatte sich gehütet, an ihm oder an den Namen an der Wand dahinter, etwas zu verändern. In dem vielfarbigen Licht erschienen die Namen der Ajola-Kriegerinnen in einem völlig anderem Schimmer. Sara'ishtra musste amüsiert lächeln, als sie die kleine Blume entdeckte, die direkt unter ihrem Namen auf dem Altar stand. Angelo musste sie sehr lieben, dachte sie im Stillen.

Sie sank auf die Knie, und auf eine dünne Lage Stroh und Heu. Dann legte sie ihre Waffen ab, weigerte sich aber beharrlich ihren Namen zu lesen. Sie wollte nachdenken und zwar allein. Sie musste sich im klaren werden, darüber, was sie wirklich wollte. Ihre Befürchtung, schwach zu werden, sobald sie Angelo gegenüberstand, könnte sich nur allzu leicht bestätigen. Hier fühlte sie sich wohl, unter der schützenden Hand ihres Herrn. Sie schloss die Augen und ließ die Athmosphäre auf sich einwirken, bis sie um ein wesentliches ruhiger wurde.

"Ich werde dich nicht daran hindern", meldete sich eine tiefe Stimme in ihrem Kopf. "Es dir aber auch nicht raten."

Sara'ishtra öffnete erschrocken die Augen und starrte den Altar und die dahinter stehenden Namen an. - Ajola -

"Ich will mir selbst darüber im Klaren sein", sagte sie laut.

"Ich weiß", erwiderte Ajola. "Du musst die Folgen deiner Entscheidung, gleichgültig wie sie ausfällt, ebenfalls überdenken."

"Das weiß ich", maulte Sara'ishtra leicht gereizt. Sie wollte eigentlich allein sein und weigerte sich, selbst Ajolas Anwesenheit zu ertragen.

"Sprichst du mit Ajola?" fragte eine dünne Stimme hinter ihr.

Sara'ishtra fuhr herum und erkannte die Tochter des Bauern. Sie stand schüchtern am Eingang und wusste scheinbar nicht so recht, ob sie sich noch weiter vorwagen sollte, oder ob sie überhaupt wieder zurück dürfte.

"Was machst denn du hier?" rief Sara'ishtra noch mehr verärgert. "Ich sagte doch, ihr sollt ins Dorf gehen."

Das Mädchen nickte und wagte sich einen Schritt ins Innere. "Ich bewundere dich", platzte sie heraus. "Du bist so wunderschön und keiner kann dich besiegen." Ihre Augen strahlten ihre ganze Bewunderung für die Ajola-Kriegerin aus. Sie sank ebenfalls auf die Knie. Man sah es ihr aber an, dass sie gerne näher kommen wollte, aber nicht den Mut dazu besaß. "Ich wäre auch gerne so wie du", verriet sie endlich ihre Träume. "So oft ich an einem Ajola-Tempel vorbeikam, brachte ich ein Opfer dar und bat ihn, dass er mich als seine Kriegerin aufnimmt. Ich bin gut mit Pfeil und Bogen, doch mit dem Schwert geht es nicht besonders. Es ist zu schwer." Sie seufzte leise. "Vielleicht konnte er mich nur nicht hören. Würdest du ihn für mich fragen?" Die Stimme des Mädchens wurde immer leiser. Am Ende ihrer Erklärung wirkte sie nur noch wie ein völlig eingeschüchtertes Küken.

Sara'ishtra wäre am Liebsten aufgesprungen, hätte sie getröstet und wieder aufgepäppelt, wenn nicht das Gewicht ihrer Wort so schwer auf ihr lasten würde. Dieses halbe Kind vor ihr, dieses junge Wesen wollte unbedingt Ajola-Kriegerin werden und Sara'ishtra glaubte die Letzte zu sein, die ihr dabei helfen könnte. Sie schüttelte langsam den Kopf, doch plötzlich wusste sie, wie sie helfen konnte. Sie wand sich zum Altar um und suchte ihren Namen. Noch bevor sie den ersten Buchstaben lesen konnte, meldete sich Ajola.

"Wie ist ihr Name?" wollte er wissen.

Sara'ishtra gab die Frage an das Mädchen weiter.

"Paola-Marie", antwortete sie schüchtern und nestelte nervös am Stoff ihres Kleides herum.

"Sie soll näher treten", befahl Ajolas sanfte tiefe Stimme.

Sara'ishtra winkte das Mädchen zu sich und hieß es vor den Altar zu treten. Verstohlen kroch es näher. In ihrem Gesicht spiegelten sich Überraschung, Stolz und Angst wieder. Sie biss die Lippen aufeinander und tat, wie ihr befohlen wurde. Ihr ganzer Körper zitterte und sie brachte es nicht fertig, ruhig sitzen zu bleiben. Ihr Blick war starr auf Sara'ishtra geheftet. Sie schien von ihr den nächsten Schritt zu erwarten.

"Was sagt dein Vater dazu?" wollte Sara'ishtra wissen.

Paola-Marie senkte den Kopf. "Er verehrt Ajola", wich sie aus, dann kehrte plötzlich die Begeisterung in ihren Körper zurück. "Ich möchte meine Familie vor den bösen Männern schützen", rief sie und schob sich näher an Sara'ishtra heran. "Ich will all das Unrecht, das uns angetan wurde, bestraft wissen. Ich bin zu schwach. Und mein Vater ist zu alt. Deswegen muss ich Ajola-Kriegerin werden, um die Kraft zu bekommen, die ich brauche."

"Hör zu", versuchte Sara'ishtra sie zu bremsen. "Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Du selbst kannst niemals eine Ajola-Kriegerin werden. Du kannst ihm deinen Körper und deine Kraft vermachen, aber du selbst ... ." Sie verließ diesen beiden Wörtern den nötigen Nachdruck, damit dem Mädchen ihr Vorhaben deutlicher wurde. "Du selbst kannst niemals eine von uns werden. Ich besitze Sara'ishtras Körper, aber ich selbst bin eine andere."

Paola-Marie starrte die Kriegerin mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Mund formte lautlose Worte, die sich irgendwo verloren. Dann, so schnell, dass nicht einmal die Ajola-Kriegerin handeln und es verhindern konnte, griff sie nach Sara'ishtras Dolch vor ihren Knien und stieß sich die Klinge selbst ins Herz.

Sara'ishtra schrie entsetzt auf.

Langsam sackte Paola-Marie zusammen. Das Blut lief am kurzen Schaft der Klinge entlang und tropfte auf den Boden. Ihre Augen fest auf Sara'ishtra geheftet, sank sie langsam zu Boden. Die Ajola-Kriegerin fing sie auf. Paolo-maries Lippen formten leise Worte.

"Mein ... Körper gehört ... dir", stammelte sie und verstarb.

Sara'ishtra zitterte vor Entsetzen. Sie erholte sich erschreckend schnell. Die Tränen, die in ihre Augen strömen sollten, weigerten sich beharrlich, hervorzutreten.

"Warum hast du das gestattet?" fragte sie leise.

"Sie wollte es so", war Ajolas Antwort. "Ich hätte sie nicht daran hindern können."

"Aber sie ist doch noch so jung", jammerte Sara'ishtra und drückte die Tote an sich.

"Alter spielt keine Rolle. Sie war fest entschlossen. Nichts hätte sie aufhalten können."

"Was sage ich nun ihrem Vater?" wollte Sara'ishtra mit zittriger Stimme wissen.

"Er weiß es bereits. Es stand vor dem Tempel und sah alles mit an."

Sara'ishtra fuhr herum und entdeckte eine Gestalt vor den durchsichtigen Steinen stehen. Sie tauchte bald darauf am Gittertor auf. Die Trauer war deutlich in sein Gesicht geschrieben. Obwohl er gewusst zu haben schien, was seine Tochter vor hatte, hatte er sie nicht aufgehalten. Er weigerte sich das Tor zu öffnen und einzutreten.

"Sie wollte nicht hören", flüsterte er traurig. "Vielleicht ist sie jetzt glücklicher." Dann nahm er seinen Blick von seiner toten Tochter und überflog die Namen an der Wand. "Sie gehört dir. Das war es, was sie immer wollte." Damit verschwand er wieder.

Entsetzen und Trauer machten Sara'ishtra beinahe bewegungsunfähig. Sie musste sich Gewalt antun, den Leichnam aufzunehmen und auf den Altar zu legen. Behutsam zog sie den Dolch aus dem langsam erkaltenden Leib und steckte ihn unter Paolo-maries Kleid. Wenn sie wieder erwachte, sollte sie wenigstens eine Waffe haben, sagte sie sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

"Finde eine würdige Seele für sie", befahl Ajola sanft.

Sara'ishtra nickte und verließ den Tempel.

Sie brauchte lange, bis sie wieder normal denken konnte. Das eben erlebte, nahm sie mehr mit, als alle anderen Erlebnisse bisher. Ein junges, noch nicht einmal erwachsenes Wesen, beging Selbstmord, um ihren Traum zu erfüllen. Es ging über ihren Verstand.

Als das Dorf zu sehen war, blieb Sara'ishtra stehen. Sie zeigte in die Richtung und schickte die Familie weiter. Sie selbst brachte es nicht fertig weiter zu gehen. Ihre Konstitution war noch zu mitgenommen, als dass sie einen weiteren Kampf mit sich ausfechten konnte. Zweifellos würde sie diesen Kampf verlieren.

So blieb sie zurück, setzte sich in den Schatten eines Baumes und gedachte eigentlich einzuschlafen, damit sie von Ajola wieder in ihre Welt zurückgeschickt werden konnte. Doch, entweder war sie noch zu aufgewühlt, oder es gab noch etwas für sie zu tun. Denn als sie nach Stunden die Augen wieder öffnete, fand sie sich an der selben Stelle wieder. Sie blieb sitzen.

Es ging ihr bereits wesentlich besser und sie fragte sich, was sie noch zu tun hatte. Mit bestimmter Sicherheit konnte sie sagen, dass ihre Aufgabe noch nicht erledigt worden war. Sie hatte ihn in die Flucht gejagt. Sobald er sich von seinem Schreck erholt hatte, würde er neue Schandtaten vollbringen. Sara'ishtra konnte ihn nicht einmal mehr daran hindern. Ihr Schwert war zerbrochen.

Es gab jemanden, der ihre Waffe wieder zum alten Glanz erwecken konnte. Aber durfte sie es wagen, mit ihrem Anliegen zu ihm gehen? War er nicht schon einmal wegen einem zerbrochenen Schwert in Schwierigkeiten geraten? Sara'ishtra überlegte kurz und erhob sich. Wer sonst, außer er. Sie würde niemanden anderen, als Angelo an ihr Schwert heran lassen.

Die Schmiede war bereits von weitem zu sehen und zu hören. Die hell klingenden Schläge des schweren Schmiedehammers erfüllten die Gegend, wie die Sonntagsglocken einer Kirche. Der dichte, schwarze Qualm aus dem Schmelzofen, ragte einer dunklen Stützsäule gleich, weit in den Himmel hinein. Mit flauem Gefühl im Magen und zittrigen Knien ging Sara'ishtra darauf zu. Jeder Schlag des Schmiedehammers fraß sich in ihr Herz fest, wie ein gieriger Blutegel. Mehrmals musste sie sich Gewalt antun, weiter zu gehen.

Endlich stand sie vor ihm. Sara'ishtra ballte ihre Hände zu Fäuste, um ihre Nervösität zu unterdrücken.

Angelo sah hoch und lächelte sie freundlich an, als hätte er sie bereits erwartet. Sein Hammer sank auf das glühende Eisen nieder, ließ ein letztes Mal sein helles Klingen ertönen und blieb dann zischend auf der Glut liegen. Zwei schmutzige Kindergesichter starrten die Frau mit weit aufgerissenen Augen an, bis Angelo sie aufscheuchte.

"Schürt das Feuer an", befahl er barsch und die Jungen rannten wie aufgeschreckte Hühner durcheinander.

"Willkommen", begrüßte er die Ajola-Kriegerin und ging ihr entgegen. Schweiß, der in der Glut des Feuer blutrot glänzte und Schmutz bedeckten seine Haut. In seinen Augen glitzerte die Freude über das Wiedersehen. "Die Leute, die du hergeschickt hast, erzählten im ganzen Dorf von dir. Ich dachte mir, dass du irgendwann ebenfalls hier auftauchen wirst."

"Wieso bist du dir da so sicher?" wollte sie wissen. "Ich war es jedenfalls nicht."

"Früher oder später hättest du herkommen müssen", meinte er leichthin. "Wer sonst könnte dein Schwert flicken." Er grinste über das ganze Gesicht, drehte Sara'ishtra um und zog die zerbrochene Klinge aus der Scheide. Sie ließ es mit sich geschehen. "Sie erzählten, was passierte und ich fragte mich, wie lange du brauchen würdest, oder ob du dich überhaupt trauen würdest, mich darum zu bitten."

"muss ich dich denn bitten?" fragte sie lächelnd.

"Nein", schüttelte er grinsend den Kopf. "musst du nicht." Damit machte er sich gleich an die Arbeit.

Sara'ishtra beobachtete ihn dabei und wurde an das Bild erinnert, das in ihrem Schlafzimmer hing. Sie schmunzelte amüsiert und blickte sich um. Rein gar nichts zeugte davon, dass die Schmiede drei Jahre lang still gestanden hatte. Das Dorf grenzte nahtlos an Angelos Hütte und nahmen ihn in ihrer Mitte auf, als wäre nichts geschehen.

"Was ist?" fragte Angelo, der sie beobachtet und dabei ihr Schmunzeln und ihre suchende Blicke nicht übersehen hatte.

"Mich wundert es, dass dich die Bewohner des Dorfes wieder aufnahmen, als sei nichts geschehen", sprach sie es laut aus.

"Warum sollten sie es nicht?" erwiderte Angelo. "Ich habe ihnen nie etwas angetan." Mit einem kurzen Deut in Richtung der tuschelnden Kinder, wieß Angelo die Kriegerin an, über diese Vergangenheit zu schweigen. Sie lächelte und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Treiben des Dorfes. Sie fragte sich, warum sie noch nicht wieder in ihre Welt zurückkehren durfte. Wollte Ajola, dass ihre Waffe repariert wurde, bevor sie ging? musste sie noch etwas erledigen? Ihr umher irrender Blick fing ein bekanntes Gesicht ein. Das Gesicht des Bauern, dessen Tochter in ihren Armen starb. Augenblicklich kam dieses eiskalte Gefühl wieder zurück und sie musste sich zwingen, den Blick abzuwenden.

Schnell lenkte sie ihre Gedanken auf etwas anderes.

"Warum hast du den Tempel wieder hergerichtet?" fragte sie, während sie sich auf einen Schemel setzte.

"Irgendetwas musste ich für dich tun und das war genau das Richtige." Er zuckte mit den Schultern und grinste sie bald darauf breit an. "Sam hätte dies niemals geschafft. Er kommt jedesmal von weit her. Deswegen bot ich ihm an, von nun an statt seiner für den Tempel zu sorgen."

"Er ist hübsch geworden", gab sie anerkennend von sich.

"Im Gegensatz zu dir, ein häßlicher grauer Stein", antwortete er ernst.

Sara'ishtra musste beschämt den Kopf zur Seite drehen. Vielleicht konnte sie in diesem Körper gar nicht rot werden. In der anderen Welt hätte ihr Gesicht nun wie ein Lampion geleuchtet. Sie räusperte sich.

"Was macht Solodes?" fragte sie etwas heißer.

"Er treibt sein Unwesen", verriet Angelo nicht mehr, während er die Klinge tiefer in die Glut stieß.

"Ich hörte, dass er die ganze Gegend unsicher macht und die armen Leute beraubt und quält", erzählte sie.

"Mag sein", gab Angelo knapp von sich.

"Du klammerst dich also immer noch an deine Ganovenehre", stellte Sara'ishtra fest. "Indem du schweigst, hilfst du ihm und hinderst mich daran, ihm das Handwerk zu legen."

"Selbst du besitzt nicht die Kraft, gegen seine ganzen Männer anzutreten", bemerkte er kühl.

"Ich will nicht seine Männer. Ich will ihn", erwiderte sie.

"Und glaubst du, durch mich kommst du an ihn heran?" wollte Angelo wissen.

"Ein Tip von dir, könnte unter Umständen hilfreich sein."

"Erst wenn er hier auftaucht und das wird er nicht wagen", gab Angelo wissend von sich.

"Wieso bist du dir da so sicher?" Sie sah sich um. Das Dorf hatte sich in der kurzen Zeit zwischen ihrem letzten Besuch und diesem, stark vergrößert. Für eine gierige Räuberbande ein fetter Fisch. "Er kann genauso gut auch irgendwann hierher kommen." Es wunderte sie ohnehin, dass dies nicht schon längst geschah.

Angelo schüttelte besserwissend den Kopf.

"Für Solodes sind viele der Leben, die er bereits auslöschte, nicht die Mühe wert gewesen. Er machte sich nicht einmal Gedanken darum, in welche große Trauer oder mißliche Lage er seine Opfer, oder die Hinterbliebenen seiner Opfer brachte. Doch er würde niemals sein eigen Fleisch und Blut töten. Das bringt selbst er nicht fertig."

"Willst du damit sagen, in diesem Dorf lebt seine Familie", konnte Sara'ishtra es nicht glauben.

"Nicht so laut", fuhr er sie an, beruhigte sich aber schnell wieder. "Das wissen nur wenige. Und dabei soll es auch bleiben."

"Du gestattest ihm also, außerhalb dieser Schutzgrenze wahllos Menschen zu quälen und zu ermorden, während zu dich in einem Nest aus Sicherheit suhlst?" rief Sara'ishtra verärgert.

Angelo fuhr herum. In seinen Augen schimmerte Enttäuschung und Wut. "Jeder tut das, was er kann", gab er gereizt von sich.

"Schön und gut, aber nicht auf Kosten von anderen", hielt sie ihm entgegen.

Gellende Schreie unterbrachen den beginnenden Streit. Im selben Moment dröhnte es in Sara'ishtras Kopf nach Gefahr. Sie wand sich um und entdeckte einige Leute schreiend ins Dorf laufen. Ihnen entgegeneilende Leute erfuhren nur in Fetzen, was passiert war. Eine große Anzahl von Männern kamen auf das Dorf zugeritten. Ihre Bewaffnung und ihre Mienen verrieten, dass sie den Bewohnern keinen Freundschaftsbesuch abstatten wollten.

"Er wagt es nicht, hier aufzutauchen, was?" rief Sara'ishtra beinahe triumphierend. "Ich brauche eine Waffe." Ohne zu fragen, oder die Erlaubnis zu erhalten, griff sie sich irgend ein Schwert und ein kurzes Messer und rannte in die Richtung aus der die verängstigen Leute gekommen waren. Angelo fackelte nicht lange und eilte ihr, fluchs ebenfalls bewaffnet, hinterher.

Bald darauf fiel ein ganzes Heer von Räubern in das Dorf ein. Die Bewohner bewaffneten sich ebenfalls blitzschnell und stürmten ihnen entgegen. Da die Meisten Bauern und Arbeiter, aber keine Kämpfer waren, schien es beinahe unmöglich dem Überfall lange Widerstand leisten zu können. Sara'ishtra schlug trotz des wesentlich leichteren Schwertes eine blutige Schneise in die Angreifer. Unermüdlich brachte sie Männer zu Fall, als wären sie nichts weiter als dünne Strohhalme. Ihr Körper hatte die Herrschaft über sie übernommen und metzelte alles nieder, was sich ihr in den Weg stellte. Nur aus den Augenwinkeln heraus konnte sie beobachten, dass ihr Angelo dicht auf den Fersen war. Als ob kein einziger der Räuber jemals zu seinen Kumpanen gehört hätte, marschierte er durch die Reihen und brachte eine nicht minder blutige Ernte ein. So überraschend wie sie ins Dorf eingefallen sind, so überrascht schien Angelo selbst zu sein. Er war sich sicher gewesen, dass Solodes niemals sein Heimatdorf antasten würde. Er hatte sich getäuscht. Wut trieb ihn stetig vorwärts. Wut ließ ihn einen Streich nach dem anderen durchführen.

Sara'ishtra konnte sich nicht um Angelo kümmern. Es waren zu viele, als dass sie die Sicherheit, oder das Überleben von irgendjemandem hätte garantieren können. Ihr Körper war es, der sie gewohnte Bewegungen ausführen ließ. Ihre Muskeln waren es, die den Streichen kraftvollen Nachdruck verliehen und ihr, über viele Generationen eingeübter Kampfstil ließ sie die richtigen und tödlichen Stellen an ihrem Gegner treffen.

Plötzlich stand sie dem Koloss wieder gegenüber, dem sie den kleinen Dolch zwischen die Rippen gerammt hatte. Erst wollte er sich in dem Gemenge untermischen, doch plötzlich ersann er sich eines anderen und stürmte, mit neuer und ebenso schwerer Axt, auf die Kriegerin los. Sara'ishtra hatte aus der ersten Begegnung etwas gelernt und konterte dementsprechend. Mit dem kurzen Messer fügte sie ihm eine tiefe und schmerzhafte Wunde am Bein zu. Er schrie vor Wut und Schmerz auf, wurde davon aber nur noch mehr angestachelt. Sie musste sich blitzschnell ducken, als seine schwere Axt herumschwang. Der Schwung zerrte an ihrem Arm und legte sich wie ein Hauch des Todes über ihr Gesicht. Schneller, als ein menschliches Auge es wahrnehmen konnte, wirbelte sie herum und trieb die Klinge zwischen die Halswirbel. Wohin der Kopf flog, konnte sie nicht mehr sehen, denn ihr Körper wandte sich dem nächsten Gegner zu.

Ein heftiger Schlag gegen den Kopf brachte sie zu Fall. Sie rollte sich geschickt ab, schwenkte ihr Schwert herum und ließ ihn geradewegs hineinlaufen. Bald darauf stand sie auch schon wieder auf ihren Beinen. Der kurze, starke Schmerz in ihrem Kopf, kam als Warnung zu spät. Etwas riß ihr den Boden unter den Füssen weg. Ein weiterer Schmerz folgte kurz danach, dann fand sie sich im Schwarz wieder.

 

Sie öffnete die Augen und vernahm das gleichmäßige Ticken des Weckers. Nadja tastete nach der Nachttischlampe, knipste sie an und entdeckte, dass sie wieder zurück war. Verwirrt blickte sie um sich. Nichts war von den Aufregungen des Kampfes geblieben. Ihr Herz schlug ruhig, wie nach einem langen und erholsamen Schlaf. Ihr Puls ging regelmäßig und kam nur langsam wieder auf Touren. Nadja schlug die Decke zurück und schlüpfte aus dem Bett. Nachdenklich ging sie ein paar Mal im Zimmer auf und ab.

Wieso war sie wieder zurück, fragte sie sich immer wieder. Der Kampf war noch nicht zu Ende. Die Bewohner des Dorfes brauchten die Hilfe einer Ajola-Kriegerin nötiger denn je.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, rannte sie ins Wohnzimmer, wühlte hastig im Telefonverzeichnis nach Sabines Nummer und fand nur mühsam die richtigen Zahlen auf der Wählscheibe. Sie machte sich um die Uhrzeit keine Gedanken und als bereits nach dem zweiten Klingeln jemand ans andere Ende der Leitung ging, wurden Nadjas Vermutungen bestätigt.

"Was machst du gerade?" rief Nadja hastig in die Muschel.

"Ich sehe mir mit ein paar Freundinnen einen alten Film an", erwiderte sie.

"Du musst sofort ins Bett. Ich brauche deine Hilfe", konnte sich Nadja kaum bremsen. Schnell verbesserte sie sich. "Sie braucht deine Hilfe."

Für wenige Augenblicke gab der Lautsprecher an Nadjas Ohr keinen Ton von sich. "Wie soll ich das machen?" rief er dann verzweifelt. Sabine wusste ebenfalls, dass es nicht an ihr lag, wo und wann und ob sie in der anderen Welt auftauchte.

"Nicht umsonst holt er mich inmitten einer Schlacht heraus um dich ins Bett zu schicken", rief Nadja. "Also mach, dass du ins Bett kommst." Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. "Wer ist alles bei dir?"

"Wieso willst du das wissen?" fragte Sabine nach.

"Ich habe wieder einen Namen zu vergeben."

Wieder schwieg Sabine kurz wenige Augenblicke. "Ich glaube nicht, dass eine von ihnen ... Oh, doch. Warte", rief sie plötzlich. "Ich glaube, ich weiß jemanden. Ich bin in einer halben Stunde bei dir."

"Du sollst ins Bett gehen", schrie Nadja beinahe hysterisch.

"Wenn Ajola wirklich will, dass ich dir helfe, wird er mich zum richtigen Zeitpunkt an der richtige Stelle einsetzen", kam es leise durch die Leitung. "Ich bin gleich bei dir." Damit legte sie auf.

Nadja hielt den Hörer noch eine Weile an ihr Ohr gepresst. Plötzlich wurde es ihr heiß. Ihr Puls raste und jagte das Blut mit atemberaubendem Tempo durch die Adern. Erst jetzt hatten es die Aufregungen des Kampfes geschafft, sie einzuholen. Bis Sabine kam, konnte sie noch eine kalte Dusche nehmen, warf endlich den Hörer auf die Gabel und stellte sich unter die Brause.

Nach schier endlosen zweiunddreißig Minuten klingelte es endlich an der Türe. Sabine trat ein, als Nadja die Wohnungstüre aufriss, und schleppte ein halbwüchsiges, ziemlich müde wirkendes Mädchen hinter sich her. Sie musste es aus dem Bett geholt haben, denn ihr Haar war vom Schlaf noch arg zerzaust. Auf ihren Rippen saßen ein paar Pfunde zu viel und auch sonst schien sie nicht fiel auf ihr Äußeres zu achten. In der Eile hatte sich niemand Gedanken über die farbliche Übereinstimmung der Kleidung gemacht und Nadja bezweifelte, dass ihre Eltern etwas vom Ausflug ihrer Tochter wussten.

"Das ist Tilly", stellte Sabine das gähnende Mädchen vor. "Sie ist die Schwester einer meiner Freundinnen. Als sie meine Bilder sah, wollte sie wissen, woher ich meine Motive bekomme. Ich erzählte es ihr einfach und ich glaube sie besitzt genug Fantasie, um daran zu glauben." Sabine schob Tilly weiter in die Wohnung.

Nadja warf die Tür zu. Viel zu laut für die Uhrzeit. Zwei Uhr morgens, aber das war ihr gleichgültig.

"Aber sie ist doch noch so jung", hatte sie Einwände. Dann trafen sich ihre Blicke und im selben Moment überfiel sie ein, ihr sehr bekannter, Druck von innen. Etwas, das aus ihr heraus wollte, wie eine verdorbene Speise aus ihrem Magen. Dasselbe Gefühl, das sie hatte, als sie Sabines Namen aus der anderen Welt mitbrachte. Sie wand sich ab und musste gegen diesen Druck ankämpfen. Mit einem lauten Plumps ließ sie sich in das Sofa fallen und wies Tilly an, sich neben sie zu setzen. Das Mädchen war jung, das stimmte. Aber ein anderes, im beinahe selben Alter, war alt genug, sich das Leben zu nehmen.

"Die Person, die diesen Namen trug, starb in meinen Armen. Sie nahm sich in meinem Beisein das Leben, als ich ihr erzählte, wie sie Ajola-Kriegerin werden konnte", berichtete Nadja.

"Du meine Güte", rief Sabine entsetzt auf und musste sich setzen. "Warum hast du sie nicht daran gehindert?"

"Ich konnte nicht. Es ging alles so schnell. Außerdem hätte sie sich durch nichts aufhalten lassen. Sie wollte es so." Dann erzählte Nadja die Geschichte des Mädchens, das für ihren Traum Selbstmord beging. Tilly starrte Nadja mit weit aufgerissenen Augen an. Alle Müdigkeit schien von ihr gewichen zu sein. Ob sie das eben gehörte glauben, oder überhaupt verarbeiten konnte, war nicht zu erkennen. Völlig ausdruckslos starrte sie Nadja an, als hätte sie der Schock gänzlich gelähmt.

Der Druck in Nadja wurde immer stärker und sie musste immer stärker dagegen ankämpfen. Vieles nahm sie Brunhilde übel, aber wegen einem war sie ihr unendlich dankbar. Sie hatte wenigstens zum Teil versucht ihr die ganze Tragweite und die Folgen ihrer Entscheidung klar zu machen. Und dies wollte sie Tilly ebenfalls zukommen lassen. Das Mädchen sollte wissen, auf was sie sich einließ.

"Sie brachte sich vor den Augen ihres Vaters, in einem Ajola-Tempel um", berichtete Nadja weiter. "Ihre letzten Gedanken galten der Bestrafung des Unrechtes, das ihr und ihrer Familie zukam. Solltest du dich entscheiden, für sie in die andere Welt zu gehen, musst du ihre Ziele weiterverfolgen. Es wird kein Spaziergang, wie in den Tierpark oder so und auch kein Kinobesuch. Du stehst mitten drin und man verlangt von dir, dass du das tust, wozu niemand anderer fähig ist. Du musst Leute töten, wenn es nötig ist, um andere zu retten. Überlege es dir also gut Tilly." Nadja kam sich beinahe wie Brunhilde vor. Sie seufzte und lehnte sich zurück.

Tilly konnte ihre Augen nicht von Nadja nehmen. Ihre Lippen formten lautlose Worte. Sabine setzte sich neben sie.

"Ich erzählte dir, was alles passiert, drüben, in dieser anderen Welt. Es ist wunderschön dort. Du kennst meine Bilder. Aber du musst dir vorher unbedingt darüber im klaren werden, dass du mit dem Namen auch eine wichtige Aufgabe übernimmst. Die Ajola-Kriegerinnen sind wie die Polizei bei uns. Sie sorgen für Recht und Ordnung und klopfen den bösen Buben gehörig auf die Finger. Eben nur etwas anders. Angepasst an die Zeit." Sabine streichelte über Tilly Kopf. "Lass dir Zeit. Es muss nicht heute Nacht sein."

Nadja stöhnte, als Sabine dieses eigenmächtige Versprechen abgab. Der Druck nahm ständig zu und plötzlich fror sie. Aber sie wollte Tilly auf keinen Fall drängen.

"Ich will", gab Tilly leise von sich. Ihre Augen strahlten plötzlich den Glanz der frohen Erwartung aus. Sie lächelte schüchtern.

"Bist du dir ganz sicher?" fragte Sabine nach.

Tilly nickte heftig.

"Du brauchst keine Angst zu haben. Ajola gibt auf dich Acht. Er warnt dich, wenn du dich in Gefahr begeben solltest", lächelte Sabine, streichelte noch einmal über Tillys Kopf und erhob sich dann. "Ich gehe in der Zwischenzeit aufs Klo." Damit verschwand sie im Bad.

Erwartungsvoll wand sich Tilly an Nadja. Der Druck im Inneren breitete sich rasend schnell aus. Ihr wurde beinahe übel. Als sie ihn aussprach, überkam sie unendliche Erleichterung. Tilly zuckte etwas zusammen, lächelte aber bald wieder. Sie schien in sich hinein zu horchen, in der Hoffnung jetzt schon etwas von dieser wunderbaren anderen Welt zu spüren.

Die Wasserspülung ging und Sabine tauchte wieder auf.

"Und jetzt ab ins Bett", forderte Nadja.

Wegen der späten Stunde, machten es sich alle drei in Nadjas Wohnung bequem und fielen bald in einen tiefen Schlaf.

 

Mit dem dritten Schmerz kam Sara'ishtra wieder zu sich. Ein breit grinsendes Gesicht füllte die ganze Sichtbreite ihres Blickfeldes aus. An ihrem ganzen Körper schnürten viel zu fest gezogene Fesseln schmerzhaft in ihre Haut. Als das Gesicht etwas zurück trat entdeckte sie noch weitere Gestalten hinter ihm. Unter anderem Solodes, der sich breitbeinig und die Hände in die Hüften gestemmt inmitten seiner Männer aufgebaut hatte. Mit wohlgefälligem Lächeln beobachtete er das Geschehen. Zu seinen Füßen lag zusammengekrümmt ein Mann und Sara'ishtra erschrak, als sie ihn erkannte. Angelo.

Solodes demütigte ihn ständig, trat ihn und ließ es zu, dass ihn seine Leute mit dicken Prügeln schlugen. Angelo gab längst keinen Ton mehr von sich. Doch unaufhörlich schlugen und traten sie auf ihn ein.

"Hör auf damit", schrie Sara'ishtra.

Solodes wand sich der Stimme zu. "Was willst du denn noch ausrichten?" fragte er mit breitem Grinsen. "Wimmere um dein eigenes Leben", riet er ihr. "Wenn ich mit diesem Verräter fertig bin, bist du dran." Dann wand er sich wieder um.

"Wenn du ihn umbringst, wirst du auf dem Fuß folgen", drohte Sara'ishtra mutig.

"Wer sagt denn, dass ich ihn umbringen will?" rief Solodes. "Wer sich nicht an Abmachungen halten kann, wird mit einer Lektion bestraft, die er sein Leben lang nicht mehr vergisst." Dann lachte er laut und gemein. Und diesmal stimmten seine Männer mit ein. Dieses Lachen ärgerte Sara'ishtra.

"Lux Barris musste sterben, weil er die Macht von Ajola unterschätzte", rief Sara'ishtra.

Solodes wand sich um, verlor aber sein breites Grinsen, das den vollen Triumph des Sieges widerspiegelte, nicht. "Was kann dieser Heilige tun, wenn seine Sendboten in Stricken eingewickelt, wie in einem Spinnennetz hängen. Es würde mich wundern, wenn du dich selbst befreien könntest", lachte er.

"Er kann weitere Sendboten schicken", erwiderte Sara'ishtra und hoffte, dass Estara'teja bald auftauchte.

"Vorher verliert er einen", grinste Solodes gefährlich und widmete sich wieder Angelo. Er packte ihn und zog ihn unsanft hoch. Sein Opfer besaß nicht mehr die Kraft, auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Er sackte wieder zusammen und musste von Solodes Männern gestützt werden. Der Anführer der Räuber zog ein Messer aus dem Gürtel und ritzte, langsam und genießerisch, über Angelos nackten Oberkörper. "So", machte Solodes, im vollen Bewusstsein der totalen Macht. "Ich erzählte dir, was passieren würde, wenn du dich nicht an die Abmachung hältst. Habe ich dir nicht befohlen, diese Heiligenhure zu beschäftigen und sie von mir und meinen Männern fernzuhalten?"

Angelo schien nichts mehr zu spüren, denn er verzog keine Miene, als Solodes Klinge immer wieder in die Haut ritzte. Sein Kopf lag auf seiner Brust. Eine brutale Hand fuhr in seine Haare und riss den Kopf hart zurück.

"Du enttäuschst mich", rief Solodes mit gespielter Enttäuschung. "Du tust mir so etwas an, nach alldem, was ich für dich getan habe. Du wärst niemals bei uns aufgenommen worden, wenn ich nicht ein gutes Wort für dich eingelegt hätte." Er schüttelte mit gespielter Fassungslosigkeit den Kopf. "Brüderchen, dein Verrat trifft mich hart."

Sara'ishtra hielt vor Überraschung den Atem an. Angelo hatte sich selbst gemeint, als er von eigen Fleisch und Blut sprach. Ihr wurde endlich klar, warum er den Mund gehalten hatte.

"Du bestraft den Falschen", rief Sara'ishtra schnell, um noch zu retten, was zu retten war.

Solodes fuhr herum. Böse funkelnde Augen starrten sie an. Sara'ishtra hielt seinem Blick stand.

"Der Schmied verriet kein Wort", rief sie und wählte absichtlich nicht Angelos Namen. Sie wollte verhindern, dass Solodes eine Verbindung zwischen ihnen beiden vermutete. "Es gibt genug andere, die um Hilfe riefen. Du hast ja genug getötet und ausgeplündert."

"Es war seine Aufgabe, euch von mir fernzuhalten", knurrte er.

"Du kannst von Keinem verlangen, dass er für etwas geradesteht, was nicht in seinen Machtbereich fällt."

"So? Kann ich nicht?" rief Solodes wütend und wand sich seinen Männern zu. "Macht sie endlich mundtot", befahl er barsch.

Bevor das letzte Wort vom seichten Wind davon getragen werden konnte, zischte ein Pfeil durch die Luft, knapp an Solodes Kopf vorbei und bohrte sich sirrend in einen Holzbalken. Die Räuber fuhren herum und suchten in der Richtung, aus der der Pfeil kam nach dem Schützen. Auf dem Dach eines Hauses stand ein junges Mädchen, hatte bereits einen weiteren Pfeil an die Sehne gelegt und spannte den Bogen - Paola-Marie.

Sara'ishtra lächelte dankbar und zerrte leicht an den Fesseln, musste aber feststellen, dass sie sich nicht selbst befreien konnte. Der zweite Pfeil verfehlte Solodes erneut knapp und traf das Herz einer seiner Männer.

"Holt sie da runter", brüllte Solodes und schubste den Nächstbesten in die Richtung der Bogenschützin.

Auf der anderen Seite wurden Stimmen laut. Metall klirrte auf Metall, Schreie gellten über den Platz. Eine bleichhäutige Frau mit strohblondem Haar trieb die scharfe Klinge ihrer Waffe in die Leiber ihrer Gegner. Die Räuber liefen wirr durcheinander, flohen vor den Pfeilen, stolperten über bereits getroffene oder stürmten den Ajola-Kriegerinnen schreiend entgegen. Die Bewohner des Dorfes erhielten durch das Auftauchen der Kämpferinnen ihren Mut wieder und warfen sich auf die Räuber mit bloßen Händen, oder schnappten sich die Waffe eines Toten und griffen an. Jemand zerschnitt die Fesseln, die Sara'ishtra daran hinderten, ihren Schwestern zu helfen. Sie wand sich um. Es war Paola-Maries Vater. Er lächelte glücklich, überreichte ihr ein Schwert und verschwand alsbald in der Menge. Schmunzelnd wand sich Sara'ishtra wieder dem Gemenge zu. Obwohl in ihrem Kopf alles dröhnte und jede Faser von ihr verlangte, sich einfach den Gegnern entgegenzuwerfen, blieb sie stehen, hielt nach Solodes Ausschau und konnte eben noch mit ansehen, wie er sein Messer tief in die Brust seines eigenen Bruders drückte. Sie schrie entsetzt auf und arbeitete sich hastig zu ihm vor. Solodes erkannte, dass seine Tat nicht unbeobachtet geblieben war und wollte sich in dem immer größer werdenden Durcheinander davonstehlen. Sara'ishtra musste sich zwingen, bevor sie hinter Solodes hereilte, sich kurz um Angelo zu kümmern. Er hatte keinerlei Chance gehabt sich dagegen zu wehren. Sara'ishtra bezweifelte, dass er überhaupt etwas davon bemerkte. Sein Atem ging flach. Er röchelte leise. Sie gab ihm einen Kuss auf die langsam bleicher werdenden Lippen und musste sich gewaltsam losreisen. Solodes gehörte seiner gerechten Strafe zugeführt. Wild geworden, ohne nachzudenken, stur ihren eingeübten Bewegungen folgend, arbeitete sie sich immer näher an Solodes heran, der ebenfalls Schwierigkeiten hatte, das Dorf und die aufkeimende Befreiung dessen Bewohner zu verlassen. Immer wieder stürzte sich ein wütender Bauer entgegen, musste aber dafür sein Leben lassen. Sara'ishtra brüllte seinen Namen. Er blieb stehen, wand sich kurz um und schien einen Ausweg, oder irgendjemanden zu suchen, den er der Ajola-Kriegerin entgegenwerfen konnte. Entsetzt musste er feststellen, dass alle seine Männer beschäftig waren und er ihr allein gegenüber stand. Rasend vor Wut und letzter Hoffnung schubste er irgend einen seiner Gefolgsmänner in Richtung der näher kommenden Kriegerin, der daraufhin aber aus der Gleichgewicht geriet und dem tötlichen Schlag seines Gegners nicht mehr ausweichen konnte. Wütend griff Solodes daraufhin selbst an. Für Sara'ishtra war es ein Leichtes, ihm standzuhalten. Was auch immer Solodes versuchte, die Ajola-Kriegerin wusste es vorher und konnte immer rechtzeitig abwehren, oder Lücken ausnutzen. Kalter Angstschweiß brannte ihm in den Augen. Er blinzelte, besaß aber nicht genug Zeit, die ätzenden Tropfen wegzuwischen. Er versuchte sich zu retten, indem er um Kämpfende herum sprang, sich hinter ihnen verbarg und sie ihr entgegen schubste. Sara'ishtras Wut ließ sich davon nicht beirren. Sie konzentrierte sich vollends auf ihn, trieb ihren Körper immer mehr an und bald sank Solodes erschöpft auf die Knie. Kraftlos ließ er seine Waffe sinken und Sara'ishtra glaubte soetwas wie Gnadegewinsel zu hören. Sie hatte sich in Rage gewütet und gekämpft und konnte sich nur schwerlich zurückhalten, ihn mit einem einzigen Streich niederzustrecken. Doch im letzten Moment erkannte sie, dass es eine größere Strafe für ihn wäre, am Leben zu bleiben. Ein Leben voller Angst und Hoffnungslosigkeit, in dem er nicht wusste, ob er den nächsten Tag noch würde erleben dürfen.

"Du widerlicher Bastard", schrie sie, noch immer unbeherrscht vor Zorn und ritzte ihm eine tiefe Wunde quer über das Gesicht und zerstörte damit sein Augenlicht. Solodes schrie auf und presste augenblicklich die Hände vor das Gesicht. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. Sara'ishtra setzte ein zweites Mal an und ließ die Schneide über seine Hände gleiten. Abgeschnittene Finger fielen zu Boden. Solodes schrie ein zweites Mal auf. Mit dem dritten Streich sorgte sie dafür, dass er niemals mehr aufrecht würde stehen können. Dann hatte sie nur noch Gedanken für Angelo.

Hastig arbeitete sie sich zurück und fand ihn noch an der selben Stelle. Sein Atem war noch flacher geworden, sein Gesicht bleich und fahl. Blut tropfte vom Schaft des Messers auf den Boden und hatte bereits eine kleine Lache vor seiner Brust gebildet. Sie streichelte sanft über sein Gesicht und küsste ihn liebevoll. Nach irgendetwas suchend sah sie sich um. Wie auf Bestellung tauchte plötzlich Paola-Maries Vater wieder auf. Er nickte ihr zu, warf seine Harke weg und kümmerte sich um Angelo. Vorsichtig nahm er ihn auf und schleppte ihn aus dem Kampfgemenge heraus, in eine Hütte, wo er gleich die schwere Wunde versorgte. Sara'ishtra konnte nicht bei ihnen bleiben, noch waren nicht alle Räuber aus dem Dorf gejagt, oder niedergestreckt. Ihre Hilfe wurde gebraucht. So schwang sie weiter ihr Schwert.

Paola-Marie stand nicht mehr auf dem Dach. Längst war sie vor den heranstürmenden Männern geflüchtet. Ihre Pfeile jedoch, schienen wie aus dem Nichts, aus allen Richtungen auf die Räuber hereinzuprasseln und fanden fast jedes Mal ihr Ziel. Sara'ishtra wand sich suchend um und entdeckte das Mädchen, mal zwischen den Hütten auftauchen, mal kroch sie unter einem Karren hervor, oder sprang aus einer Türe heraus. Sie musste lächeln, dieses Mädchen wieder lebendig zu sehen und freute sich für sie. Ihr Traum war erfüllt. Sie war nun eine Ajola-Kriegerin.

Mit der tatkräftigen Hilfe der Dorfbewohner gelang es den drei Kriegerinnen die Eindringlinge zu besiegen. Was nicht bereits gefallen war, oder von selbst die Flucht ergriff, wurde in der Mitte des Dorfes zusammen getrieben, gefesselt und von den Bewohnern mit wüsten Beschimpfungen und Demütigungen und sogar Prügel bedacht. Zufrieden auf ihre Arbeit herabblickend standen die Kriegerinnen dabei und ließen die Leute ihre lang aufgestaute Wut und Haß an den Männern austoben.

Sara'ishtra begab sich, sobald sie erkannte, dass der Sieg auf der Seite der Dorfbewohner stand, in die Hütte zu Angelo. Paola-Maries Vater legte eben den letzten Verband an. Er machte ein betrübtes Gesicht und brachte es nicht fertig der eingetretenen Kriegerin in die Augen zu sehen. Sara'ishtra legte ihre Waffe beiseite und kniete sich zu Angelo. Aus seinem Gesicht schien bereits alles Leben gewichen zu sein. Blutleer und bleich leuchtete seine Haut, selbst in der abgedunkelten Hütte. Behutsam legte sie ihre Hand auf seine Finger. Sie fühlten sich kalt an. Wieder weigerten sich die Tränen, zum Vorschein zu kommen. Vielleicht hätte sie Solodes doch töten sollen, kam ihr plötzlich in den Sinn und sie ertappte sich dabei, wie sie nach ihrem Schwert schielte.

Heller Schein fiel in die Hütte, als die Türe aufging. Paola-Maries Mutter war in einer dunklen Ecke gesessen und war in Gebete für den Schmied vertieft. Als die Türe aufging und die anderen beiden Ajola-Kriegerinnen eintraten, sprang sie freudig auf und wollte ihnen entgegen eilen. Ihr Mann hielt sie zurück. Er wusste, dass das Mädchen nicht mehr seine Tochter war.

"Was ist mit Angelo?" fragte Estara'teja vorsichtig und kniete sich neben ihre Schwester. Ein flüchtiger Blick über den leblosen Körper, verschaffte ihr die Antwort. "Wird er es überleben?"

Sara'ishtra zuckte mit den Schultern. Paola-Maries Vater schüttelte langsam den Kopf und schob seine Frau mit bestimmter Sänfte aus der Hütte hinaus. Sie wehrte sich und konnte den Blick nicht von ihrer Tochter lassen, doch ihr Mann blieb hartnäckig. Paola-Marie selbst, konnte nicht wissen, was die Frau besonderes an ihr fand. Schüchtern sah sie sich um und erhoffte von Estara'teja eine Antwort. Diese war mit ihren Gedanken bereits woanders.

So sehr hatte sie gehofft, dass ihre Freundin und der Schmied miteinander glücklich werden konnten, wenn es auch immer nur für die kurze Zeit gewesen wäre, in der Sara'ishtra bei ihm sein durfte. Doch nun waren ihre Hoffnungen vergebens, ein beginnendes Glück zerstört und das Böse hatte am Ende doch gesiegt.

Estara'teja folgte einer plötzlichen Idee und wies Paola-Marie an ihre Waffen abzulegen. Ajola war allmächtig und allgegenwärtig, dachte und hoffte sie. Vielleicht konnte er helfen. Sie suchte nach etwas zu schreiben, fand etwas Kreide und eine Holztafel, malte ihre drei Namen darauf und lehnte es an die Wand. Obwohl sie sich nicht in einem Tempel befanden, konnte sie Kontakt zu Ajola aufnehmen.

"Ich weiß, was ihr von mir begehrt", meldete sich die dunkle, sanfte Stimme in den Köpfen der Frauen. "Doch meine Macht ist begrenzt. Ich kann nur über das Dasein meiner Kriegerinnen verfügen."

"Er wird sterben", flehte Estara'teja.

"Ich kann ihm nicht helfen", erwiderte Ajola. In seiner Stimme schwang Mitgefühl und verriet den Kriegerinnen, dass, so gerne er es täte, seiner Macht hier Grenzen gesetzt waren.

"Gibt es wirklich keine Möglichkeit", gab Estara'teja traurig von sich und betrachtete, den im Sterben liegenden Mann.

Ajola schwieg.

Sein Schweigen legte sich wie eine schwere Gewitterwolke über die Frauen und jede musste mit ihren Tränen kämpfen.

"Es gibt eine Möglichkeit", meldete sich Ajola plötzlich wieder.

Hoffnungsvoll blickten sich die Frauen an.

"Welche?" rief Sara'ishtra in Erwartung der ersehnten Lösung.

 

Auf Nadjas Beerdigung waren nur zwei Trauergäste nicht in Tränen aufgelöst, denn sie wussten, dass Sara'ishtra wohlbehalten in der anderen Welt lebte und einen Teil ihres Lebens, das was Nadja am Leben erhalten hatte, während Sara'ishtra unterwegs war, für Angelo hergegeben hatte. Ihre beider Leben war nun unzertrennbar verknüpft.

 

 

 

 

ENDE

 

 

Impressum

Texte: Ashan Delon (c) 2013
Bildmaterialien: greyerbaby, turbo, click/www.morguefile.vom
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

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