Ein Kriegsschiff bot nur einen friedlichen Anblick, wenn es vollkommen allein und ruhig im Raum dahinschwebte. In einer konstanten Umlaufbahn um Trenkjar gehalten, schien die Ashantin mit aller Geduld auf das Eintreffen feindlicher Elemente zu warten. Fürwahr erweckte sie sogar den Eindruck, niemals in eine Schlacht verwickelt werden zu wollen. Die Geschütze des über hundert Kilometer langen Schlachtschiffes waren deaktiviert, eingefahren und gesichert. Sämtliche Schutzschilder waren ohne Energie und die Sensoren und Raumüberwachungseinrichtungen nur in eine einzige Richtung gelenkt. Der Planet, den die Ashantin gemächlich umrundete, war eigentlich ein unwesentliches Bestandteil des großen Reiches um den König und dennoch zeugte ihr Auftrag von großer Gewichtigkeit. Sämtliches Personal auf der Ashantin, vom kleinsten Küchengehilfen bis zum geschicktesten Mechaniker, vom jüngsten Kadetten bis zum obersten Befehlshaber zeigten sich jeder Zeit bereit, einem sofortigen Übergriff entgegen wirken zu können.
Trenkjar selbst war hingegen ein friedlicher und unscheinbarer Planet, der beinahe schon in Vergessenheit geraten war. Wären in letzter Zeit nicht einige Vorkommnisse geschehen, wäre er tatsächlich vergessen worden. Er war zu klein und zu unbedeutend, als dass er für das große Reich von großer Bedeutung gewesen wäre. Trenkjar besaß keine nennenswerte Kultur, keine Anbaugebiete und keinerlei Industrie. Nichts, was für irgendjemanden im großen Reich von Interesse sein könnte. Von weitem leuchtete Trenkjar im Sonnenlicht wie ein vollmundiger Smaragd. Doch wer sich schon einmal bis auf die Oberfläche hinuntergewagt hatte, verließ ihn nur wieder allzu gerne. Trenkjars üppige und feuchtwarme Vegetation hatte nahezu den gesamten Planeten überwuchert. Dichtes Schlingengewächs, undurchdringliche Sumpfdschungel, verhängnisvolle Moore, Flüsse und Wasserläufe, gefährliche Wildtiere und ein ständiger Moder und Faulgeruch, sprachen nicht gerade für einen gastfreundlichen Planeten. Obwohl sich die Bewohner äußerst zuvorkommend, hilfsbereit und gastfreundlich zeigten, verirrte sich nur äußerst selten ein Durchreisender nach Trenkjar.
Das Auftauchen des Kriegsschiffes sorgte auf ganz Trenkjar für Aufsehen und Gesprächsstoff. Die Ashantin schwebte wie ein kleiner schwarzsilberner Unheilbote hoch oben am Himmel und schien sich weder von der unwirtlichen Oberfläche, noch von den zahllosen staunenden Augen beeindrucken, die sie ständig beobachteten. In der Nacht stachen ihre Lichter noch imposanter vom Himmel und bildeten mit den wenigen Sternen, der Trenkjars Nachthimmel zu bieten hatte, ein bemerkenswertes Schauspiel.
Auch der oberste Befehlshaber der Ashantin, Commander Nandra Okopaido interessierte sich nicht für die staunenden Gesichter, weit unter ihr. Für sie war es beinahe selbstverständlich, dass ihr Auftauchen für Aufsehen sorgte und den gewissen Eindruck an Ehrfurcht und Respekt zurückließ, wenn sie längst wieder verschwunden war. Nandra Okopaido war es gewohnt, Ehrfurcht und Respekt erwiesen zu bekommen. Und nichts anderes hatte sie von Trenkjar und seinen Bewohnern erwartet.
Obwohl sie den Posten als Kommandantin der Ashantin lediglich jenen glücklichen Umständen zu verdanken hatte, in welchen ihr Vater ein einflussreicher Admiral mit sagenumwobener Vergangenheit, ihr Onkel ein angesehener Senator und eine Tante mit dem Bruder des Vizekönigs verheiratet war, ließ nicht nur ihr Name Reihen von stolzen Soldaten strammstehen, besser wissende Untergebene verstummen und jeden Protest im Keim ersticken. Wohl wissend, dass diese Wirkung auch wegen des Rufes des Namens Okopaido hervorgerufen wurde, wusste sie es gezielt einzusetzen. Ihr Vater war zu seinen besten Zeiten ein gefürchteter Mann gewesen, der dafür bekannt gewesen war, mit disziplinierter Härte vorzugehen, eisern sein Ziel zu verfolgen und dabei auch vielleicht ein paar Leichen zu hinterlassen.
Nandra stand ihm in nichts nach und war fest entschlossen, den ebengleichen Weg zu gehen. Mit ebensolcher disziplinierter Härte verfolgte sie ehrgeizig und unnachgiebig ihren Karriereweg und hatte noch niemals im Traum daran gedacht, hinter sich zu sehen, um etwaige Verlierer zu betrachten. Sie besaß zudem noch den Vorteil, die Schönheit ihrer Mutter geerbt zu haben und wusste beide Talente hervorragend und perfekt ergänzend einzusetzen. Obwohl sie in weit schwingenden und figurbetonten Kleidern wesentlich besser aussah, versteckte sie ihre überaus fraulichen Formen in den Einheitsuniformen, band ihr üppiges, lockenprächtiges Haar mit einer strengen Frisur zurück und hatte noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, ihre leuchtenden blauen Augen, ihre sinnlichen, vollroten Lippen und die dezente Röte auf ihren Wangen mit gekonnten Farb- und Makeuptupfern zu betonen. Sie war voll und ganz den Gesetzen der Militärregierung verschrieben und besaß nur ein Ziel vor Augen: Ihre Pflichten mehr als gut zu erfüllen. Der Offizier, der ihr die Antwort des hiesigen Stützpunktgenerals überreichte, mochte sich sicherlich vorstellen, wie die Kommandantin wohl in einer schicken Abendgarderobe oder einem dünnen Nachtgewand aussehen würde. Sein Blick sprach Bände. Doch Nandra Okopaido war diese Art von Blicken längst gewöhnt und hatte ihre Art der Reaktion entwickelt.
"Danke“, sagte sie scharf. "Stehen sie stramm." Der Soldat schlug augenblicklich die Hacken zusammen, presste die Handflächen an die Hosennaht, zog den Bauch ein, blähte die Brust auf und starrte vor sich ins Leere. Sie hatte sich diese Stellung längst zur Gewohnheit werden lassen. Nicht nur wegen der gierigen Blicke der Männer. Damit verschaffte sie sich den Respekt, den sie auch gegenüber ihrem Vater gewohnt war. Damit verschaffte sie sich aber auch Abstand und Einsamkeit. Sie seufzte unmerklich, als ihre Gedanken für einen winzigen Moment abschweiften. Sie war in einem Alter, in welchem ihre Altersgenossinnen längst einen Lebenspartner gefunden hatten. Sie selbst hatte noch nicht einmal daran gedacht, sich dementsprechend umzusehen. Und wenn sie glaubte den einen oder anderen potenziellen Kandidaten gefunden zu haben, fiel er aufgrund ihrer hohen Ansprüche durch. Ein weiterer Grund für ihre Einsamkeit. Ihre einzige Erfüllung war ihre Arbeit und dabei schien es bis zu ihrem Ende auch bleiben zu wollen. Vermutlich hatte sie auch ihrem Namen zu verdanken, dass sämtliche Bewerber sofort den Rückwärtsgang einlegten und verschwunden waren, bevor sie sie besser kennenlernen konnte.
Sie räusperte sich verlegen und betrachtete die etwas altmodisch anmutende Datenkarte.
"Was ist das?", wollte sie überrascht wissen und steckte sie in den Schlitz. "Gibt es auf Trenkjar keine Holoprojektoren? Warum übermittelt der General seine Antwort nicht selbst?"
Der Offizier räusperte sich. "Der Bote sagte, dass es aufgrund der atmosphärischen Störungen nicht möglich sei, überhaupt eine Übertragung zum Schiff zustande zu bringen."
"Ich dachte, die besitzen eine hoch entwickelte Senderanlage?", gab Nandra sichtlich verwirrt von sich und konzentrierte sich auf die Nachricht. Trenkjarische Hieroglyphen tanzten über den Holoschirm, bis der Übersetzungscomputer endlich die richtige Sparte gefunden hatte. Dann lehnte sie sich abermals erstaunt zurück und starrte für wenige Herzschläge den Holoschirm an. "Sind Sie sicher, dass der Bodenstützpunkt unsere Nachricht erhalten hat?", erkundigte sie sich. "General Treece fragt hier nach dem Grund unseres Auftauchens."
"Die Nachricht wurde abgeschickt, aber wir waren nicht sicher, ob das was wir erhielten, eine Bestätigung war“, gestand der Offizier und stand noch eine Spur strammer.
"Was soll das heißen?"
"Es müssen die atmosphärischen Störungen gewesen sein. Wir bekamen ein Echo. Auf Provinzwelten geht es manchmal nicht ganz nach Standard. Und so dachten wir ... ." Er schenkte sich den Rest. Es brachte ihn nur noch mehr in Verlegenheit.
"Sie verkennen wohl den Ernst unseres Auftrages“, schimpfte sie, erhob sich und dampfte zu einem Ständer, über dem sorgsam geglättet ihre Uniformjacke hing. "Ich werde mich selbst darum kümmern müssen, bevor uns diese atmosphärischen Störungen noch mehr dazwischenfunken können. Lassen sie eine Fähre bereitstellen. Ich statte General Treece einen Besuch ab."
"Jawohl“, rief der Offizier zackig, froh darüber, noch einmal davongekommen zu sein, wirbelte herum und marschierte eiligst davon.
Nandra hätte den Offizier, den sie mit der Benachrichtigung beauftragt hatte, für seine Nachlässigkeit eigentlich eine Strafe aufbrummen müssen. Doch im Moment stand ihr nicht der Sinn danach. Sie ärgerte sich über diese verschlafene Provinzwelt, auf der nicht einmal die Kommunikation nach außen funktionierte. Dann stutzte sie und blieb eine Weile gedankenverloren mitten im Raum stehen.
General Treece hatte die ungewöhnliche Art der Kontaktaufnahme entschuldigt, da die einzige Senderanlage, mit der er persönlich zu ihr hätte sprechen können, durch einen Defekt ausgefallen war. Atmosphärische Störungen sorgten dafür, dass nicht der kleinste Hauch eines Frequenzbereiches bis auf die Oberfläche durchdrang. Wie um alles in der Galaxis konnte dann eine verbrecherische Organisation Trenkjar als ihre Nachrichtenbasis benutzen? Nandra schüttelte den Kopf. Der General müsste sicherlich einige plausible Antworten darauf haben und solange sollte sie ihre Gedankengänge noch zurückhalten.
* * *
Die Fahrt auf die Oberfläche von Trenkjar war holpriger, als sie es je erwartet hätte. Die atmosphärischen Störungen, die auch jegliche Kommunikation zwischen Boden und Kriegsschiff vereitelt hatten, bereiteten auch dem erfahrenen Piloten der Fähre erhebliche Schwierigkeiten. Zeitweise musste er sich auf seinen Instinkt verlassen, da sämtliche Instrumente verrückt spielten.
Als Nandra für einen Moment aus dem Sichtfenster sah, entdeckte sie den Satelliten, der die Senderanlage beinhaltete. Wartungstrupp umkreisten ihn wie kleine Bienen, die man auf Zeitlupentempo eingestellt hatte. Lächelnd trennte sie sich wieder von dem Bild und bereitete sich geistig auf das Zusammentreffen mit dem General vor.
Aus dem Datenarchiv hatte sie erfahren, dass General Treece ein altgedienter Soldat mit mehreren Tapferkeitsmedaillen und weiteren Auszeichnungen war. Obwohl die Kommandeure der Raumfahrt, über den der Bodentruppen standen und sich der General auch den Anweisungen einer kaum dreißig Jahren jungen Frau widerstandslos hätte beugen müssen, hatte man ihr ein Beratermitglied des Senats mitgeschickt. Der König und sein gesamter Stab hielt sehr viel von verdienten Kriegern und erwies ihnen jeglichen erdenklichen Respekt. Da sie lediglich den General zu einem persönlichen Gespräch auf die Ashantin einladen wollte, konnte sie auf den Beistand des Senatsbesitzenden gütlich verzichten. Es dürfte eigentlich keine Schwierigkeiten geben.
Der Stützpunkt auf Trenkjar entsprach voll und ganz Nandras Erwartungen von Hinterwäldlern. Heruntergekommen, notdürftig geflickt und ausgebessert, schmuddelig und der ständige Hauch drohenden Zerfalls über dem gesamten Komplex. Auf ihre Art sorgten die Bewohner emsig für den Erhalt ihrer Kaserne. Doch in dem feuchtwarmen Klima wuchsen Moos, Schimmel und Flechtengewächse schneller, als man sie entfernen konnte. Die Hauptgebäude selbst schienen aus granithaltigem Gestein erbaut zu sein, während die Hangars, die Maschinenhallen, die Sozialeinrichtungen und ein Großteil der Unterkünfte aus rostigen Metallplatten oder sprödem Holz errichtet worden waren, an denen der Zahn der Zeit wesentlich schneller und effektiver nagen konnte. Das wichtigste Gebäude war ein viereckiger Granitklotz, aus dem man lediglich Fenster, Türen und die einzelnen Zimmer herausgemeißelt zu haben schien. Der trotzige schwarze Steinkasten stand wie ein uraltes Denkmal inmitten der übrigen baufälligen Gebäude und ließ sich selbst von den gigantischen Bäumen und den üppigen Grünpflanzen nicht beeindrucken, die den Stützpunkt verschwenderisch umwucherten und drohten ihn wieder einzunehmen. Die Landefläche konnte man nur von der gierigen Vegetation freihalten, indem ätzende Pflanzengifte verstreut wurden. Als Nandra die Fähre verließ, fiel ihr als erster der beißende Geruch in die Nase. Erst als sie die Landefläche weit hinter sich gelassen hatte, konnte sie den typischen Duft Trenkjars wahrnehmen.
Aufgrund des vielen Grüns hatte Nandra gedacht, puren frischen Sauerstoff einatmen zu können. Statt dessen beleidigten Moder und Faulgeruch ihr empfindliche Nase. Der Boden war voller schlammiger Pfützen und die wenigen Steinplatten, die für verwöhnte Füße eingebettet worden waren, hatte schon lange keiner mehr gesäubert.
Für Trenkjarsche Erwartungen, musste diese Kaserne ein Musterbeispiel an Disziplin und Reinlichkeit sein, dachte Nandra spöttelnd und schritt durch die sich selbsttätig öffnenden Schwingtüren des Granitklotzes. Dahinter erwarteten sie saubere, kahle Gänge, exakt aus dem Fels herausgemeißelte Türen und Korridore und ein blank gewienerter Boden, auf dem man sich sogar spiegeln konnte. Ein paar verträumte Wachposten lehnten lässig an einem Türstock, blickten sie erst verwirrt dann erschrocken an und als man ihnen im Gesicht ablesen konnte, dass ihnen die Uniform der eben eingetretenen Person aus verschiedenen Schulungsholos wieder bekannt vorkam, nahmen sie zackig Haltung an. Die Uniformen der Wachmänner glichen nur annähernd dem der Raumfahrtbesatzung. Jedes Sternensystem besaß das Recht ihre Uniformen den örtlichen Gegebenheiten und den Notwendigkeiten anzupassen. Sie alle mussten aber unverkennbar und für jeden sofort ersichtlich das Hoheitszeichen des Königs tragen. Die Trenkjarschen Soldaten trugen ihr Erkennungszeichen, die goldene Krone in einem Sternenkreis, auf einer bestickten Schärpe, quer über die Brust gespannt. Ihre dürftige Uniform, die mit den dünnen Stoffen und den knielangen Hosen den Temperaturen und den Ortsverhältnissen angepasst war, konnte nur schwerlich mit einem stolzen Heer in Verbindung gebracht werden. Zudem besaßen ihre Uniformen weder Knöpfe, noch andere Verschlüsse. Die Hemden waren offen, Schnürbänder hingen lose herab und einer der drei Wachmänner besaß nicht einmal Ledersandalen.
Commander Nandra Okopaido verkniff sich ihr amüsiertes Schmunzeln und wand sich an einen der Posten. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, ob der Mann sie überhaupt verstehen konnte und sprach ihn einfach an.
"Ich möchte General Treece sprechen“, sagte sie mit fester Stimme. "Führen Sie mich zu ihm."
Der Mann nickte, schulterte sein viel zu großes Harpunengewehr, das nicht einmal mehr in der Reservatenkammer des antiken Waffenmuseums vorhanden war und schritt voran. Mancher Waffensammler hätte hier vermutlich wahre Schätze auftreiben können. Für die hiesige Militarisierung sicherlich ausreichend, für die übrige Welt, einfach lächerlich. Sie verstand immer mehr, warum ausgerechnet Trenkjar in die engere Wahl gezogen worden war, hier ihre Nachrichtenbasis zu errichten.
Im dritten Stock des vierstöckigen Gebäudes hielt der Mann an, klopfte an eine Türe und spähte kurz herein. Er wechselte kurz ein paar Worte mit jemanden, der sich dort aufhielt und öffnete schließlich die Türe. Entschlossen trat Nandra ein und sah sich flüchtig um.
Die Einrichtung war ebenso spartanisch, wie sie es erwartet hatte. Einige elektronische Geräte waren wie in einer Sammlervitrine auf einem Regalbrett aufgestellt. Darunter auch den Codierer, der es ermöglicht hatte, dass der General über eine Datenkarte mit dem Kriegsschiff Verbindung aufnehmen konnte. Einige Karten mit fremdartigen Schriftzeichen hingen an einer Wand, an der auch die Abzeichen und verdienten Medaillen des Generals hingen, sorgfältig eingerahmt und gezielt zwischen den Landkarten platziert. Mehrere Fenster zierten eine weitere Wand und machten daher eine Nutzung unmöglich, ließen den Raum aber vollends in leuchtendes Tageslicht erstrahlen. In der Mitte des Raumes, genau im Licht der Fensterreihe platziert, standen eine gemütliche, aber bereits stark abgenutzte Sitzgruppe und ein wuchtiger Schreibtisch, mit einem kleinen Holoprojektor, mehreren Schreibrollen und einem kleinen Terminal. Eine hölzerne Türe mit einem Sichtfenster in Augenhöhe führte offensichtlich in ein weiteres Büro, vermutlich das Büro des Generals.
Nandra räusperte sich, als sich ihr ein älterer Mann näherte und sich steif und förmlich verbeugte. Der Mann trug eindeutig Zivil, denn das Hoheitszeichen des Königs, das ihn als Soldat auszeichnete, fehlte an seiner Schärpe. Statt dessen trug er einen schlappen, oder vollends aus der Fassung geratenen zylinderähnlichen Hut auf dem Kopf und hölzerne Pantoffel, die bei jedem Schritt dumpf über den Steinboden schrammten.
"Mir Verzeihung“, sagte der Mann, mit sichtlich erheblichen Schwierigkeiten in der für ihn ungewohnten Sprache und verbeugte sich abermals. "Aber Gerai Treece nicht hier."
"Wann kommt er zurück?", erkundigte sich Nandra enttäuscht und beinahe gelangweilt. Sie zog in einer überlegenen Pose ihre Handschuhe aus und stopfte sie in eine Tasche. Der Holoprojektor war nicht einmal an die Energieversorgung angesteckt, entdeckte sie plötzlich. Das entsprechende Kabel baumelte lose vom Tisch herunter. Sie konnte im ganzen Zimmer kein einziges Anzeichen von Energie entdecken. Weder an der Decke noch an den Wänden hingen Lampen. In einer Ecke fand sie eine rußgeschwärzte Öllampe. Sie zuckte mit dem Mundwinkel und widmete sich wieder dem Mann. "Ich muss ihn dringend sprechen. Ich bin Kommandantin der Ashantin“, erklärte sie. "Commander Nandra Okopaido. Es käme mir sehr gelegen, wenn sie jemanden nach dem General schicken würden."
"Mir Verzeihung“, sagte der Lakai entschuldigend. "Kann nicht nach Gerai Treece schicken." Der Mann musste sich beinahe die Zunge abbrechen, um deutlich und einigermaßen verständlich sprechen zu können. Er musste auch immer erst überlegen und sich die Worte im Gedächtnis zurechtlegen, bevor er sie aussprechen konnte. Vermutlich besaß er wenig Gelegenheit, die Standardsprache zu üben. Ihm war jedoch hoch anzurechnen, dass er wenigstens verstehen und sich begreifbar machen konnte.
"Warum?", wollte Nandra wissen.
"Ist auf spazieren“, verkünstelte sich der Lakai beinahe. "Ist nicht zu finden."
"Spazieren?", wiederholte sie ungläubig und schnaufte genervt. "Wann kommt er von seinem Spaziergang zurück?" Sie begann sich zu ärgern. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihren Besuch vorher anzukündigen.
Der Lakai zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht, kann dauern“, erklärte er entschuldigend.
"Sagen sie dem General, dass ich ihm eine Fähre schicken werde“, wurde sie es endgültig überdrüssig. "Ich würde ihm raten, die Gelegenheit wahrzunehmen." Sie sollte sich eigentlich einem dreimal so alten und sicherlich auch weisen Mann nicht solche Worte und nicht einen solchen Ton anmaßen. Doch sie wurde wütend und wenn sie wütend wurde, kannte sie sich meist selbst nicht mehr. "Und sagen sie ihm, dass es eine überaus wichtige Angelegenheit zu klären gibt." Sie wirbelte herum und dampfte wort- und grußlos davon. In ihrer Verärgerung hatte sie schneller gesprochen, als sie es zunächst beabsichtigte und sie bezweifelte, dass der Lakai sie verstand, obwohl er mehrmals gehorsam genickt hatte. Doch dies war ihr im Moment unwichtig und ehe sie sich noch mehr über die Nachlässigkeit der Provinzler aufregen musste, verließ sie den unwirtlichen Planeten.
Schnellen Schrittes marschierte sie durch die Korridore und vernahm das Echo ihrer eigenen Schritte. Einige des Verwaltungspersonales, die ähnlich gekleidet waren, wie der Diener des Generals, wichen erschrocken zurück, als eine energische junge Frau an ihnen vorüberschritt. Als sie draußen auf den schmutzigen Steinplatten stand, erlaubte sie sich ein kurzes Durchatmen und bereute es sogleich wieder. Der unverkennbare Duft der üppigen Vegetation beleidigte ihre Nase.
Schrille Schreie und irres Kreischen erregte sogleich ihre Aufmerksamkeit. Im Inneren des Gebäudes war von dem Lärm, den eine Gruppe Männer auf dem kleinen Platz vor dem Hauptgebäude verursachten, nichts zu bemerken. Rund zwei Dutzend Schlamm- und Schmutzbehaftete Gestalten, tollten wie übermütige Kinder umher, warfen sich gegenseitig irgendwelche Gegenstände zu oder versuchten sich abwechselnd in den weichen Schlammboden zu drücken. Dabei kreischten sie wie eine wilde Horde betrunkener Vögel und warfen mit dem aufgewühlten Morast nur so um sich.
Es fehlte nicht viel, dass hätten sie auch Nandra Okopaido getroffen. Es dauerte viele lange Minuten, ehe sie ihre Zuschauerin bemerkten und verstummten und verharrten in ihrer Bewegung, als sie die saubere Uniform und das blitzende Abzeichen erkannten.
"Was ist hier los?", erkundigte sie sich streng. "Euch hat wohl noch niemand Disziplin beigebracht." Die Männer schienen die Standardsprache sehr gut zu verstehen, denn die meisten senkten verlegen ihre Häupter. "Ihr solltet euch schämen“, fuhr sie in ihrer Maßregelung weiter. "Ihr seid ein zügelloser Haufen verstandloser Tiere. Nehmt gefälligst Haltung an. Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Kein Wunder, dass hier alles so verwahrlost und verkommt, wenn ihr nichts besseres zu tun habt, als euch wie ausgelassene Kinder zu benehmen." Einige der Männer gehorchten tatsächlich ihrem Befehl, ließen ihre Schmutzballen fallen und nahmen die geforderte Haltung an. Andere blickten sich fragend um und schienen auf den Aufhebungsbefehl eines Anderen zu warten. "Eigentlich solltet ihr vollauf damit beschäftigt sein, eure Pflichten zu erfüllen, statt dessen ... ."
"Was geht hier vor?", rief eine energische Stimme vom gegenüberliegenden Holzhaus. Ein hochgewachsener Mann trat hervor und wechselte einige fragende Blicke zwischen den Männern und der Offizierin. Dann kam er gemächlich näher, wobei er nur seine Blicke über den Platz schweifen zu lassen brauchte und die Männer nahmen allesamt unaufgefordert Haltung an. Der Mann hatte in der Standardsprache gesprochen, womit er eindeutig die junge Frau ansprach. Und er fixierte sie mit stechenden Blicken an, als er sich ihr näherte. "Wer maßt sich hier an, meine Leute anzubrüllen? Wer sind sie?"
"Commander Nandra Okopaido, Kommandeurin der Ashantin“, stellte sie sich selbst vor und schwellte ihre Brust. Raumoffiziere überstanden denen der Bodentruppen und so musste sie sich von niemandem etwas sagen lassen. "Sind sie der Verantwortliche für diesen disziplinlosen Haufen?" Damit verlangte sie eigentlich die Nennung seines Namens, da die Trenkjarschen Vorschriften weder Rangabzeichen, noch Namensschilder vorschrieben. Zudem hätte sie die hiesigen Hieroglyphen sowieso nicht lesen können.
"Sehr wohl“, gab er zurück. "Was stört sie daran, wenn sich ein paar Männer in ihrer Freizeit abreagieren? Niemand hier interessiert dies. Offensichtlich haben sie bei ihrem Bordproviant vergessen, Spaß und Entspannung einzupacken."
"Was bilden sie sich eigentlich ein?", wollte sie zum energischen Protest anheben, doch der Mann nahm ihr schnell jeglichen Wind aus den Segeln.
"Die Männer unterstehen meinem Kommando und niemand außer mir ist berechtigt, sie anzubrüllen oder an ihre Pflichten zu erinnern“, wetterte er wütend. Seine dunklen Augen funkelten bei jedem Wort gefährlich auf. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schien sich nur noch mühevoll zurückhalten zu können. Sonst hätte er sie vermutlich für ihren Frevel längst übers Knie gelegt. "Niemand, haben sie verstanden? Mir ist vollkommen gleichgültig, von welchem Kommando, oder welcher Welt sie entsandt worden sind. Sie haben hier nichts zu melden. Wenn sie eine Beschwerde zu entrichten haben, dann wenden sie sich gefälligst an mich und an niemand anderen. Haben sie verstanden?" Er hatte sich wahrlich davor gehütet, seine Stimme zu erheben. In einem beinahe gemäßigtem Ton, aber dennoch energisch und hart genug, um Nandra zu verblüffen und einzuschüchtern, hatte er es gewagt, sich ihr zu widersetzen.
"Ich bin Raumfahrtkommandeurin und ... „, setzte sie erneut an.
"Das ist mir vollkommen gleichgültig, wer oder was sie sind“, fuhr er ihr entschlossen ins Wort. "Sie können ebenso gut der König persönlich sein. Wenn ihnen etwas nicht passt, dann wenden sie sich gefälligst an mich." An seiner Schärpe blitzte die goldene Krone auf. Darunter standen einige für Nandra unverständliche Schriftzeichen. Er trug dieselben dünnen Stoffe, wie die Wachposten im Foyer des Gebäudes. Sein Hemd war offen und offenbarte eine sonnengebräunte, haarlose Brust. Sein Haar war entgegen der Vorschriften viel zu lang und fiel ihm offen ins Gesicht. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, es zu kämmen und zurückzubinden, geschweige denn zu waschen. Sie waren strähnig und starrten vor Drüsenfett. Nandra bezweifelte, dass dieser Kopf überhaupt schon einmal Wasser und Seife kennengelernt hatte. Entgegen der Kleidung der Wachen, trug er knöchellange Hosen, mit goldenen Biesen an den Seiten und schmutzbehaftete Truppenstiefel, die für das warme Klima viel zu warm waren. Er verlagerte kurz sein Gewicht, warf einem der Männer einen flüchtigen Blick zu, worauf sich auch die anderen bewegten und eine bequemere Stellung einnahmen. Eine Maßnahme, die in Nandras gestrengen Augen ihres eigenen Kommandos ein ungeheurer Frevel darstellte. Die lockere Handhabung auf diesem Stützpunkt stach ihr sogleich ins Auge und sie würde beim Militärtribunal eine Meldung machen. Zudem würde sie den General darauf ansprechen und ihn an die Einhaltung der Vorschriften erinnern.
"Gehen sie zu ihrem eigenen Kommando zurück und schikanieren ihre eigenen Leute“, schimpfte er böse. "Wir können auf Vorschriftenapostel verzichten."
"Das wird ein Disziplinarverfahren nach sich ziehen“, gab sie kochend vor Wut von sich. "Darauf können sie sich verlassen."
"Ich kann es erwarten“, gab er gelassen zurück. "Aber ich rate ihnen zur Vorsicht. Sie könnten sich dabei einen Fingernagel abbrechen."
Nandra schnaufte tief ein, wirbelte herum und dampfte wutentbrannt zurück. Sie nahm sich fest vor, sobald sie wieder in der Ashantin war, würde sie eine Meldung an das Tribunal machen. Leises Gemurmel keimte in ihrem Rücken auf. Der donnernde Ruf ihres Vorgesetzten ließ sie augenblicklich wieder verstummen. Was er nun seinen Männern zu sagen hatte, interessierte sie nicht sonderlich, obgleich sie die Sprache ohnehin nicht verstand. Sie registrierte nur, dass sein Ton sich nicht in vielen von dem ihrem unterschied, als sie ihre Maßregelung angesetzt hatte.
* * *
Nicht lange nachdem sie die Fähre zurückgeschickt hatte, um den General nach oben zu holen, erhielt sie die Meldung, dass Treece und sein Gefolge in Kürze auf der Ashantin eintreffen würden. Der General musste kurz nach ihr von seinem Spaziergang zurückgekehrt sein und der Aufforderung augenblicklich Folge geleistet haben. Vielleicht ein Zeichen seines schlechten Gewissens, dachte Nandra und schlüpfte schmunzelnd in ihre Uniform. Nach ihrer Rückkehr hatte sie sofort ein Schaumbad genommen und die wohltuenden ätherischen Dämpfe und die entspannende Wirkung des heißen Wassers auf sich einwirken lassen. Der ungehobelte Kerl hatte mit seiner Behauptung vollkommen Unrecht. Spaß und Entspannung waren für die Besatzung des Kriegsschiffes fürwahr kein Fremdwort. Es gab Spielsäle, Turnhallen, Saunen, Bäder und Meditationszentren. Für jeden Geschmack und für jeden Anlass war etwas geboten. Doch dies brauchte sie weder dem General noch diesem manierenlosem Klotz auf die Nase binden.
Frisch gestärkt und frohen Mutes machte sie sich auf den Weg, ihr eigenes Gefolge zusammenzutrommeln und den alten General gebührend zu empfangen. Sie ließ die Trenkjarsche Delegation am Hangar von einer kleinen Einheit Wachposten in Empfang nehmen und sie sicher zum Salon geleiten.
Der Salon war der Vorzeigeraum der Ashantin. So mancher Friedensvertrag wurde unter der prunkvollen Kuppeldecke aus hinterleuchtetem Glas und neben den glänzenden und auf Hochglanz polierten Messingbeschlagenen Teakholzwänden geschlossen. So mancher Schlachtplan war auf der gut zehn Meter langen und vier Meter breiten massiven Tischplatte aus seltenem, weißem Preastor-Marmor ausgearbeitet worden und so mancher hohe Hintern durfte sich auf den kostbar ausgestatteten, mit Samt weich gepolsterten und reichhaltig geschnitzten Stuhlreihen niederlassen. Der Boden bestand ebenso aus Preastor-Marmor, den man kunstvoll mit allen Schattierungen von Braun eingelassen hatte. Von goldbraun bis tonfarben, alle Erdtöne waren vorhanden und sollten die Bodenständigkeit und Natürlichkeit dieses Raumes symbolisieren - was im Grunde eigentlich ein Widersprüchlich war, denn sie befanden sich im luftleeren Raum und auf keinem Planeten.
Nandra hob energisch ihr Kinn, als sich die Gleittüren öffneten und die Trenkjarsche Delegation eintrat. Den ungehobelten Klotz, den sie bereits im Stützpunkt kennenlernen durfte, erkannte sie sofort und warf ihm einen wütenden und erhabenen Blick zu. Er trug diesmal beinahe die vorschriftsmäßige Standarduniform der Bodeneinheiten. Nur die Mütze fehlte und statt der Rangabzeichen, hatte er sich seine Schärpe um den Leib geschnürt. Irgend jemand musste ihm sagen, dass ungepflegte Haare gegen die Vorschriften verstießen. Doch als sie die anderen Ankömmlinge betrachtete, unterschied er sich bezüglich Kopfhygiene in nichts von ihnen. Lediglich die älteren, deren Haar bereits leicht ergraut waren, hatten sich für eine kürzere Frisur entschieden, die aber immer noch länger war, als es in der Ordnung geschrieben stand.
Der Trenkjar, den Nandra bereits kennengelernt hatte, war von den anderen eingeschlossen worden, so als ob sie den wesentlich jüngeren im Schutze ihrer Mitte nehmen wollten. Als sie vor dem Tisch standen, öffnete sich die Runde und sie bauten sich in einem lockeren Halbkreis um den jungen Mann herum auf, der mit hinter seinem Rücken verschränkten Händen, so gar nicht das Bildnis eines untergeordneten Offiziers abgab.
Der Senatsberater, Samuel Prigmer, einer der Hochherren, die noch aus dem Adelsgeschlecht der Lo'omaner übriggeblieben waren, erhob sich, umrundete die Tafel und ging mit einem freundlichen Lächeln auf den Ältesten der Delegation zu. Etwas verlegen, als verstünde er weder die Worte noch die Geste des Mannes, blickte dieser immer wieder zu den Übrigen und tauschte verwirrte Blicke mit dem jungen Offizier an seiner Seite aus.
"Verzeihung“, meldete sich der Trenkjar zu Wort, als Prigmer seine Begrüßung geendet hatte. Es schien ihm peinlich zu sein. Aber die Angelegenheit, die ihm auf dem Herzen lag, war gewichtig genug, dass er sich nicht einmal zu einer Erwiderung der Begrüßung entscheiden konnte. "Aber das ist General Treece." Er deutete dabei verlegen auf den Jüngsten in ihrer Mitte, auf geradewegs jenen Mann, mit dem Nandra bereits aneinander geraten war.
"Das ist General Treece?", wiederholte Prigmer ungläubig und beäugte den jungen Mann misstrauisch. "Das soll wohl ein Scherz sein? General Treece ist ... ."
"Ich bin General Treece, Janol Treece“, stellte sich der junge Mann vor. "Bei dem General Treece, den sie zu erwarten glaubten, handelt es sich offensichtlich um meinen Vater. Er ist leider vor vier Jahren gestorben. Ich bin der Erbe seines Titels."
"Erbe seines Titels?" Prigmer wand sich kurz um und versuchte bei Nandra Okopaido eine Antwort zu finden. Verwundert und sprachlos zuckte auch sie mit den Schultern.
"Bei uns werden die Titel weitervererbt;" erklärte er mit einem Schmunzeln.
"Das ist ungesetzlich. Ein grober Verstoß gegen die ... ."
"Dies wurde durch das Tribunal persönlich gebilligt. Ich habe sämtliche Prüfungen mit Auszeichnung bestanden, wurde von Abgesandten des Königs und des Vizekönigs geprüft, anerkannt, vereidigt und ins Amt berufen." Er deutete auf die Schriftzeichen unter der goldenen Krone und schob die Schärpe mit den Daumen etwas zur Seite, so dass die darunter verborgenen Schulterabzeichen zu sehen waren. "Damit dürfte es eigentlich keine Probleme mehr geben. Und wenn wir nun endlich zur Sache kommen könnten." Er klang gereizt.
Nandra war sich nur nicht sicher, ob es durch ihren Auftritt hervorgerufen wurde, oder durch den böswilligen Informationsfehler der diese ungeschickte Verwechslung entstehen ließ. Wenn sie es vorher gewusst hätte, hätte sie vermutlich anders reagiert. Im Grunde hatte sie vorgehabt, die Angelegenheit, ohne die Mithilfe des hiesigen Stützpunktes zu erledigen. Nur auf Bitten des Senates und des Vizekönigs, ließ sie sich dazu überreden, General Treece mit ein zu beziehen. Mit General Treece dachten natürlich alle an den alten General, nicht an dessen Sohn.
"Ich weiß nicht“, begann Prigmer verunsichert. "Ob es unter diesen Umständen ratsam ist ... ."
"Was für Umstände meinen sie?", hakte der junge General nach. "Die Umstände meines Alters? Wenn sie damit tatsächlich ein Problem haben, kann ich ihnen vielleicht helfen." Er deutete auf den Mann, den der Senatsberater zuerst begrüßt hatte. "Das ist Lanis Brejkmarr, oberster Gerichtssekretär und so etwas wie ein Unterbürgermeister von Trenkojar, unserer Hauptstadt und des größten Außenstützpunktes. Vielleicht entspricht er eher ihren Anforderungen an Alter. Damit möchte ich mich entschuldigen. Ich habe noch eine Menge zu erledigen." So ungehobelt und respektlos, wie er Nandra behandelt hatte, ließ er euch die gesamte Versammlung stehen und marschierte festen Schrittes davon. Einige seiner Gefolgsleute überlegten einen Moment, was sie tun sollten, aber entschieden sich dann dafür, ihrem Vorgesetzten zu folgen und verließen ebenfalls wort- und grußlos den pompösen Saal. Letztendlich war von den Trenkjar nur noch der Älteste übriggeblieben und auch dieser schien mit sich zu ringen.
"Holen sie ihn zurück“, forderte Nandra von dem Verbliebenen.
"Sie haben ihn beleidigt“, sagte ihr der Trenkjar mutig ins Gesicht. "Sie müssen ihn schon selbst zurückholen. Von mir wird er sich nichts sagen lassen."
Nandra schnaufte, setzte sich aber tatsächlich in Bewegung und eilte den Trenkjars hinterher. Noch vor den Expressliften hatte sie sie wieder eingeholt und verlangsamte ihren Schritt, so dass es den Eindruck erweckte, sie hatte es nicht sonderlich eilig, gehabt. Sie schnaufte unbemerkte durch und rief dann den General an, bevor einer seiner Leute, den Rufknopf für den Lift drücken konnte.
"General Treece“, rief sie und schnaufte erneut durch, als sie nur wenige Meter vor ihm stand. "Es tut mir aufrichtig leid, aber wir sind einer ganzen Reihe von Verwechslungen und Missverständnissen zum Opfer gefallen." Sie hätte sich dabei beinahe die Zunge abgebrochen, aber einem inneren Instinkt folgend, musste sie unbedingt um die Mithilfe des Generals bitten. "Die Angelegenheit, die wir mit ihnen zu besprechen haben, ist von außerordentlichen Dringlichkeit. Daher bitte ich sie an den Konferenztisch zurück. Bitte." Sie begann zu lispeln, als ihr die schleimige Unterwürfigkeit immer unangenehmer wurde.
"Die Angelegenheit kann wohl nicht so dringlich sein, da ihr dafür müde, alte Männer bevorzugt." Sein Ton war schneidend und zutiefst im Stolz getroffen.
"Bitte. Es ist schon peinlich genug." Sie räusperte sich und verlagerte ihr Gewicht unbemerkt auf das andere Bein. "Ich gebe zu, es ist unser Fehler. Wir hätten einen intensiveren Blick in die Aufzeichnungen werfen sollen. Hochherr Prigmer ist letztendlich nur mitgekommen, weil wir dachten, ihren Vater anzutreffen. Und weil wir dachten, dass ihr Vater jemandem wie mir kein Gehör schenken wird. Im Grunde handelt es sich ausschließlich um eine rein militärische Aktion."
Treece wurde hellhörig und neugierig. Er blickte sie eingehend an, doch mehr war Nandra nicht bereit auf den Korridoren von sich zu geben.
"Darf ich sie bitten ins Konferenzzimmer zurückzukehren?", fragte sie vorsichtig.
"Demnach handelt es sich um eine Angelegenheit, für die energisches, junges Blut von Nöten ist“, gab er nachdenklich von sich und schien Blut geleckt zu haben. "Ich sehe aber von vornherein nicht ein, dass wir uns für irgend etwas einverleiben lassen sollen, um irgendwo als Kanonenfutter zu fungieren." Damit gab er erneut das Zeichen, auf den Knopf zu drücken.
"Nein, warten sie“, hielt sie ihn abermals zurück. "Es betrifft sie und ihr Territorium. Ihre Befugnisse sind gefragt."
"Meine Befugnisse?" Treece sah sie ungläubig an. Nach alldem, was ihm bereits mit dem Auftauchen des Kriegsschiffes widerfahren war, glaubte er nicht daran, dass sich überhaupt jemand um seine Befugnisse kümmerte. "Anhören kann ich es mir jedenfalls“, gab er schließlich nach und schritt an der Kommandeurin vorbei, zurück in den Konferenzsaal. Er blieb erneut vor dem Tisch stehen, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schien geduldig auf den Vortrag warten zu wollen. Sein Gefolge baute sich wieder halbkreisförmig um ihn auf.
"Setzen sie sich, General Treece“, bot Nandra ihm gefällig einen Stuhl an.
"Nein, danke“, lehnte dieser großzügig ab. "Wie gesagt. Auf mich wartet eine Menge Arbeit und ich habe keine Zeit, es mir gemütlich zu machen."
"Wie sie wollen“, schnaufte sie und blieb ebenfalls stehen, obwohl sie sich liebend gern in die weichen Polster der Stühle niedersinken lassen wollte. Sie räusperte sich, sprach sich stumm mit dem Hochherren ab, der nun arbeitslos geworden war und setzte zu ihrer Rede an. "Wir sind hier, um einige Fragen von ihnen beantwortet zu bekommen“, begann sie und hatte wieder ihre alte Selbstsicherheit an den Tag gelegt. "Das heißt, wir bewegen uns hier auf der höchst brisanten Schiene des Hochverrates, der Aufwiegelung und der vorsätzlichen Spionage. Wir, das heißt die Spezialeinheit zur Bekämpfung verbrecherischer Organisationen, sind seit einiger Zeit den Extramuros, wie sie sich selbst nennen, auf den Versen, was aber nicht heißen soll, dass wir sie in irgendeiner Weise verdächtigen. Wir empfingen Botschaften und Nachrichtensendungen, die durch die ganze Galaxis und selbst durch das ganze große Reich gingen. Eine der Absender glauben wir in ihrem Territorium zu finden."
"Hier, bei uns?", rief er ungläubig und vergaß seine Hände wieder zurück auf den Rücken zu legen. "Wie kommt ihr darauf?"
"Hinweise, die immer wieder auf diesen Sektor deuten. Kurzweilig verfolgte Peilsendungen und die Aussagen von zuverlässigen Quellen“, erklärte Nandra. Die Organisation Extramuros hatte schon einige Völker und ganze Sternensysteme aufgewiegelt und mit ihren erzpatriotischen Parolen verseucht, so dass sie nur noch schwerlich zum besänftigen waren.
"In diesem Sektor gibt es viele Planetensysteme, in denen man auf Nimmerwiedersehen verschwinden kann“, wusste er. "Prahos Dschungel ist noch dichter und unüberschaubar als unserer und die Lykyster-Monde sind durch und durch durchlöchert. Wie leicht kann man sich dort verkriechen, ohne dass man es bemerkt. Zudem ist die Raumüberwachung von unserer Warte aus mit Problemen behaftet, die Überwachung unserer Oberfläche hingegen aber lückenlos."
"Es kommt eindeutig von Trenkjar“, blieb Nandra hartnäckig und stützte sich auf die kostbare Schnitzerei eines der Stühle auf. "Wir wollen auch keine Großflächenrodung entfachen. Das einzige, was wir von ihnen brauchen, sind Koordinaten. Sie kennen sich in ihrem Hoheitsgebiet am besten aus. Wo könnten sich eine Basis verstecken? Den Rest übernehmen sie. Sie brauchen nicht einmal zu befürchten, für irgendetwas aufgerieben zu werden. Die Ashantin verfügt über genügend eigene Leute, um eine solche Operation durchführen zu können."
"Sie wollen sich demnach ohne uns an die Sache heranwagen?"
Nandra nickte.
"Das kommt nicht in Frage“, entschied er energisch. "Kein einziger ihrer Leute, ob sie nun die besten Kampfflieger der gesamten Kriegsflotte sind oder nicht. Kein einziger ihrer Leute, wird in Trenkjars Atmosphäre eintreten."
"Wie wollen sie das verhindern?", fragte sie leicht amüsiert. "Zudem handelt es sich um eine Reichsangelegenheit und das Kriegstribunal ist dafür zuständig. Sie müssen froh sein, wenn sie überhaupt noch gefragt werden."
"Und was passiert, wenn ihre orttunkundigen Kampfflieger - so gut sie auch sein mögen - durch die Atmosphäre dringen und ihre Instrumente allesamt den Geist aufgeben, so dass sie allein auf ihr Können und ihren Instinkt vertrauen müssen? Was passiert, wenn sie orientierungslos und auf sich allein gestellt mitten im Dschungel abstürzen und niemand ihnen helfen kann? Haben sie darüber einmal nachgedacht?"
"Was meinen sie damit?", wollte Nandra etwas verunsichert wissen.
"Sie haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht, Commander Okopaido. Denn dann wüssten sie, dass es bei uns weder nennenswerte Elektrizität, noch irgendwelchen Funkverkehr geben kann. Aufgrund der planetaren Beschaffung ist das nicht möglich. Und ich bezweifle, dass sie genügend Kabel aufbringen können, um die Sprechverbindungen und die Energieversorgungen ihrer Flieger damit zu versorgen."
Nandra wusste nichts zu erwidern. Liebend gern hätte sie ihm etwas entgegen geschmettert, nur um ihm ihre eigene Stärke und Überlegenheit zu demonstrieren. Doch es gab nichts, was sie hätte zur Sprache bringen können.
"Ich habe nichts dagegen, wenn sie auf Trenkjar nach einer vermeintlichen Basis suchen, aber ohne mich werden sie keinen einzigen Schritt tun, geschweige denn überhaupt einen Fuß auf Trenkjars Boden setzen." Er klang entschlossen und energisch genug, seine Forderungen durchsetzen zu können.
Sie schalt sich tatsächlich, sich nicht mehr über Trenkjar informiert zu haben. So viele Welten hatte sie schon besucht. Die wenigstens brachten wegen irgendwelche Banalitäten Schwierigkeiten auf. Jetzt wusste sie auch, warum Trenkjar bislang so verschmäht worden war.
Als er weitersprach, schwang in seiner Stimme wesentlich mehr Nachgiebigkeit und Einfühlvermögen mit. "Ich appelliere an ihre Vernunft als Soldat. Ich weigere mich, für Nachlässigkeit die Verantwortung zu übernehmen. Seien sie also gewiss, dass ich mit allem was mir zur Verfügung steht, versuchen werde, sie daran zu hindern, sollten sie es dennoch wagen. Ob ihre Anschuldigungen nun zutreffen oder nicht, es ist für jeden nicht ortskundigen einfach zu gefährlich."
"Wie viel Einheiten haben sie zur Verfügung?", wollte sie wissen, um wenigstens einen kleinen Teil ihrer Macht zurückzuerlangen.
"Mehr als ausreichend, um den gesamten Planeten durchkämmen zu können“, antwortete er. "Sie stehen jederzeit bereit, hören aber nur auf mein Kommando."
"Sie haben ihre Hunde ziemlich gut abgerichtet“, gab sie spitz von sich.
"Das hat wahrlich nichts mit abrichten zu tun. Auch wenn ich ihnen befehlen würde, dass sie auf jemanden wie sie hören sollen, würden sie es nicht tun. Dafür wissen Außenstehende wie sie zuwenig von Trenkjars Eigenheiten. Außerdem“, sagte er nach einer kleinen Pause, in der er den Triumph auskostete. "Wenn es tatsächlich eine solche Basis auf Trenkjar geben sollte, dann haben sie sie mit ihrem Auftauchen sicherlich verscheucht."
"Nach meinen Kenntnissen senden sie unbeeindruckt weiter."
"Senden?", wiederholte der General. "Sie meinen eine Senderanlage, einen Funkpeiler oder Langstreckenkonvektor oder ähnliches?"
"Etwas in dieser Art“, nickte sie wissend.
"Das ist unmöglich. Vom Boden aus ist keinerlei Übertragung möglich. Sie müssten schon einen festen Verbindungskanal zu einem Satelliten besitzen. Aber dies ist weithin sichtbar und wäre bereits in der Bauphase entdeckt worden."
"Irgendwie müssen sie es möglich gemacht haben“, sagte Nandra und setzte ein überhebliches Grinsen auf.
"Sämtliche Funklöcher sind besetzt und werden ständig überprüft. Niemand könnte dort einen Parasiten einsetzen."
"Irgendwie muss es möglich sein. Denn sie senden immer noch."
"Kommen sie mit sämtlichem Material zu mir. Das muss ich selbst überprüfen“, forderte er plötzlich kurz angebunden. Der drohende Glanz war auf einmal aus seinen Augen gewichen und für einen winzigen Hauch, wischten seine Hände ziellos und irritiert durch die Luft. "Ich erwarte sie“, sagte er, noch während er herumwirbelte und mehr als eilig den Saal verließ. Sein Gefolge hatte kaum Zeit, sich mit einem kurzen Kopfnicken zu verabschieden und ihm zu folgen. Dann schneller, als eine Böe im Wirbelwind war die Delegation wieder verschwunden und Prigmer und Okopaido blieben allein zurück.
* * *
Auf Trenkjar war es zumindest auf der ihr zugekehrten Seite noch früher Abend, als die Fähre ein viertes Mal an diesem Tag auf dem Landeplatz der kleinen Bodengarnison aufsetzte. Mit sämtlichem Material bewaffnet, war sie sogar bereit, sich mit dem General notgedrungen die ganze Nacht um die Ohren zu schlagen, um die genaue Position dieser Nachrichtenbasis herauszufinden. Warum sie sich seinem Willen beugte und keinen Schritt ohne ihn unternahm, wusste sie selbst nicht. Die Drohung, dass Trenkjars Vegetation für sämtliche Außenstehende mehr als gefährlich war, hatte sie scheinbar auch innerlich so beeindruckt, dass sie es gar nicht erst darauf anlegen wollte.
In der Kaserne hatte sich seit dem frühen Morgen nicht viel verändert. Nur die übermütige Meute, die ausgelassen im Schmutz herumtollte, war verschwunden. Diesmal ging sie zielstrebig an den Wachposten vorbei und kletterte die drei Stockwerke hoch, um zum Büro des Generals zu gelangen. Dass vierstöckige Häuser nicht unbedingt eines Liftes bedürfen, war ihr auch so klar. Nichtsdestotrotz hatte sich auch schon zweistöckige Häuser gesehen, die eine Aufzugskabine besaßen, nur um den Wohnkomfort zu erhöhen. Zu der spartanischen Bauweise und Einrichtung des Verwaltungsgebäudes auf Trenkjar passte ein Aufzug ganz und gar nicht.
Endlich im dritten Stock angekommen, schnaufte sie tief durch. Die Treppen waren entgegen der übrigen Architektur ab und zu unregelmäßig und man musste sich stark aufs Treppensteigen konzentrieren, um nicht zu stolpern und mit Gepolter und Getöse auf die harten Stufen zu fallen. Im Vorzimmer des Generals saß der Lakai, halb auf dem Sessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch eingenickt, die Füße auf dem Tisch und die Hände über dem Bauch verschränkt. Sein alter Hut lag auf den Knien und die Holzpantoffeln spitzelten hinter einer Kante hervor.
"General Treece erwartet mich“, sagte sie mit lauter und fester Stimme. Der Lakai schrak hoch, hätte dabei beinahe seinen Hut hinwegkatapultiert und blickte sie mit offenem Mund an, bis er sich endlich gefasst hatte. Dann drapierte er endlich seine Kopfbedeckung an seinen Platz, suchte eiligst nach seinen Schuhen und schlurfte näher.
"Mir Verzeihung“, sagte der Lakai nickend, halb die unterwürfige Verbeugung ausführend. "Gerai Treece wünscht nicht zu stören."
"Er sagte, dass er mich erwartet. Also melden sie mich an." Sie schnaufte genervt und hoffte, dass der General nicht schon wieder spazieren gegangen war.
"Gerai Treece wünscht nicht zu stören“, jammerte der Lakai und schickte einen flüchtigen Blick in Richtung der Türe mit dem Sichtfenster. Er hatte seine Stimme etwas gesenkt, vermutlich aus Angst, jemand könne ihn hören.
"Ich will nicht noch einmal hören, dass er spazieren gegangen ist“, schimpfte sie. "So melden sie mich doch endlich an, oder soll ich das selbst übernehmen." Sie machte einige Schritte auf die Türe zu. Der Lakai sprang mit einer überraschenden Behändigkeit vor ihr zur Türe, überlegte kurz, wessen Strafe schlimmer ausfallen würde und öffnete schließlich die Türe ein wenig. Nandra hatte genug von den Verzögerungen, stieß die Türe vollends auf und trat festen Schrittes ein.
Der Raum war abgedunkelt. Schemenhafte Umrisse zeigten Mobiliar, Sitzgelegenheiten, einen Waschplatz und ein Bett, in welchem sich jemand aufzuhalten schien. Der Lakai schlich so leise er konnte, näher an das Bett heran, versuchte dabei mit seinen Holzschuhen keinen allzu großen Lärm zu machen und tippte vorsichtig an die Schulter des Schlafenden. Nandra musste die aufsteigende Röte krampfhaft verbergen. Das letzte was sie wollte, war diesen energischen Mann in seiner Privatsphäre zu stören. Sie wollte schon umkehren und die ganze Sache einfach vergessen, als erste Regung in ihm kam.
"Gerai Treece“, rief der Diener und tippte ihm erneut auf die Schulter.
Missmutiges Gebrummel ertönte aus dem Dunkelheit. Und als der Diener es erneut wagte, flog ihm mit wütenden Beschimpfungen ein hartes Kissen an den Kopf.
"Möchte verstehen“, sagte der Lakai entschuldigend, an die Kommandeurin gewandt. "Gerai Treece ist wegen Sender seit über siebzig Stunden auf den Beinen."
"Ich verstehe“, nickte sie. Ihr war das mehr als peinlich. Ihre Arme verkrampften sich um die mitgebrachte Mappe. Wieso sie nicht augenblicklich kehrt machte und sich auf den Weg zurück zur Ashantin machte, wusste sie ebenso nicht. Sie sollte den sichtlich überlasteten General in Ruhe lassen und es vielleicht doch auf eigene Faust versuchen.
"Sie sollen in sechs Stunden wiederkommen“, übersetzte der Diener das wütende Gebrummel seines Herrn. "Er sagt, ihm stehen soviel Zeit zu. Er sagt, das müssen auch Vorschriftenapostel wissen."
"In Ordnung, sechs Stunden“, sagte sie, urplötzlich ihre gewohnte Strenge zurückgewonnen. "Ich werde mich wieder melden und hoffe, dass ihr werter Herr General dann endlich für mich ansprechbar ist." Sie wirbelte auf dem Absatz herum und marschierte von dannen.
Sie brauchte nicht einmal die ganze Nacht für eine neue Erkenntnis zu opfern. Kaum war sie wieder auf der Ashantin, kam ihr ein Funker mit neuen Meldungen entgegen. Funksprüche, die er von Trenkjar aufgefangen hatte und deren Chiffriercodes denen der Extramuros glichen. Sie besaß nun den Beweiß, dass trotz des Kriegsschiffes vor ihrer Nase munter weitergesendet wurde.
Deswegen begab sie sich am frühen Vormittag wieder auf die Oberfläche herab und versuchte ihr Glück im Büro des Generals ein drittes Mal. Sie war der Meinung, dass er nun mehr als ausreichend Zeit bekommen hatte, sich auszuruhen. Statt der geforderten sechs, waren über fünfzehn Stunden vergangen und sie zeigte sich dennoch sichtlich überrascht, dass Treece noch immer nicht seinem Nachtlager entstiegen war.
"Wecken sie ihn gefälligst“, forderte sie genervt und lehnte sich an den mächtigen Schreibtisch. Ihr war schon einiges untergekommen. Aber dass sich ein leibhaftiger General - so fähig er auch sein mochte - erst verleugnen ließ und dann nicht aus den Federn zu bekommen war, erlebte sie zum ersten Mal. Sie lehnte sich an den Türstock und spähte ins Innere des Raumes. "Das muss ja ein gewaltiger Spaziergang gewesen sein“, sagte sie spitz, als sie Treece mit seinem Diener sprechen hörte.
"Was für ein Spaziergang?", kam es müde aus der Dunkelheit. Die Holzpantoffel des Dieners schlurften in Richtung Fenster und zogen die Jalousien hoch. Licht überflutete den Raum und ließ den General, der noch immer im Bett saß, geblendet blinzeln.
"Als ich das erste Mal hierher kam und sie persönlich zu einem Gespräch einladen wollte, sagte man mir, sie wären spazieren“, erklärte sie höhnisch. Es war seine eigene Schuld, wenn er seine Untergebenen keinen richtigen Sprachunterricht geben konnte.
"Spazieren?", wiederholte er fragend, dann lachte er kurz auf und schwang seine Beine aus dem Bett, wobei er die dünne Decke über seine Blöße zog. "Im Grund ist das auch richtig gewesen. In unserer Sprache gibt es kein Wort für Erkundungsflug, oder Patrouille. Aus dem Haus gehen, beziehungsweise fortgehen oder ausgehen, ist die einzige Übersetzung dafür. Ungeübte wie Parija haben damit noch Probleme. Haben sie die Unterlagen mitgebracht?"
"Was denken sie denn? Dass ich nur hier bin, um den örtlichen Weckdienst zu entlasten?" Sie stieß sich vom Türstock ab, warf ihre Mappe auf einen kleinen Tisch und ließ sich in einen unbequemen Baststuhl niedersinken. Ihre Beine mussten dabei eine krampfbegünstigende Haltung annehmen und sie fühlte sich unwohl und herabgesetzt. "Ich kann ihnen auch eine erfreuliche Nachricht überbringen. Die ... ."
"Haben sie Lust, trenkjarsches Frühstück zu probieren?", fragte er dazwischen und brachte sie damit etwas aus ihrem Konzept.
Nandra nickte. Schaden konnte es nicht, obwohl sie bereits ein üppiges Morgenmahl zu sich genommen hatte. Zurückstoßen wollte sie ihn ebenso nicht.
"Zurück zu meiner Nachricht ... „, setzte sie ein weiteres Mal an, als der Lakai mit der Bestellung davon schlurfte.
"Heben sie sie noch einen Moment auf“, unterbrach er sie erneut, hievte sich auf seine Beine, streckte sich kurz und begab sich dann hinter eine dünne hölzerne Wand, wo bald Wasserrauschen zu hören war.
Nandra schnaufte genervt. Der Mann hatte tatsächlich den Nerv, eher an Frühstück und Duschen zu denken, als sich um das Tagesgeschehen zu kümmern. Sie lehnte sich auf dem unbequemen Stuhl zurück, streckte ihre Beine aus und erinnerte sich erst in diesem Moment wieder daran, dass er ohne Scham, beinahe nackt vor ihr gestanden hatte. Lediglich ein dünner Lendenschurz, ein Stoffstreifen, den er sich um die Hüfte und die Lende gebunden hatte, bedeckte seine Blöße. Röte schoss ihr ins Gesicht. Als der General nur einen Augenblick später zurückkehrte, hatte sie Mühe ihr rotes Gesicht niederzukämpfen.
"Nun, was gibt es für eine Nachricht?", erkundigte er sich endlich, band den Gürtel seiner dünnen, knielangen Uniformhose um den Bauch fest und schlüpfte in ein Hemd, dessen leichter Stoff bei jeder Bewegung flatterte.
"Die Extramuros senden immer noch“, konnte sie ihre Nachricht endlich loswerden. "Wir haben die letzten Meldungen aufgezeichnet." Sie hielt ihm eine Datenkarte hin. Bereitwillig nahm er sie an, warf sich noch während er barfüßig zu dem Terminal auf dem wuchtigen Tisch ging, die Schärpe über und steckte die Karte in den vorgesehenen Schlitz. "Sie sind bereits entschlüsselt, das heißt, sie sehen Klartext." Für einen Moment überlegte sie, woher er den Strom für das Terminal bekommen wollte, doch da ertönte bereits ein leiser Piepton und die eingelesenen Daten wurden auf dem kleinen Bildschirm sichtbar. "Die Sendezeit und die Peilrichtung ist ebenfalls vermerkt."
"Ich sehe es“, knurrte er etwas missmutig.
"Funktioniert ihr Sender eigentlich wieder?", erkundigte sich Nandra neugierig.
"Notdürftig“, erklärte er etwas abwesend. Offensichtlich las er die Nachrichten genau durch. "Die Ersatzteile kommen erst in Kürze."
"Ich dachte, hier gibt es keine Elektrizität“, bemerkte sie beiläufig.
"Miniaggregat“, gab er knapp von sich und deutete auf eine bestimmte Stelle auf dem Schirm. "Der Sender funktioniert seit knapp vierzig Stunden wieder. Die benutzen unseren Satelliten“, erkannte er plötzlich. "Ist ihnen vielleicht auch aufgefallen, dass davor mindestens fünfzig Stunden lang, keine einzige Nachricht ausgesandt wurde?", wollte er wissen, während er zurück in sein Zimmer eilte und nach den Ledersandalen suchte.
"Die einzelnen Nachrichten werden unregelmäßig verschickt. Es ist reiner Zufall, wenn wir eine davon auffangen."
"Kommen sie mit“, rief Treece und war bereits halb aus dem Büro geeilt. An der Türe stieß er beinahe mit seinem Lakai Parija zusammen. Verwirrt blickte dieser von einem zum anderen und wusste nicht mehr, was er mit seinem Tablett anstellen sollte. Wortlos war sein Herr an ihm vorübergeeilt. Die Raumoffizierin hatte ebenfalls keine erklärende Worte für ihn übrig.
"Was ist los?", wollte Nandra wissen, als sie den General eingeholt hatte.
"Alles was über unseren Satelliten rausgeht, wird vorher überprüft“, erklärte er. "Solche für uns unsinnigen Meldungen hätten längst auffallen sollen."
"Vielleicht peilen sie ihn von irgendwo an und nutzen nur die Sendeleistung."
"Vom Boden aus ist es unmöglich ihn anzupeilen. Wenn überhaupt, dann ist es nur von außerhalb möglich und dies ist wohl die unsinnigste Tat, die sich eine Organisation wie die Extramuros erlauben könnte. Unser Sender besitzt, wegen der geringen Umlaufbahn keine allzu gute Sendeleistung. Jeder andere Satellit ist besser, als unserer. Zudem hatten wir in letzter Zeit mehr Ausfälle als Einsätze." Er warf ihr ein flüchtiges Grinsen zu, während sie über die schmutzigen Platten hin zu einem Wellblechbau eilten. Eine große Antenne und ein dünner Stab, der bis in den Himmel hinauszureichen schien, krönten das schiefe Dach. Im Inneren sah es beinahe aus, wie in einer provisorischen Funkerzentrale, die in einem Großraumbüro errichtet worden war. Mehrere uniformierte und zivilgekleidete Personen eilten zwischen die verdrahteten Tische hin und her. Ein Kabelgewirr hing von der Decke herab und verband jeden Tisch mit der Antenne und einer Apparatur, die sich hinter einen weiteren Wellblechwand verbarg. Das leise Rauschen eines fusionsbetriebenen Aggregates erfüllte die Wellblechhalle mit einem stetigen Geräuschpegel, wenn nicht aus zahlreichen Lautsprechern, das Zischen, Quäken und Geplapper des Frequenzbereiches ertönen würde.
Zielstrebig eilte Treece auf einen Mann zu, der konzentriert auf den kleinen Bildschirm eines Terminals starrte. Ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, steckte er die Datenkarte in den Schlitz und löschte damit das eben genutzte Programm und die ungesicherte Arbeit. Der Mann hinter dem Terminal war sicherlich doppelt so alt wie der General, doch dessen Blick und dessen Gesichtsausdruck, als er die ersten Zeilen der aufgezeichneten Nachrichten las, sprachen wahre Bände. Ohne auch nur einen Schuss abzufeuern, ohne auch nur einen Finger krumm machen zu müssen, schien der General bereits den Schuldigen gefunden zu haben. Treece warf ihm noch eine Aufforderung in seiner eigenen Sprache zu, wirbelte herum und marschierte wieder zurück. Der Mann hinter dem Terminal erhob sich widerstandslos und folgte ihnen.
Nandra hatte alle Mühe, mit dem General Schritt zu halten. Erst in seinem Büro gelang es ihr, ihn wieder einzuholen. Wutentbrannt, sich auf der Strecke von der Funkerhalle zu seinem Büro, in beinahe grenzenlose Wut gesteigert, hatte er hinter dem Funker schwungvoll die Türe ins Schloss geworfen und brüllte ihn kurz aber heftig in seiner eigenen Sprache an, bis er sich endlich seines Postens und seines Anstandes besann und sich gewaltsam wieder unter Kontrolle brachte.
"Was hast du dir nur dabei gedacht?", wetterte Treece nun in Standard, so dass es auch die Raumfahrtkommandeurin, die die eigentliche Bearbeiterin des Falles war, die Unterhaltung verstehen konnte. "Ich dachte, wir wären uns alle einig“, fuhr Treece wütend fort, noch ehe der eingeschüchterte Mann eine Erklärung abgeben konnte. "Ich dachte, wir würden uns alle gemeinsam darum kümmern. Muss ich wirklich wieder mit dieser alten Masche anfangen und sämtliche Entscheidungen über meinen Tisch laufen lassen? Ich dachte, wir hätten das geregelt. Warum hast du das getan, Gror?"
Nach all den Fragen machte Treece endlich eine Pause, so dass der Mann Gelegenheit zum Antworten bekam. Außer einigen unverständlichen Lauten kam jedoch nichts vernünftiges über seine Lippen.
"Hast du niemals den Fall bedacht, dass dies irgendwann ans Tageslicht gelangen könnte? Du bringst uns damit in erhebliche Schwierigkeiten. Nein, nicht uns“, verbesserte er sich schnell. "Du bereitest mir Schwierigkeiten, weil ich bereit war, Prioritäten auf andere zu verteilen und für deren Entscheidungen und Vergehen die Verantwortung zu übernehmen. Du legst mir damit ein Messer an den Hals, weißt du das?"
Der Funker nickte nur beschämt.
"Was hat man dir dafür geboten?", wollte Treece wissen. "Was gab man dir dafür, dass du codierte und ungeprüfte Nachrichten über unseren Satelliten laufen lässt?"
Der Funker öffnete den Mund, brachte es jedoch nicht fertig zu antworten.
"Weißt du, was beschämend ist?", fragte er nach einer weiteren kurzen Pause sichtlich ruhiger und sich wesentlich kontrollierter benehmend. "Dass ich es von außerhalb erfahren musste. Wenn ich es von anderer Stelle, von eigenen Reihen erfahren hätte, wäre es längst nicht so schlimm gewesen, aber so. Nun ist sogar das Kriegstribunal mit diesem Fall beschäftigt und ich verfüge nicht einmal mehr über die Möglichkeit Alternativlösungen zu finden. Ich war blind. Es lief einfach zu gut, so dass ich einfach nicht mehr an die Möglichkeit eines Verrates dachte." Er lehnte sich enttäuscht an seinen Tisch und starrte für einige Minuten, in denen absolutes Schweigen im Raum herrschte, auf den Boden.
"Ich dachte, ich wäre gut“, begann er schließlich wieder, beinahe schon im Selbstmitleid versinkend. "Ich dachte, ich hätte endlich für Frieden gesorgt und jedem, der Anspruch forderte, gegeben, was er verlangte. Ich dachte, ich hätte die Lösung gefunden. Aber das war nur eine Farce." Er sah hoch. "Das ausgerechnet du so etwas tun musstest." Er schüttelte fassungslos den Kopf. "Ich hielt dich für einen absolut loyalen Freund. Du bist mein Patron. Du hast geschworen, mein Leben zu ehren und zu beschützen. Mit deiner verantwortungslosen Tat hast du deinen Schwur in den Dreck geworfen und es mit Füßen getreten. Warum hast du das nur getan? Wegen der blendenden Ideale, die diese Weltverbesserer preisen?"
"Nein“, gab der Funker endlich etwas von sich. Wenn sein Vorgesetzter ihn nicht mehr vor Wut anbrüllte, schien er wesentlich eher zur Aussage bereit zu sein.
"Ich weiß, was sie sagen. Einiges davon kann durchaus einer weiteren Überlegung wert sein. Aber nicht auf diese Art, nicht jetzt und nicht du."
"Es tut mir leid“, kam es gebrochen über seine Lippen.
"Was haben sie dir dafür geboten, dass du bereit warst, selbst mich zu verraten?", wollte der General abermals wissen. Er entdeckte das Tablett mit dem bestellten Frühstück und schnappte sich einen Bissen, um wenigstens einen kleinen Happen im Bauch zu haben.
"Ich habe es nicht meiner selbst Willen getan“, gestand der Funker. "Sie versprachen unter anderem die Anlage für uns zurückzulassen, sollten sie jemals entdeckt werden."
"Was versprachen sie noch?"
Der Funker zögerte, öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
"Was noch?", forderte Treece diesmal eindringlicher.
"Sie haben versprochen, uns wieder auf die Beine zu helfen“, gestand Gror.
"Inwiefern? Mit Touristen? Kriminellem Gesorgs? Skrupellose Industrielle? Damit wir unsere Quoten erfüllen und ich bald mehr Leute engagieren muss, um all die Abtrünnigen aus dem Sumpf zu ziehen, die irgendwie da hineingelangt sind? Du weißt selbst gut genug, dass es Unsinn ist. Es hat zu Gmarjes Zeiten nicht funktioniert und es wird auch heute nicht funktionieren. Wir werden diesmal endgültig mit Pauken und Trompeten untergehen. Dieser Planet ist als Attraktionsobjekt nicht geeignet. Oder versucht du etwa die alten Zeiten wieder aufleben zu lassen?"
"Nein, das nicht gerade“, druckste der Funker herum. " Ich dachte, wir könnten durch sie wieder ... ."
"Durch ihr schmutziges Geld unseren Lebensunterhalt sichern? War es das, was du meintest?" Er schüttelte den Kopf. "Du enttäuschst mich mehr, als ich auszudrücken vermag. Mein Vater hat bereits versucht, Ruhm und Ansehen und damit auch etwas Reichtum an sich zu ziehen, damit ganz Trenkjar davon profitierte. Mit seinem Tod gerieten wir schneller wieder in absolute Vergessenheit, als wir uns in die Köpfe der edlen Herrn am Hofe hineinpflanzen konnten. Was ist daran auszusetzen, wenn wir ein friedliches und beschauliches Dasein in Abgeschiedenheit fristen? Was hattest du beabsichtigt zu unternehmen, um all die neuen Bewohner zu beherbergen? Wald zu roden und Sümpfe trocken zu legen? Damit wärst du bis ans Ende deiner Tage und das deiner Erben beschäftigt."
Der Funker betrachtete verlegen seine Hände.
"Mit deiner Tat hast du auch riskiert, dass wir schneller vernichtet werden, als du deine spärlichen Habseligkeiten zusammenraffen kannst. Diese Extramuros sind Kriminelle. Sie verfolgen ihre Ideen mit einem skrupellosem Eifer, der selbst mich in Erstaunen versetzt. Vielleicht hast du sogar nicht einmal an die Möglichkeit gedacht, dass die dich betrügen und ihr Wort nicht halten könnten."
Ein leises Schnaufen ertönte von Gror.
"Wir können froh sein, dass ich aufgrund eines Missverständnisses eingeschaltet wurde. Sonst hätte das Kriegsschiff dort oben, sicherlich längst unseren Grund und Boden mit ihren Laserkanonen aufgewühlt."
Der Funker versank in noch tieferem Schweigen.
"Dir ist doch sicherlich auch bewusst, dass ein Kopf rollen muss“, gab Treece nach einer Weile kurzer Bedenkzeit zu Betracht. "Und der meinige wird es sicherlich nicht sein."
Der Funker hob den Kopf und blickte seinen Vorgesetzen traurig und entsetzt an.
"Die Angelegenheit ist bereits dem Kriegstribunal bekannt. Ich kann nichts mehr für dich tun." Der junge General wurde selbst von Trauer beseelt. Er war mit dem älteren Mann mehr verbunden, als er sich im Moment zugestehen wollte.
"Ich weiß“, sagte Gror schuldbewusst und mit seinem Schicksal abgeschlossen.
"Wo sind sie?", verlangte Treece.
"Sthii“, verriet der Funker. Er hatte nichts mehr zu verlieren.
"Ich hätte es wissen müssen“, schimpfte Treece und stieß sich vom Tisch ab. "Hast du es ihnen verraten?"
Gror nickte beschämt.
"Dafür sollte ich dich eigentlich höchstpersönlich übers Knie legen“, knurrte der General und spazierte gemächlich zum Fenster, um einen nachdenklichen Blick hinauszuwerfen. "Wie viele sind es?", fragte er anschließend.
"Ich hatte nur zu vier verschiedenen Personen persönlichen Kontakt“, gestand Gror. "Sie gaben mir die Sendezeiten und die Codes. Mehr erfuhr ich nicht."
"Demnach besitzen sie eine eigene Sendeanlage und Parasiten, um unseren Satelliten anzuzapfen“, schlussfolgerte Treece, während er noch immer aus dem Fenster blickte. "Weißt du auch etwas über Schutzmaßnahmen und Scanner?"
"Nein“, erwiderte Gror.
"Wie kommen sie rein und raus ohne entdeckt zu werden? Sie müssen sich doch mit Proviant, Material und Personal versorgen."
"Ich weiß es nicht. Ich dachte nie darüber nach."
Treece wand sich um und schien einen Moment mit seiner nächsten Entscheidung ringen zu müssen. "Parija“, rief er schließlich und die Türe öffnete sich so kurz darauf, als hätte der Lakai direkt neben der Türe nur auf eben jenen Ruf gewartet. "Ich brauche zwei Wachen und eine Einheit der Landtruppen." Der Diener nickte und verschwand augenblicklich wieder. Noch immer in Gedanken versunken, schlenderte der General zum Tisch zurück und nahm sich einen weiteren Bissen.
"Was ist das, Sthii?", meldete sich endlich Nandra zu Wort.
"Es gibt neunundzwanzig Funklöcher auf Trenkjar“, erklärte Treece geduldig, als er seinen Bissen hinunterschluckt hatte. "Bis auf fünf sind alle in Beschlag genommen oder gesichert."
"Was sind Funklöcher?", erkundigte sie sich.
"Strudel, in deren Auge es keine Störungen gibt, so dass wir durch sie hindurchsenden können. Sie sind weitgehend konstant und daher für feste Einrichtungen ideal. Die fünf letzten befinden sich fast ausschließlich auf unwegsamen Gelände, auf der keinerlei befestigte Apparatur möglich ist. Sthii könnte theoretisch ebenfalls genutzt werden, doch da sich dort einige seltene und vom Aussterben bedrohte Pflanzen- und Tierarten befinden, verzichteten wir auf eine Nutzung." Er brach sich ein Stück von einem Brotlaib ab und biss hinein.
"Was passiert jetzt?", wollte sie wissen und betrachtete das Trenkjarsche Frühstück, von dem sie lieber doch keine Kostprobe nehmen sollte. Die kleinen schwarzen wurmähnlichen Gebilde, die hübsch auf einem weißen Teller drapiert worden waren und das leicht gräuliche Brot, das der General in sich hineinstopfte, erweckte in Nandra keinerlei Naschgelüste.
"Können sie schwimmen?", fragte er zeitgleich mit dem Auffliegen der Türe, als die beiden angeforderten Wachen ins Zimmer traten.
* * *
General Treeces Frage hatte sie mit Stolz bejaht. In ihren aufregendsten Kindheitstagen, in einer Zeit, in der ihr einziges Hobby dem Sammeln von Abzeichen galt, hatte sie mehrmals den Rettungsschwimmer abgelegt. Doch als sie nun mit zwanzig spärlich bekleideten Trenkjars auf einem wackeligen Luftkissenboot über ein üppig wucherndes Seegrasfeld raste, glaubte sie einen folgenschweren Fehler begangen zu haben. Der Verbrennungsmotor tuckerte mit atemberaubender Geschwindigkeit seiner Kolbengeschläge hinter ihnen drein, während ihnen frischer Fahrtwind Frisur und Kleidung zerzauste und aufgestöberte Insekten aufgeschreckt ins Gesicht klatschten. Das Boot besaß eine kleine Windschutzscheibe, die den vordersten Reihen durchaus Schutz vor Fahrtwind und Insekten bot, doch die hinteren Reihen bekamen den Luftwiderstand und die Windstrudel vollends mit. Nandra hatte sich wohlsorglich einen Platz neben dem General in der vordersten Reihe, gleich hinter dem Steuermann gesichert. Als sie nach hinten blickte und die schwindende Befestigung, auf der die Kaserne und eine Stadt nahmens Trenkojar stand entdeckte, bemerkte sie auch, wie die Männer auf den letzten Reihen mit dem Wind und den verwirbelten Insekten zu kämpfen hatten. Es schien ihnen aber weniger auszumachen, als Nandra annahm. Sie lachten und scherzen, doch als sie den Blick der Raumfahrtkommandeurin bemerkten, verstummten ihre Gespräche augenblicklich.
Vor ihnen ersteckte sich eine dunkle Wand aus dicht verwucherten Grün- und Schlingpflanzen und Bäumen, die die Wolken zu berühren schienen. Einige Trassen waren in die Wand geschnitten worden, um den Sumpfwald überhaupt zugänglich zu machen. Sogleich als sie in den Wald einfuhren, stülpte sich die Abenddämmerung über sie. Hoch über ihnen hatte sich das Blätterdach soweit geschlossen, dass kaum noch Sonnenlicht auf den Boden fiel. Der Steuermann schaltete die Scheinwerfer ein und erhellte ihren Weg. Ein dichtes Gewirr aus Schlingpflanzen, Moosflechten, Baumstämmen, schwimmenden Büschen und wahre Maschenwerke aus den verschiedensten Formen von Blättern schien eine Durchfahrt schier unmöglich zu machen. Dann und wann neigten sich die Blätter so tief zu ihnen herunter, dass sie die Köpfe einziehen mussten, doch das Luftkissenboot fand immer wieder eine Trasse die breit genug war, um noch tiefer in den Wald zu fahren. Der Lärm des Motors übertönte die Geräusche des Waldes, so dass das Knistern, das Platschen und das Rauschen nicht zu hören war.
Nandra besaß keine Lust auf eine Besichtigungstour durch einen feuchten, modrigen Sumpfwald. Erst betrachtete sie interessiert die Konsole des altertümlichen Bootes, das vermutlich nur noch auf Trenkjar und allen ähnlichen Planetensystemen benutzt wurde, dann fiel ihr Blick wie durch Geisterhand gelenkt auf den jungen General. Ihr fiel erst jetzt auf, dass seine Haare, obwohl er geduscht hatte und einen dezenten Geruch von Seife und Frische verströmte, noch immer ungepflegt und gefettet aussahen. Mit einem flüchtigen Blick auf die anderen Männer, entdeckte sie, dass ihre Haartrachten, dem des Generals ähnelten. Und sie erinnerte sich, dass der Funker, den er zur Rede gestellt hatte, anders war. Sein graues Haar war dünn, kurz geschnitten und sauber zurückgekämmt. Und auch der Lakai besaß den Kopfputz eines normalen Menschen. Auch im Körperbau unterschieden sich die beiden. Während Gror und Parija, die Proportionen eines typischen Menschen aufwiesen, erinnerten die Körper der Soldaten und des Generals, eher an eine Stromlinienform. Schulter- und Nackenpartien fielen breit und muskulös aus, während der übrige Körper schlank und in seiner Gänze einem sich schließenden V ähnelte. Nach kurzer Überlegung kam sie zu dem Schluss, dass es auf Trenkjar verschiedene Rassen geben musste und widmete sich wieder dem wenig interessanten Dschungel.
Nach knapp zwei Stunden hielt das Boot an einer kleinen, freigerodeten Insel an und die Insassen stiegen aus. Mehrere merkwürdige Apparaturen standen dort zur Benutzung bereit, durch eine Plane von allen Witterungseinflüssen geschützt und mit mehreren Kabeln an einer Energieversorgung angeschlossen. Während die eine Hälfte der Männer unaufgefordert die Apparaturen von Plane und Kabel befreite, zerrte die andere Hälfte das Boot an Land und vertäute es mit einem dicken Baumstamm, der wie ein Pfahl, Insel und Boot zu verankern schien. Jeweils zwei Personen mussten sich auf die schlanken Düsengeräte setzen und wenig später ging die Fahrt auf diesen schnittigen Flugmaschinen weiter. Zwischen ihren Beinen vibrierte der kleine Verbrennungsmotor, während sie verzweifelt versuchte irgendwo Halt zu finden. Es gab keinerlei Griffe oder Gurte an den Düsenfliegern, so dass sie sich notgedrungen an ihrem Fahrer, General Treece persönlich festhalten musste. Fahrtwind zerzauste ihre strenge Frisur und sie überlegte es sich tatsächlich, ob sie nicht doch darum bitten sollte, zurückzukehren und sie an einem trockenen Ort abzusetzen. Während die feuchtwarme Luft und die Hitze im scheinbar klimatisiertem Verwaltungsgebäude einigermaßen verträglich war, fand sie ihre dicke Uniform für das Klima innerhalb des Dschungel für vollkommen fehl am Platze. Obwohl ihr, trotz leicht kühlem Fahrtwind bald der Schweiß in Strömen lief, dachte sie nicht einmal im Traum daran auch nur einen Knopf zu öffnen. Bald musste sie aussehen, als hätte sie in voller Montur ein Dampfbad genommen.
Treece hatte den Düsenschlitten voll unter Kontrolle und seine Muskeln spannten sich dann und wann, als er eine engere Kehre oder eine scharfe Wendung vollführen musste. Einer unsichtbaren Wegmarkierung folgend und sich in dem wirren Durcheinander von Bäumen, Hängepflanzen und Moosgewächsen vollends zurechtfindend, hatte Nandra bereits kurz nach dem Eintreten in den Wald gänzlich die Orientierung verloren. Sie erkannte nun die Notwendigkeit, warum der General darauf beharrte, dass keiner der ortsunkundigen Kampfflieger die Mission übernahmen, sondern ausschließlich seine Leute dafür eingesetzt wurden. Den Trenkjar schien Orientierungssinn und Ortskenntnis angeboren zu sein und sie zweifelte zu keiner Sekunde an, dass sie auch wieder ihren Weg nach draußen fanden.
Der Wald wurde bald so dicht und dunkel, dass der General, der den Trupp anführte immer langsamer fliegen und sich bald auch mit Händen und Füßen durch das Dickicht kämpfen musste, um Platz für sich, seinen Sozius und sein Gefährt zu schaffen. Einige anstrengende Stunden später hielt er den Schlitten an und streckte sich kurz, bevor er abstieg und seinen Leuten ein Zeichen gab.
"Wir sind kurz vor Sthii“, erklärte er, während er das Gerät sicherte und mit einem Baumstamm vertäute. "Mit den Schlitten kommen wir nicht weiter. Wir müssen zu Fuß gehen."
"Wird das etwa noch schlimmer?", erkundigte sie sich seufzend und sah sich um. Es sah aus, wie in ihrem schlimmstem Alptraum. Bizarre Gewächse, hangelten sich von den Ästen. Winzige fliegende Schatten flatterten um die Baumstämme herum und ein ständiger Geruch von Fäulnis und Verwesung umkräuselte ihre Geruchsorgane. Sie konnte kaum einen Meter in die Düsternis hineinsehen und die modernde Feuchtigkeit hatte bereits von ihrer Kleidung und ihrer Haut Besitz ergriffen. "Warum sind wir nicht einfach über die Baumwipfel hinweggeflogen? Warum können wir nicht einfach aus der Luft angreifen?"
"Der Dschungel wird um Sthii herum so hoch, dass man uns mühelos orten könnte“, erklärte er geduldig. "Außerdem verfügen wir nicht über das notwendige Fluggerät um derartige Strecken durch die Luft zu überwinden."
"Ich hätte von der Ashantin aus einen Scan machen können“, sagte sie. "Dann hätten wir ohne uns anstrengen oder schmutzig machen zu müssen, gewusst, mit was wir es zu tun haben."
"Trotz Scan wäre uns dieser Weg nicht erspart geblieben“, entgegnete er überlegen. "Warum also sollen wir sie vorher mit einer Ortung aufschrecken und auf unser Erscheinen vorbereiten?"
Darauf hatte Nandra nichts zu erwidern. Denn er hatte Recht. Wenn es tatsächlich so schwierig war, Trenkjars Oberfläche in der Luft zu überwinden, dann musste dies die einzige Möglichkeit sein, die vermeintliche Nachrichtenbasis zu erreichen.
"Es wird einfacher für sie sein, wenn sie die enge Uniform ausziehen“, riet er und betrachtete sie. "Zudem könnten sie sich schmutzig machen."
"Ich denke nicht daran“, protestierte sie und raffte ihre Uniformjacke zurecht. "Ich werde mich auf keinen Fall ihrem Schluderkommando anschließen."
"Wie sie möchten“, nickte er, steckte seine Ledersandalen in den Hosenbund, wand sich um und bahnte sich barfüßig einen Weg durch den Dschungel.
Der Boden war weich, glitschig und so manches mal versanken sie bis zu den Knien im weichen Morast. Längst hatte Nandra irgendwelche Gedanken an ihre schöne Uniform beiseite geschoben und irgendwann hatte sie sich auch tatsächlich dazu herabgelassen, ihre Jacke auszuziehen und sich um den Bauch zu binden. Ihr war während des Marsches ziemlich warm geworden und in ihren Stiefeln befand sich bald nicht nur Sumpfwasser. Kriechendes, schwimmendes und fliegendes Getier floh vor ihnen, als sie sich mit langen Messern und Hackbeilen mühsam einen Weg durch den Wald bahnten. Nandra schob Besorgnisse über ihr Aussehen, ihre Fingernägel, ihre Frisur und ihre Uniform mehr und mehr in den Hintergrund und bald war es ihr vollkommen gleichgültig. Das einzige, was für sie im Moment zählte, war, Treece hinterher zu kommen und den Abstand zu ihm nicht allzu groß werden zu lassen. Obwohl sie eine der ersten in der Reihe war und der Rest der Truppe wie im Gänsemarsch hinter ihr her trottete, sie also eigentlich nicht verloren gehen konnte, konnte sie das gewisse Gefühl von Unsicherheit und die immer wieder aufkeimende Angst, sich zu verlaufen, nicht gänzlich verdrängen.
Fetzen von dezenten Unterhaltungen zwischen den Männern, drangen durch die gedämpften Geräusche des Waldes und das Krachen und Zischen der Spaltwerkzeuge zu ihr durch. Irgendwie überkam sie bei jedem Fetzen das Gefühl, dass sie das Thema der Gespräche war. Da sie nicht zu denjenigen gehörte, die Geplausche hinter ihrem Rücken gestatte, warf sie einen strafenden Blick nach hinten, worauf die Stimmen augenblicklich verstummten. Doch nur wenige Minuten später mauschelten sie vergnüglich weiter.
"Treece“, rief Nandra schließlich. Sie hatte den General bald eingeholt. Er war schwer atmend und abgekämpft stehen geblieben und hatte geduldig auf das Eintreffen der Kommandeurin gewartet. "General Treece“, schnaufte sie und musste erst einmal zu Atem kommen. Der Marsch hatte auch sie aus der Puste geraten lassen, obwohl sie nur hinterherlief und sich nicht einmal mit den hartnäckigen Schlingpflanzen und Gewächsen abkämpfen musste, die ihnen den Weg versperrten.
"Was ist los?", keuchte er, wischte sich über die nasse Stirn und reichte das Schlagmesser einem seiner Männer. "Brauchen sie eine Pause?" Er selbst schien die Erholung nötiger gebrauchen zu können.
"Nein“, gab sie stolz von sich. Insgeheim hatte sie aber alle Mühe, sich noch auf den Beinen zu halten. Ihr Spaziergang durch den Dschungel dauerte bereits über vier Stunden an und allmählich begannen ihre Reserven zu versiegen. "Da sie das Kommando besitzen, sollten sie ihre Männer dazu anhalten, ihre Zungen im Zaum zu halten. Ich konnte zwar kein Wort davon verstehen, doch irgendetwas, was mit mir zu tun hat, muss sie beschäftigen."
"Sie machen sich Sorgen“, erklärte er, ohne auch nur einen von ihnen nach dem Gesprächsstoff zu fragen.
"Wegen was?"
"Ihretwegen."
"Warum? Dass ich das Handtuch werfe?"
"Nein, dass wir es schaffen, sie in einem Stück wieder nach Trenkojar zurückzubringen."
"Warum haben sie mich dann mitkommen lassen?", gab sie spitz von sich. Sie war auf niemanden angewiesen. Sie brauchte weder Hilfe, noch Schutz und erst Recht keine Leibwächter.
"Weil sie alle Hebel in Bewegung gesetzt hätten, um anders an die Basis heranzukommen“, erwiderte er schmunzelnd. "Und das konnte ich noch weniger verantworten, als sie persönlich durch den Dschungel zu schleifen."
"Warum ist es so schwierig, dorthin zu fliegen?", wollte sie wissen.
"Weil man sich dabei auf keinerlei Instrumente verlassen kann“, sagte er geduldig. "Man muss nach Gefühl und Ortkenntnis fliegen und das können nur die wenigsten."
"Sie sind sicher einer der Wenigen, die das können, richtig? Wir hätten uns in einen Kampfflieger setzen und uns von ihnen leiten lassen können."
"Ich sagte bereits, dann wären wir längst geortet worden. Auf diese primitive, wenn auch anstrengende Weise bleiben wir unsichtbar und wir können uns unbemerkt bis zu ihren Fußspitzen heranschleichen."
Nandra schnaufte nur, wand sich kurz um und zuckte mit den Schultern. "Ich hoffe, sie finden wieder den Weg zurück."
"Warum sollte ich nicht?", fragte er unschuldig. "Zweifeln sie an meinen Fähigkeiten?"
"Das nicht gerade, aber hier kann man doch nicht einmal zwei Meter weit sehen. Und die Umgebung sieht überall gleich aus, vollkommen gleichgültig über welchen vermoderten Baum wir klettern, oder welches stinkende Dreckloch wir durchwaten."
Treece blickte kurz nach oben und kehrte dann mit einem wissenden Ausdruck in den Augen zurück. "Wir befinden uns fast genau viertausendeinhundert Zenzren von Trenkojar entfernt“, sagte er und deutete in eine xbeliebige Richtung. "Dort, etwa zweihundertfünfzigtausend Zenzren entfernt, liegt Jengojar und dort ... ." Seine Hand wanderte in die entgegengesetzte Richtung. "... liegt ... ."
"Ist schon gut“, unterbrach sie ihn. "Sie brauchen mir nicht irgendwelche Märchen aufzutischen, nur damit meine Nerven beruhigt werden. Ich glaube sie ihnen ohnehin nicht."
"Das sind keine Märchen“, entgegnete er leicht verwirrt. "Es ist so wie ich es sage."
"Woher wollen sie es in diesem dichten Dschungel wissen, wo es nicht einmal mehr Tageslicht gibt?", fragte sie mit Hohn und blickte kurz auf ihre Uhr. Es war Zeit für ein Abendessen. Doch sie bezweifelte, dass hier ein schmackhaftes Menü serviert wurde.
"Sehen sie nach oben, dann werden sie es selbst erkennen."
"Was soll ich da erkennen?" Nandra folgte tatsächlich der Aufforderung, doch außer einem dichten Blätterdach, irgendwo viele hundert Meter über ihr, konnte sie nichts entdecken.
"Das ist genau der Grund, weswegen meine Männer sich Sorgen machen."
"Ha, ha“, machte sie, stolzierte beleidigt an ihm vorbei und hängte sich an die Versen des Soldaten, der nun das Hackmesser in den Händen hielt. "Wenn das ein Witz gewesen sein sollte“, maulte sie gereizt weiter. "Dann erinnern sie mich daran, wenn wir diese ganze Sache überstanden haben. Vielleicht habe ich dann Zeit zu lachen."
"Ich meinte damit, der Corobal-Stern ist nicht deutlich sichtbar. Das ist genau die Balzzeit für Langueene."
"Wenn sie mir nun auch noch weismachen wollen, dass diese Langueene fleischfressende Sumpfaale sind, dann überlege ich mir in der Tat noch, vielleicht jetzt schon zu lachen."
"Genau, das wollte ich ihnen damit sagen." Sein Blick war ernst. Er machte keine Scherze. Nandras spöttischer Ausdruck verschwand und ihre Mundwinkel begannen zu zucken. "Wir machen eine kleine Pause“, entschied der General. "Ich habe Hunger."
"Haben sie mir vielleicht noch etwas verschwiegen?", erkundigte sie sich vorsichtig, während sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm niederließ.
"Vielleicht nur, dass wir die Langueene nicht töten dürfen“, verriet er. "Sie stehen unter Artenschutz." Er ließ sich neben sie nieder und schnaufte erschöpft. Seine Hände zitterten vor Anstrengung, als er sich über das Gesicht und die Haare fuhr. "Dass wir das letzte Stück eventuell schwimmend zurücklegen müssen, hatte ich bereits angedeutet."
"Wie weit ist es noch?", erkundigte sie sich und blickte sich kurz um, als vermutete sie irgendwo in ihrer Nähe ein Hinweisschild.
"Wenn wir den Sthii-See morgen Mittag erreichen, können wir uns glücklich schätzen."
"Sofern keine Langueene auftauchen."
"Die gibt es nur in Sthii."
"Allmählich beginne ich zu begreifen, warum sie keinen von uns nach Trenkjar lassen wollten“, gestand sie.
"Langsam wurde es aber auch Zeit." Er reichte ihr graues Brot und Nandra blickte überrascht auf. Sie hatte nicht bemerkt, dass auch nur einer der Trenkjar Proviantsäcke oder Taschen bei sich trug. Wie aus dem Nichts waren plötzlich mehrere Rucksäcke aufgetaucht und ein Nachzügler des langen Menschentrupps streifte eben die Riemen über seine Schultern und ließ ihn zu Boden gleiten. Wenn sie vorher gesehen hätte, dass sie sich für einen längeren Marsch einrichteten, hätte sie vermutlich eher nachgefragt und sich davon abhalten lassen. Dies war vermutlich auch der Grund, warum es ihr der General bis dies zu diesem Zeitpunkt verschwiegen hatte. "Probieren sie ruhig“, sagte er und riss sie damit aus ihren Gedanken. "Das ist durchaus genießbar."
"Was ist das?", wollte sie wissen, bevor sie es auch nur berührte.
"Mogg-Kuchen“, erklärte er schmunzelnd. "Aus hiesigem Getreide gebacken. Nahrhaft und sättigend."
Zögerlich nahm sie es an, knabberte ein winziges Stückchen ab und musste überrascht feststellen, dass es tatsächlich wie ein süßer Kuchen schmeckte. Plötzlich nur noch von ihrem Magen geleitet, biss sie sogleich ein größeres Stück ab und kaute mit vollem Mund darauf herum. Der lockere Teig war etwas zäh und je länger sie kaute, desto zäher wurde er. Deswegen schluckte sie es einfach hinunter und widmete sich dem nächsten Stück.
"Warum tun sie das?", fragte sie kauend.
"Was?"
"Mich mitnehmen, obwohl es für mich so gefährlich ist."
"Handelt es sich hier nicht um ihren Fall?"
"Sie hätten mich ebenso irgendwo festbinden oder einsperren können."
Er lachte kurz und blickte sie dann mit fröhlichen Gesicht und munterem Glitzern in den Augen an. Irgendjemand hatte eine Öllampe hervorgezaubert und sie nun mitten in die unregelmäßige Runde gestellt. Im flackernden Licht wirkte er bedrohlich, aber das lustige Glitzern in seinen Augen hellte sein Gesicht wieder auf.
"Sie halten mich tatsächlich für fähig so etwas zu tun?", fragte er und stopfte sich ein weiteres Stück Mogg-Kuchen in den Mund. "Ich bin Offizier und General dazu. Ich bin ein Vorbild für unsere ganze Gesellschaft. Ich könnte niemals so etwas tun."
"Ich halte sie in der Tat für fähig dazu“, verriet sie, sein amüsiertes Lächeln erwidernd. "Ebenso wie ich kurz davor war, sie in irgendein Loch zu werfen, um ungestört meine Arbeit erledigen zu können."
"Wir haben uns aber beide nicht dazu hinreißen lassen“, schmunzelte er und reichte ihr einen Wasserschlauch. "Was bekommen sie dafür, wenn sie den Extramuros einen solchen Schlag verpassen?"
"Vermutlich nur einen feuchten Händedruck“, gab sie achselzuckend von sich. Dass eventuelle eine Auszeichnung, eine Prämie und die persönliche Anerkennung durch den König auf ihre Rückkehr warteten, wollte sie lieber nicht erzählen. "Ihr Vater muss einen bleibenden Eindruck auf den König hinterlassen haben, dass er mir sogar einen Hochherren mitschickt, um ihn zu beeindrucken. Was hat er getan?" Sie sah hoch und konnte gerade noch erkennen, wie sein Lächeln augenblicklich starb, bevor er den Kopf gänzlich herumdrehen konnte.
"Eines der wichtigsten Mottos meines Vaters war: Man muss sich dauerhaft in den Köpfen der Anderen festfressen“, sagte er, wimmelte das nächste Stück Kuchen ab, das ihm sein Nachbar anbieten wollte und erhob sich, um sich genau vor die Öllampe zu stellen. "Wir sollten zusehen, dass wir noch ein beträchtliches Stück schaffen, bevor wir nichts mehr sehen." Er gab seinen Leuten ein Zeichen, worauf diese ihre Bissen hinunterschluckten, ihre Rücksäcke voll packten und sich für den Weitermarsch bereithielten. "Ich habe vor, noch mindestens vier Stunden weiterzugehen. Glauben sie, dass sie das schaffen?" Er hatte mir ihr gesprochen, doch sein Gesicht war im Dunkeln verborgen.
Nandra hievte sich auf ihre Beine. Ihre Füße sandten stechende Schmerzen aus. Sicherlich hatte sie sich einige Blasen gelaufen. Aber dies musste sie im Moment ignorieren.
"Zu Befehl, General“, sagte sie schnittig und unterdrückte das Salut, dass sie im ersten Moment im Sinn hatte.
* * *
Dass sie mit ihrer neugierigen Frage auf einen hohlen Zahn gebissen hatte, bemerkte sie nur allzu schnell. Wortkarg und zu keinerlei Unterhaltung bereit, hatte er sich sogleich an das Ende der Schlange gesellt und bildete mit einigen seiner Leute die Nachhut.
Wie viele Stunden dann vergingen, vermochte sie nicht zu sagen. Sie wagte es weder auf ihre Uhr zu sehen, noch einer der Männer, die sich nun bemerkenswert schweigsam verhielten, nach die Dauer ihres heutigen Marsches zu fragen. Irgendwann hielt der Anführer an, der bis zu diesem Zeitpunkt kraftvoll herunterhängendes Geäst abgeschlagen, umgeknickte Bäume und im Weg liegendes Gebüsch zur Seite geräumt hatte, und sah sich fragend um. Nicht weit hinter Nandra tauchte Treece aus der Dunkelheit auf und nickte dem Soldaten zu. Dieser steckte das Messer in seinen Gürtel und schickte sich an, den nächstbesten Baum zu erklettern. Einige der anderen taten es ihm gleich, während der Rest ihr Gepäck und ihre Waffen auf den Boden niedersinken ließ.
"Suchen sie sich ein trockenes Plätzchen zum Schlafen“, riet der General beim Vorbeigehen und war bereits in der Dunkelheit verschwunden, noch ehe Nandra ihre Frage aussprechen konnte. Achselzuckend strengte sie ihre Augen an und entdeckte eine kleine Erhöhung, die eine weitgehende trockene Nacht versprach. Sie hatte sehr wohl verstanden, dass Treece jede weitere Unterhaltung bereits im Keim zu ersticken versuchte, indem er sich gar nicht mehr mit ihr abgab, als es unbedingt nötig war und sich um andere Dinge kümmerte, oder einfach einen Abstand zu ihr wahren wollte. Was auch immer es war, das ihn derart beschäftigte, er wollte es nicht mit der Raumfahrtkommandeurin teilen.
Seufzend kuschelte sie sich an den harten Baumstamm, der ihr Kissen darstellen sollte und schloss die Augen. Sie hörte noch eine Weile die Männer leise miteinander tuscheln und hin und wieder einige gedämpfte Kommandos fallen, dann glitt alles immer weiter von ihr weg und schließlich schlief sie ein.
Eine Hand rüttelte sie sanft wach und beendete damit abrupt ihren wundervollen Traum. Etwas verärgert, dass sie aus der Hängematte im Garten ihrer Familie geworfen wurde und sich der erfrischende Pool in Nichts auflöste, stieß sie die Hand weg und fauchte ihn wütend an. Einer der Trenkjar entschuldigte sich mit einem Lächeln und bot ihr sogleich ein kärgliches Frühstück an. Murmelnd nahm Nandra das großzügige Stück Mogg-Kuchen an, biss hinein und kaute darauf herum, während sie sich umsah und den Schlaf aus ihren Augen blinzelte. Treece kam von einem Baum heruntergeklettert und gesellte sich entgegen ihren Erwartungen nicht zu ihr. Stattdessen entfernte er sich mit zwei Leuten wieder und kehrte erst nach über einer halben Stunde wieder zurück, um zum Aufmarsch zu rufen. Nandras Frage schien ihn derart abgeschreckt zu haben, dass er sich nicht einmal zu einem Guten-Morgen-Gruß entscheiden konnte.
Schweigend und sich wie ein lästiges Anhängsel vorkommend, marschierte sie schließlich wieder hinter den Männern drein und nahm die Strapazen ebenso widerwillig in Kauf, wie sie es den gestrigen Tag getan hatte. Ihre Füße waren schwer wie Blei und das Leder ihrer Stiefel hatte sich inzwischen voller Wasser und Schmutz gesogen. Nach ihrer Rückkehr würde sie als Erstes ihre Schuhe in den Müll werfen und danach ihre Uniform der Verbrennung zuführen. Dann würde sie für eine lange Zeit in ihren Privatgemächern verschwinden und ihre Haut in einem duftenden Schaumbad aufweichen lassen.
Als die Sonne irgendwo über ihnen durch das Blätterdach spitzelte, ließ Treece den Trupp anhalten. Nandra sank erschöpft auf einen moosüberwucherten, alten, halb verrotteten Baumstamm nieder und hätte nichts um alles in der Welt zugegeben, dass es höchste Zeit für eine Pause gewesen war. Nicht einmal Treece gegenüber hätte sie es erwähnt, geschweige denn darum gebeten. Keuchend und mit hochrotem Gesicht beobachtete sie, wie rund ein Dutzend Trenkjar-Soldaten begannen sich zu entkleiden, bis sie nur noch den knappen Lendenschutz trugen, den sie auch am General gesehen hatte. Treece selbst hatte ebenfalls seine Kleidung abgelegt und kam zu ihr, während er den übrigen Kommandos zuteilte.
"Ich denke, dass wir nicht länger als drei Stunden brauchen“, erklärte er und vergewisserte sich, dass seine Männer ins Wasser stiegen.
"Wo wollen sie hin?", erkundigte sie sich neugierig.
"Wir sind am Ufer des Sthii angelangt. Ich möchte nachsehen, wo genau sie sind und den Weg vorab erkunden. Wenn wir nicht zurückkommen, haben die Männer die Anweisung sie nach Trenkojar zurückzubringen."
Nandra sah zu ihm hinauf und musste einen kleinen, allmählich anschwellenden Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken. Sie sträubte sich gegen ihre Gedanken und riss ihren Blick von ihm los, um den vermeintlichen See zu suchen, an dessen Ufer sie sich befinden soll. Außer moosüberwucherte und von verrottenden Blättern übersäter Waldboden war nichts zu sehen. Aber als die Männer mutig einen Satz auf eine einigermaßen Ebene Stelle machten, verschwanden sie gänzlich darin und eine kleine Wasserfontaine spritzte hoch. Sie saß tatsächlich am Ufer eines Sees, auf dem allerdings eine dicke Schicht aus Blätter und Kompost schwamm.
"Die versprochene Schwimmpartie?", fragte sie mit heißerer Stimme. Irgendwie wollte es ihr nicht gelingen, ihre Gefühle im Zaum zu halten.
"Versuchen sie indessen soviel wie möglich Kraft zu sammeln“, riet er. "Es wird noch eine anstrengende Schwimmpartie." Damit wand er sich um, stieg auf den Baumstamm, auf dem sich Nandra niedergelassen hatte und sprang ins Wasser.
Sie schnaufte und fühlte mit gemischter Erleichterung, dass der Kloß verschwunden war. Sie sollte sich besser unter Kontrolle halten und nicht gleich wie ein verrücktes Huhn die Nerven verlieren, wenn sie einen schönen Mann sah. Dann räusperte sie sich, streckte ihre müden Beine aus und frönte einem halbdahinsiechendem Dämmerzustand.
Nach fast genau drei Stunden kehrten die ersten Schwimmer zurück. Sie entstiegen dem Wasser so frisch und ausgeruht, ohne zu keuchen oder nach Luft zu japsen, als hätten sie lediglich ein Bad genommen. Nandra beobachtete sie und als auch endlich der junge General wieder auftauchte, war mit ihm auch der kleine Kloß in ihrem Hals erschienen. Er schüttelte sich das Wasser aus den Haaren und gesellte sich zu ihr.
"Ich hätte niemals gedacht, dass man auf Trenkjar ein so großes Lager konstruieren kann, ohne dass es auch nur einer bemerkt“, sagte er schließlich und strich sich die Wassertropfen aus dem Gesicht. Schmutz, halb vermodertes Blätterwerk und abgerissene oder abgestorbene Wasserpflanzen hafteten an seinem Körper, aber dies schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. Dann entdeckte Nandra etwas merkwürdiges an seiner Hand. Sie war sich jedoch nicht hundertprozentig sicher und versuchte es zu verdrängen. "Das schwimmende Lager ist ungefähr hundert Zenzrak groß und es verfügt über hervorragende Sicherheitsmaßnahmen. Von ihrer Senderantenne können wir nur träumen."
"Wie ist die Bewachung?", wollte sie wissen.
"Ich konnte fünfzehn bewaffnete Leute sehen, die zur gleichen Zeit Wache schoben. Aber ich bezweifle nicht, dass das ganze Areal auch mit Kameras und Sensoren überwacht wird."
"Besteht irgendwie eine Möglichkeit unbemerkt hineinzugelangen?"
"Das Lager steht auf einer schwimmenden Feste, eine Art Floß. Es gibt Schächte für Abwasser und Zuwasserleitungen, die mit Netzen gegen Wassertiere gesichert sind. Meines Erachtens die einzige Möglichkeit, in das Lager einzudringen. Ich habe Kanonen und Parabolorter gesehen, die allesamt in den Himmel gerichtet waren. Sie erwarten demnach nur einen Angriff aus der Luft." Was die Unsinnigkeit von Nandras Idee bewiesen hätte. "Wir sollten aber eventuelle Schutzmaßnahmen unter Wasser nicht gänzlich ausschließen."
"Dann sollten wir eine Tauchereinheit ordern und sie vom Wasser aus angreifen“, schlug sie vor und entdeckte erst jetzt das Messerhalfter an seinem rechten Unterschenkel. Es war mit Lederriemen festgeschnallt, die fast seine Hautfarbe besaßen, und fiel daher nicht sonderlich auf.
"Wir sind die Tauchereinheit“, sagte er grinsend. "Es gibt niemand anderen. In gut zwei Stunden wird es dunkel, dann geht es los."
"Was geht los?", fragte sie vorsichtig.
"Dann sehen wir uns das Lager genauer an und werden vielleicht sogar versuchen, es zu zerstören."
"Ich habe kein Tauchgerät dabei."
"Das brauchen sie auch nicht. Denn wir sind ja bei ihnen."
Nandra blickte ihn fragend an.
"Ich glaube, ich muss ihnen etwas erklären“, sagte er, tauchte seine Hand noch einmal kurz ins Wasser und hielt sie ihr mit gespreizten Fingern hin. Schwimmhäute, die begonnen hatten, sich wieder zurückzubilden, quollen aufgrund der neuerlichen Feuchtigkeit wieder bis zu den ersten Fingerknöcheln auf.
Sie schnaufte. Demnach hatte sie vorhin doch richtig gesehen.
"Es gibt zwei verschiedene Rassen auf Trenkjar“, erklärte er, was Nandra bereits ohnehin schon vermutet hatte. "Die Leksojen und die Trusgs, wobei nur die Trusgs fähig sind über wie auch unter Wasser zu leben. Sie sind Amphibienmenschen, die in ihrer Evolution gelernt haben, sich beiden Lebensräumen anzupassen." Er strich sein Haar zurück und offenbarte vom Ohr bis in die Nackenpartien reichende Kiemenbögen, die sein langes und bemerkenswertes dichtes Haar bislang verdeckt hatte.
Nandras Mund blieb offen stehen und für einen Moment verschwand der lästige Kloß in ihrem Hals. "Und was wollen sie mir damit sagen?", erkundigte sie sich vorsichtig,
"Dass wir oder genauer gesagt, ich ihr Tauchgerät sein werde. Wir werden ein Manöver vollführen, dass eigentlich nicht erlaubt ist. Aber ihretwegen werde ich ein Auge zudrücken."
"Was heißt das, nicht erlaubt?"
"Es birgt ein gewisses Risiko“, berichtete er. "Ich übernehme die volle Verantwortung über sie und sie müssen mir voll und ganz vertrauen."
"Inwiefern?"
"Das erkläre ich ihnen, wenn es soweit ist. Ich möchte sie nicht jetzt schon in Angst und Schrecken versetzen."
"Würden sie es mir bitte jetzt erklären?", forderte sie streng.
"Nein, ich möchte mich jetzt etwas ausruhen. Ich werde meine Kräfte noch sehr nötig brauchen." Damit erhob er sich und marschierte einfach davon.
Nandra ersparte sich selbst die Peinlichkeit, wütend hinterher zu rufen und dennoch missachtet zu werden. Sie kannte den General inzwischen gut genug, um ihn in jene Kategorie Männer einzustufen, die sich auch von strengen Befehlen nicht von einer festgesetzten Entscheidung abbringen ließen. Er gehörte zu jenen Offizieren, die auch vor einem Raumkommandeur den Mut besaßen, ihm die Meinung zu sagen, was er allerdings bereits auch schon bewiesen hat. So konnte sie nur schnaufen und ihre ungute Vorahnung gewaltsam in den Hintergrund drängen. Er hatte etwas mit ihr vor und dies gefiel ihr irgendwie nicht.
Entgegen ihrer Erwartungen verflogen die zwei Stunden, bis die Dämmerung auch unter dem dichten Blätterdach des Waldes eintrat, wie im Flug. Sie hatte sich die Zeit damit vertrieben, indem sie die Trenkjar beobachtete und sie zu verstehen versuchte. Sie hatte sich die Zeit damit ausgemalt, indem sie versuchte hatte, Treece Pläne zu rekonstruieren. Als er plötzlich wie aus dem Boden gestampft vor ihr stand und sie von oben herab angrinste, begann sie zu zittern.
"Es ist soweit“, sagte er und wickelte ein Seil aus seiner kompakten Rolle. "Ziehen sie ihre Schuhe und ihre Uniform aus."
"Was soll ich?", rief sie entrüstet.
"Der Stoff saugt sich voller Wasser, so dass sie zu schwer werden“, erklärte er. "An sich stellt das kein großes Problem dar, doch ich möchte kein unnötiges Risiko eingehen."
Zögerlich und mit zitternden Fingern öffnete sie ihre Stiefel und warf dabei immer wieder verstohlene Blicke in Richtung der anderen Männer, die wiederum ihrerseits verstohlene Blicke in ihre Richtung schickten. Nandra erkannte aber eindeutig, dass sie nicht begierig darauf waren, eine halbnackte Frau zu sehen. Sie schienen wegen etwas anderem Besorgnis zu zeigen.
Als sie ihre Hose abgestreift hatte und nur noch in ihrem Hemd und ihrer Unterwäsche vor ihm stand, zog er sie an sich und wickelte das Seil um ihre beiden Leiber, so dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.
"Was haben sie vor?", fragte sie verwundert und beobachtete ihn bei seiner Arbeit.
"Ich möchte nicht, dass sie mir auskommen“, erklärte er. "Sie müssen wir vertrauen. Ich werde sie nicht ertrinken lassen."
"Erklären sie mir endlich was sie vorhaben?"
"Wir haben unter Wasser eine Strecke von fast fünfhundert Zenzren zu überwinden und müssen dabei sogar unter den Baumwurzeln hindurchschwimmen."
"Wie lang sind fünfhundert Zenzren?", fragte sie vorsichtig. Ihr schwante übles.
Er rechnet kurz nach. "Ungefähr siebenundzwanzig Kilometer."
"Was?", rief sie entsetzt und versuchte sich abzustoßen. "Sind sie nicht ganz bei Sinnen?"
"Wenn sie sich an mich halten, wird ihnen nichts passieren. Ich werde ihnen während der ganzen Zeit Atemluft geben und wenn sie versuchen nicht in Panik zu geraten, werden wir die Strecke vielleicht in einer Stunde hinter uns gebracht haben."
"Eine Stunde unter Wasser. Das werde ich niemals schaffen."
"Sie werden es schaffen. Dafür werde ich sorgen." Er zog die Stricke fester um ihre Körper und gab den anderen das Zeichen, ins Wasser zu springen. Ein jeder hielt ein Harpunengewehr in der Hand und sprang mutig in die weiche Decke aus Blätter und Moos. "Es ist eigentlich strikt verboten. Aber wenn sie es nicht weitererzählen."
"Ich dachte, sie brauchen keinen Vorschriftenapostel“, gab sie verächtlicher von sich, als sie beabsichtigte. Die bevorstehende Aktion machte sie mehr als nervös und ließ ihre Emotionen aus dem Zaum geraten.
"Ich ließ es selbst verbieten“, redete er unbeirrt weiter. "Es ist einfach schon so viel dabei passiert. Drei Personen setzen ihr Leben für einen einzigen ein."
"Dann lassen sie es bleiben“, versuchte sie es noch zu verhindern.
"Benehmen sie sich nicht wie eine zickige Henne und reißen sie sich zusammen. Mit ihnen auf den Leib geschnürt, bin ich ohnehin schon schwerfälliger und träger, als eine überreife Ere-Kuh“, schimpfte er, stolperte rückwärts und ließ sich geradewegs rücklings ins Wasser fallen. Nandra riss er dabei zwangsläufig mit und ihr Protest ging im wahrsten Sinne des Wortes baden.
Wasser, Schmutz und Dunkelheit schwappte über ihrem Kopf zusammen und sie befand sich in einem brodelnden Etwas wieder. Ihren ersten panischen Impuls, sich wieder an die Oberfläche hinaufzuarbeiten, kämpfte sie tapfer nieder und als sie spürte, wie jemand ein Seil unter ihre Arme legte und sie kurz darauf die Lippen eines Anderen auf den ihren spürte, konnte sie ihre verkrampften Muskeln sogar etwas locker lassen. Treece entließ den Inhalt seiner Lungen in die ihre und als sie durch die Nase wieder ausatmete, tanzten Luftblasen schwerfällig an ihrem Gesicht vorbei, um sich durch das trübe Wasser einen Weg nach oben zu bahnen.
Das Seil spannte sich ruckartig, riss sie herum und katapultierte sie kopfüber tiefer in die schwarze Brühe hinein. Es zog sie immer tiefer und tiefer und sie konnte den zunehmenden Druck des Wassers auf ihren Lungen spüren. Wenn sie nicht eine Ausbildung als Tiefseetaucherin gehabt hätte und ihre Lungen ungeübt dem rasch anwachsendem Druck ausgesetzt wären, hätte sie wahrlich in Panik geraten können, als der Druck bald so groß wurde, dass sie Mühe hatte, die Atemluft in sich aufzunehmen.
Treeces atemspendender Kuss versorgte sie ausreichend mit Sauerstoff, so als würde sie ein Tauchgerät mit sich tragen. Seine feste Umarmung um ihrem Kopf, mit der er sie an sich presste, fühlte sich irgendwann an, als trug sie eine Tauchermaske. Nandra ließ sich dazu hinreißen, ihre Hände gegen die Strömung hoch zu kämpfen und sie auf seinen Hinterkopf zu legen, um den Kuss zu erwidern. Doch da löste sich das Atemgerät von ihr und er warf seinen Kopf zurück. Erst in diesem Moment erinnerte sich Nandra schuldbewusst daran, dass dort seine Atemorgane lagen und ließ ihre Hände tiefer gleiten, so dass sie sich nun an den Schultern festhielt.
Er nahm die Beatmung wieder auf und wurde mit ihr tiefer und tiefer gezogen. Sie spürte seine kraftvollen Beinbewegungen, wie er das Zugseil mit ausholenden Strampelbewegungen unterstützte und irgendwann versuchte sie es ihm gleichzutun. Nandra hatte längst die Orientierung verloren. Wie tief sie inzwischen getaucht sein mussten, konnte nur ihre Lunge annähernd beantworten. Sie konnte weder etwas sehen, noch hatte sich die Temperatur des Wassers extrem verändert. Leichte Schwankungen, die von Strömungen oder Quellen herrühren konnten, erweckten den Eindruck, dass es ständig auf und ab ging. Hin und wieder glaubte sie das vorbeistreichen weichen Seegrases zu spüren oder die Wurzelenden der gewaltigen, schwimmenden Bäume über ihren Rücken kratzen. Nandra hatte keine Angst vor Wasserpflanzen oder kleinen Seetieren. Während ihrer Ausbildung als Tiefseetaucherin hatte sie sogar einige Pflanzen- und Tierarten studiert. Sie hatte mit gefährlichen Raubtieren gespielt und giftige Fangkorallen mit bloßen Händen gestreichelt. Sie hatte Klettfischen ihr lähmendes Drüsenserum ausgedrückt und Schnappmuscheln ihrer Kostbarkeiten beraubt. Nichts was im Wasser lebte konnte sie beunruhigen. Außer den Langueenen, die sogar Treece eine Erwähnung wert waren.
Die Strömung rauschte und gurgelte an ihren Ohren vorbei. Sie konnte die kräftigen Arm- und Beinschläge und die aufsteigenden Wasserbläschen der anderen Schwimmer förmlich hören. Lange Zeit, in der ein Blick auf ihre Uhr vollkommen sinnlos gewesen wäre, wurden sie durchs Wasser gezogen. Sie konnte nicht einmal sagen, wie hoch ihre Geschwindigkeit war. Dass sie beträchtlich sein musste, konnte sie nur anhand der Kraftaufwendung schätzen, die sie aufbringen musste, wenn ihre Hand von seinen Schultern abrutschte und sie sie an ihren Platz zurückbringen musste.
Dann wurde es irgendwann langsam heller. Einzelne Lichtblitze zuckten durch das Wasser und Nandra wagte es zum ersten Mal ihre Augen zu öffnen. Die kräftige Strömung und das schmutzige Wasser verursachte eine Reizung ihrer Netzhaut, so dass sie ihre Augen bald wieder schloss.
Es war beinahe traumhaft, dachte sie genießerisch bei sich und genoss den wohl längsten Kuss, den sie je erlebt hatte. Das Wasser wurde aufgrund des Lichteinflusses etwas wärmer und sie fühlte sich bald wie in einem Swimmingpool.
Doch plötzlich gab es einen kräftigen Ruck, so dass die eingelöste Atemluft ruckartig wieder herausgepresst wurde und das Seil, das sie bislang so stetig gezogen hatte, verlor augenblicklich seine Straffheit. Sie waren stehen geblieben. Nandra öffnete die Augen und konnte vor lauter Luftblasen, wild tanzenden Schatten und bizarren Lichtreflexen nichts sehen. Sie spürte nur, wie Treece versuchte, sie beide tiefer zu schieben. Es fiel ihm schwer, sich und seinen Ballast umzudrehen, um kopfüber auf den Grund des Sees zu schwimmen und dabei den Kontakt zu Nandras Lippen nicht zu verlieren.
Irgendwie erhaschte sie einen Blick auf einen länglichen Schatten, der seitlich über ihnen schwamm und in einem verrücktem Tanz mit mehreren viergliedrigen Schatten vereint war. Sie wusste sofort, was dies zu bedeuten hatte: Ein Langueene.
Wieder musste sie dezente Impulse von Panik niederkämpfen. Sie fühlte sich so ausgeliefert und hilflos. Sie konnte weder etwas tun, noch an ein sicheres Ufer schwimmen. Sie konnte nur das tun, was Treece bereits vollzog: Sich im Schatten des Seegrundes verstecken.
Und genau dies wurde ihnen schnell zum Verhängnis. Dort wartete nämlich ein weiterer Langueene.
Wie eine Würgeschlange, doch viel schneller und effektiver hatte er seinen langen schlanken Körper um die beiden gewickelt und Nandra konnte sich nicht zurückhalten, ihren Kopf zurückzuwerfen und dabei die Verbindung zu Treeces Lunge zu unterbrechen. Der General versuchte sie beide entgegen der Wicklung des Fisches zu drehen, doch er war zu langsam und bald wurden sie so fest zusammengepresst, dass Nandra alle Mühe hatte, ihre Atemluft in den Lungen zu behalten. Sie fühlte, wie Treece versuchte, die Arme aus der Umklammerung zu zerren und nach seinem Messer zu fingern. Als es ihm endlich gelang, begannen kleine Sternchen vor Nandras Augen zu tanzen und sie zog seinen Kopf zu sich heran, um ihre Lungen wieder voller Luft zu pumpen. Dabei hielt sie ihn davon ab, dem Langueene einen entscheidenden Stoß zu verpassen, so dass sie aus dem Augenwinkel heraus bald das weit aufgerissene Maul auf sich zuschnellen sah. Wie aus dem Nichts, tauchten zwei Trenkjar-Schwimmer auf. Der Eine packte das Maul und zerrte es herum, der andere nahm das Schwanzende und begann die Umklammerung abzuwickeln. Dabei waren sie sorgsam darauf bedacht, dem Tier keinen Schaden zuzufügen. Es wehrte sich selbstverständlich und einige Male glitt Kopf und Schwanzende aus den Händen der Retter und prallten mit den zusammengeschnürtem Pärchen zusammen. Doch schnell hatten sie die Körperteile wieder eingefangen und zur Seite gerissen, so dass Nandra und Treece endlich wieder frei waren.
Der Langueene schien den Geschmack an ihnen verloren zu haben und schwamm davon. Über ihnen kämpften bereits vier lange Schatten mit den übrigen Schwimmern und mit dem einen, der sie bedroht hatte und einem weiteren, der von links hinter einem Felsen hervorkam, waren es bald sechs. Sie mussten mitten in ein Rudel hineingeschwommen sein, vermutete Nandra und wurde erneut herumgerissen, als sich von hinten zwei weitere Langueene an sie heranpirschten. Treece ließ das Messer blitzschnell von unten nach oben fahren und durchtrennte damit die Stricke, die sie verbunden hatte, unterbrach die Luftzufuhr und zog sie hinter den Felsen, hinter dem zuvor eines der Tiere hervorgeschnellt kam. Er füllte ein letztes Mal ihre Lungen mit Luft, wand sich um und traf auch schon den ersten Langueen mit einem kräftigen Schlag gegen die Schnauze, worauf dieser erst einmal beleidigt von dannen zog. Der andere schnappte mit seinem fangzähnebewaffneten Maul nach dem Messerarm. Treece konnte ihn gerade noch zurückziehen, so dass die Absicht ins Leere ging. Er verkrallte sich in eine kleine Seitenflosse, worauf sich das Tier krümmte und den Kopf herumwarf. Er hatte ihm offensichtlich Schmerzen zugefügt und Treece zerrte noch einmal kraftvoll an der kleinen Flosse, so dass auch dies erst einmal davonschwamm, um sich vermutlich irgendwo auszuheulen.
Als nächstes wollte er sich wieder um Nandra kümmern, die ihm bereits mit Handzeichen zu verstehen gegeben hatte, dass sie ebenfalls Hilfe bedarf, als er abrupt in die Tiefe gezerrt wurde. Das beleidigte Langueen hatte sich von seinem Schlag gegen die Schnauze erholt, seinen langen Schwanz um ein Bein gewickelt und sein Opfer ruckartig in die Tiefe gezogen. Nandra befiel Panik. Denn die Luft wurde ihr immer knapper und ihre Lunge begann bereits zu protestieren. Da tippte ihr von hinten jemand auf die Schulter und sie fuhr blitzschnell herum. Sie gedachte geradewegs in die starren, weißen Augen eines Langueen zu blicken, doch da war nur ein Trenkjar, der sich ihr vertraulich näherte, um sich mit ihr zu einem atemspendenden Kuss zu vereinigen. Er blieb einige Lungenzüge lang, bis sich Nandras Atemkreislauf wieder stabilisiert hatte und versuchte dann seinen Vorgesetzten zu helfen.
Sie sah nach oben. Weit über ihr schnitt ein Lichtkegel durch die Wasseroberfläche. Vermutlich Suchscheinwerfer von der Nachrichtenbasis. Sie erkannte, dass sie auf keinen Fall auftauchen durfte. Auch durften die anderen Schwimmer ihre Kämpfe mit den Langueenen nicht allzu nahe an der Oberfläche ausfechten. Sie beobachtete immer wieder, dass mehrere Schwimmer einen Langueen zwischen sich nahmen, sich dabei fest in die Seitenflossen verkrallten und ihn nach unten zogen.
Einer der Trenkjar kam in ihre Nähe. Nandra verließ ihre Deckung, hangelte sich von seinem Bein höher zu ihm herauf und raubte ihm einen Kuss. Es schien trotz Verbot zur Standardausbildung der Trusgs zu gehören, anderen Lebewesen im Wasser Atemluft zu spenden, denn jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Der Trenkjar, den sich Nandra geschnappt hatte, erschrak zwar im ersten Moment, doch als er die junge Frau erkannte, zog er sie bereitwillig höher und gab ihr wie selbstverständlich die geforderte Luftmenge. Auch dieser verharrte solange bei ihr, bis sich ihre nach Luft japsende Lunge beruhigt hatte und für weitere zwei- bis drei Minuten die Luft anhalten konnte.
Treece erschien wieder neben ihr, nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich. Sie kam kaum mit seiner Geschwindigkeit mit, so dass sie mehr gezogen wurde, als dass sie sich aus eigener Kraft fortbewegen konnte. Der Großteil seiner Schwimmer folgte ihm. Der Rest eilte mitsamt den Langueenen in die Gegenrichtung davon.
Über ihnen tauchte ein großer Schatten auf. Treece zog sie nach oben und hielt erst unterhalb der schwimmenden Plattform an, wo sich in ihrer unmittelbarer Nähe eine große runde Aussparung befand. Während er sich wieder um Nandra kümmerte, versuchten ein paar der Männer mit ihren Messern ein Loch in das Filternetz zu schneiden. Als es ihnen endlich gelang, schlüpften sie alle schnell hindurch und schraubten sich spiralförmig den Schacht hoch. Dass ihnen Widererwarten ein Langueene gefolgt war, bemerkte Nandra als Einzige. Treece hatte sie losgelassen, um als Erster den Deckel der Aussparung nach einem möglichen Öffnungsmechanismus abzusuchen. Somit stellte Nandra die Nachhut dar. Der Langueene verfehlte nur knapp ihr Bein. Seine Fangzähne gingen ins Leere, als sie eben einen kräftigen Strampelschlag vollführte. Seine raue Haut schrubbte an ihrem Knöchel entlang. Noch ehe er sein Manöver wiederholen konnte, hatte sie blindlings dem nächstbesten Trenkjar das Harpunengewehr entrissen. Sie schlug mit dem Kolben nach dem Kopf des Tieres, drehte die Waffe dann schnell herum, um es mit einem gezielten Schuss zu erlegen, doch da war bereits der Besitzer der Waffe zur Stelle, entriss ihr wütend das Gewehr und stürzte sich mutig auf den Langueen. Zwei kräftige Hände zogen Nandra nach oben und beinahe wäre ihr Kopf gegen die Luke gestoßen, wenn eben jene kräftigen Hände ihren Kopf nicht im letzten Moment noch gepackt und an sich gerissen hätten. Ihre Lippen suchten und fanden sich in der Dunkelheit des Schachtes.
* * *
Kurz darauf klickte es dumpf im Wasser und Licht überflutete sie.
Wenige Sekunden später tauchten ihre Köpfe aus dem Wasser und das künstliche Licht brannte wie Feuer in ihren Augen. Nandra blinzelte und versuchte ihre Augen krampfhaft an die neuen Gegebenheiten zu zwingen. Die kräftige Hand hatte sie nicht mehr losgelassen, half ihr sogar einen kleinen Klettersteig hoch und über den Rand der Luke. Sie hielt sie auch fest, als sie aus dem Weg gehen wollte, um für die Nachfolgenden Platz zu machen und zog sie zurück.
"Was sollte das?", zischte er wütend, mit stark gedämpfter Stimme. Er sah sich flüchtig um, bevor er wieder zu ihr zurückkehrte. Er selbst schien keinerlei Schwierigkeiten mit den neuen Lichtverhältnissen zu haben. "Wie kommen sie dazu, auf einen Langueen zu schießen?"
"Ob Artenschutz, oder nicht. Wenn mir einer ans Leder will, töte ich ihn“, zischte sie zurück und riss sich los. Sie zog ohne jegliche Scham ihr Hemd aus, so dass sie nur noch in Slip und Büstenhalter dastand, wrang das Wasser aus dem Stoff und zog es sich wieder über, während sie sich etwas ebenfalls umblickte.
Sie befanden sich in einem kleinen Raum, über dessen Boden zahlreiche armdicke Stahlrohre verliefen und meist allesamt in den Schacht führten, aus dem sie eben geklettert waren. Einige der Rohre ignorierten den Abwasserschacht und verschmolzen mit der gegenüberliegenden Wand, um sich vermutlich im Nebenraum einen anderen Schacht zu suchen. Eine stählerne Schotttüre mit außenliegendem Schloss stellte ihren einzigen Ausgang dar.
"Ich sagte ihnen doch, dass dies nicht erlaubt ist“, meckerte Treece weiter. Er hatte einen prüfenden Blick zurück in den Schacht geworfen, wo nur wenige Augenblicke später der Rest seiner Mannschaft, jene, die die Langueene fortgelockt hatten, auftauchten und sich zu ihnen gesellten.
"Was hätte ich denn ihrer Meinung nach tun sollen? Mir ein Bein abbeißen lassen und dann höflich danach fragen, ob es ihm schmeckt?" Sie wirbelte energisch herum, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und ging zu den Männern, die sich bereits an der Türe zu schaffen machten. Einen Augenblick lang wunderte sie sich darüber, woher die Trenkjar stets ihre Ausrüstung hervorzauberten. Dass sie Minisägen, Entmagnetisierer, Codeknacker und Schneidbrenner bei sich trugen und erfolgreich an den Langueens vorbeischmuggeln konnten, erkannte sie erst jetzt. Entweder waren sie im Ankleiden und Bepacken schneller, als ihre Augen ihnen folgen konnte, oder jemand hatte die Sachen hier für sie deponiert. Sie verdrängte die Gedanken und beobachtete die Trenkjar bei ihrer Arbeit, als sie schließlich Treece an ihrer Seite bemerkte. Krampfhaft versuchte sie nicht zur Seite zu blicken, denn sonst hätte sie ihm geradewegs in die Augen sehen müssen.
"Sie sind besser, als ich annahm“, sagte er leise.
Ehrlich gemeinte Komplimente liebte Nandra eigentlich, doch unter diesen Umständen konnte sie sie nicht genießen. Dass sie einige Male nahe daran war, in Panik zu geraten, beichtete sie ihm lieber nicht.
"Das goldene Abzeichen im Tiefseetauchen“, entgegnete sie im Flüsterton und wich einen Schritt zurück, als die Trenkjar es geschafft hatten, das Schloss von innen zu öffnen. "Ihr seid auch besser als ich annahm“, gab sie anerkennend und mit einem Deut auf die Türe von sich. Ihre Hand griff reflexartig an ihre Hüfte, wo sich eigentlich der Halfter mit ihrer kleinen Pistole befinden sollte. Ihre Hand fasste ins Leere, denn ihre Waffe befand sich wie ihre Kleidung am Ufer des Sthii und für einen Moment wurde sie von jenem Gefühl der Verzweiflung beseelt, die jedem widerfahren musste, der sich ohne Waffe einem vermeintlichen, übermächtigem Gegner gegenüberstellen musste. Dann räusperte sie sich unbemerkt und schlich den anderen hinterher.
Die Türe führte in einen kahlen Korridor mit mehreren abzweigenden Schotttüren. An den meisten klebten Schilder mit Hinweißbeschriftungen, die keiner von ihnen lesen konnte. Die wenigen lesbaren Schilder in Standardschrift besaßen nur wenig Informationswert. Auf einigen standen Nummern, auf anderen Vorsicht, Stufe! oder ähnliches. Keines der Schilder gab ihnen Aufschluss über ihre Position.
Der Korridor führte an einer Treppe vorbei. Ein Spähposten kletterte vorsichtig hinauf und gab den Anderen das Zeichen zu folgen, als er niemanden entdecken konnte. Auf leisen Sohlen, barfuss und tropfnass, schlichen sie die Treppe hoch und horchten nach allen Richtungen nach verdächtigen Geräuschen.
Da ging plötzlich eine der Türen auf und ein Wesen mit graublauer Schuppenhaut, kammähnlichem Kopfputz, abgeflachter Schnabelpartie und langen dünnen Klauenhänden stand erschrocken vor ihnen. Treece war ihm am nächsten. Er machte eine schnelle Bewegung, die nicht einmal Nandra nachzuvollziehen vermochte, dann hatte er das Wesen mit beiden Händen herumgerissen, dessen Kopf zwischen seine Arme geklemmt und als er seine Arme ruckartig auseinander riss, ertönte ein dumpfes Knack und das Wesen sank leblos in sich zusammen.
Nandra verzog ihr Gesicht. Sie wusste selbst, dass dies die beste und lautloseste Methode war, Gegner auszuschalten. Doch sie hatte dies noch nie mit eigenen Augen gesehen und fand es bereits beim ersten Mal schon erschreckend. Das Wesen hatte nicht einmal die Gelegenheit bekommen, zu schreien oder sich darauf vorzubereiten. Sie wusste aber auch, dass es nicht anders ging. Das laute schnalzende Geräusch der mitgebrachten Harpunengewehre hätte vermutlich die ganze Plattform aufgeschreckt. Kopfschüttelnd stieg sie über die Leiche, während Treece sie in den Raum zurückschleppte und leise auf den Boden bettete. In einer metallenen Kiste entdeckte sie eine Signalpistole und einen Pressluftbolzen, der vermutlich eher zum Rohre-Frei-Blasen gedacht war, denn zu Selbstverteidigung oder zum Angriff. Er würde ihr zumindest dienlicher sein können, als ihre bloßen Hände, die nicht die Kraft besaßen, einem Gegner das Genick zu brechen.
An einer Wand hing ein Plan mit dem Rohrsystem des schwimmenden Stützpunktes. Vermutlich hatten sie eben einen der Wartungsleute ausgeschaltet, welcher im Begriff gewesen war seinen Rundgang zu beginnen. Der Rohrplan gab zumindest eine dürftige Information ab. Die Plattform war zehnstöckig und von den zwei obersten gingen nur Abwasserleitungen ab, was bedeutete, dass dort nur technisches Gerät und keine Aufenthaltsräume für Personal untergebracht war. In einen Teil der schwimmenden Festung führten erstaunlich viele Zuleitungen, was besagte, dass dort erhöhter Frischwasserbedarf anfiel. Für Nandra bedeutete es, dass dort entweder Kühlaggregate versorgt werden mussten, oder jemand hatte sich einen Swimmingpool in seine Koje einbauen lassen.
Sie verließen den Raum wieder und suchten die Treppe in das nächste Stockwerk. Während die Ausstattung der beiden untersten Stockwerke eher spartanisch, wenn nicht sogar sparsam geizig ausgefallen war, so hatte man in diesem Stockwerk nicht an Kosten und Mühen gescheut, es den Bewohnern einigermaßen gemütlich zu machen. Die Extramuros besaßen genügend Vermögen, um sich auf diesem feuchtschmutzigem Planeten ein annehmbares Leben zu bereiten. Boden, Wände und Decken bedeckte ein geräuschdämpfender Kunststoffbelag, der sich farblich mit den Türstöcken und den Beleuchtungsgruppen an der Decke harmonisch abwechselte. Selbst der Korridor war klimatisiert und entfeuchtet. Hin und wieder ließ ein kühler Hauch die vom Wasser aufgeweichten Eindringlinge fröstelnd erschaudern.
An jeder Tür war eine Nummer angebracht, die vermutlich die Unterkünfte des Personals bezeichneten. Es war ruhig in den Räumen. Dann und wann hörte man leises Schnarchen oder ähnliche Schlafgeräusche durch die Schotts dringen. Fehlende Raumüberwachung, Innensensoren oder andere Bioortungsgeräte zeugten davon, dass sich die Extramuros sicher fühlten und keinen Übergriff von unten erwarten. Die Langueens stellten dabei vermutlich eine der einkalkulierten, natürlichen Sicherheitsmaßnahmen dar. Der lange, anstrengende Marsch durch den Dschungel und die unüberschaubare Strecke durch die Luft die anderen.
Die Eindringlinge kamen beinahe fünf Stockwerke hoch, ohne einem weiteren Bewohner der künstlichen Insel über den Weg zu laufen. Gerade auf dem Treppenabsatz zum fünften, tauchte ein bewaffneter, kleinwüchsiger Kerl um die Ecke auf, der die Lage sogleich erkannt hatte. Noch während er seine Waffe herumriss und noch nicht einmal Gelegenheit gehabt hatte, richtig zu zielen, gab er bereits einen Warnschuss in die Decke ab, um die übrigen Kameraden zu wecken und zu warnen. Beinahe zeitgleich mit dem zweiten Schuss ertönte das laute Schnalzen einer Harpune und der kleine Kerl wurde mit Widerhaken an die gegenüberliegende Wand genagelt. Sein eigener Schuss pfiff knapp an seinem Ziel vorbei, den Treppenkorridor hinunter und verfing sich in der Scharniere einer Schottüre, um sie für immer zu verschweißen. Falls sich in dem Raum dahinter jemand aufgehalten haben sollte, würde er Schwierigkeiten haben, ihn je wieder zu verlassen.
Treece gab seinen Männer ein Zeichen, sich zu trennen und in mehreren Gruppen auf Pirsch zu gehen. So besaßen sie eine größere Chance, zur Senderanlage zu gelangen und sie zu zerstören, oder die Verantwortlichen dingfest zu machen. Nandra schlich wie selbstverständlich hinter dem General her und musste ihre Blicke eisern auf die Umgebung und etwaiges aufgeschrecktes Personal lenken. Die Nacktheit eines so schönen Mannes, wie Treece faszinierte sie immer mehr, je länger sie seinen Rücken, das Spiel der gespannten Muskeln und seinen beinahe nackten Hintern, der nur von einem schmalen Stoffstreifen bedeckt war, beobachten musste.
Sie wurde bald abgelenkt, als einige Türen aufschwangen, Köpfe herausspähten und nach dem Rechten sehen wollten. Ihre Reflexe waren noch gut genug, um dem ersten zu ihrer linken die nach innen schwingende Türe ins Gesicht zu treten und dem zu ihrer rechten den Stift aus dem Pressluftbolzen ins Herz zu jagen. Treece erlegte seinen ersten Gegner mit einem Harpunenschuss, geradewegs durch die dünne Metalltüre hindurch und dem zweiten rammte er die Faust ins Gesicht. Der zweiter Mann hatte eine Waffe mit sich geführt, die er von sich schleuderte, als ihm der Nasenknochen ins Gehirn geschoben wurde. Nandra fing sie auf, kontrollierte kurz die Energieladung und warf ihm dafür den mit nur einem Schuss leergeschossenen Pressluftbolzen hin.
Zwei Männer mit schweren Faserkanonen, die an dicken Riemen um Hals und Schulter hingen, tauchten um die nächste Ecke auf und eröffneten sofort das Feuer. Treece ließ sich augenblicklich zu Boden fallen und feuerte gleichzeitig einen Schuss ab. Einer der Schützen wurde an die Wand genagelt und blieb dort stehen, während der Andere von Nandras gezieltem Schuss ebenfalls an die Wand prallte, jedoch leblos niedersank. Der junge General nahm das Messer aus dem Halfter an seinem Schienbein, schnitt einem der Leichen den Trageriemen durch und bemächtigte sich der Kanone.
Der laute Knall des Kanonenfeuers hatte nun endlich auch den Rest der Besatzung um den wohlverdienten Schlaf gebracht und nahezu gleichzeitig, flogen sämtliche Türen auf. Treece zwang sie mit gezielten Faserschüssen in ihre Gemächer zurück und eilte mit Nandra und zwei seiner Leute im Schlepptau durch die Korridore hin zur nächsten Treppe. Es schien wohldurchdachte Absicht der Erbauer dieser Festung gewesen zu sein, die Treppenanlage nicht wie einen Schacht durch alle Stockwerke reichen zu lassen. Man musste stets ein komplettes Stockwerk durchlaufen, um in eine höher gelegene Etage zu gelangen. Dabei mussten sie an vielen Türen und an vielen aufgeschreckten Leuten vorbei.
Wie ein Überfallkommando raste Treece mit rotierendem Faserlauf durch die Gänge, rannte Etage für Etage höher und verschmolz auch dort mit seinem heißen Feuerwerk die Wände mit den Türen. Nandra und ihren beiden Begleitern fiel nur noch die Aufgabe zu, die Nachfolgenden daran zu hindern, allzu eng aufzurücken, oder jene Türen in Schach zu halten, die nicht durch das Feuer zugeschweißt worden waren.
Endlich ertönte auch ein Alarmsignal.
Mit der nächsten Treppe gelangten sie auf ein Freideck, auf welchem mehrere kleine Fluggeräte parkten und eine größere Anzahl von Hochgeschwindigkeitsschlitten darauf warteten, in die Nacht hineinzustarten. Treece und Nandra mussten sich augenblicklich eine Deckung suchen, als sie von einer erhöhten Position aus beschossen wurden. Die Dunkelheit war der Freund des Scharfschützen und die beiden konnten für diesen Moment nichts anderes tun, als ihre Köpfe unten zu halten und darauf zu warten, dass dem Schützen entweder die Energiereserven oder die Geduld ausging. Mit einem wütenden Schnaufen kommentierte Treece einen Treffer des Schützen, der einen seiner Männer erwischte. Mit einem glatten Kopfschuss war der Leichnam geradewegs in eine Ecke zwischen Türe und einigen offenen Containern gefallen.
"Kannst du ihn sehen?", fragte Treece, während er sich nach einer anderen Möglichkeit umsah. Er hatte zwar in der Standardsprache gesprochen, doch eigentlich den anderen Trenkjar gemeint. Nandra antwortete ihm.
"Er steht auf einem Wachturm, links von uns“, sagte sie leise und zog schnell ihren Kopf ein, als nur wenige Zentimeter von ihr entfernt ein roter Blitz in die Containerwand raste, ein Loch in das weiche Metall hineinbrannte und es zu einem Klumpen zusammenschmelzen ließ. "Soweit ich es erkennen kann, ist er allein. Er muss ein Nachtsichtgerät oder ein ähnliches Ortungsgerät tragen, ansonsten könnte er keine solche Präzisionsschüsse abgeben."
"Ist es möglich, ihn zu treffen?" Treece schien sich nicht selbst über die Lage des Schützen informieren zu wollen. Sein Blick schweifte immer noch über das Freideck und den dort befindlichen Utensilien.
"Nur schwer“, gab sie abschätzend von sich. "Und hier können wir auch nicht allzu lange bleiben. Diese Blechkisten halten seinem Feuer nicht auf die Dauer stand." Sie warf sich auf den Boden, als sein nächster Schuss geradewegs durch das weiche Metall brannte und sie nur um haaresbreite verfehlte. "Hat der Kerl da oben Röntgenaugen?", rief sie gedämpft.
"Nein, aber er ist vermutlich ein P'parao“, erklärte der andere Trenkjar. "Die können ihre Sehspektren spezialisieren und damit selbst durch kaltes Metall hindurchsehen."
Die Türe flog auf und ein bewaffneter Extramuro stand überrascht vor ihnen. Er konnte gerade noch einen Schuss abgeben, als er auch schon von zwei Seiten gleichzeitig getroffen wurde. Der Schütze auf den Turm schien Freund von Feind nicht unterscheiden zu können und hatte ihn geradewegs in den Kopf getroffen. Das Loch in seiner Brust stammte von Nandra, die einem antrainierten Reflex folgend, herumgewirbelt war und ihrerseits den Abzug durchdrücken konnte, bevor ein harter Schlag ihren linken Oberarm herumgerissen und gegen den Container katapultiert hatte. Während sich Nandra mit dem überraschend aufgetauchten Kerl beschäftigt hatte, war Treece aus seiner Deckung gesprungen, hatte die Kanone auf Maximalweite gestellt und sie geradewegs auf die Kuppel des Wachturmes gerichtet. Sie explodierte in einem weithin sichtbaren Feuerball, der brennende Schrotteile über die ganze schwimmende Anlage verteilte und ihre Trommelfelle zu zerfetzen drohte.
"Alles in Ordnung?", fragte er besorgt, als der Altmetallregen abgeebbt war und gestattete sich einen kurzen, prüfenden Blick zu der jungen Frau.
"Das war ein Hartbolzen“, erklärte sie und stöhnte ungehemmt, als sie versuchte, ihren Arm zu bewegen. Ihre Hand war vollkommen taub. "Wenn mein Armknochen nicht zerschmettert ist, dann hatte ich mehr Glück, als Verstand."
Treece beugte sich nieder, betastete die getroffene Stelle vorsichtig und schüttelte den Kopf. "Gebrochen ist nichts“, sagte er wissend. "Aber einen kräftigen blauen Fleck wird es schon geben."
"Damit kann ich leben“, jammerte sie und bewegte ihren Arm abermals. "Hast du ihn erwischt?", wollte sie wissen und schämte sich im selben Moment, als sie selbst bemerkte, dass sie zu persönlich geworden war.
"So wie das hier aussieht, denke ich schon“, antwortete er, half ihr auf die Beine und zog sie mit sich. Brennende und kokelnde Teile bildeten einen beinahe flächendeckenden Teppich über das ganze Freideck. Sie sprangen von einem freien Fleck zum anderen, um den hinteren Teil der Insel zu erreichen, zu welchem die Zuwasserleitungen hinführten. Zwischen den einzelnen Alarmsignalen, drangen auch Feuergefechte aus dem Inneren der Festung und die Schreie der Beteiligten. Die Einnahme der Basis war im vollem Gange.
Kurz bevor sie eine breite Glastüre erreichten, hinter der sich die ersten Kühlrippen im flackernden Schein der brennenden Teile spiegelten, sprangen ihnen mehrere bewaffnete Männer in den Weg und eröffneten auf sie das Feuer. Nandra erschoss kurz hintereinander zwei Männer, während der Trenkjar einen von ihnen mit einem Widerhakenpfeil seiner Harpune durch die Glastüre an die Kühlrippen nagelte. Der Mann schrie aus Leibeskräften, sank aber alsbald leblos in sich zusammen. Noch ehe Treece seine Kanone durchladen und auf das neue Ziel einstellen konnte, war sein Gegner herumgewirbelt und hatte ihm die schwere Waffe aus der Hand geschlagen. Er wirbelte blitzschnell erneut um seine Achse und verpasste dem Trenkjar einen harten Tritt in die Seite. Nandra wurde von hinten angesprungen und auf das Deck geworfen. Krallen bohrten sich in ihre Haut und scharfe Zähne näherten sich ihrer Halsschlagader. Sie konnte sich noch im letzten Moment herumwerfen, den Sicherungsbolzen der Signalwaffe herausziehen und sie dem Wesen in den Rachen stecken, um dann nur noch den Auslöser zu betätigen und sie von sich zu stoßen. Der harten Schuppenhaut des Wesens hatte sie es zu verdanken, dass die Explosion weitgehend im Inneren des Körpers stattfand und sie von einem übelriechenden Regen verschmorten Fleisch und Innereien verschont blieb. Zwischen den aufgeplatzten Schuppenpanzer drang Rauch und übler Gestank und Nandra schüttelte sich angewidert. Ihr blieb jedoch nicht viel Zeit, sich von ihrem Schreck zu erholen, denn eine harte Faust landete geradewegs auf ihrem Kinn. Ihre Zähne klappten laut aufeinander und für einen Moment, kämpfte sie mit ihrer Besinnung. Eine Hand vergrub sich in ihrem Haar und zerrte sie brutal zu sich hoch, als Nandra über den Leichnam des Schuppenwesens stolperte.
Grellgrüne Augen starrten sie aus nächster Nähe an. Einem Reflex folgend, riss sie die bewaffnete Hand hoch, drückte die Mündung an ihrem eigenen Leib vorbei auf den Brustkorb ihres Peinigers und drückte ab. Doch nichts geschah. Das Energiemagazin war leergeschossen. Keuchendes Lachen blies ihr übelriechenden Atem ins Gesicht und verstarb augenblicklich, als sie die leere Waffe als Schlagwerkzeug benutzend auf seinen Kopf hämmerte. Mit einer schnellen Bewegung schlug er ihr die Waffe aus der Hand, verpasste ihr einen schmerzhaften Rempler in die Rippen und katapultierte sie schwungvoll über drei selig ruhig parkenden Gleitschlitten. Im Schein eines brennenden Turmteiles, erkannte sie die Gestalt ihrer Gegner. Ein Hüne von überaus kräftiger Statur, mit pratzenartigen Händen und Beinen, die so dick waren wie die Hüften draller Frauen. Dass er sich ausgerechnet die schwächste der drei Eindringlinge ausgesucht hatte, vermochte sie nicht zu erklären. Vermutlich wollte er sich nur das Vergnügen gönnen, eine Frau durch die Luft zu wirbeln.
Noch ehe sich Nandra in Sicherheit bringen konnte, hatte er sich seinen Spielball wieder geschnappt, hoch in die Luft gehoben und vier Gleitschlitten weiter geworfen, als ginge es um das etappenweise Weitwerfen menschlicher Körper. Nandra rappelte sich mühsam wieder hoch. Beim letzten Sturz war sie unglücklich auf das Hinterteil des fünften Schlitten gefallen und hatte sich einen tiefen Kratzer eingehandelt. Der Hüne war augenblicklich wieder zur Stelle, hob sie erneut hoch über seinen Kopf und beabsichtigte nun sie endlich über Bord zu werfen, denn keine zwei Meter weiter erkannte Nandra das Geländer der Reling im flackernden Licht der Wrackteile. Sie krallte sich, so gut sie konnte in seinem wulstigem Wams fest und riss ihn mit, als er sie schwungvoll über das Geländer werfen wollte. Mit einem doppeltem Schrei landeten beide im Wasser.
Der Hüne begann noch bevor er das Wasser überhaupt erreichte, wie wild um sich zu schlagen und versetzte Nandra dabei einige ziemlich üble Hiebe. Gellende Schreie drangen auch unter Wasser zu ihr und plötzlich schien der Hüne in ihr den einzigen Rettungsanker zu sehen. Dass der Riese, der sie mühelos zehn Meter weit werfen konnte, eine panische Angst vor dem Wasser besaß, konnte sie beim besten Willen nicht einkalkulieren. Er klammerte sich an ihr fest und versuchte sich an ihr in Richtung Wasseroberfläche hoch zu hangeln, wodurch beide nur noch tiefer sanken. Für Nandra stellte dies für ein oder zwei Minuten noch kein Problem dar, doch als der Kerl sie mit seinem Gewicht immer tiefer drückte und sie sich partout nicht von ihm losreißen konnte, keimte auch in ihr das Gefühl von Panik auf.
Treece hatte gerade noch im Augenwinkel gesehen, wie die Raumkommandeurin mit ihrem Gegner in den See gefallen waren. Er wartete einen kurzen Moment, den er damit ausfüllen musste, einen Schlag seines eigenen Gegners abzuwehren, fing ihn anschließend bereitwillig auf, klammerte sich bei ihm unter und rannte auf die Reling zu. Der Mann sträubte sich und versuchte sich noch an dem Geländer festzuhalten, doch ihr gemeinsamer Schwung entriss ihm den Halt und katapultierte sie förmlich über die Holme. Kopfüber purzelten sie in den See und fochten noch für einen Moment miteinander, bis der bessere Schwimmer seinen Dolch erreicht hatte und es bis zum Schaft im Körper des Anderen verschwinden ließ.
Nandras Lunge schmerzte und sie musste krampfhaft gegen die Versuchung ankämpfen, einen tiefen Atemzug zu nehmen. Sie wusste, dass sie ertrinken musste, wenn sie sich nicht bald befreien konnte. Obwohl der Riese des Schwimmens und des Tauchens nicht trainiert war, schien er über das größere Lungenvolumen zu verfügen und versuchte nach wie vor, Nandra als rettenden Strohhalm zu benutzen. Adrenalin pumpte wütend durch ihren Körper, als der Drang immer größer wurde, ihre Lungen mit Luft zu füllen. Sie wusste, dass sie das nicht tun durfte. Sternchen erschienen vor ihrem geistigen Auge. Ihr Brustkorb drohte zu platzen.
Dann fühlte sie ein zweites Paar Hände an ihrem Körper. Das Wasser veränderte kurzfristig seine Temperatur, als es sich mit dem Blut des Hünen vermischte und vollkommene Schwärze überkam sie. Das nächste, was sie spürte, waren Lippen auf den ihren, die ihr die sehnsüchtig erwartete Atemluft spendeten. Sie klammerte sich beinahe panisch an den Körper, der sie vor dem ertrinken bewahrt hatte und versuchte mit aller Gewalt gleichmäßig und kontrolliert zu atmen, bis sich ihr kollabierender Körper wieder einigermaßen beruhigt hatte. Noch nie in ihrem ganzen Leben, war sie so gerne geküsst worden, wie in diesem Moment.
Treece schwamm zur Festung zurück und suchte einen Klettersteig oder eine Möglichkeit, um sich festzuhalten und wieder auf die Insel zu klettern. Er hob Nandras Kopf über Wasser und vergewisserte sich, dass sie wieder einigermaßen gleichmäßig atmete.
"Danke“, keuchte sie erschöpft, erleichtert und dankbar zugleich.
"Keine Ursache“, kam es zurück, während er ihre Hand zu einem Haltebügel führte und ihr half, sich an den Bügeln wieder zum Deck hochzuziehen.
Der alleingelassene Trenkjar war inzwischen überwältigt worden und von zwei wütenden Wotrees in die Mangel genommen worden. Sie hatten ihn in ein Tau gewickelt und waren eben im Begriff ihn zu erdrosseln. Treece riss die Bordkanone eines der Gleitschlitten aus seiner Verankerung und zielte auf den erstbesten. Obwohl die Kanone nicht mehr war als eine Miniaturausführung des Harpunengewehrs, die die Trenkjar benutzten, erfüllte es dennoch seinen Zweck. Ein dünner mit Widerhaken versehener Pfeil schoss, ein dünnes Kabel mit sich ziehend aus dem Lauf, durchbohrte den zottigen Wotree und verhakte sich in den Kühlrohren des Aggregates. Als sich der Wotree erschrocken umwand, drückte der General den Federbolzen ein zweites Mal durch und verkabelte ihn mit einer weiteren Salve mit dem Kühlaggregat. Erst dann war Nandra nahe genug herangekommen, um das Ende des Taues um den Hals des Zweiten zu legen, eine Schlaufe um dessen Bein zu wickeln und ihn mit einer schnellen Bewegung zu Fall zu bringen, so dass er sich selbst erdrosselte. Das Röcheln des Pelzwesens, ging in einem lautstarkem Feuergefecht unter, als eine Gruppe von vier Trenkjar eine Gruppe von mehreren Extramuros auf das Freideck jagten.
Treece wirbelte herum und entleerte das Magazin in die Leiber der herannahenden Männer, während Nandra den gefesselten Trusgs befreite.
Dann standen sie endlich vor den Generatoren, die die Energie für die Senderanlage produzierten.
* * *
Der General hatte sich auf dem Weg eine herumliegende Waffe besorgt und versuchte sie sich mit einigen untersuchenden Blicken und Handgriffen begreiflich zu machen. Nandra suchte indessen nach der Energiehauptversorgung, um irgendwo einen Schalter, einen Hebel oder einen Knopf zu finden, der die komplette Anlage abschalten konnte. Sie bemerkte gerade noch im Augenwinkel, wie der Trenkjar mit einem Projektilwerfer auf die Schaltkonsole zielte und wirbelte herum.
"Halt, Treece, nein“, rief sie gerade noch im letzten Moment. "Nicht zerstören. Die Anlage kann euch nützlich sein."
Er blickte sie einen Moment eingehend an, dann ließ er die Waffe sinken und nickte ihr zustimmend zu. Nandra hämmerte auf mehrere Knöpfe, kippte zahlreiche Hebel herum und lächelte schließlich zufrieden, als Lichter erloschen oder warnend blinkten und hinter ihr die Generatoren herunterfuhren.
Dann verfehlte ein roter Kugelblitz sie nur um Haaresbreite und zischte in die Konsole, so dass die Anzeichen und Sichtgläser nur so zersplitterten und miteinander zu unförmigen Klumpen verschmolzen. Sie ließ sich augenblicklich zu Boden fallen, doch damit schien der Schütze gerechnet zu haben. Der nächste Kugelblitz traf ihr rechtes Schulterblatt. Es roch nach verbranntem Fleisch und verschmorten Haaren, als sie aufschrie und unter das Schaltbrett fiel. Ihr rechter Arm war augenblicklich taub geworden und damit für eine Erwiderung des Feuers unbrauchbar, wenn sie auch nur eine Waffe besessen hätte. Dafür vernahm sie den ohrenbetäubenden Knall des Projektilwerfers und kurz darauf Schreie und eine Explosion, als das Explosivgeschoss sein Ziel gefunden hatte. Den Schützen musste er allerdings verfehlt haben, denn das Zischen der Faserwaffe ertönte noch einige Male.
"Wirst du es überleben?", erkundigte sich kurz darauf eine vertraute Stimme besorgt und drehte sie behutsam herum.
"Schnapp dir den Bastard“, keuchte sie, während sie verzweifelt versuchte, nicht die Besinnung zu verlieren. Die Verletzung war sicherlich nicht lebensbedrohlich, aber dennoch schmerzte sie so sehr und nagte so sehr an ihrer Fassung, dass sie sogar den Tränen nahe war. "Na los“, rief sie, als der General zögerte, sie allein zu lassen. "Pulverisiere dieses Miststück endlich."
"Bleib unten“, riet er, berührte sie flüchtig an der Wange und nahm eine Träne auf seinen Finger. Dann war er auch schon verschwunden.
Nandra kämpfte sich tiefer in den Schutz der Konsole, um sich erst einmal wieder unter Kontrolle zu bekommen. Solange ihre Sinne einen wilden Tanz vollführten, ihre Glieder zitterten und ihre Nervenenden wie lose Stromkabel zischten und knisterten, brauchte sie nicht an eine weitere Heldentat zu denken. Sie musste zunächst erst einmal den Schmerz bekämpfen und versuchen, sich selbst wieder in den Griff zu bekommen. Tränen schossen in ihre Augen und sie schämte sich ihrer, als ihr die Kräfte versagten, um sie niederzukämpfen.
Janol Treece hatte für einen Moment geglaubt, das Gesicht des Schützen erkannt zu haben. Er schüttelte den Kopf, während er sich vorsichtig näher an eine Stützsäule heranschlich. Der Mann, den er glaubte, erkannt zu haben, Mignes Lorgmarr war vor vielen Jahren gestorben. Damals war noch sein Vater der General und Regent von Trenkjar gewesen und hatte ihn auf eine Verhandlungsmission zu einer Delegation geschickt, die vorgab Geschäfte mit ihnen tätigen zu wollen. Beim Versuch, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, wurde er beschossen und sein Schiff zerstört.
Sollte es sich tatsächlich um jenen Mann handeln, dann konnte sich Janol einige Ungereimtheiten, die ihm in letzter Zeit immer öfter den Kopf zerbrachen, leichter erklären. Lorgmarr hatte damals schon versucht, den alten General von der Notwendigkeit einer Kooperation mit Organisationen, die den Extramuros ähnelten, zu überzeugen. Sein Vater hatte dies immer wieder abgewiesen und jeglichen Kontakt mit ihnen unterbunden. Vermutlich war der mysteriöse Tod des alten Generals ebenfalls auf dessen Konto zu vermerken. Janols Vater hatte zwar schon ein beträchtliches Alter erreicht, aber körperlich war er manches Mal sogar noch seinem Sohn überlegen. Dass er ausgerechnet einen harmlosen Unterwasserausflug nicht überstehen und dabei sterben sollte, hatte Janol noch lange danach ganze Nächte lang beschäftigt.
Sollte es sich tatsächlich um Lorgmarr handeln, dann wusste er, wem er die immer öfter wiederkehrenden Ausfälle des Satelliten zuzuschreiben hatte. Da der Sohn keine anderen Prinzipien als sein Vater vertrat, versuchte er ihn vermutlich damit zu einer Revision zu zwingen.
Doch zunächst musste er sich erst von der wahren Identität des Schützen überzeugen.
Er fuhr herum, als jemand seinen Namen rief.
Zur Schaltkonsole zurückgekehrt, entdeckte er dort Lorgmarr, der der zu seinen Füßen kauernden Raumkommandeurin die Waffe an den Kopf drückte. Für Janol beantworteten sich plötzlich eine ganze Menge ungeklärter Fragen. Gror konnte der Organisation nicht allein all die wichtigen Informationen über ihr System, die Eigenheiten und die Schlupfwinkel gegeben haben. Vermutlich war Gror von Lorgmarr gezwungen worden, einfach einige Male die Augen zuzudrücken.
"Das wirst du nicht wagen“, knurrte Janol.
"Pfeif deine Schießhunde zurück“, rief der Trenkjar entschlossen. "Denn sonst sehe ich mich gezwungen, diese Frau hier zu erschießen. Und du selbst weißt was passiert, wenn eine Okopaido in deinem Territorium zu Tode kommt. Man wird jede Menge ziemlich neugieriger Fragen stellen und sogar die Extramuros mit dir in Verbindung bringen."
"Du hast keine Wahl, Mignes. Lass die Waffe fallen und ergib dich."
"Im Moment bin ich am längeren Hebel. Ruf deine Leute zurück, oder ich töte sie."
Janol überlegte einen Moment. Unter normalen Umständen wäre er nicht einmal auf die Idee gekommen, überhaupt darüber nachzudenken. Doch als mehrere Trusgs mit anvisierten Harpunengewehren an den Glasfenstern auftauchten, gab er ihnen das Zeichen zum Abwarten. Die Trenkjar hatten die Insel inzwischen eingenommen und auf dem Freideck eine Handvoll Überlebende der Extramuros zusammengetrieben.
"Warum tust du uns das an?", wollte der junge General wissen und legte seine eigene Waffe vorsichtig auf den Boden. "Mein Vater hat dir schon versucht begreiflich zu machen, dass das nur Schwierigkeiten birgt."
"Schwierigkeiten mit wem?", fragte der Mann zurück. "Schwierigkeiten mit einem total verbohrten und sich an feste Prinzipien verkrallende Regierung, die nicht imstande ist, für ihre Untertanen zu sorgen? Du hast überhaupt keine Ahnung, wie es da draußen vor sich geht. Wüsstest du es, würdest du auch etwas von diesem Kuchen abhaben wollen."
"Du kannst nicht mehr verlangen, als dir zusteht. Warum sollen wir unseren Lebensraum zerstören und nach einem luxuriösem Standard streben? Warum sollen wir unsere Welt zerwühlen und aufreißen, nur um die vermuteten gigantischen Bodenschätze auszubeuten, die sich dann irgendwann als unbedeutsam erweißen? Was ist, wenn sich die Experten irren und wir dann auf einem Scherbenhaufen sitzen? Was ist, wenn unsere Welt kein Leben mehr zulässt und wir uns eine andere Welt suchen müssen? Begehst du dann den gleichen Fehler und suchst erneut nach einem besseren Leben?" Janol bewies mit seiner Rede, dass er genauestens Bescheid wusste. Er war nicht umsonst der ebenbürtige Nachfolger seines erfahrenen Vaters. Wie viele Lehrstunden und Lektionen er bis zu seiner Ernennung hatte über sich ergehen lassen müssen, vermochte er nicht mehr aufzuzählen. "Lass es doch einfach wie es ist“, fuhr Janol fort. "Und wir haben das beste Leben, das wir uns vorstellen können."
"Du bist wie dein Vater“, zischte Lorgmarr wütend und zerrte an seiner Geißel, in dessen Haar er sich vergriffen hatte.
"Bist du dir wirklich sicher, dass wir nicht auch versucht haben, über die Mauer, die du so sehr verabscheust, zu blicken? Wir haben keine andere Alternative gesehen. Das hier ist das Beste, was uns die Natur geben kann."
"Für dich vielleicht“, rief Lorgmarr. "Du bist ein Trusgs und kannst ohne Wasser und Schmutz nicht leben. Doch ich bin ein Leskoje und keine Sumpfpflanze."
"Es steht dir jederzeit frei, dir etwas anderes zu suchen. Doch lass uns in Ruhe. Ich werde es nicht zulassen, dass du auch nur irgendetwas veränderst."
"Trenkjar bietet zu viel, als dass ich es verschmähen könnte."
"Nur über meine Leiche."
"Das kannst du haben." Lorgmarr ließ dich davon hinreißen, die Waffe vom Kopf der Kommandeurin zu nehmen und damit auf Janol zu zielen. Doch noch ehe er den Auslöser betätigen konnte, war sie aufgesprungen und hatte sich gegen die Schusshand geworfen. Der Schuss ging in die Decke und ein Regen aus Glassplitter und versprengten Metallstreben ging auf sie nieder. Lorgmarr hatte seinen Griff nicht losgelassen, riss sie an ihrem Haar herum und hämmerte ihren Kopf auf das Schaltbrett. Nandras Glieder wurden für einen Moment schlaff.
Janol nutzte die Ablenkung, um seine Waffe aufzuheben, doch noch ehe er sie richtig anvisieren konnte, wurde sie ihm wieder aus der Hand geschossen. Ein roter Kugelblitz versenkte ihm die Hände und er zuckte schmerzerfüllt zurück. Der nächste Schuss sprengte einen Träger aus seiner Halterung, der den Trusgs unter sich begrub.
Dann richtete der Verräter seine Laserpistole auf die Trenkjar-Soldaten, die bereitwillig ihre Waffen niederlegten, zerrte Nandra an ihrem Haar hoch und schleppte sie als menschliches Schutzschild halb tragend, halb vor sich her schiebend hinaus ins Freideck. Die Handvoll Überlebenden, hatten sich schnell der Waffen bemächtigt und richteten nun die Harpunen auf die Soldaten.
Der Leskoje nahm das Tau auf, mit dem vorhin die zwei Wotrees versucht hatten, den Trenkjar zu erdrosseln, fesselte damit Nandra Hände auf den Rücken, wickelte jeweils eine Schleife um ihren Hals und ihren Beinen und vertäute das Ende mit einem Gleitschlitten. Dann zerschoss er das Geländer und versenkte beides mit einem diabolischem Grinsen im See.
"Die Zeiten ändern sich“, rief er ihr hinterher. "Und wenn es zu langsam geht, dann muss man eben nachhelfen."
Bei der Aktion mit dem Schaltbrett hatte sich Nandra eine Platzwunde an der Stirn zugezogen. Blut war über ihre Augen gelaufen und sie erblinden lassen. Ehe sie begriff, was mit ihr vor sich ging, schlugen auch schon die Wellen über ihrem Kopf zusammen.
Lorgmarr war lachend herumgewirbelt, um sich nun dem zweiten Teil seines Finales zu widmen. Janol hatte es nicht geschafft, sich unter dem schweren Träger hevor zu arbeiten. Er hörte Nandras Schrei und ihren Aufschlag ins Wasser und arbeitete um so fieberhafter. Doch die scharfkantigen Streben des Trägers, trieben sich nur noch tiefer in sein Fleisch, je heftiger er an sich und an dem Träger zerrte. Dann spürte er die Mündung der Laserpistole an seiner Schläfe und erstarrte.
"Du wirst es nicht aufhalten können“, sagte Lorgmarr. "Du und dein Vater, ihr seid zu festgefahren gewesen. Die Extramuros sind erst der Anfang. Wenn Störfaktoren wie du und deine Schießhunde erst einmal beseitigt sind, dann kann endlich mit dem angenehmen Teil der Geschichte begonnen werden."
"Es wird nicht funktionieren“, wusste Janol. "Die Geschichte wird sich wiederholen. Denk an Gerai Gmarje. Die Natur wird noch angepasstere Geschöpfe als die Trusgs hervorbringen und es wird noch verhängnisvoller sein, sie abermals auszubeuten. Und irgendwann werden die Bewohner von Trenkjar nicht mehr in der Lage sein, auch nur einen Fuß vom Boden zu nehmen, geschweige denn den Kopf aus dem Wasser zu strecken."
"Das wird erst in ferner Zukunft passieren und bis dahin, kann ich mein Leben in vollen Zügen genießen."
"Vielleicht wird es diesmal schneller gehen. Wer weiß."
"Der Lauf der Natur verändert sich niemals von einem Tag auf den Anderen“, war sich Lorgmarr sicher. "Es dauert viele Millionen Jahre."
"Wer weiß schon genau, was mit Gmarje passiert ist."
"Du wirst mich mit deinem Geschichtsunterricht nicht aufhalten können“, schimpfte der Mann und presste die Waffe härter an die Schläfe des jungen Generals. "Dafür ist nun keine Zeit mehr."
"Achtundneunzig Prozent der Oberfläche von Trenkjar sind mit Wasser bedeckt“, berichtete der junge Mann wissend. "Du wirst die Trusgs brauchen, um das Terrain zu erkunden."
"Dafür gibt es spezielles Tauchgerät."
"Und du wirst jemanden brauchen, auf den sie hören."
"Soll das etwa ein Gnadengewinsel sein?", zischte Lorgmarr leicht amüsiert und lachte kurz auf. "Ich brauche dich nicht dazu. Sie werden gehorchen müssen, sonst wird es ihnen ergehen, wie ihrem Gerai."
"Glaubst du wirklich, du kannst hundert Millionen Trusgs mit einer einzigen Laserpistole in Schach halten?"
Lorgmarr lachte abermals und nahm den Lauf von der Schläfe. "Weißt du, was das Beste an euch Trusgs ist? Man kann euch töten, ohne sich dabei allzu sehr anstrengen zu müssen. Nur eine Handvoll Öl wirkt wahre Wunder bei euch." Damit brachte er eine kleine Flasche mit Maschinenöl zum Vorschein und ließ genießerisch einen Tropfen auf den Boden fallen. "Ich würde zu gerne sehen, wie lange du brauchst, um deinen letzten Kampf zu verlieren. Dein Vater brachte es auf stolze fünfundzwanzig Minuten."
Janol konnte der Versuchung nur schwerlich widerstehen, aufzuspringen und dem Mörder die Hände um den Hals zu legen. Als er hoch zuckte, trieb sich der Träger noch tiefer in das Fleisch seiner Beine und er kämpfte den Drang schnaubend und vor Wut und Zorn knurrend nieder.
"Du hast nichts mehr zu verlieren. Ganz im Gegenteil. Wenn du am Leben bleibst, wird sich dir die ganze Okopaido-Sippschaft, nebst Vizekönig höchstpersönlich an den Kragen heften. Du bist ein hochgradiger Störfaktor. Mit deinem Tod kehrt endlich Ruhe ein."
"Na, dann los“, feuerte ihn Janol vor Wut kochend an.
"Sachte! Ich werde dir jemanden zur Gesellschaft geben“, redete Lorgmarr weiter. "Damit du auch einen richtigen letzten Kampf ausfechten kannst. Gegen sich selbst verliert man so schlecht." Hinter ihm tauchte ein Trusgs auf, ein hochgewachsener Kerl mit ausgeprägten Muskeln und einem angriffslustigem Glitzern in den Augen. Auf ein unsichtbares Zeichen hin, fesselte er mit der einen Hand Janols Arme auf dessen Brust und vergriff sich mit der anderen Hand in dessen kräftigem Haar, um den Kopf herumzureißen, damit Lorgmarr das Maschinenöl in die Kiemenbögen schütten konnte.
"Du Bastard“, keuchte Janol, Nandras Worte benutzend. Ihm war im Moment nichts anderes eingefallen. Stattdessen erinnerte er sich an die Raumkommandeurin, die inzwischen sicherlich längst ertrunken war. Niemand hatte ihr Luft spenden können.
"So“, rief Lorgmarr, als der letzte Tropfen aus der Tülle rann. "Und nun will ich etwas Aufregendes sehen."
Der böse Trusgs, der offensichtlich durch den psychologischen Aufnahmetest der Trenkjar-Armee gefallen war, stieß den Träger beiseite und klammerte den jungen General, der ihm im Kampfgewicht und vermutlich auch an Kraft unterlegen war, unter seinen Arm und schleppte ihn wie ein altes Kleiderbündel hinaus aufs Freideck.
"Grüß mir das Mädchen“, rief ihm Lorgmarr hinterher und lachte, als die beiden im See verschwanden.
* * *
Die beiden Trenkjar hätten keine Sekunde später auftauchen dürfen. Nandra hatte sich wahrlich schon überlegt, ob sie einfach aufgeben und einen tiefen Lungenzug voller Seewasser nehmen sollte. Sie schaffte es einfach nicht, sich aus den Fesseln zu winden und sich von dem Ballast zu befreien. Zwei von Treece loyalen Leuten, die als Nachhut die Unterdecks der Insel nach Überlebenden durchsucht hatten, hatten das Geschehen von einer Luke des drittobersten Stockwerks aus beobachtet und sich zu einer spontanen Aktion entschlossen. So schnell sie konnten, rannten sie in das unterste Deck, sprangen in den Schacht, durch den sie gekommen waren und eilten Nandra zu Hilfe.
Während der Eine sich zu einem mehr als leidenschaftlichen Kuss mit ihr vereinte, durchschnitt der Andere die Fesseln. Gerade als sie wieder an die Oberfläche schwimmen wollten, schnitten Lichtkegel durch die Wasseroberfläche und zwei Gestalten fielen ins Wasser, welche sogleich miteinander zu ringen begannen. Nandra und die beiden Trenkjar hielten einen Moment inne und beobachteten das Schattenspiel der beiden viergliedrigen Gestalten und entschlossen sich dann, sie sich selbst zu überlassen. Einer der beiden musste Treece sein, erkannte Nandra. Der General war durchaus in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Während des Handgemenges auf dem Freideck, als sie von Lorgmarrs Leuten gestellt worden waren, hatte sie sich hin und wieder dazu hinreißen lassen, einige verstohlene Blicke in seine Richtung zu schicken und zu ihrer persönlichen Überraschung und Freude festgestellt, dass Treece sich durchaus zu wehren wusste. Daher sah sie keinerlei Veranlassung, in den jetzigen Kampf einzugreifen. Sie ließ sich von den beiden Schwimmern zum Schacht zurückbringen und erklommen schließlich erneut die Stockwerke bis zum Freideck hinauf.
Dort angekommen entdeckte sie die Trenkjar zu einem enggedrängten Haufen zusammengetrieben und von zwei Leuten bewacht. Die übrigen beobachteten interessiert und weit über die Rehling gebeugt, das Schauspiel im Wasser.
Nandra gab den Trenkjar ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten, schlich sich unbemerkt an den Wachen vorbei und spitzelte nur wenige Meter von Lorgmarr entfernt, der ebenfalls mit belustigtem Gesicht auf die Wasseroberfläche starrte, aus ihrer Deckung auf. Die beiden Wachen standen mit dem Rücken zu ihr. Der Rest interessierte sich nur für den Kampf. Nandra kam unbemerkt aus ihrer Deckung, tippte dem Leskojen auf die Schulter und grinste ihn frech an. Noch bevor er Alarm schlagen und seine Leute auf die junge Frau aufmerksam machen konnte, hatte ihm Nandra auch schon einen so deftigen Kinnhaken verpasst, dass er rückwärts stolperte, über die Rehling purzelte und ins Wasser fiel.
"Los, Jungs, schnappt sie euch“, rief sie den Trenkjar zu und nur einem Augenblick später, sie hatte ihre Aufforderung noch nicht einmal gänzlich aussprechen können, waren die Trenkjar auf den Rest der Inselmannschaft losgegangen und konnten sie aufgrund der Überzahl schnell überwältigen.
"Mit wem spielt Treece da?", wollte Nandra von einem Trusgs in ihrer Nähe wissen, welcher eben einen Magres, einen zierlichen, flaumigen Kerl mit schwarzen Knopfaugen, K.O. geschlagen hatte.
"Der Gerai spielt nicht“, erklärte der Trenkjar und ließ den Magres fallen, wo ihn seine Ohnmacht niedersinken ließ. "Er kämpft um sein Leben. Lorgmarr hat ihm Öl in die Kiemen geschüttet."
"Ach du Schande“, stieß Nandra hervor, schnappte sich eine Miniharpune von einem der parkenden Schlitten und sprang auch schon wieder ins Wasser. Die Rufe des Trenkjar hörte sie nicht mehr. Dass seine Leute vermutlich besser dafür geeignet waren, ihren Anführer zu retten, kam ihr erst in jenem Moment in dem Sinn, als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug und sie kaum eine Handbreit vor Augen sehen konnte. Ihrem Beispiel folgend, sprangen wenig später mehrere Trusgs ins Wasser.
Das einzige, was Nandra sehen konnte, war Licht, Schatten und Dunkelheit. Sie konnte die beiden Kämpfenden kaum aus dem wirren Spiel herauserkennen und wagte es nicht, ihre Harpune abzufeuern, aus Angst sie könne dabei Treece treffen.
Dann wurde sie von hinten gepackt. Feste Arme legten sich um ihren Hals und drückten sie unter Wasser. Nandra wirbelte herum und hieb dem Angreifer die Harpune in den Magen, was wenigstens den Erfolg hatte, dass er seinen Würgegriff etwas lockerte und sie sich mit einem nächsten Hieb gänzlich befreien konnte. Sie sah ein fratzenhaftes Gesicht vor ihr, als sie versuchte, sich umzudrehen und ihm frontal entgegen zu kommen. Doch sie erkannte genug, um einen wilden Fluch in ihr Dogma zu schicken und sich für ihre Gedankenlosigkeit zu schelten. Als sie Lorgmarr ins Wasser geworfen hatte, hätte sie miteinbeziehen müssen, dass er zumindest soweit ausgebildet worden war, dass ihn ein Sturz ins kalte Nass nicht umbringen konnte.
Der Leskoje war für ihren Geschmack fast ein wenig zu kräftig und sie hatte alle Mühe, sich einigermaßen zu wehren. Er konnte sie immer wieder unter Wasser drücken und sie für einige Augenblick unten behalten. Nandra musste ihr gesamtes Repertoire an fiesen Tricks anwenden, um wenigstens für einen gierigen Atemzug wieder an die Oberfläche zu gelangen. Ihre Kräfte begannen schon zu schwinden, als sie plötzlich etwas schuppiges an ihrem Rücken spürte. Sie zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, was dies war. Dann wurde Lorgmarr auch schon von ihr fortgerissen und sie hörte von ihm nur noch ein heißeres Gurgeln. So schnell sie konnte, versuchte sie den rettenden Klettersteig zu erreichen, denn sie war den Langueene hilflos ausgeliefert. Ihre kleine Harpune war ihr beim Kampf mit Lorgmarr aus den Händen geglitten.
Ein Trenkjar half ihr die enge Leiter hoch und wenig später hievten sie auch Treece, der entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, heftig keuchte und nach Luft schnappte, aus dem Wasser. Während sich seine Leute um ihn sorgten, ließ sich Nandra auf den Sitz eines Gleiters niedersinken und gönnte sich zum ersten Mal seit Tagen eine wohlverdiente Ruhepause. Sie legte den Kopf an den Schutzbügel und schloss erschöpft und zufrieden die Augen.
* * *
"Das ist weitaus anstrengender, als von einem Kriegsschiff aus zu delegieren“, hörte sie irgendwann eine Stimme sagen. Sie öffnete die Augen und musste unwillkürlich lächeln. Treece stand vor ihr. Er sah zwar etwas abgekämpft und beansprucht aus, doch das muntere Glitzern in seinen dunklen Augen, versprach ungebrochene Abenteuerlust.
"Ich bin es lediglich nicht gewohnt, meine Strategien unter Wasser auszuführen“, erklärte sie. "Wie geht es dir? Stimmt es, dass Öl ... ?"
"Die Rückreise wird etwas beschwerlich“, unterbrach er sie, bevor sie näher darauf eingehen konnte. "Mich kann aber eine ganze Horde Langueens nicht dazu überreden, mit einer Fähre oder ähnliches zurückzufliegen."
"Was für eine Fähre?", erkundigte sie sich neugierig. Sie hatte bislang gedacht, dass Fliegen auf Trenkjar gefährlich war.
"Die, die sie für sich ordern werden“, erklärte er. "Die Senderanlage benutzt unseren Satelliten. Also können sie eine Nachricht an ihr Schiff schicken, damit sie eine Fähre entsenden, um sie und die übriggebliebenen Extramuros fortzuschaffen."
"Demnach bin ich ihnen lästig“, sagte sie, beinahe schon beleidigt. Er hatte den persönlichen Ton und die vertrauliche Anrede verloren und erweckte sogar den Eindruck, dass er sie lieber jetzt schon, als erst morgen loshaben wolle. Nandra erhob sich, ohne auf eine Antwort zu warten und marschierte davon, um die Energiegeneratoren wieder hoch laden zu lassen und irgendwo auf der schwimmenden Festung einen Funkraum zu finden. Als sie ihren Anruf schließlich getätigt hatte, brachte sie es nicht fertig, wieder aufs Freideck zu gehen. Sie wusste selbst nicht, was sie davon überzeugt hatte, dass er sich wenigstens ein klein wenig für sie interessierte. Vielleicht waren sie zu verschieden. Oder vielleicht stand für ihn eine Beziehung mit einem außerplanetaren Wesen, einer Nichtrenkjar außer Frage. Sie musste plötzlich mit den Tränen kämpfen, biss sich auf die Lippen und versteckte sich in der Bereitschaftskoje des Funkraumes, bis sie den Lärm der Düsenantriebe vernahm. Es gab nur einige wenige Male in ihrem Leben, wo sie selbst durch die Anspruchsraster rasselte. Nur wenige hatten es gewagt, sie, eine Okopaido zu verschmähen.
Auf dem Freideck ließ sie sich von einem Sanitäter in eine Decke wickeln und registrierte aus dem Augenwinkel heraus, wie ein Medic-Roboter versuchte, Treeces Kiemenbögen mittels eines dünnen Schnorchels zu säubern. Sie versuchte, nicht weiter darauf einzugehen, schritt die wackelige Gangway, die an einer zerstörten Stelle der Rehling zum längsseits schwebenden Fährschiff führte hinüber und ließ sich schweren Herzens und mit einem erdrückenden Gefühl in ihren Gliedern in einen Passagiersessel plumpsen. Dabei war es ihr im Moment vollkommen gleichgültig, ob neben ihr ein gefesselter Extramuros saß. Sie bemerkte ihn nicht einmal und musste erneut mit den Tränen kämpfen.
Auf der Ashantin angekommen, flüchtete sie als erstes in ihre Privatgemächer, um sich Algen, Schmutz, Schlamm und Herzschmerz von der Seele zu spülen. Sie inhalierte die wohltuenden ätherischen Dämpfe ihres Schaumbades und genoss es, ohne Langueene im Wasser tummeln zu können. Nur die Gesellschaft der Trenkjar - eines bestimmten Trenkjar - ging ihr ab.
Als sie am nächsten Tag, nach einem ausgedehnten Erholungsschlaf, der Meinung war, dass Treece und seine Leute längst nach Trenkjar zurückgekehrt sein musste, schickte sie ihm eine Nachricht, in welcher sie den General zu einem Treffen auf die Ashantin einlud. Der Offizieller Grund war das gemeinsame Verfassen des Berichtes. Dass Nandra noch etwas anderes im Sinn hatte, wollte sie ihm erst bei seinem Eintreffen offenbaren. Während ihres ausgiebigen Bades hatte sie sich dazu entschlossen, um ihn zu kämpfen. Eine Okopaido ließ sich nicht so einfach zurückweisen.
Seine einzige, äußerst knapp verfasste Antwort war: "Sechs Stunden."
Lächelnd nickte Nandra und erklärte sich damit einverstanden, denn sie hatte schon mit schlimmerem gerechnet, dass er ablehnte in etwa. Treece musste während seines ganzen Ausfluges nicht einmal geschlafen haben, erkannte sie erst jetzt. Er war ein ehrgeiziger, pflichtbewusster und entschlossener junger Mann und ein General dazu, welchem es in die Wiege gelegt worden war, eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.
Erst am darauffolgenden Morgen erhielt Nandra die Mitteilung, dass General Treece auf der Ashantin eingetroffen war. Jeden anderen Mann hätte sie mit dem Prunk des Konferenzsaales zu beeindrucken versucht. Den Trenkjar ließ sie in ihre Privatgemächer führen. Als sich schließlich die Gleittüren öffneten und ein schneidiger junger Mann, in fast perfekter Standarduniform eintrat, kam sie ihm in einem vorteilhaftem Kleid, offenen, locker schwingenden Locken und dezent geschminktem Gesicht entgegen. Sie setzte ihr schönstes Lächeln auf und hielt ihm ihre Hand hin. Treece wusste auch um die allgemeinen Benimmregeln, nahm die Hand in seine Finger und hauchte einen höflichen Kuss auf ihre Fingerspitzen.
"Ist wieder alles in Ordnung mit ihnen?", erkundigte sie sich besorgt und betrachtete ihn eingehend. Er roch nach Seife. Sie begann es zu lieben.
"Mir geht es bestens. Danke der Nachfrage“, entgegnete er höflich. Beinahe etwas zu reserviert und überrascht. "Ich dachte, wir sollten einen Bericht verfassen."
"Das hat Zeit“, erwiderte sie lächelnd und bat ihn an einen adrett gedeckten Tisch. "Ich wollte ihnen nur mal zeigen, was die Küche anderer Planeten zu bieten hat."
"Dass wir Trenkjar nur ungern unseren Heimatplaneten verlassen, soll nicht heißen, dass wir nicht wissen, wie es da draußen vor sich geht“, erklärte er mit einem höflichen Lächeln. Er schien mit Nandras ungewöhnlicher Idee nicht gerechnet zu haben. "Meine Ausbildung absolvierte ich auf verschiedenen Planetensystemen. Ich kenne die Küche anderer Völker."
"Ich wollte ihnen im Grunde auch nicht nur etwas zu essen bieten“, sagte sie und musste ihr aufkeimendes Zittern verdrängen. Sein Zögern und die zurückhaltende Art, ließ eine ungute Vermutung in ihr aufkeimen. "Ich wollte sie in einer vollkommen anderen und entspannteren Umgebung besser kennen lernen."
Treeces Lächeln wurde breiter. Er betrachtete die Festtafel für einen Moment, dann kehrte er zu der Kommandeurin zurück. Seine Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt, so als hätte er Angst, sich locker und ungezwungen zu geben.
"Ich weiß die Ehre zu schätzen“, gab er etwas steif von sich. Er schien sich unwohl zu fühlen. Fürwahr begann er nervös auf seinen Ballen zu balancieren. Er wankte unentschlossen vor und zurück. "Aber ich muss dankend ablehnen."
"Warum? Dürfen sie sich nicht mit einem Nichttrenkjar abgeben?"
"Das nicht gerade“, druckste er herum und betrachtete erneut die einladend hergerichtete Tafel. "Im Moment weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Vor kurzem gelang es mir, einen Umschwung in unserem System zu bewirken und zur Zeit weiß ich wirklich nicht, wo ich zuerst Hand anlegen soll. Es gibt noch soviel zu überwachen, zu überprüfen und zu regeln. Und dieser Zwischenfall hat mir zudem auch noch gezeigt, dass ich nicht grenzenlos auf die Aufrichtigkeit anderer vertrauen darf. Es wäre mir demnach mehr als unangenehm, wenn ich nicht allen Angelegenheiten die nötige Aufmerksamkeit zuteil werden lassen kann." Sein Lächeln war höflich und entschuldigend zugleich. Es war respektvoll und beinahe schon familiär. "Ich hoffe, dass ich irgendwann auf das Angebot zurückkommen darf“, fuhr er in jenem persönlicheren Ton fort, der Nandra zuvor schon Hoffnungen gemacht hatte. "Falls dann noch Interesse besteht."
"Das kommt darauf an“, sagte sie heißer und schielte nach einem Stuhl. "Vielleicht bin ich dann nicht mehr attraktiv genug."
"Ich wollte mich eigentlich schon noch in den nächsten achtzig Jahren melden“, gab er schmunzelnd von sich. "Es wäre aber schade, wenn ich jemanden wie dich nicht mehr wiedersehen dürfte." Nun wurde er schon beinahe galant. Er schien sämtliche Sparten zu beherrschen: vom hartnäckigen Verhandlungspartner, über den unerschrockenen Abenteurer, bis hin zum Charmeur. Er nahm abermals ihre Hand, hielt sie diesmal aber einfach nur fest, als könne er sich nicht zu einem Abschiedskuss entschließen. Dann zog er sie sanft näher und küsste sie auf den Mund.
Nandra blieb erst steif wie ein Stock stehen, dann erwiderte sie den Kuss und legte sogar ihre Arme um seinen Hals. Doch kaum war ihre Leidenschaft entbrannt, machte er sich frei und trat einige Schritte zurück.
Er musste sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte.
"Ich denke, es ist besser, wenn wir den Bericht fernmündlich absprechen“, begann er förmlich. "Schicke mir einfach eine Kopie." Er nickte, wirbelte herum und schickte sich an, den Raum ohne weiteren Gruß oder Erklärung zu verlassen.
"Treece“, rief sie ihn zurück.
Der junge General zögerte innezuhalten, machte aber dann mitten in der Gleittüre Halt und wand sich um.
"Erzählst du mir, weswegen der König soviel Ehrfurcht vor deinem Vater besitzt?" Sie hatte genug Flehen in ihre Stimme gesetzt, dass er ihr diese Bitte gewähren musste. Zugleich versuchte sie aber nicht allzu aufdringlich zu wirken.
"Mein Vater versohlte ihm den Hintern, als er noch ein Kadett an der Akademie war“, erklärte Treece. "Um ihm den nötigen Respekt einzutrichtern, den er gegenüber Älteren und Höhergestellten zu erweißen hatte." Er schenkte ihr ein letztes Lächeln, dann war er verschwunden.
Nandra setzte sich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit und versuchte gar nicht erst, gegen ihre Tränen anzukämpfen.
Der Alltag am Hofe war tröge und langweilig. Nandra Okopaido sehnte sich nach Abwechslung, nach Abenteuer und nach Raumluft. Sie sehnte sich nach ihrem Kriegsschiff, das nach einer Auseinandersetzung mit einer beträchtlichen, rachesüchtigen Gruppe Extramuros ein wenig Schaden genommen hatte. Die Ashantin bedurfte zwar nicht unbedingt einer sofortigen Reparatur, aber sie hatte sich nach einer guten Seele gesehnt, an deren Schulter sie ihren Schmerz loswerden konnte. Sie brauchte jemanden, dessen Worte ihr Vertrauen gaben und dessen Hand ihre Tränen fortwischte.
In all dem gezierten Gehabe des Hofes, zwischen all den maskierten Wesen, affektierten Kreaturen und zierenden Personen war sie sich schon immer fehl am Platze vorgekommen. Sie gehörte in den Weltraum, musste hinter Schmuggler, Verbrechern und anderem Gesindel herjagen und ihren Kopf in waghalsigen Manövern riskieren. Sie zählte sich nicht zu den scheinheiligen Geschöpfen, die ständig um den König und seinen Stab hofierten. Ihr war noch nie nach permanenter Festtagskleidung, eingefrästem Lächeln und ständig nickendem Kopf gewesen. Ihr Blick war streng, müde und gereizt. Niemand wagte es, sie anzusprechen, oder sich nach ihrem Befund zu erkundigen. Selbst die Begleiterstuarts, die sie auf dem langen Weg von der Raumwerft auf den Boden Gesellschaft leisteten, waren in Schweigen versunken und starrten lieber aus dem Fenster, als zu versuchen, das düstere Gesicht ihrer Passagierin aufzuhellen. Nandra war nicht nach geistreichen Gesprächen mit wildfremden Leuten, geschweige denn nach wertlosem Geplänkel. Sie verhielt sich wortkarg, gereizt und mürrisch. Das hielt ihr die meisten Neugierigen vom Leib und schützte sie vor allzu intensiveren Nachfragen.
Nun saß sie schon seit Stunden in einem noch pompöserem Salon, als der in der Ashantin herum und fragte sich, wie lange sie es noch in diesem Palast aushalten könnte. Wenn die Person nicht fest versprochen hätte zu kommen, welche sie sich am meisten wünschte zu sehen, wäre sie sicherlich längst wieder geflüchtet und hätte sich bis zu ihrem nächsten Auftrag auf der Ashantin versteckt. Sie wusste, dass diese Person eine vielbeschäftigte junge Frau war. Sie war die Gattin eines Kabinettmitgliedes und hatte als solcher ebenfalls jede Menge öffentliche Pflichten zu erfüllen. Doch ein jedes Mal, wenn Nandra zurückkam, nahm sie sich für die alte Freundin Zeit.
Die massive, antike Eichenholztüre schwang auf und eine quirlige junge Frau, mit strahlendem Lächeln und blumig hinter ihr herflatterndem Kleid tanzte herein. Nandra hatte ihre stets beschwingte Art, ihr tänzelnder Gang und ihr graziöse Art Kopf und Hände zu bewegen, stets bewundert. Sie hatte schon seit ihrer Kindheit für jedermann ein Lächeln und ein gutes Wort übrig und war es noch nie müde oder überdrüssig geworden. Sie war wie ein Sonnenschein in trüber Morgenstunde. Wie ein Lichtstrahl in tiefster Nacht. Gegen diese junge Frau wirkte Nandra plump, farblos und langweilig. Und dennoch waren sie die besten Freundinnen seit der ersten Schulklasse. Die beiden fielen sich in die Arme und drückten sich fest aneinander.
"Meine Liebe, ich freue mich so, dass du wieder einmal Zeit gefunden hast, bei mir vorbeizuschauen“, rief Lilian und umarmte sie erneut. Dass Nandra Schwierigkeiten besaß, einen Platz in dem Terminkalender ihrer Freundin zu ergattern, ließ sie lieber ungeachtet.
"Die Ashantin ist zur Zeit in der Werft“, erklärte Nandra und fühlte sich durch die pure Gesellschaft ihrer langjährigen Freundin sogleich wieder etwas besser. "Da dachte ich mir, ich könnte mir die Zeit mit einem kleinen Plausch vertreiben."
"Wer ist es denn?", erkundigte sich die Freundin und zerrte Nandra an eine kleine Sitzgruppe. "Na komm schon“, rief sie, als die Antwort ausblieb. "Ich kann es dir doch von den Augen ablesen. Du hast dich verliebt und deine Liebe wird nicht erwidert."
"Doch wird sie“, nickte Nandra und wusste für einen Moment nicht, ob es auch wirklich den Tatsachen entsprach. Für was sonst hätte sie den Kuss halten sollen.
"Aber er ist bereits vergeben“, versuchte Lilian zu erraten.
"Nein, soweit ich weiß nicht." Sie zögerte.
"Was ist es dann? Weil du einen weithin bekannten Namen trägst?"
"Nein, das stört ihn nicht. Er hat im Moment viel um die Ohren. Er muss auf seinem Heimatplaneten einen Umschwung organisieren."
"Und damit hast du dich einfach so abspeisen lassen?", fragte Lilian ungläubig und nahm die Hand ihrer Freundin zum Trost. "Schäm dich, Liebes. Das war nur eine dumme Ausrede."
"Nein, ich kenne die Zustände auf Trenkjar. Es ist so."
"Trenkjar? Stehst du neuerdings auf Fische?" Sie blickte sie kurz eindringlich an. "Als ich meinem Gatten erzählte, wohin du so plötzlich fortgeschickt wurdest, sagte er, dass dort nur niederartige Fischwesen leben."
"Das entspricht nicht ganz der Wahrheit“, entgegnete Nandra lächelnd. "Die Trusgs verfügen über Kiemen, um sich unter Wasser aufhalten zu können, sind aber durchaus in der Lage, auch außerhalb ein Leben zu führen."
"Und in eine solche Kreatur hast du dich verliebt?"
"Du würdest dich wundern. Auf dem ersten Blick unterscheiden sie sich nicht von den Menschen. Man muss schon genauer hinsehen, um den Unterschied zu erkennen."
Lilian schüttelte nur den Kopf. "Du bringst dich immer wieder in die allergrößten Sperenzchen. Dein Vater wird das sicherlich nicht gutheißen."
"Er hat mir nicht zu befehlen, an wen ich mein Herz verlieren darf und an wen nicht. Es handelt sich nach wie vor um mein Leben und in das lasse ich nicht einmal ihn reinreden."
"Das möchte ich sehen, wie du das deinem Vater beizubringen versuchst“, kicherte Lilian, wurde aber schnell wieder ernst. "Und nun erzähle mal. Was ist alles passiert? Ich möchte jede Einzelheit wissen."
Nandra schnaufte und sprach sich alles von der Seele. Sie berichtete über jede kleine Einzelheit und erwähnte sämtliche Details. Sie waren zu gute Freundinnen, als dass sie auch nur eine Winzigkeit für sich behalten durfte. So vergingen viele Stunden im intimen Plausch und die beiden lachten und feixten hin und wieder, als gäbe es nur noch sie beide.
Nandra fühlte sich wesentlich besser. Eine Last war ihr von den Schultern genommen worden. So hart sie sich in ihrem übrigen Leben gab, so zerbrechlich schien ihr Innerstes zu sein. Bislang hatte sie dies nicht sonderlich zur Kenntnis genommen, doch mit Janol Treece war etwas in ihrem Inneren geschehen. Etwas worüber sie keinen Einfluss besaß.
"Heute Abend gibt der Vizekönig einen Ball“, berichtete Lilian und nahm die Hände ihrer Freundin in die ihren. "Es würde mich freuen, wenn du ebenfalls kämst."
"Ich weiß nicht. Ich habe dafür keine passende Garderobe."
"Ach was“, tat sie es mit einer wegwischenden Handbewegung ab. "Meine Schränke sind voll von Kleidern, die ich niemals alle allein auftragen kann. Wir werden schon etwas passendes finden. In deiner strengen Uniform wirst du jedenfalls nicht auftauchen“, verfügte die junge Frau lächelnd über Nandra und zog sie auf die Beine. "Komm mit. Das wird ein Heidenspaß. Wie damals, weißt du noch?", rief sie eifrig und zerrte Nandra durch den ganzen Salon, hin zu einer versteckten Türe, die man erst als solches erkannte, wenn man direkt davor stand. "Im Internat, als wir uns als Prinzessinnen verkleideten." Sie kicherte, schob Nandra durch die enge Türe und schlüpfte selbst hindurch.
* * *
Früher hatte Nandra öfter an derartigen öffentlichen Anlässen teilgenommen. Doch seit sie zur Kommandeurin ernannt wurde, besaß sie keine Zeit mehr dazu. Lilian hatte sie in ein weitschwingendes Kleid, mit enger Wespentaille und rüschenverziertem Rock gesteckt, Nandras Haar mit frischen Blumen verziert und die Röte in ihrem Gesicht gekonnt mit etwas Rouge und Make-up betont. Für Nandra erschien dieser Aufzug zu übertrieben und ungewohnt, doch Lilian zog sie mit einem Lachen in den Ballsaal. Sogleich, als sie den Saal betraten, wurden sie und Lilian von galanten, männlichen Gästen aus den verschiedensten Kolonien umschmeichelt und ihrer Aufmerksamkeit beraubt, was sie nicht nur ihren berühmten Namen zu verdanken hatten. Nandra und Lilian besaßen kaum Zeit füreinander oder die illustren Gäste zu beobachten, eine Beschäftigung, der sie früher leidenschaftlich gefrönt hatten. Lilian, dessen Gatte von seinen Pflichten vom Besuch dieses Ereignisses ferngehalten wurde, nutzte eine kleine Pause in der Belagerung durch die Männer, um Nandra an der Hand zu nehmen und sie in einen kleinen Salon zu führen.
"Puh“, machte sie, ließ sich erschöpft in einem Sessel fallen und wedelte sich mit der Hand kühle Luft zu. Dann erschien um ihre Lippen ein Lächeln und sie betrachtete ihre Freundin stolz. "Du bist der volle Erfolg“, sagte sie und setzte sich aufrechter. "In diesem Kleid siehst du einfach hinreißend aus."
"Es ist zu eng“, erklärte Nandra etwas verlegen und zupfte an dem engen Korsett.
"Es unterstreicht kokett deine gute Figur und gibt deinem Gesicht eine frische Farbe. Du solltest dich wirklich etwas ablenken lassen und nicht immer an deinen überanspruchten Fischmenschen denken."
"Ich bin dieses Leben einfach nicht mehr gewohnt. Es ist mir zuviel Scheinheiligkeit dabei."
Lilian kicherte leise und erhob sich. "Ich hatte vorhin kurz Gelegenheit, mit deinem Vater zu sprechen“, berichtete sie. "Er meinte, du hättest dich seit deiner Rückkehr noch nicht bei ihm gemeldet. Hast du Angst, es ihm zu beichten?"
"Nein, aber ich weiß, dass es nicht lange dauern wird, bis wir uns wieder streiten. Zwei Sturköpfe können eben nicht miteinander auskommen."
"Eines sollte man auf keinen Fall tun, so sehr es einem vielleicht auch fallen mag. Man sollte die eigene Familie nicht von sich stoßen, denn man kann nie wissen, ob man sie nicht vielleicht doch noch irgendwann braucht. Außerdem ist dein Vater Admiral der Kriegsflotte. Er kann dir das Kommando schneller wieder wegnehmen, als du dein Schiff startklar machen kannst."
"Du kennst meinen Vater. Er ist nur sauer, weil ich kein Sohn geworden bin. Er hätte gern in mir verwirklicht, was ihm selbst verwehrt worden war. Deswegen schickte er mich auch auf die Akademie."
"Die Ausbildung hat dir nicht geschadet. Du bist eine gute Kommandeurin. Was ich alles von dir gehört habe, ist wirklich beachtlich. Es versetzte das ganze Hofgetratsche in Aufruhr."
"Ich muss aber zugeben, dass ich es niemals würde tauschen wollen. Ich könnte niemals, einfach nur die Gemahlin eines Ministers sein oder als Kapitänsfrau zuhause geduldig auf die Rückkehr meines Mannes zu warten." Sie ließ sich in einen Sessel fallen und starrte auf den gerüschten Rock ihres Kleides. "Ich muss etwas tun“, fuhr sie sinnierend fort. "Ich brauche das Abenteuer und die Gefahr, wie andere Parfum."
"Nur, dass noch niemand beim Benutzen eines Parfüms zu Tode gekommen ist“, fügte Lilian bedenklich hinzu. "Ich kann dich verstehen, Liebes. Aber ist das wirklich das, was eine Frau tun sollte?"
"Was sollte sie denn tun?", fragte Nandra zurück. "Ich habe schon Völker und Rassen gesehen, in denen haben voll und ganz die Weibchen das Sagen und die Männchen werden nur zu Fortpflanzungszwecke gehalten. Ich denke nicht, dass es festgefahrene Raster gibt, in welchen man sich ausschließlich zu bewegen hat."
Es klopfte an der Türe und sie öffnete sich ohne Aufforderung einen Spalt. Lilian hatte die Türe bei ihrem Eintreten geschlossen; eigentlich ein Zeichen, dass sie ungestört sein wollten.
"Entschuldigen sie bitte“, sagte die höfliche Stimme eines Robot-Dieners. "Ein gewisser General Treece wünscht Commander Okopaido zu sprechen. Darf ich ihn hereinbitten?"
Nandra war von ihrem Sitz gesprungen und starrte die spaltbreit geöffnete Türe mit angehaltenem Atem an.
"Bitten sie ihn herein“, rief Lilian für ihre Freundin. Sie verengte ihre Augen, als sie Nandra eingehend betrachtete und schien bereits die richtigen Schlüsse gezogen zu haben. Sie erhob sich ebenfalls, wand sich um und präsentierte dem Eintretenden, wie es die Etikette vorschrieb, ihr Gesicht. Als sie einen feschen, jungen Mann, in der grauweißen Galauniform der Bodentruppen eintreten sah, dachte sie für einen Moment, dass sie mit ihrer ersten Vermutung vollkommen falsch gelegen war. Doch als sie Nandras Blick sah, war sie sich wieder sicher.
"General Treece“, rief sie und ging dem Mann entgegen. Sie hielt ihm ihre Fingerspitzen hin, die er gefällig entgegennahm und einen flüchtigen Kuss darauf hauchte. "Ich hörte schon so vieles über sie. Ich wurde aber dennoch vollkommen überrascht. Verzeihen sie, ich bin Lilian Tasslories, eine gute Freundin von Nandra."
"Es ist mir ein Vergnügen“, erwiderte Treece den höflichen Ton und schenkte ihr ein kleines Lächeln.
"Ich lasse euch nun allein, hoffe aber, dass ich später noch Gelegenheit bekommen werde, sie näher kennen zu lernen."
"Ich stehe zu ihrer Verfügung“, gab er nickend von sich, hauchte abermals auf ihre Fingerspitzen und ließ sie mit einem weiteren Lächeln davon schweben. "Commander Okopaido“, begrüßte er Nandra sachlich, als sie endlich allein waren und nickte ihr zu, wie es zwischen höhergestellten Offizieren, außerhalb ihres Kompetenzbereiches üblich war. Nandra war nicht im Dienst und Treece besaß außerhalb von Trenkjar keinerlei Befugnisse.
"Ich hatte wirklich schon damit gerechnet, achtzig Jahre warten zu müssen, bis ich dich wiedersehe“, erwiderte sie, aufgrund der nüchternen Begrüßung, kalt und enttäuscht. "Aber dass es nicht einmal zehn Monate benötigt, um alles zu vergessen, hatte ich nicht erwartet."
"Mein Erscheinen allein muss doch schon Beweiß dafür sein, dass ich nicht alles vergessen habe“, sagte er mit einem dezenten Schmunzeln um seine Mundwinkel. "Ich, meinerseits hatte schon befürchtet, dass ich einen Tritt in den Hintern bekomme, sollte ich es jemals wagen, wieder in deiner Nähe aufzutauchen."
Nandra sah hoch und blickte in seine Augen. Ihre Lippen begannen zu zittern. Dann wand sie das errötende Gesicht zur Seite und presste ihre bebenden Lippen zusammen.
"Ist auf Trenkjar endlich alles geregelt?", wollte sie wissen, als sich ihre Nerven wieder etwas beruhigt hatten.
"Ganz im Gegenteil. Dort herrscht zur Zeit ein einziges Chaos." Seine Stimme kam langsam näher. "Ganz abgesehen davon, dass mir mein Leben plötzlich öde, leer und sinnlos vorkommt, muss ich gestehen, dass mein Besuch hier nicht ganz uneigennützig ist."
Nandra wand sich wieder um und fand sich beinahe Nasenspitze an Nasenspitze mit dem Trenkjar und schluckte den dicken Kloß hinunter, der sich urplötzlich in ihrer Kehle gebildet hatte. Sie hob ihr Kinn, um ihm besser in die dunklen Augen, die sie so sehr vermisst hatte, sehen zu können und wurde auch schon geküsst. Sie zögerte etwas, doch dann machten sich ihre Arme selbständig und sie umschlang ihn, wie einen heißersehnten Geliebten - was er im Grunde auch war.
Das Wiedersehen fiel gänzlich anders aus, als es sich Nandra ausgemalt hatte. Sie war nervös, unsicher und fühlte sich wie ein tölpelhafter Teenager, der zum ersten Mal mit der Liebe konfrontiert worden war. Treece drückte sie an sich, worauf sich der aufgebauschte Reifrock ihres Kleides aufbäumte und ihre Beine bis zu den Oberschenkeln entblößte. Doch dies störte die beiden im Moment wenig. Als sie nach einem langen leidenschaftlichen Kuss und einer innigen Umarmung endlich voneinander ließen, standen sie sich einfach gegenüber und blickten sich stumm an.
"Heißt das, ich hätte noch länger warten müssen?", fragte sie, als sich ein Verdacht immer mehr erhärtete.
"Im Grunde schon“, gestand er. "Es begann allmählich in immer besseren Routinen zu laufen, als ich eine Meldung vom Verwaltungsrat erhielt. Aufgrund eines kürzlich erlassenen Beschlusses soll für alle bislang autonom verwalteten Bezirke ein Sektionsverwalter bestellt werden. Auf meine Petition, für unseren Bezirk, dem Jeeran-System, auf den Sektionsverwalter zu verzichten, erhielt ich eine Ablehnung. Und deswegen bin ich hier. Falls ich die Herren des Verwaltungsrates nicht davon überzeugen kann, auf die Ernennung zu verzichten, möchte ich mich für dieses Amt aufstellen lassen."
"Das wird schwer sein“, sagte sie und schob sich etwas zurück. Treece hatte sie während seiner Erklärung nicht aus seinen Armen gelassen. "Wenn sie dir auch den Generalsposten aus Bequemlichkeit zuerkannt haben, aber den Sektionsverwalter werden sie dir niemals zugestehen. Aber warum willst du dich eigentlich dagegen wehren?"
"Einer der wichtigsten Aufgaben des Sektionsverwalters ist es, das für seine Region wirtschaftlich Bestes zu erreichen, das bedeutet die Ausnutzung der vorhandenen Substanz. Und das wird zumindest für Trenkjar verheerend sein."
"Woher willst du das wissen?"
"Das haben schon viele vorher versucht und jedes Mal endete es in einer Katastrophe. Ich weiß nicht warum - unsere Historiker streiten sich um die Erklärungen - aber Trenkjar scheint etwas gegen die Ausbeutung zu haben. Jedes Mal wenn versucht wurde, an die reichhaltigen Bodenschätze zu kommen, gab es tödliche Naturkatastrophen, gigantische Flutwellen oder Epidemien, gegen die es keine Gegenmittel gab. Und jedes Mal wurde nahezu die gesamte Bevölkerung ausgelöscht. Danach führte die Evolution das Leben auf Trenkjar schließlich jedes Mal näher an sich heran, das heißt, dass wir vielleicht irgendwann nicht mehr in der Lage sein werden, uns oberhalb der Wasseroberfläche aufzuhalten." Er ließ Nandra gänzlich los und begann im Zimmer auf und ab zu spazieren. Sein Anliegen schien ihn ziemlich zu beschäftigen. "Mein Vater und meine Ahnen“, fuhr er fort. "Besaßen die Politik, alle Macht an sich zu binden, um etwaige Entscheidungen nur von einer Stelle aus zu fällen und so irgendwelche Aktionen in diese Richtung rechtzeitig unterbinden zu können. Aber dies ist in unserer Zeit einfach nicht mehr möglich. Wie schnell kann sich ein Einzelner irren und damit über das Schicksal eines ganzen Volkes entscheiden. Ich versuchte mein Volk so gut ich konnte, davon zu überzeugen, dass sie über sich selbst bestimmen müssen, dass sie einen Teil der Verantwortung tragen und auch die Konsequenzen zu nehmen wissen müssen. Es gelang mir wirklich gut. Sie begannen Gefallen daran zu finden. Doch dann kam der Verwaltungsrat und alles geriet wieder aus dem Häuschen." Er blieb stehen und blickte sie etwas verzweifelt an. "Wenn es mir nicht gelingt, es ihnen auszureden oder mich selbst für den Posten aufstellen zu lassen, sehe ich eine ziemlich düstere Zukunft für Trenkjar."
"Da hast du dir einen ganz schön harten Brocken vorgenommen“, gab sie feststellend von sich. "Wenn es dir tatsächlich gelingen sollte, wirst du für nichts mehr Zeit haben."
"Ich musste mich in meinem Leben, schon durch so viele schwerverdauliche Brocken beißen, dass mir das hier wie eine Abschlussarbeit vorkommt." Er räusperte sich. "Der eigentlicher Grund für meinen Besuch ist, dass ich um deine Hilfe bitten wollte."
"Meine Hilfe? Wie könnte ich dir helfen?"
"Sei mir nicht böse, aber ich hoffte, du würdest für mich deine Beziehungen spielen lassen. Auf dem herkömmlichen Weg ist leider nichts zu erreichen."
"Das ist ziemlich dreist, findest du nicht?", gab sie entrüstet von sich und musste sich setzen.
"Ich fühle mich nicht sonderlich wohl dabei“, gestand er. "Mir widerstrebt es normalerweise irgend jemanden auszunutzen. Aber diesmal geht es mir allein um das Wohl und die Zukunft meines Volkes."
"Was ist mit unserer Zukunft? Gibt es die überhaupt?"
"Ich hoffe schon“, sagte er und ließ sich vor ihr auf die Knie nieder. "Ich dachte eigentlich mein Versprechen einzulösen, falls wir Erfolg haben sollten. Denn dann würde ich jede unterstützende Hand gebrauchen und wenn sie nur dafür da war, mich mit ihrem Anblick wieder aufzuheitern."
Nandra musste sich ein geschmeicheltes Lächeln verkneifen.
"Und wenn wir keinen Erfolg haben?"
"Dann ist es besser, wenn ich mich nach einem anderen Betätigungsfeld umsehe. Dann werde ich auch mehr Zeit haben, als mir lieb ist. Vielleicht heuer ich dann auf der Ashantin als Kasinostuart an."
Diesmal konnte sich Nandra nicht mehr zurückhalten. Sie kniff ihre Lippen zusammen, ihr Lächeln war dennoch zu erkennen. Der gewisse Glanz in ihren Augen ließ sich ebenfalls nicht einfach verbergen.
"Ich glaube, ich bin dir auch eine Erklärung darüber schuldig, warum ich dein Angebot ablehnte“, fuhr er fort und nahm ihre Hände in die seinen. "Ich geriet in Panik. Ich hatte mir soviel vorgenommen, dass ich befürchtete nichts mehr zu Ende bringen zu können. Ich hatte Angst, meine Gedanken nicht mehr richtig sortieren zu können und irgendwann den Überblick zu verlieren, was zu jenem Zeitpunkt als wir uns trafen ohnehin schon sehr anstrengend war. Ich hatte einfach Angst zu versagen und wieder zu dem Standpunkt zurückkehren zu müssen, von dem aus ich gestartet bin."
"Das kann dir immer noch passieren."
"Das ist bereits passiert“, gestand er verlegen. "Zeitweise wusste ich gar nicht mehr, was ich nur wenige Minuten zuvor gesagt hatte. Und ich bin sogar ein paar Mal nach Sthii hinaus, nur um auf dem Freideck der Senderinsel in die Sterne zu starren."
Nandra musste kichern.
"Ich benehme mich wie ein verliebter Ere-Bulle, nicht wahr?", fragte er lächelnd und führte ihre Hände zu seinen Lippen. "Bitte verzeih mir, dass ich dich derart vor den Kopf stieß. Ich werde es niemals wieder tun. Ich habe meine Lehren daraus gezogen."
"Ich weiß nicht, wie sich Ere-Bullen benehmen“, gab sie zurück und näherte sich seinen Lippen. "Aber es ist mehr, als ich von unserem Wiedersehen erwartet hatte." Damit vereinigten sie sich wieder zu einem leidenschaftlichen Kuss. Als sie sich wieder trennten, waren sie sich mit ihrer Versöhnung einig.
"Ich sehe nur die eine Möglichkeit“, sagte Nandra. "Ich muss mit meinem Vater sprechen. Er muss dich als Sektionsverwalter des Jeeran-Systems vorschlagen. Seine Empfehlung wirkt manchmal wahre Wunder."
"Es wäre mir eine Ehre, deinen Vater, Admiral Okopaido endlich kennen zu lernen."
"Freue dich nicht zu früh“, warnte sie schmunzelnd. "Mein Vater ist eine harte Nuss. Aber wenn man ihn zu nehmen weiß, ist er ganz umgänglich." Sie erhob sich. "Komm mit. Ich stelle dich ihm vor."
* * *
Der Admiral stand wie eine weißhaarige, lebensechte Statue zwischen einigen Offizieren und überblickte das Treiben der beschwingten Ballgesellschaft mit den prüfenden Blicken eines darauf trainierten Soldaten. An seiner Brust prangten all seine Orden und Auszeichnungen, die er in seiner ganzen Laufbahn gesammelt hatte, so als wolle er damit prahlen und der Öffentlichkeit beweißen, war für ein fähiger Mann er sei. Seine Uniform war tadellos, wies die vorgeschriebenen Bügelfalten an der richtigen Stelle auf und war, trotz der Hitze im Saal, vorschriftsmäßig bis unter den Kehlkopf zugeknöpft. Die Mütze seiner weißen Galauniform saß korrekt auf seinem schütteren Haupt und das Hoheitszeichen des Königs blitzte und blinkte, als würde er es alle fünf Minuten von neuem polieren. Den Spazierstock, der ihm inzwischen auch als Gehhilfe fungieren musste, lag locker in seiner Hand. In der anderen hielt er ein halb geleertes Glas Schaumwein, als gehöre es zu ihm, wie der Leberfleck auf seiner linken Wange, der sich im Laufe der Jahre immer mehr ausbreitete.
Als er seine Tochter auf sich zukommen sah, hob er eine Augenbraue, ließ sich aber sonst zu keiner weiteren Äußerung verleiten. Zuletzt hatte er Nandra vor über eineinhalb Jahren zu einem Gespräch von ganzen zehn Minuten überreden können. Dann waren sie wutentbrannt auseinander gestoben und hatten es vermieden, sich wieder über den Weg zu laufen.
"Vater“, rief Nandra und setzte ihr gefälligstes Lächeln auf.
"Ich dachte schon, du würdest mich bis ans Ende meiner Tage ignorieren“, gab er kühl von sich und betrachtete ihren ungewohnten Aufzug. In Uniform schien sie ihm besser zu gefallen.
"Ich hatte nur keine Lust, mir diesen Abend schon von Anfang an verderben zu lassen“, erwiderte sie ebenso und hauchte einen annähernd höflichen Kuss auf die narbige Wange ihres Vaters, knapp oberhalb des auffälligen Leberfleckes.
"Wenn du zu mir kommst, willst du etwas von mir“, sagte er wissend. "Was ist es denn diesmal?"
"Ich möchte dir General Janol Treece vorstellen“, ging sie sofort darauf ein. "Er ist Kommandeur des Außenstützpunktes auf Trenkjar." Sie deutete auf den Mann neben sich, der gemäß Vorschrift stramme Haltung angenommen hatte und vor dem Hochrangigeren salutierte.
"Das ist kein offizieller Anlass“, brummelte der Admiral und warf einen missbilligenden Blick auf dessen Schärpe, mit den fremdartigen Schriftzeichen. Aber als er das Hoheitszeichen des Königs darauf erkannte, lockerte sich sein strenger Blick wieder etwas. Er wusste, dass einige Außenposten Eigenkennzeichnungen entwickelten, die vom Tribunal jedoch weitgehend gebilligt wurden. "Stehen sie bequem. General Treece? Habe ich richtig gehört?"
"Jawohl, Admiral Okopaido“, antwortete Treece zackig. Vor der Raumkommandeurin hatte er nicht annähernd soviel Respekt und Ehrerbietung gezeigt, wie vor deren Vater. Aber schließlich wollte er auch etwas von ihm und allein schon deswegen musste er die Hierarchie beachten.
"Sie erscheinen mir etwas zu jung für diesen Posten."
"Ich erbte den Titel von meinem Vater. Aber ich verfüge über sämtliche Beglaubigungen und Amternennungsurkunden."
"So?" Der alte Okopaido musterte ihn prüfend. "Ich nehme an, sie gehören zu den Wunderknaben, die sich für etwas besseres halten."
"Wunderknabe vielleicht“, gab Treece kühn und selbstsicher zurück. "Aber etwas besseres bin ich wirklich nicht."
Der Admiral räusperte, spielte mit seinem Spazierstock und wandte sich wieder an seine Tochter. "Und was wollt ihr von mir? Diese Vorstellung gebt ihr doch nicht etwa nur, damit ich neue Leute kennen lerne, oder?"
"General Treece möchte sich für das Amt des Sektionsverwalters bewerben, welcher für das Jeeran-System neu eingerichtet wird. Ich dachte mir, du könntest vielleicht ein gutes Wort für ihn einlegen."
"Wer Sektionsverwalter wird, hat nur der Verwaltungsrat zu entscheiden“, knurrte der Alte.
"Du hast Freunde im Verwaltungsrat“, wusste Nandra. "Du brauchst nur einmal kurz seinen Namen zur Sprache zu bringen."
"Warum sollte ich einen grünschnabeligen Emporkömmling auf einen derart verantwortungsvollen Posten empfehlen?", maulte er gereizt. "Der Verwaltungsrat wird schon wissen, wen er dafür aussucht."
"Das ist es ja gerade. Der Verwaltungsrat hat keine Ahnung, wie die Zustände im Jeeran-System wirklich sind. General Treece ist sozusagen ein Einheimischer. Sein Heimatplanet, Trenkjar, befindet sich mitten in diesem Sektor. Kein Anderer, könnte die Interessen von Jeeran nach außen hin besser vertreten, als er."
"Soll das etwa eine Wahlpropaganda sein?", bellte der Admiral. "Warum hast ausgerechnet du ein solches Interesse daran, dass der Junge Sektionsverwalter wird?"
"Ich bin ihm etwas schuldig“, erklärte sie mit einem kurzen Seitenblick zu dem Trenkjar. "Er war mir bei meinen Ermittlungen mit den Extramuros sehr behilflich. Ohne ihn hätte ich es niemals so schnell aufklären können."
"So?", machte der Vater ungläubig und beäugte beide kritisch. "Das überzeugt mich nicht sonderlich. Schon manche Teufel haben Anderen hilfreich unter die Arme gegriffen, um selbst ungeschoren davon zu kommen."
"Willst du etwa behaupten, dass General Treece etwas mit der Sache zu tun hat?"
"Wer weiß? Man macht sich eben so seine Gedanken."
"Sie haben Recht, Admiral“, mischte sich der Trenkjar in das beginnende Streitgespräch ein. "In der Tat habe ich etwas mit der Sache zu tun. Ich ließ es zu, dass einige meiner Leute Kontakt zu kriminellen Organisationen knüpften. Und ich ließ es zu, dass sie sich unbemerkt auf Trenkjar einnisten konnten. Wegen der ökologischen Zustände auf Trenkjar sind derartige Aktionen von meinem bisherigen Standpunkt aus leider nur schwer zu überblicken. Zudem verfüge ich auch nicht über ausreichend Material und Männer, um eine flächendeckende Überwachung aufzustellen."
"Als Sektionsverwalter denken sie, die Sache dann besser im Griff zu haben, was?" gab Admiral Okopaido scharf von sich.
"Zumindest ermöglicht es mir, von einer uneingeschränkten Position aus Beobachtungsposten einzunehmen. Wenn man mitten in einem abgeschirmtem Nest sitzt, erkennt man die Gefahr leider erst spät."
"Ich denke nicht, dass es so gut wäre, jemanden für dieses Amt zu ernennen, der schon mit sich selbst überfordert ist“, bemerkte der Alte.
"Ich sagte nicht, dass ich mit mir selbst überfordert bin“, wies Treece energisch zurück. "Ich sagte, dass Trenkjar der ideale Platz für ein sicheres Versteck sei. Durch sein natürliches Schutzschild dringt absolut nichts und selbst auf dem Boden, können unsere Ortungsgeräte kein einziges Zenzre weit sehen. Ein Beobachtungsposten von einem benachbarten Planeten aus wäre wesentlich effektiver. Dadurch würden solche Zwischenfälle gar nicht erst auftauchen."
"Sie brauchen mir keine Rechtfertigung für ihr Versagen präsentieren“, entgegnete der Admiral schroff.
"General Treece beabsichtigt keineswegs, sich zu rechtfertigen“, rief Nandra entrüstet. "Er will mithelfen, die Zustände zu verbessern."
"Mir kommen gleich die Tränen. Verschwindet, bevor ich euch beide die Hosen stramm ziehe." Damit war für ihn die Unterhaltung beendet. Er nahm seinen Blick abrupt von den beiden und ließ ihn erneut prüfend über die restliche Ballgesellschaft gleiten.
"Das wäre nicht das erste Mal“, bemerkte Treece mit einem arroganten Lächeln, salutierte und ließ sich von der beleidigten Nandra fortziehen.
"Alter, verbohrter Ignorant“, schimpfte sie, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte.
"Ich weiß nicht, aber ich hatte eher den Eindruck, dass ich ihn beeindrucken konnte."
"Ihn beeindrucken?", rief Nandra ungläubig. "Vater lässt sich von nichts beeindrucken. Nicht einmal wenn man rot vor Zorn mit den Füßen aufstampft und vor Wut Schaum vor dem Mund bekommt. Wenn er sich einmal eine Meinung zu einem Thema gebildet hat, ist er nur schwer wieder davon abzubringen."
"Ich denke, dass du vielleicht überrascht wirst."
Sie blieb stehen und wand sich zu ihm um. "Hältst du das eben geführte Gespräch in der Tat für erfolgreich?"
"Irgendwie schon. Und mein Gefühl hat mich bisher noch nie verlassen."
"Pah“, machte sie, wirbelte herum und zerrte ihn mit sich. "Ich kenne noch jemanden, der dir eventuell helfen könnte."
Treece blieb stehen, als er eine Gruppe von Männern entdeckte, auf die ihn Nandra geradewegs zuführte.
"Was ist los?", wollte sie wissen und blickte sich fragend um. "Hast du keine Lust mehr auf Wahlpropaganda?"
"Mir wäre es lieber, wir würden dieses Gespräch auf später verschieben“, erklärte er, als er der Gruppe den Rücken zugewandt hatte.
"Warum? Mein Onkel ist Senatsmitglied und wesentlich aufgeschlossener als mein Vater. Du musst mit ihm sprechen."
"Ich meinte damit nicht deinen Onkel direkt, sondern die Gesellschaft, in der er sich im Moment befindet."
"Warum? Was ist damit?" Nandra besah sich die Männer, mit denen ihr Onkel in ein Gespräch vertieft war. Sie konnte einige weitere Senatsmitglieder erkennen, einige andere hochrangigere Herren und den ältesten Sohn des Königs, dessen Auftauchen wohl dieser Feierlichkeit eine besondere Note verleihen sollte. Sie verzog kurz ihr Gesicht, denn der Prinz war ihr schon immer etwas unangenehm gewesen. Er war verzogen, arrogant und sich seiner Person so stark bewusst, dass es schon schmerzte. "Was ist los? Was stört dich daran?"
"Prinz Rajan“, erklärte Treece. "Es ist nicht der Zeitpunkt, um eine Prügelei anzufangen."
"Prügelei?"
"Ich bin ihm noch ein Duell mit Fäusten schuldig“, berichtete der junge General. "Mir widerstrebt es jedoch, dies jetzt und hier zu tun." Er zuckte zusammen, als sich ihm eine Hand auf die Schulter legte.
"Treece!", rief der Prinz und drehte den Trenkjar an dessen Schulter halb zu sich herum. "Sieh mal einer an. Was macht eine Laichqualle wie du hier?" Der Prinz in seiner strahlenden weißen Festtagsrobe mit den goldenen Säumen und den aufgestickten Edelsteinen, machte wie immer eine gute Figur. Die blonden Haare sorglich gekämmt und mit einem Hauch von Glitzerpuder versehen - die neueste Marotte bei Hofe - und etwas alkoholisierter Röte im Gesicht, die auch seine hellblauen Augen mehr denn je strahlen ließ. Der Prinz wie er leibte und lebte, ständig mit einigen Speichelleckern im Schlepptau und einem eingefrästem, überheblichem Grinsen im Gesicht.
"Wenn ich vorher gewusst hätte, dass du dieses muntere Treiben hier mit deinem miesen Atem zu verpesten gedenkst, hätte ich Giftgasalarm gegeben“, knurrte der Trenkjar zurück.
Nandra zeigte sich überrascht über die Art, wie die beiden miteinander sprachen. Dass sie sich nicht ausstehen konnte, war ihnen unschwer anzusehen.
"Oho“, machte der Prinz beeindruckt und ließ sein für ihn typisches arrogantes, hechelndes Lachen ertönen. "Du hast dazu gelernt, Treece. Oder traust du dich etwa nur, weil du dich in der Gesellschaft der wohl begehrtesten Jungfrau im ganzen Reich meines Vaters befindest." Er gedachte Nandras Hände zu nehmen, um einen Kuss auf ihre Fingerspitzen zu drücken. Doch Nandra entzog sie ihm, was sie nicht nur wegen seiner schwitzigen Hände tat, die sie schon immer gehasst hatte. In der Gegenwart von Treece wagte sie es zum ersten Mal, sich gegen die Etikette zu stellen und sie ihm zu verweigern.
"Im Gegensatz zu manch anderen, brauche ich mich nicht hinter starken Frauen zu verstecken“, gab Treece kühn zurück, was im Moment eher einer Lüge gleichkam. Doch er schien damit auf einen zurückliegenden Vorfall andeuten zu wollen. "Wo ist sie eigentlich? Breitet sie ihren Rock noch immer schützend über deinem Kopf aus?" Er sah sich kurz suchend um. "Ich fand es damals schon amüsant, wenn ein halbwüchsiger Mann noch von seiner Amme begleitet wird."
"Sie war nicht meine Amme, sondern meine Leibwächterin."
"Dafür erschien sie mir etwas zu alt, zu beleibt und etwas zu vollbusig“, antwortete Treece, bevor Rajan mit einer weiteren Bemerkung für Auflockerung sorgen konnte.
Rajans Augen begannen vor Verärgerung zu funkeln. Sein Mund öffnete sich und schloss sich auch wieder, als er sich seine Äußerung anders überlegte. Er sah sich kurz nach einem Sympathisant um und bedachte irgendjemanden mit seinem schmalen, überheblichen Grinsen. Doch dann wirbelte er wieder herum, packte den Trenkjar an seiner Schärpe und zog ihn so ruckartig an sich, dass der Stoff knirschte.
"Hör mir zu, du neunmalkluger Emporkömmling“, stieß Rajan wütend hervor. "Du bist mir noch etwas schuldig. Wir können es gleich jetzt und hier zu Ende bringen."
"Hör mir zu, du verzogenes Frettchen“, zischte Treece, schlug die Hand von seiner Schärpe, krallte sich seinerseits in den teuren Stoff der Festtagsrobe des Prinzen und zog ihn bis an seine eigene Nasenspitze heran. "Du bist mir etwas schuldig. Schon vergessen? Ich bestimme, wann und wo es passiert. Ich bestimme die Waffen und die Arena, hast du verstanden? Wir werden es wie erwachsene Männer ausfechten und nicht wie überdrehte Kinder. Keine grölende Fangemeinde, keine versteckten Heckenschützen."
"Hast du etwa Angst?", gab Rajan sichtlich beeindruckt von sich. Er versuchte, es sich jedoch nicht allzu sehr anzumerken und setzte ein breites Grinsen auf.
"Nein. Ich möchte dir nur eine weitere Blamage ersparen. Es wäre doch zu albern, wenn der Königssohn vor versammelter Mannschaft den Hintern stramm gezogen bekäme." Damit ließ er ihn endlich los, stieß ihn sogar von sich, so dass der Prinz einen Schritt rückwärts stolperte.
Rajan hechelte verlegen, vergaß dabei aber nicht, sein aufgesetztes Grinsen zu präsentieren. Er blickte sich um und versuchte einige sympathisierende Gesichter zu entdecken, denen er mit seinem überragenden Blick Respekt einflößen und sie für sich überzeugen konnte. Doch keiner der Umstehenden, die sich aufgrund des rasch impulsiv gewordenen Gespräches um die drei versammelt hatten, schien ihm seine Sympathie geben zu wollen. Stattdessen entdeckte er nur belustigte Blicke, die den Trenkjar anzufeuern schienen. Insgeheim wusste er, dass er unbeliebt war. Doch sein verzogener Charakter gestattete es ihm nicht, dies einzugestehen. Er wirbelte herum, rempelte wütend einige Zuschauer zur Seite und flüchtete davon.
"Dich mit dem Prinzen anzulegen, ist in deiner jetzigen Lage nicht unbedingt klug“, gab Nandra vorsichtig von sich, hatte aber für den Zwischenfall dennoch ein amüsiertes Schmunzeln übrig. Sie stand mit ihrem Wunsch nicht allein. Einige der Umstehenden lachten und unterhielten sich leise darüber, dass der Prinz fürwahr längst eine Tracht Prügel nötig hätte.
"Dieser verzogene Bengel gehört für alle Ewigkeit in eine Dunkelkammer gesperrt“, schimpfte Treece, nahm Nandra bei der Hand und führte sie aus dem engen Pulk heraus, der sich um sie gebildet hatte. "Ich hätte dem Beispiel meines Vaters schon viel früher folgen sollen. Nur schade, dass ich damals kein Ausbilder, sondern nur ein Offiziersanwärter kurz vor dem Abschluss war."
"War es wirklich seine Amme?", erkundigte sie sich neugierig.
Der Trenkjar nickte. "Er war noch minderjährig und schleppte seinen ganzen Hofstaat samt Amme mit auf die Akademie. Er spielte sich auf, wie der König persönlich, bis wir Zwei eines Tages unvermittelt aufeinander trafen. Das Schicksal seines Vaters wäre ihm wahrscheinlich ebenfalls widerfahren, wenn seine Amme nicht einige schlagkräftige Argumente dagegen gebracht hätte. Sie war eine wirklich kräftige und resolute Frau, die ihre Schäfchen durchaus zu verteidigen wusste."
Ein Lächeln tanzte um Nandras Lippen und sie hielt an, als sie ihren Onkel entdeckte. Er hatte das Geschehen ebenfalls beobachtete und erwiderte ihr Lächeln, als er die beiden auf sich zukommen sah.
"Wer auch immer sie sind, junger Mann“, sagte der Onkel, bevor auch einer von ihnen eine Begrüßung hervorbringen konnte. "Aber die Feindschaft der falschen Leute zu gewinnen, wirkte sich immer unvorteilhaft aus, so schlecht auch deren Charakter sein mag. Guten Abend, meine Liebe“, wand er sich an das Mädchen und drückte sie kurz aber herzlich an sich. "Was führt dich zu mir?"
* * *
Aufgrund des warmherzigeren Empfanges verweilten die beiden länger bei dem Senator, als Nandra in den letzten fünf Jahren mit ihrem Vater verbracht hatte. Sie unterhielten sich beinahe über vier Stunden und der Abend begann sich allmählich zu neigen.
Einige der illustren Gäste waren schon gegangen und die Tanzfläche, die Nebenzimmer, die Sitzgruppen und die Plätze an den verschiedenen Bars lichteten sich langsam. Es musste schon weit nach Mitternacht gewesen sein, als der Senator ein Gähnen unterdrückte und Nandra mit einem Blick verständlich machte, dass er sich bald zurückziehen wollte. Doch noch bevor er sich verabschiedete, versprach er den beiden, am nächsten Tag dem Verwaltungsrat eine Empfehlung auszusprechen.
Frohen Mutes schritten sie in die kühle Nachtluft hinaus und noch während sie die breite, steinerne Portale des Palastes hinunterspazierten, beobachteten sie die Abfahrt einiger Schwebedroschken und bereiften Limousinen. Da Nandra mit Lilians Droschke gekommen war, Treece sich vom Transferdienst des Raumhafens hatte zum Ball chauffieren lassen und aufgrund der allgemeinen Aufbruchstimmung sämtliche Transfertaxis unterwegs waren, entschlossen sie sich, zu einer wenige Meter entfernten privaten Mietwagengesellschaft zu spazieren. In ihrer neugewonnenen Euphorie, wollten sie einfach nur die Nachtluft genießen und ihren vermeintlichen Erfolg zu besprechen.
Nandras Kleid offenbarte viel von ihrem Dekoltee und ließ ihre Schultern gänzlich unbedeckt. Sie fröstelte, als ein kühler Hauch über ihre nackte Haut strich. Sie schalt sich, nicht an einen Schal oder einen Umhang gedacht zu haben. Als sie den Ball betraten, war es noch früher Nachmittag gewesen und die Sonne hatte ihre bloßen Stellen gewärmt. Ehe sie den jungen General darum bitten konnte, streifte er seine Schärpe ab und entledigte sich seiner Uniformjacke, um sie ihr über die Schultern zu legen.
Nandra fühlte sich wohler denn je und schenkte ihm ein aufrichtiges und dankbares Lächeln. Wenn ihr das Glück vielleicht noch länger hold blieb, versprach der Rest der Nacht vielversprechend und anregend zu werden. Noch nie war sie so bereit gewesen, sich einem anderen Wesen hinzugeben. Noch keinem einzigen Wesen hatte sie je gestattet, derart über sie zu verfügen.
Scheinwerfer, die wie grelle Sonnen um das Portal errichtet worden waren, erhellten auch die Straße vor dem Palast in beide Richtungen. Immer länger werdende Schatten schritten ihnen voran. Um die nächste Ecke gebogen, war von der Helligkeit allerdings nicht mehr viel übrig geblieben und die Schatten verflossen mit der allgemeinen Dunkelheit.
Kaum waren die beiden in die Nacht eingetaucht, hallte eine laute Stimme durch die Straßen.
"Treece“, schrie jemand. Dann zerplatzte auch schon die Dunkelheit in einem weithin hörbaren elektronischen Knall und den Trenkjar fegte es von den Beinen. Noch ehe Nandra begreifen konnte, was passiert war, noch ehe sie sich umdrehen und den nächtlichen Anrufer erkennen konnte, wurde der General aus ihrer Hand gerissen und in ein Blumenbeet geschleudert. Für einen Moment war sie nicht in der Lage zu handeln, zu schreien oder sich zu bewegen. Erst als sie ein Stöhnen vernahm, ging ein Ruck durch sie und sie stürzte sich zu Treece.
Seine helle Uniform färbte sich in der Brustgegend schnell dunkel. Blut rann aus seinem Mundwinkel. Er versuchte sich aufzurichten, doch Nandra drückte ihn zurück, riss Rüschen und Stoffstreifen von ihrem Kleid ab und drückte es auf die Wunde. Der Knall hatte einige Hofdiener, die den Ballgästen dabei halfen, in ihre Droschken zu steigen, auf das Geschehen aufmerksam gemacht und sie liefen sogleich herbei. Einer von ihnen, sprach noch im Näherkommen in ein Interkom und ortete einen Arzt.
"Dieser verdammte Bastard“, stieß Treece mit einem Schwall Blut hervor.
"Hör auf zu reden, Janol“, schimpfte sie, während sie mit der einen Hand Stoffstreifen auf die Wunde drückte und mit der anderen Hand weitere provisorische Verbände von ihrem Ballkleid abriss. "Deine Lunge ist getroffen. Du musst versuchen, langsam und gleichmäßig zu atmen. Wann kommt ein Arzt?", rief sie hektisch einem der Diener zu.
"Er ist informiert. Es kann sich nur noch um Minuten handeln“, versuchte sie einer der Diener zu beruhigen. Er zog seine Jacke aus und schob sie dem Verletzten unter den Kopf. Es war ein hagerer, bleichhäutiger Junge, der auf derartige Notfälle geschult zu sein schien. Er beäugte sich kurz die Wunde und schüttelte den Kopf. "Da hilft kein Druckverband“, sagte er fachmännisch. "Die Wunde ist zu groß. Er verblutet innerlich. Er wird ersticken."
"Nein, wird er nicht“, wusste Nandra und beobachtete mit aufsteigender Panik, wie die Augenlider des Verletzten zu flattern begannen. "Er besitzt Kiemen."
"Das wird ihm außerhalb von Wasser nicht viel nützen“, gab der Diener zurück. "Es sei denn, wir schaffen ihn augenblicklich in einen sauerstoffarmen Raum oder in eine Badewanne."
"Der Brunnen“, rief jemand in Nandras Rücken und nur einen Atemzug später wurde der Bewusstlose auch schon auf zahlreiche Arme gehievt und fortgeschleppt. Nur ein paar Schritte weiter, in der Dunkelheit verborgen, stand das flache Bett eines Springbrunnens, der aufgrund der nächtlichen Stunde ausgeschaltet worden war. Sie ließen ihn vorsichtig ins Wasser gleiten, befreiten seinen Oberkörper von sämtlichen Stoffen und sorgten dafür, das er mindestens bis zu den Schultern im Wasser lag.
Nandra begann zu zittern, als sich das Wasser rasch rot färbte. Endlich kam der Arzt herbeigeeilt. In seinem Schlepptau befand sich ein sogenannter Allzweckdroide, der sämtliche Ausrüstungsgegenstände, Lampen und mehrere Taschen und kleinere Koffer an seinem Leib festgeschnallt trug. Nandra zwang sich, ruhig zu bleiben und den Mediziner seine Arbeit tun zu lassen. Der Arzt war ein raupenähnliches Wesen, mit einem gestutzten Wollpelz auf dem Rücken, zwei lustig wippenden Antennen auf einem scheibenähnlichen Kopf und mindestens zehn flinken Armen, die sich gleichzeitig um die Verletzung, den vielen Taschen, einer Lampe und sich selbst beschäftigen konnten. Wie ein Bandwurm war er über den niederen Rand des Beckens gewuselt, hatte sich auf sechs Hinterbeine gestellt und sich wie ein Inferno über den Verletzten gebeugt.
Nandra versuchte ihr Zittern so gut sie konnte zu unterdrücken und als sie bemerkte, dass wieder Regung in den jungen General kam, nahm sie seine Hand und hielt sie fest und hoffte darauf, dass der Arzt seine Arbeit verstand. Es störte sie nicht, dass ihre Hände vom Blut des Verletzten klebten, dass Lilians Kleid, bis zur Unkenntlichkeit mit Blut besudelt, beschmutzt und zerrissen war. Und es interessierte sie nicht, ob die Umstehenden ihre verstohlenen Tränen bemerkten, die über ihre heiße Wange kullerten.
* * *
So sehr es Nandra auch versuchte, sie konnte keinen Schlaf finden. Sie war zwar von dem vielfüssigen Arzt nach Hause geschickt worden, um sich zu erholen. Denn mehr als ruhelos durch die Gänge des Hospitales wandern, würde sie die nächsten zwanzig bis dreißig Stunden ohnehin nicht tun können. Doch auch in ihrem Appartement, in welchem sie in den letzten Jahren nur sehr wenig Zeit verbracht hatte, spazierte sie nervös und in die wirrsten Gedanken versunken im Zimmer herum und schrak bis ins tiefste Mark zusammen, als die Türglocke ertönte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie weigerte sich einen Moment lang, sich zu bewegen, aus Angst, ein Bote könne ihr eine schlechte Nachricht überbringen. Doch als sie sich endlich dazu entschließen konnte, die Türe zu öffnen, blieb ihr der Mund vor Staunen offen stehen.
Ihr Vater stand vor ihr.
"Darf ich eintreten, oder sollen wir uns auf dem Korridor unterhalten?", fragte er barsch, als Nandra einfach nur an der geöffneten Türe stehen geblieben war. Sie schwang die Türe auf und ließ ihn ein.
"Ich muss ein ernstes Gespräch mit dir führen“, begann er sogleich und blickte sich prüfend um. Er schien auch nicht bei einem Privatbesuch aus seiner Haut zu können.
"Ich bin im Moment nicht in der Stimmung, mit dir Streitgespräche auszufechten“, entgegnete sie. "Können wir das auf später verschieben? Bitte!"
"Ich weiß, was heute Nacht passiert ist“, berichtete er, während er seinen Spazierstock in der Hand drehte. "Und genau deswegen bin ich hier. Du solltest dich immer daran erinnern, dass du eine öffentliche Person bist und dass jedermann dich beobachtet."
"Wen meinst du mit Jedermann? Dich?"
"Es war reiner Zufall, dass ich den Ball nur wenige Augenblicke nach euch verließ. Und was ich dort sehen musste, gefiel mir gar nicht."
"Was hast du denn gesehen?"
"Ich hatte den Eindruck, dass zwischen dir und dem jungen Treece mehr besteht, als nur ein gemeinsam ausgeführter Auftrag."
"So?", machte sie, wenig an seiner Meinung interessiert. "Bist du eifersüchtig?"
Der Spazierstock des Admiral zuckte kurz hoch. Er ließ ihn aber einen Herzschlag später wieder sinken. "Ich untersage dir diese Verbindung“, sagte er streng. "Weißt du überhaupt, wer er ist?"
"Ja, natürlich“, rief Nandra genervt. "Der Sohn, jenes Mannes, der dem König den Hintern versohlt hat. Ist es das, was du meinst?"
Okopaido hob einen Mundwinkel an. "Nicht ganz. Er ließ ihn auch mit nacktem Hinterteil durch die ganze Kaserne laufen."
Nandras Mund klappte zu. Sie blickte ihn fragend an.
"Ich war dabei. Der Lieutenant ließ die ganze Kompanie antreten, um der Züchtigung beizuwohnen. Wir mussten die Schläge zählen und dann fast drei Stunden hinter dem Gezüchtigten drein marschieren." Der Alte lehnte den Spazierstock einfach an die Wand und betrachtete seine Tochter lächelnd. "Ich verbiete dir nicht die Beziehung zu einem Mann, dessen Vater eine Handlung tat, die ihm anschließend das Lehramt kostete - wobei ich mir denken kann, dass es ihm das wert gewesen war. Er ist kein richtiger Mensch. Er ist ein Kiemenatmer."
"Das weiß ich. Und genau das hat ihm heute Nacht das Leben gerettet."
"Das interessiert mich nicht. Falls du jemals an Nachkommen denken solltest, verspüre ich nicht die geringste Lust, meine Enkelkinder durch die glibberige Schale von Laicheiern zu betrachten."
Nandra schnappte nach Luft, wie ein Fisch an Land. "Mach, dass du fortkommst“, rief sie in explodierender Wut. "Was interessiert dich denn neuerdings mein Leben? Ich verbiete es dir, dich jetzt und heute einzumischen. Verschwinde! Es ist mein Leben und mein Glück und das werde ich mit weder von dir, noch von einem rachelüsternen Hofzögling wieder wegnehmen."
"Du wirst ihn nicht wiedersehen."
"Weißt du, was du mich kannst?", schrie Nandra, riss die Türe auf und deutete auf den Korridor hinaus. "Suche dir einen schüchternen Kadetten, dem du etwas verbieten kannst. Bei mir hast du keine Chance mehr."
"Für wie gut hältst du ihn?", erkundigte sich der Admiral beinahe beiläufig.
Nandra musste erst einmal schlucken und starrte ihren Vater entgeistert an.
"Wieso?", fragte sie noch etwas sprachlos.
"Während du versucht hast, noch mehr Fürsprecher für ihn zu finden, unterhielt ich mich mit einigen Leuten“, berichtete er und begann, die offene Türe ignorierend, im Raum herumzuspazieren. "Der Junge hat viel von seinem Vater. Er ist pflichtbewusst, zielorientiert, entschlossen und resolut. Ich erfuhr, dass der junge Treece eine komplette Umstrukturierung des Verwaltungs- und Weisungssystems auf Trenkjar beabsichtigte, oder bereits ausgeführt hat. Falls es ihm wirklich gelungen sein soll, einen ganzen Planeten umzukrempeln, halte ich das für eine gute Referenz."
"Er sagte zumindest, dass es gut laufe“, berichtete sie, noch immer die Türe in der Hand. "Willst du damit sagen, du hältst ihn für fähig, das Sektionsverwaltersamt für Jeeran auszuführen?"
"Die Anregung, bislang sich selbst überlassene Systeme wie Jeeran mit einem Vertreter der Regierung zu versehen, stammte von mir“, gestand er und blieb an der Fensterfront stehen, wie eine gezielt platzierte Statue. Fürwahr schien er sich keine Sekunde lang dazu hinreißen lassen zu wollen, sein Kreuz locker zu lassen, oder das Haupt zu senken, als wäre die steife Haltung in all seinen Dienstjahren an ihm festgewachsen. "Systeme wie Jeeran und andere Provinzen und entfernte Kolonien können durchaus durch das engere Bündnis profitieren. Wir profitieren beide davon. Manche dieser selbstverwalteten Bezirke wissen gar nicht, was sie sind oder was sie besitzen. Aus ihnen könnten blühende Planeten hervorgehen, die nicht nur das Königreich, sondern auch sich selbst bereichern können."
"Dir ging es demnach nur um den Profit“, schlussfolgerte sie. "Ich dachte, du wärst Soldat und kein Geschäftsmann. Das hast du mir zumindest immer erzählt."
"Ich dachte dabei natürlich nicht nur an den Profit. Ich wollte auch eine engere Zusammenarbeit erwirken und die Lücken auf der Sternenkarte schließen."
"Du wolltest neue Rekrutenquellen auftun“, erkannte sie schließlich. "Damit du die Besetzungslücken auf den Kriegsmaschinerien füllen kannst. Habe ich Recht?" Sie schloss die Türe endlich und baute sich vor ihrem Vater auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch immer das blut- und schmutzbesudelte Ballkleid und Treece Uniformjacke trug. In der Klinik war sie gerade mal dazu gekommen, ihre Hände zu waschen. Aber im Großen und Ganzen trug sie noch immer die Auswirkungen des nächtlichen Geschehnisses zur Schau. Sie raffte die Jacke enger um ihren Leib, als sei das ihr letzter Hoffnungsanker und blickte den alten Admiral streng an. "Was willst du speziell von Jeeran?", wollte sie wissen.
"Nichts anderes, als was ich von den anderen Systemen verlange. Wie du bereits erraten hast. Wir brauchen Leute."
"Auf Trenkjar und vielen anderen Planeten des Jeeran-Systems sind bereits Operationsbasen stationiert. Das kann es demnach nicht sein. Also was ist es?"
Der Admiral löste sich von seinem Statuendasein und spazierte wieder durch das Zimmer. "Jeeran und Trenkjar kamen mir erst wieder in den Sinn, als dieser Treece auftauchte“, erzählte er. "Es gibt andere Systeme, die strategisch wichtigere und interessantere Punkte bieten. Aber nachdem du ein ernstes Interesse an ihm zu haben scheinst, ... ."
"Wirst du alles versuchen, um ihn von mir fernzuhalten“, vollendete sie den Satz. "Aber dies wird dir nichts nützen. Es ist mein Leben. Du kannst unternehmen, was du willst. Am Ende wirst du alles verlieren."
"Glaubst du das wirklich?" Er war stehen geblieben und erwiderte ihren harten Blick.
"Davon bin ich fest überzeugt“, gab sie entschlossen von sich und schwellte stolz die Brust in der Uniform ihres Geliebten. Sie wollte sich niemals wieder von ihrem Vater unterkriegen lassen und versuchte dies, so gut sie konnte, zu präsentieren.
Der Admiral schnaufte und fuhr in seinem Besichtigungsspaziergang fort. Obwohl er all die Jahre genau gewusst hatte, wo sie wohnte, hatte er sie niemals in ihrem Appartement besucht. Es war sein erster Besuch überhaupt und ihn schien, neben seinem eigentlichen Grund auch die Verhältnisse zu interessieren, in den sie zu hausen pflegte. Angenehm überrascht, hob er eine Augenbraue und kehrte zu Nandra zurück.
"Wie geht es ihm?", erkundigte er sich unvermittelt.
"Nicht besonders“, antwortete sie überrascht. "Als ich das Hospital verließ, war er noch nicht aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit erwacht. Der Arzt sagte, dass wir noch mindestens zwanzig Stunden warten müssten, bevor sich eine Veränderung erkennen lässt."
"Weißt du, wer es war?"
"Nur eine Vermutung“, gab sie achselzuckend von sich. "Ich dachte, ich hätte die Stimme erkannt. Aber gesehen habe ich ihn nicht. Ich kann demnach nichts beweißen."
"Ich kann es“, sagte der Vater. "Ich habe ihn gesehen. Ich folgte euch, bis auf die Straße und kurz nachdem ihr um die Ecke gebogen seid, trat er kurz in das Licht, das die Scheinwerfer des Palastes boten. Ich hörte, wie er den Trenkjar anrief und ich sah, wie er auf ihn schoss."
"Das ist gut“, rief Nandra erfreut.
"Das ist schlecht“, widersprach der Admiral. "Hätte Rajan den Killer besser informiert, wäre der Junge jetzt wirklich tot."
"Den Killer?", wiederholte Nandra fassungslos. "Es war Rajan?"
"Nein, er war es nicht. Zumindest nicht persönlich. Als der Schuss fiel, lief ich zurück in den Festsaal und fand den Prinzen in bester Gesellschaft mit dem Vizekönig und einigen Ministern."
"Ein hervorragendes Alibi“, stieß Nandra wütend hervor.
"Der Killer war ein schwarzer Droide, der vermutlich Rajans Stimmmuster verwendete. Das ist aber auch das einzige, was ich bezeugen kann."
"Verdammt“, fluchte Nandra und ließ sich in einen Sessel fallen. "Janol verliert vermutlich sein Leben und diese feige Mistkröte kommt auch noch ungeschoren davon."
"Wir könnten ein Abkommen schließen“, schlug der Admiral vor. "Wenn es mir gelingt, Rajan zur Verantwortung zu ziehen, wirst du dich für das Sektionsverwaltersamt auf Jeeran aufstellen lassen."
"Ich?", rief Nandra und sprang wieder auf ihre Beine. "Warum ich? Ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich dabei tun muss."
"Falls es der junge Trenkjar überlebt, hast du jemanden, der dir hilfreich zur Seite stehen kann."
"Ich halte das für keine gute Idee. Ich bin Kommandeurin eines Kriegsschiffes. Ich weiß Matrosen und Kampfflieger herumzuscheuchen, aber keine Bauern und Geschäftsleute."
"Es ist die denkbar beste Lösung. Für uns alle."
"Ich weiß nicht“, gab Nandra kopfschüttelnd von sich. "Ich bin doch auch nicht viel älter als Janol und ich kann über keinerlei Erfahrungen in diesem Gebiet aufwarten."
"Dein Name ist Erfahrung genug." Er suchte seinen Spazierstock, klemmte ihn tatenfreudig unter die Achsel und schlenderte in Richtung Wohnungstüre. "Um Missstände und Geschehnisse, wie die heutigen zu vermeiden, würde ich dir raten, dieses Gespräch vorerst für dich zu behalten. Auch gegenüber deinem Kiemenfreund. Er wird sicherlich ungehalten darüber reagieren, dass du ihm Konkurrenz zu machen versuchst."
Nandra nickte nur und sah ihm sprachlos hinterher, als sich die Türe hinter ihm wieder schloss. Dann sank sie wieder auf den Sessel zurück und versuchte darüber nachzudenken.
* * *
Bei dem Versuch, über den Vorschlag ihres Vaters nachzudenken war sie eingeschlafen und erst wieder vom aufdringlichen Klingeln des Interkomgerätes erwacht. Der Arzt berichtete ihr, dass der junge General wieder zu sich gekommen war und dass Nandra ihn nun besuchen könne.
So schnell sie konnte, duschte sie sich, zog sich um und hastete zurück ins Hospital. Dass es inzwischen bereits später Nachmittag geworden war, bemerkte sie erst, als die allmählich untergehende Sonne in die Seitenfenster des Miettaxis blendete.
An Treeces Krankenbett, beziehungsweise seinem Belebungstank angekommen, musste sie erst einmal stehen bleiben und durchatmen, bevor sie nähertreten konnte. So schnell war sie durch das Foyer zu den Expressliften und durch die Flure bis zu diesem Zimmer gelaufen und musste erst einmal wieder zu Atem kommen. Der Trenkjar war bis auf seinen Lendenschutz entkleidet worden und eine Unzahl von Schläuchen, Drähten, Elektroden und Sonden schwebten in der blassgelben Flüssigkeit um ihn herum. Luftblasen tanzten um seinen Körper und fingen sich an der Oberfläche zu einem dünnen Schaumteppich. Auf seiner Brust klebte ein großes, dunkles Pflaster, dort wo ihn der Blitzwerfer getroffen und wo ihn der Chirurg zusammengeflickt hatte. Seine Augen waren geöffnet, blickten jedoch ins Leere und erst als er Nandra näher kommen sah, bekamen sie etwas Leben und Frische. Er legte seine Handflächen an das Glas und ein Lächeln erschien um seine Lippen, als Nandra die ihren auf der anderen Seite des Tankes dagegen presste.
Neben ihr stand der Stationsarzt, der ihr etwas zu erklären schien. Sie nickte immer wieder und ihr Lächeln wurde immer breiter. Der Trenkjar glaubte zu wissen, was ihr der hochgewachsene, breitschultrige Mann mit dem kurzgeschorenen Haarschopf zu erzählen versuchte und sein Herz begann schneller zu schlagen, als er ihre leuchtenden, hoffnungsvollen Augen sah.
"Wenn sich sein Zustand nicht rapide verschlechtert, kann er in zwei bis drei Tagen den Tank verlassen“, berichtete der Stationsarzt, der sich Nandra als Doktor O'Halorhan vorgestellt hatte. "Und nach ein oder zwei weiteren Tagen in der Beobachtung können sie ihn wieder mit nach Hause nehmen."
"Danke“, sagte Nandra aufrichtig und bedankte sich außerdem noch mit einem Lächeln. "Kann er mich hören?"
"Nein, ich denke nicht. Aber sie können ihm über einen Projektor Nachrichten übermitteln." Er deutete auf einen kleinen, gerade mal zweizeiligen Displayschirm, mit integrierter Tastatur und Mikrophonbuchse, der das Zusendende auf ein zweites Display im Inneren des Tankes projizierte. Dann verneigte er sich höflich und ließ die beiden allein.
Nandra konnte sich nicht lange zurückhalten und zum ersten Mal jene drei Worte aussprechen, die ihr schon lange auf der Zunge lagen. Treeces Lächeln war ihr Bestätigung genug und sie küsste die kleine Glasfläche, durch die sich seine Handflächen abbildeten. Sie hatte ihm soviel zu erzählen und wusste nicht, wo sie beginnen sollte. Unzählige Fragen fielen über sie herein und dennoch wusste sie nicht eine zu stellen. Lange war sie einfach vor dem Tank gestanden und hatte ihn mit strahlenden Augen angesehen. Dann hatten sich ihre Gedanken endlich weitgehend sortiert und sie war imstande ihrer größten Sorge Ausdruck zu verleihen.
"Hast du große Schmerzen?", wollte sie wissen: Der Projektor vervielfältigte ihre Worte auf dem Außendisplay und ins Innere des Tankes.
Der Trenkjar schüttelte gemächlich den Kopf. Durch die Rundung des Glases und dem Brechungswinkel der Flüssigkeit, erschien sein Gesicht etwas verzerrt.
"Vater war heute morgen bei mir“, berichtete sie und entdeckte im Augenwinkel, wie ihre Worte rotleuchtende Gestalt annahmen. Treece ließ sich durch die Leuchtschrift etwas ablenken, kehrte aber alsbald wieder zu ihr zurück. "Er sagte, er sei uns gefolgt und habe die Tat beobachtet. Er sagte, dass es nicht Rajan gewesen sei, sondern ein Killerdroide." Der Projektor, der nur zwei Zeilen zur Verfügung hatte, ließ die Nachricht jedes Mal für einige Sekunden lang stehen, bevor er die nächsten zwei Zeilen schrieb. So verzögerte sich Treeces Reaktion und Nandra wartete beinahe ungeduldig.
Diesmal nickte der Trenkjar.
"Hast du ihn gesehen?"
Treece versuchte, sich mit Handzeichen begreiflich zu machen, doch Nandra verstand sich nicht auf die Unterwasserkommunikation der Trusgs. Sie schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern.
"Wir müssen unsere Unterhaltung wohl auf später verschieben, wenn du wieder aus dem Tank heraus bist“, sagte sie entschuldigend.
Treece zeigte nach oben und Nandra folgte dem Deut. Der zylinderförmige Glastank war nach oben hin geöffnet. Neben dem Glastank stand eine Stafette, die vermutlich dem Pflegepersonal ermöglichen soll, persönliche Kontrollen vorzunehmen. Treece deutete auf die Stafette und wieder nach oben. Mit bangem Gefühl und mehrmaligem Umblicken, ob ihnen nicht etwa jemand dabei zusah, kletterte sie die engen Stufen hoch.
Die Flüssigkeit roch säuerlich und die zerplatzenden Schaumbläschen erzeugten ein permanentes, dezentes Zischen, das in der Rundung des Glastankes ein hohles Geräusch verursachte. Treeces Hände drangen aus der Flüssigkeit und zogen sich am Rand des Glases hoch. Als sein Kopf auftauchte, klopfte Nandras Herz bis zum Hals. Sie wollte ihn schon daran hindern, doch sein ernster Blick hielt sie zurück. Er hatte ihr unbedingt etwas zu sagen.
"Du musst den Droiden finden“, keuchte er heißer. Durch das zischende Zerplatzen der Blässchen, war seine schwache Stimme kaum zu verstehen. "Und du musst denjenigen finden, der ihn angeheuert hat. Ich glaube nicht, dass es Rajan war. Er ist feige, aber nicht so blöde, nach unserer Auseinandersetzung auf dem Ball auf mich schießen zu lassen." Er tauchte wieder unter.
Nandra wand sich um und beobachtete die Türe. Sie befürchtete, dass jeden Moment der Stationsarzt oder jemand vom Pflegepersonal hereinkam und den fahrlässigen Verstoß bemerken würde. Treece riskierte mit dieser Aktion seine rasche Genesung, wenn nicht sogar sein Leben.
"Unscheinbare Killer kann beinahe man an jeder Ecke anheuern“, sagte sie, als sie sicher war, dass niemand hereinkam. "Es wird schwer sein, ihn zu finden." Sie blickte sich erneut um. "Wer könnte von deinem Tod noch profitieren? Hast du noch mehr so nette Freunde, wie Rajan?"
Er schüttelte den Kopf, kam aber wieder an die Oberfläche.
"Vielleicht ein eifersüchtiger, ehemaliger Verehrer von dir?", kam es heißer hervor. Er zog sich am Rand des Glases noch höher hinauf und befand sich für einige, wenige Sekunden so nahe vor ihrem Gesicht, dass er ihr einen flüchtigen, feuchten Kuss auf die Lippen drücken konnte. Dann ließ er los und tauchte wieder bis auf den Grund des Tankes hinunter. Er schien es selbst nicht länger verantworten zu können. Sein Gesicht hatte sich ob der schlechten Sicht durch Glas und Flüssigkeit noch mehr verzerrt und Nandra überkam für einen Moment das Gefühl, dass er sich zuviel zugemutet hatte und es nachhaltig bereuen müsse. Doch dann streckte sich sein Körper wieder und er erschien an der Glasumrandung.
"Das glaube ich nicht“, sagte sie kopfschüttelnd, als ein Lächeln von ihm ihre Sorgen zerstreute. Sie hätte die zarte Berührung seiner Lippen auf der ihren liebend gern noch länger genossen, wenn nicht eine dünne Spur der Belebungsflüssigkeit über ihr Kinn geronnen wäre. Sie wischte sie weg und damit auch das vermisste Gefühl. "Ich würde keinem von ihnen zutrauen, fanatisch genug für eine solche Tat zu sein. Außerdem war es niemals zu etwas ernsthaftem geworden."
Treece machte weitere Handbewegungen, deren Bedeutung sich Nandra diesmal denken konnte. Sie hatte niemals über den psychischen Zustand der Zurückgewiesenen nachgedacht. Wie leicht konnte sich einer von ihnen persönlich beleidigt gesehen haben. Doch sie schüttelte abermals den Kopf.
"Viel wichtiger ist, wenn bekannt wird, dass du den Anschlag überlebt hast, es der Killer vielleicht erneut versuchen wird“, sagte sie und stieg von der Stafette herunter. "Ich werde Wachen aufstellen lassen." Auch wenn sich der Trenkjar energisch dagegen gewehrt hätte, hätte sie sich zu keinem anderen Entschluss überreden lassen. Doch er nickte und sah sich damit einverstanden.
Die Türe öffnete sich leise, doch keiner von ihnen bemerkte es. Treece konnte durch den Brechungswinkel der Flüssigkeit und des gebogenen Glases nicht allzu weit sehen und Nandra hatte ihr den Rücken zugekehrt. Erst ein leises Klicken ließ sie herumfahren und auch sofort wieder reflexartig zusammenzucken. Ihre Hand war zu ihrer Hüfte geglitten, doch da befand sich kein Halfter. In der Eile hatte sie sich in Zivilkleidung geworfen und ihre Waffe vergessen. Da ertönte schon das verheerende Geräusch und Nandra wurde überschüttet von geborstenem Glas und warmer Flüssigkeit.
Eine Flutwelle von leicht zäher Belebungsflüssigkeit und winzig kleinen Glassplittern schwappte über den Boden und riss sie beinahe von den Beinen. Geistesgegenwärtig hatte sie sich niedergekauert und ihren Kopf zwischen den Armen verborgen. Ihr Schrei ging im allgemeinen Getöse des berstenden Glases, des rauschenden Wassers und den Alarmtönen der Überwachungsgeräte unter. Sie hatte Mühe auf ihrem Fleck stehen zu bleiben und sich wieder aufzurichten, sobald die gröbste Welle vorüber war. Noch während das Inferno über sie hereingeschwappt war und sie kaum für sich selbst sorgen konnte, waren ihre Gedanken bei Treece. Missachtend jeglicher Verletzung, die sie durch die Glassplitter davongetragen haben könnte, suchte sie nach dem Trenkjar und atmete erleichtert auf, als sie ihn in einem seichten Überbleibsel des Tankes entdeckte. Geistesgegenwärtig und schneller, als Nandras Reflexe es jemals sein würden, hatte er sich flach auf den Boden niedergelassen, dabei sämtliche Schläuche, Drähte und Sonden abgerissen und sich in den Schutz des stählernen Bodensockels geworfen, der noch einen Tümpel von fast dreißig Zentimeter lebensrettender Belebungsflüssigkeit festhielt. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu und auf sein Nicken, rannte sie los.
Noch im Vorbeilaufen, hämmerte sie auf den erstbesten Alarmknopf, der sämtliche Sicherungstüren blockierte, sämtliche Beförderungskabinen anhielt und die Bereitschaft alarmierte. Dann hastete sie die Expresslifte entlang, überflog kurz die Stockwerksanzeigen und eilte zu den Treppen. Einhundertfünfundachtzig Stockwerke hinunterzulaufen, würde auch an ihr nicht spurlos vorübergehen. Doch sie rechnete fest damit, dass auch der Attentäter damit rechnete, dass irgend jemand Großalarm auslöste und er deswegen Vorausschauenderweise die Treppenschächte benutzte. Irgendwo unter ihr hämmerte etwas in einem schnellen, regelmäßigem Takt auf die stählerne Gitterkonstruktion. Jemand rannte die Treppen hinunter. Sie trug ihre bequemen Sportschuhe, die ihr schnelleres und geräuschärmeres Laufen ermöglichten. Aber ob sie damit auch einem Droiden hinterherkam, bezweifelte sie. Das was sie gesehen hatte, noch bevor die Welle aus sanftgelber Flüssigkeit über sie hereingebrochen war, glich dem eines schwarzlackierten, künstlich erschaffenen, menschenähnlichem Wesen, das man allgemein Droide nannte. Sie war sich jedoch nicht absolut sicher, da er ihr in der kurzen Zeit, in der sie ihn betrachten durfte, nun eher schattenhaft und wie im Traum erschienen vorkam. Doch der Klang des Blitzwerfers, das harte elektronische Knallen, hatte sie eindeutig wiedererkannt.
Ihre Lunge begann zu rebellieren, als sie noch nicht einmal zwanzig Stockwerke hinter sich gebracht hatte. Nandra war von Etage zu Etage mehr dazu übergegangen, sich über das Geländer zu hebeln und einfach ein halbes Stockwerk hinunterzuspringen. Manchmal kam sie etwas ungeschickt auf und ein stechender Schmerz fuhr in ihre Knöchel, doch sie konnte sich immer wieder fangen und zwang sich zum weiterlaufen. Sie musste den Attentäter unbedingt einholen und ihn dingfest machen. Wie sie dies ohne Waffe und auch noch gegenüber einem an zehnfacher Kraft überlegenen Roboter schaffen wollte, vermochte sie selbst nicht zu sagen. Vielleicht kam ihr der Zufall zu Hilfe, oder er fand einen Ausgang, bevor ihn Nandra annähernd erreichen konnte.
Das schnelle, gleichmäßige Hämmern unter ihr hatte mühelos an Geschwindigkeit zugenommen. Nandra versuchte gleichmäßig und tief durchzuatmen und die lästigen Stiche in ihrer Brustgegend zu ignorieren. Dass sie gegen die einprogrammierte Kondition des Droiden niemals ankommen würde, wusste sie, doch ein Versuch war es allemal wert.
Dann verstummten die schnellen metallenen Schritte und Nandra fand sich fünfzehn Stockwerke weiter unten vor einer verschlossenen Notausgangstüre, die zu einem Hochplateau führte. Die schwere eiserne Türe war fest verschlossen und wenig später vernahm sie das Zischen von Düsenaggregaten, die sich vom Hochplateau abstießen und davonflogen. Wütend kickte sie gegen die Türe und suchte sich nun in aller Gemütlichkeit und vollkommen außer Atem einen anderen Ausgang aus dem Treppenschacht.
Inzwischen hatten die Ärzte den Patienten in einen anderen Belebungstank verfrachtet, der zwar wesentlich kleiner und niederer war, aber zum Überleben und zu Treece weiterer Genesung nicht minder beitragen würde. Auf Treece fragenden Blick hin, seufzte Nandra niedergeschlagen und schüttelte verneinend den Kopf. Der kleine Tank besaß keinen Projektor und eine Kommunikation mit dem Patienten erwies sich damit als ziemlich schwierig.
"Wie geht es ihm?", erkundigte sich Nandra bei dem Stationsarzt, dessen Blick nicht mehr sonderlich freundlich ausfiel.
"Bestens“, rief er mürrisch. "Wenn man davon absieht, dass das gewaltsame Herausreißen der Sonden neue Wunden verursacht hat."
"Wird er es überleben?"
"Wer war dieser Bastard?", wollte O'Halorhan scharf wissen. Der Boden schwamm noch in der Flüssigkeit des zerstörten Tanks und mehrere Saugroboter bemühten sich redlich, den Raum, den davor liegenden Korridor und die angrenzenden Patientenzimmer zu säubern. Der Arzt musste über einen der laut schlürfenden Kugelsauger steigen, als er näher an Nandra herantreten wollte. "Wir haben schon genug Sorgen mit dem Budget. Mutwillige Zerstörung bezahlt die Versicherung leider nicht. Ich weiß nicht, wie wir die Kosten für die Instandsetzung aufbringen sollen."
"Machen sie sich darüber mal keine Sorgen“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Sie besaß eine nicht unerhebliche Rücklage, die sie gern für derartige Fälle antastete. "Sehen sie nur zu, dass mein Freund wieder auf die Beine kommt."
"Ihm geht es gut. Er kann trotz seines Zustandes erstaunlich lange die Luft anhalten."
"Das ist sein Karma“, antwortete sie lächelnd. "Und dafür liebe ich ihn."
* * *
Das mit den Wachen erwies sich als schwieriger, als sie zunächst dachte. Bis auf einen ziemlich reduzierten Notdienst, hatte sie der gesamten Mannschaft der Ashantin Landurlaub gewährt, so dass sie nicht auf die ihr treu untergebenen und aufrichtigen Leuten zurückgreifen konnte. Sie musste sich mit dem Sicherheitspersonal des Hospitales zufrieden geben und hoffen, dass der diensthabende Offizier der Ashantin bald jemanden für diesen undankbaren Posten auftreiben konnte.
Wieder in ihrem Appartement angekommen, duschte sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag, denn die Belebungsflüssigkeit war bereits an ihrem Körper getrocknet und begann klebrig und übelriechend zu werden. Sie schlüpfte in ihre Uniform und beabsichtigte eigentlich, sich auf die Suche des Killerdroiden zu machen. Doch ein weiterer unerwarteter Besucher kam ihr dazwischen.
"Lilian“, rief sie überrascht und schwang die Türe weit auf, so dass die Freundin mit ihrer wallenden Hofrobe hereinwehen konnte.
"Oh, mein Liebes. Es tut mir so leid. Wie geht es ihm? Wird er es überleben?" überfiel sie Nandra sogleich, drückte sie herzig an sich und betrachtete sie mitleidend.
"Ich denke schon“, nickte Nandra verwirrt und gerührt zugleich.
"Ich erfuhr erst vor wenigen Stunden davon, obwohl solche Neuigkeiten eigentlich ziemlich schnell die Runde machen“, gestand sie. "Ich versuchte, dich zu erreichen, um dir in deiner schweren Stunde beizustehen, doch du warst leider nirgendwo erreichbar. Ist alles in Ordnung mit dir?"
"Mir geht es gut." Nandra betrachtete sie argwöhnisch. Die lange Zeit bei Hofe schien auch Lilian schon in Mitleidenschaft gezogen zu haben. Sie bezweifelte, dass ihre Freundin versucht hatte, sie ausfindig zu machen. Sie hätte nur bei den Palastdienern nachzufragen brauchen, wohin die Ambulance Treece gebrachte und ihr automatischer Anrufbeantworter hatte ihr ebenfalls keine Nachrichten mitzuteilen. "Janol ist über dem Berg. Er muss noch ein paar Tage im Hospital bleiben. Was verschafft mir eigentlich die Ehre deines Besuches?"
"Ich wollte dich fragen, ob ich etwas für dich tun kann“, entgegnete sie und blickte sich wie zuvor der Admiral flüchtig im Appartement um. Lilian war schon oft genug in diesen Räumen gewesen, so dass sie beinahe jedes Detail kannte und dies eigentlich nicht nötig hatte.
"Du kannst den Kerl finden, der ihm das angetan hat“, knurrte Nandra. Irgendwie gefiel ihr die neue Art an ihrer Freundin nicht.
"Man sagt, es sei Prinz Rajan gewesen“, berichtete sie. "Er soll einen Killer angeheuert haben."
"Wer sagt das?"
"Es soll Zeugen geben, die ihn dabei beobachtet haben, wie er mit einem Fremden aus einschlägigen Kreisen sprach."
Nandra kaute auf ihrer Unterlippe herum. Ihr Vater schien seinen Teil der Abmachung einhalten zu wollen und dabei auch etwas unlautere Methoden zu verwenden.
"Was sind das für Zeugen?", wollte sie wissen.
"Hofgetratsche wird einem ungewollt zugetragen“, erklärte Lilian mit einem entschuldigenden Lächeln. "Erklärungen gibt es dazu selten." Sie platzierte sich nebst ihrem wallenden Kleid in einen Sessel, als wolle sie für ein Modemagazin posieren. "Man sagt auch, dass Admiral Okopaido, dein Vater höchstpersönlich die Ermittlungen übernahm - wegen des hochrangigen Verdächtigen, sagt man. Ist das richtig? Ich meine, macht er das nur wegen des Prinzen, oder dir zuliebe, weil du und dieser General Trix ... ?" Ihr wollte der richtige Name nicht mehr einfallen und sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht“, gestand Nandra, die tatsächlich etwas verwirrt war.
"Weiß er schon davon?"
Nandra nickte. "Und er versuchte es auch schon, mir zu verbieten."
"Was hast du ihm geantwortet?"
"Na, was wohl“, rief sie entrüstet. Lilian stellte etwas zu viele Fragen. "Ich lasse mir nichts vorschreiben." Sie setzte sich auf die Lehne des Sessel, in welchem sich Lilian breit gemacht hatte. "Du kannst tatsächlich etwas für mich tun. Finde heraus, wo man unscheinbare, schwarze Killerdroiden engagieren kann."
"Ich werde tun, was ich kann, aber ich kann dir nicht viel versprechen. Weißt du, die Redseligkeit mancher Leute hört auf, sobald man etwas Ungewöhnliches von ihnen wissen will."
"Es muss auf jeden Fall nicht weit sein. Viel Zeit war ihm nicht geblieben, um den Killer zu ordern, ihn zu instruieren und zum Palast zurückzukehren. Rajan wusste doch gar nicht, dass Janol auf dem Ball auftauchen würde."
"Niemand wusste es. Nicht einmal du. Demnach konnte es jeder auf dem Ball gewesen sein, oder keiner von ihnen. Vielleicht war es jemand, dem dein Janol schon lange ein Dorn im Auge war. Oder er war eifersüchtig auf ihn."
"Niemand wusste von uns beiden. Wir wussten es nicht einmal selbst genau. Vielleicht aber hat es irgendetwas mit der Sektionsverwalterangelegenheit zu tun."
"Ach ja richtig“, rief Lilian plötzlich und hätte ihre Freundin beinahe von der Lehne geschubst. "Ich wusste doch, da war noch etwas. Stimmt es, dass du dich als Sektionsverwaltersanwärterin für Jeeran hast vormerken lassen? Wo ist dieses Jeeran überhaupt?"
"Bestimmte Neuigkeiten machen schneller als gewöhnlich die Runde“, sagte Nandra und ein dicker Kloß begann sich in ihrer Kehle auszubreiten. Ihr Vater war flinker, als sie jemals angenommen hatte. Es schien ihm sehr wichtig zu sein, dass seine Tochter dieses Amt bekleidete. Es würde sie nicht wundern, wenn sie es tatsächlich zugesprochen bekäme. "Jeeran ist das Heimatsystem von Janol“, erklärte sie mit belegter Stimme. "Und es ist sehr weit von hier entfernt."
"Ich finde das einfach großartig“, erwiderte Lilian mit glänzenden Augen. "Du und Sektionsverwalterin. Obwohl ich dich etwas zu jung und zu enthusiastisch dafür halte, denke ich, du wirst eine großartige Sektionsverwalterin abgeben."
"Findest du? Ich denke eher, dass ich kläglich versagen werde."
"Warum? Was willst du mehr? Du bekommst die allerhöchsten Würden. Du kannst wie ein Herrscher über viele Planeten herrschen und dein Geliebter ist auch noch in der Nähe."
"Ich würde lieber weiter im Universum herumdüsen“, gestand sie.
"Und dich irgendwann von einem räudigen Ganoven zu Weltraumpulver verarbeiten lassen“, meckerte Lilian mit wackelndem Kopf. "Da würde ich an deiner Stelle einen gesicherten Posten vorziehen. Meine Liebe, du bist nicht mehr die Jüngste. Du musst an eine sicherere Zukunft denken. Gründe eine Familie und bring ein paar Kinder auf die Welt und residiere über Jeeran wie eine Herrscherin. Eine bessere Chance gibt es nicht."
"Das ist kein Herrscherthron, sondern ein Verwaltungsposten“, versuchte sie es ihrer Freundin nahe zu legen. "Aber du hast Recht. Es wird an der Zeit, dass ich auch an die Zukunft denke. Und ich glaube mit Janol wird es eine prima Zukunft werden."
Lilian kicherte und streichelte liebevoll über den Arm ihrer Freundin. "Vielleicht sehen wir uns dann öfter“, sagte sie beinahe flehend. "Du fehltest mir so. Die Gesellschaft bei Hofe ist nicht gerade geistreich und an manchen Tagen glaube ich wirklich, durchdrehen zu müssen. Mir sehnt es nach anspruchsvollen Gesprächen und der Gesellschaft einer wirklichen Freundin."
"Mir geht es genauso“, gestand Nandra. "Wenn ich die ganze Angelegenheit hinter mich gebracht habe, werde ich dich nach Trenkjar einladen."
"Wie ist es dort?"
"Du wirst es nicht mögen." Die beiden fielen sich lachend in die Arme und begannen sogar sich gegenseitig durchzukitzeln - so wie sie es als junge Mädchen getan hatten, wenn ihnen nach grenzenloser Ausgelassenheit war. Sie kitzelten und kniffen sich, bis ihnen die Zwerchfelle schmerzten und sanken erschöpft und in einer zärtlichen Umarmung zu Boden, wo sie lange Zeit einfach nur da lagen und die Gegenwart der Anderen genossen.
* * *
Am nächsten Morgen, als die beiden Mädchen sich mit innigen Umarmungen trennten, begab sich Nandra entgegen ihres ersten Entscheidung, Treece im Hospital zu besuchen, in den Palast des Vizekönigs, wo - wie sie von Lilian erfahren hatte - Rajan in einem der königlichen Toilettenräume festgehalten wurde. Aufgrund seiner Abstammung und des Missmutes, das der König unvermittelt ausgesprochen hatte, wagte es selbst der Admiral nicht, den Königssohn im Gefängnis unterbringen zu lassen.
"Guten Morgen“, begrüßte sie die beiden Wachen, die die noble Gefängniszelle sicherten. "Ich bin Commander Okopaido. Ich möchte den Verdächtigen verhören."
"Die Ermittlungen führt Admiral Okopaido“, erklärte ein weiterer Wachposten, der etwas abseits gestanden hatte und die Verantwortung für diesen Befehl zu tragen schien. Er kam gemächlich näher geschlendert, doch als er die Abzeichen an der Schulter der jungen Frau erkannte, nahm er schnell Haltung an. "Wir sollen niemand außer ihm zu Prinz Rajan lassen“, sagte er zackig.
"Ich bin Admiral Okopaidos Tochter“, herrschte sie etwas missmutig und baute sich entschlossen vor dem Mann auf, der die Dreistigkeit besaß, den Einlass zu verweigern. "Ich helfe meinem Vater bei den Ermittlungen. Nun geben sie schon den Weg frei, Mann." Diese Bezeichnung für einen Soldaten, bedeutete soviel wie eine Abwertung seines Standes. Er füllte seine Lungen zu einem Protest, doch Nandras scharfer Blick ließ ihn verstummen, bevor er ihn aussprechen konnte. Dann nickte er den anderen beiden zu, worauf einer von ihnen, einen Zahlencode in das elektronische Schloss eingab und sich die Türe mit einem Klick öffnete.
"Danke“, sagte sie kühl.
"Klopfen sie, wenn sie wieder gehen möchten“, sagte der Wachposten und zog hinter Nandra die Türe wieder ins Schloss.
Nandra sah sich flüchtig um. Es schien der private Toilettenraum des Vizekönigs zu sein. Denn Waschbecken, Sichtschutzwände, sämtliche Wände und sogar der Boden bestand aus poliertem weißen Marmor. Schwarze Armaturen, Türklinken, Druckknöpfe und Abdeckungen gaben den nötigen Kontrast zu der hellen Eintönigkeit. Ein raumhoher Spiegel mit hinterlegter Beleuchtung sorgte für ausreichendes Licht und ein breiter Diwan für Erholung nach anstrengender Tat.
Prinz Rajan räkelte wie ein unaufgeräumtes Laken quer über dem Diwan und schnarchte lauter, als sie es jemals einem Mann zutraute. Er trug noch immer seine festliche Hofrobe, die jedoch schon ziemlich verknittert und offenbar nach einem Handgemenge an Saum und Zierden lassen musste. Sie lächelte amüsiert, denn sie gönnte ihm diese Unannehmlichkeiten, mehr als jedem anderen Attentäter. Für einen versuchten Mörder war er mehr als bestens untergebracht.
"Prinz Rajan“, rief sie ihn leise an und stupste ihn leicht in die Schulter. Erst beim dritten Anruf, kam ein leises Regen in ihn. Dann stieb er auf, wie von einer unsichtbaren Nadel gestochen und purzelte mit einem Aufquellen seiner leichten, wallenden Robe auf den kalten Marmorboden.
"Guten Morgen, Prinz Rajan“, grüßte sie freundlich. Sie musste sich ein hämisches Grinsen arg verbergen. In seinem Gesicht standen die durchgemachten Nächte und die ungewohnte Unterbringung deutlich geschrieben. Er blickte sich verwirrt um und platzierte sich dann wieder auf den Diwan.
"Was willst du?", knurrte er und strich sich über das übernächtigte Gesicht.
"Es tut mir leid, sie zu stören, aber ich muss ihnen einige Fragen stellen“, begann sie.
"Die letzten dreißig Stunden hatte ich nichts anderes zu tun, als höflich gestellte, aber durchaus lästige Fragen zu beantworten." Er blickte sie müde und gereizt an. "Und nun zum allerletzten Mal: Ich habe diese vermaledeite Laichqualle nicht getötet."
"Getötet?", wiederholte Nandra fragend und das Blut schoss ihr in den Kopf. Vielleicht hätte sie doch zuerst in die Klinik gehen und sich nach Treece Befinden erkundigen sollen. "Wer sagte ihnen das?"
Rajan blickte sie verwirrt an. "Er lebt noch?", erkundigte er sich.
"Bis gestern Nachmittag zumindest ging es ihm noch bestens“, antwortete sie und musste sich räuspern. Ihre Stimme hatte sich belegt. Sie musste dem Drang wiederstehen, aufzuspringen und ins Hospital zu eilen.
"Was ist hier eigentlich los?", schimpfte Rajan und stellte sich auf seine Beine. "Mich machen die unmöglichsten Leute verrückt, weil dieser Trenkjar angeblich in tausend Stücke zersprengt wurde. Und nun soll er bester Gesundheit sein? Was für ein übles Spiel wird hier gespielt?"
"Das frage ich mich auch“, gestand Nandra. "General Treece wurde angeschossen. Das ist richtig. Aber er hat den Anschlag überlebt. Nach ihrer Auseinandersetzung auf dem Ball, dachte man natürlich sofort an sie."
"Sehe ich so blöde aus?", maulte Rajan und ließ sich wieder auf den Diwan fallen. Seine längst aus der Form geratene Robe plusterte sich etwas auf, senkte sich aber bald wieder um die schmale Statur des jungen Mannes.
"Würden sie mir erzählen, wer sie alles verhört hat?", fragte Nandra.
"Ich konnte mir nicht alle Namen merken“, knurrte Rajan, sprang wieder auf seine Beine, marschierte zum Waschbecken und warf sich einige Handvoll Wasser ins Gesicht. Den langen Überwurf seiner Robe benutzte er dazu, sein Gesicht wieder zu trocknen.
"War mein Vater auch dabei?", wollte sie wissen.
"Nein“, erklärte er entschlossen. "Gibt es hier eigentlich auch mal etwas zu essen?"
Nandra bewegte sich, klopfte an die Türe und als sie sich einen Spalt öffnete, gab sie die Forderung des Gefangenen an die Wachen weiter.
"Ich weiß, dass sie es nicht waren“, sagte sie, als der Ausgang wieder fest verschlossen war. "Sie sollen als Sündenbock vorgeschoben werden."
"Ach“, machte er verächtlich und verzog sein Gesicht zu einer Fratze. "Mein Vater wird euch dafür allesamt die Beine unter dem Hintern absägen."
"Bei Mord wird auch der König nichts ausrichten können“, wusste sie. Sie musste erneut gegen den immer stärker werdenden Drang ankämpfen, aus dem Palast zu laufen und nach Treece zusehen. Wenn Rajan in dem Glauben gelassen worden war, der Trenkjar sei ermordet worden, dann würde der Killer so oft zuschlagen, bis er endlich sein Ziel erreicht hatte. Sie fragte sich nur, warum er dazu so viele Ansätze brauchte. Ein gut informierter Scharfschütze hätte sein Opfer mit einem Schuss erlegen können und weder auf der Straße, noch im Hospital danebengeschossen.
"Mord? Ich habe niemanden umgebracht."
"Das wird man ihnen aber beweißen“, sagte Nandra sicher. "Hören sie mir zu."
"Nichts werde ich. Ich will endlich mit den Anwälten meines Vaters sprechen“, rief er wütend und wedelte mit seinem Armen herum, so dass die Ärmel seines Umhanges wie Flügel durch die Luft flatterten.
"Setz dich hin und halt den Mund“, herrschte ihn Nandra so hart an, dass sie über sich selbst überrascht war. Noch nie hatte sie gewagt, derart in der Gegenwart des Prinzen zu sprechen. "Sie benehmen sich wie ein jammerndes Vatersöhnchen. Ihr Leben steht auf dem Spiel. Sollten die Drahtzieher wahrhaftig ihr Ziel erreichen, finden sie sich unversehens in der Dekompressionskammer wieder und der König muss sich nach einem anderen Erben umsehen. Und jetzt reißen sie sich endlich zusammen und hören mir zu." Sie schnaufte, als Rajan tatsächlich saß und sie erschrocken wie ein eingeschüchterter Schuljunge anblickte. Dann atmete sie noch einige Male tief durch und fuhr wesentlich ruhiger und leiser fort.
"Jemand will uns verladen. Er will Janol aus dem Weg räumen und sie dabei gleich mit“, sagte sie, beinahe wieder die Ruhe selbst. "Warum Janol sterben soll, kann ich mir in Etwa denken. Ich bin mir nur nicht im klaren, warum er sie beseitigt haben will."
"Sie wissen, wer es ist?", fragte Rajan vorsichtig. Er schien plötzlich gehörigen Respekt vor Nandra bekommen zu haben. Oder er erkannte in ihr seinen einzigen Rettungsanker und hielt es daher für besser, sie höflich und gebührend zu behandeln.
"Ich habe gewisse Vermutungen“, erwiderte sie. Ihr wurde heiß und kalt, als ihre wirren Vorabschlussfolgerungen allmählich Gestalt annahmen. "Aber Vermutungen sind nun mal nichts wert. Ich muss erst Beweiße finden und dazu muss ich erst wissen, warum er die Mühe auf sich nimmt, um sie vor den Kadi zu schleppen. Schließlich sind sie kein Namenlos, dessen Ableben man einfach unter den Tisch kehren kann." Sie schnaufte erneut. "Mord ist eine wirklich ernstgenommene Sache. Sie führt meistens zum Todesurteil, selbst wenn der Täter ein Königsspross und das Opfer ein unbedeutender Bodengeneral ist."
"Treeces Vater hat meinen Vater aufs tiefste erniedrigt“, sagte Rajan, was Nandra schon längst wusste. "Allein dafür verdient er schon meinen Hass. Aber töten würde ich ihn nicht. Das ist zu einfach. Ich würde ihn mit nacktem Hintern, durch sämtliche Galaxien schleifen, aber töten würde ich ihn nicht."
"Das weiß ich“, gab sie nachdenklich von sich. "Ich überlege die ganze Zeit, was sich verändern würde, wenn es Prinz Rajan nicht mehr gäbe."
Der Königssohn schluckte erschrocken über diese Vorstellung, strengte aber seine grauen Gehirnzellen ebenfalls an.
"Nicht viel“, sagte er schließlich achselzuckend. "Meine Verlobte wird zu einer alten Jungfer werden und mein kleiner Bruder besteigt irgendwann den Thron. Sofern er nicht auch noch beseitigt werden soll, versteht sich. Danach gibt es nur noch eine Schwester, die den Titel erben kann, aber die ist fast noch in den Windeln."
Genau, das ist es, schoss es Nandra in den Kopf. Rajan war seit Jahren mit einer Prinzessin aus altem legoyanischem Adelsgeschlecht verlobt. Sein jüngerer Bruder hingegen stand der Damenwelt noch zur Verfügung. Nandra hatte ihn einmal bei einem Bankett des Königs, bei dem auch ihr Vater anwesend gewesen war, kennen gelernt und auf Anhieb sympathisch gefunden, während sie Rajan gleich von der ersten Begegnung an abgelehnt hatte. Sie begriff endlich, welch durchtriebenes Spiel mit ihr gespielt wurde und Wut begann brodelnd in ihr aufzusteigen.
"Ich glaube es einfach nicht“, sinnierte sie laut vor sich hin. "Das darf nicht wahr sein."
"Doch“, gab Rajan verwirrt von sich. Er begriff nicht, dass Nandra mit ihren Gedanken schon eine Spur weiter war. "Sie ist erst vier Jahre alt und ... ."
"Ich meinte nicht sie damit“, sagte sie schnell und ging einige Schritte auf und ab. Es wunderte sie, dass ihr Vater trotz allem versuchte, sich nach ihren Gefühlen zu richten. Obgleich ein Bruch mit den Legoyanern, einen gewaltigen Streit nach sich gezogen hätte, wenn er versucht hätte, Nandra mit Rajan zu verkuppeln. Sie konnte einfach nicht glauben, dass ihr Vater nach dem Königsthron strebte. Dass er vielleicht auch noch dazu imstande war, den König und den Vizekönig zu töten. Sie schüttelte den Kopf. Und dennoch klärten sich viele Fragen wie von selbst auf. Ihr Vater, ein einflussreicher Mann, konnte von seiner erhabenen Position aus die Fäden ziehen, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen. Ihr Vater hatte sich von einem einfachen Landsbursch zum Admiral und Königsberater hinaufgearbeitet und versuchte nun, nach dem Thron zu greifen.
Sie schüttelte abermals den Kopf. Sie konnte es einfach nicht glauben. Das hätte sie ihrem Vater niemals zugetraut. Aber andererseits ... ?!
"Ich muss Janol warnen“, sagte sie plötzlich und wirbelte herum.
"Könnten sie mir bitte vorher erklären, was hier gespielt wird?", bat Rajan eindringlich.
Nandra rann plötzlich die Zeit durch die Finger davon. Sie hatte nur ein hastiges "Später" für den Königssohn übrig und schlüpfte auch schon durch die sich öffnende Türe. Sie ließ sich nicht einmal dazu herab, den Wachen einen Abschiedsgruß oder eine Anweisung zurückzulassen. Beinahe Halsüberkopf stürzte sie aus dem Palast, rannte die Portale hinunter und sprang in ihren Gleiter, um im Höchsttempo zur Klinik zu rasen.
* * *
Bereits auf dem Korridor kam ihr der Stationsarzt Dr. O'Halorhan entgegen und Nandra befürchtete schon die schlimmsten Meldungen. Doch was er ihr zu sagen hatte, beruhigte sie schnell und ein Stein der Erleichterung fiel ihr vom Herzen.
"Der General ist im Moment nur bedingt ansprechbar“, erklärte er. "Wir mussten ihn aus dem Belebungstank herausnehmen, da dieser das Volumen an benötigtem Sauerstoff nicht gänzlich aufbringen konnte. Er war schließlich auch nur für wesentlich kleinere Geschöpfe konzipiert." Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Aber dem General geht es den Umständen entsprechen gut“, fuhr er besänftigend fort. "Er war mit dieser Maßnahme einverstanden. Es barg ein gewisses Risiko, doch uns blieb keine andere Wahl, aufgrund dessen, dass der andere Tank zerstört worden war. Er befindet sich im Moment in einem fiebernden Delirium, das durch den Heilungsprozess hervorgerufen wird und ich bezweifle, dass er sie erkennen wird."
"Ich möchte ihn nur sehen“, sagte sie erleichtert.
"Aber sicher." Doktor O'Halorhan gab endlich die Türe frei und ließ sie in das Krankenzimmer eintreten.
Nandra schluckte, als sie Treece inmitten von Drähten und Schläuchen, schwebenden Sonden und Scangeräten entdeckte, die Augen geschlossen, seine Haut bleich und kraftlos und von Fieber gezeichnet. Sie glänzte von Schweiß und Kühlkörperchen. Er wirkte im ersten Moment, als wolle er einen langen Erholungsschlaf tätigen. Doch je näher Nandra kam, desto mehr bemerkte sie die unregelmäßigen Atemzüge und das seichte Flattern seiner Lider, die im Fieberwahn die verschiedensten Träume zu durchleben hatten. Und sie bemerkte die fast unsichtbare Sauerstoffglocke, die sich über seinen gesamten Körper gestülpt hatte. Ein kaum wahrnehmbares Flimmern, das einem zarten Regenbogen glich, hielt die Sauerstoffmoleküle dort, wo sie gebraucht wurden.
Sie setzte sich auf einen Stuhl, den irgend jemand dort vergessen zu haben schien oder speziell für Besucher bereitgestellt hatte, nahm vorsichtig seine Hand und drückte sie an ihre Wange. Er öffnete die Augen, drehte den Kopf und lächelte, als er Nandras Gesicht erkannte.
"Nandra“, kam es leise über seine Lippen.
"Ich bin hier“, rief sie leise und rückte sich in sein verschwommenes Bild.
"Ich hatte einen Traum“, kam es schwach über seine Lippen. "Das Kleid, das du zum Ball getragen hast ... Du hattest es bei meiner Ernennung zum Sektionsverwalter an und du standest an meiner Seite."
Nandra schluckte den dicken Kloß hinunter. Wenn ihr Vater Erfolg hatte, würde sein Traum niemals Wirklichkeit werden. Sie drückte die Hand fester an ihre Wange.
"Dein Haar war wie ein einziger Lockenkranz“, fuhr er leise fort und betrachtete mit glasigem Blick ihre streng zurückgekämmte und im Nacken eng verflochtene Haarpracht. Er flüsterte beinahe. Nandra musste nahe herangehen, um ihn verstehen zu können. "Ein Strahlen ging von dir aus und sie liebten dich alle."
"Ein schöner Traum“, sagte sie und musste eine Träne hinunterkämpfen. "Ich wünsche dir, dass er wahr wird." Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihr Wunsch ging wahrscheinlich ebenfalls niemals in Erfüllung. Admiral Okopaido war sehr ehrgeizig.
"Hast du den Mistkerl?", wollte er wissen. Seine Augen erhielten für einen winzigen Moment jene Kraft und jene Ausstrahlung zurück, die sie so sehr an ihm liebte.
"Ich bin ihm sehr dicht auf den Versen“, erwiderte sie und musste noch einen Kloß hinunterschlucken. Wenn der Trenkjar in einem besseren Zustand gewesen wäre, hätte sie ihm von ihrer Vermutung berichtet und ihn um Rat gefragt. Doch nun war sie auf sich selbst gestellt und musste selbst entscheiden, was sie weiter unternehmen sollte. "Morgen weiß ich sicherlich mehr“, sagte sie und wischte die verlorene Träne von ihrer Wange. Doch Treece hinderte sie rechtzeitig daran, nahm die Träne auf seine Fingerspitzen und strich sie auf seine Lippen. Trotz seines Zustandes, trotz des hohen Fiebers, das seinen Körper förmlich zu verbrennen drohte, war sein Verstand hellwach und registrierte jede noch so kleine Winzigkeit. Er hatte Nandras Träne sehr wohl bemerkt und sie von ihr genommen, als könne er damit eine Last von ihren Schultern nehmen.
"Morgen werde ich dir besser zuhören können“, sagte er leise, als er die Träne von seiner Lippe geleckt hatte und zog Nandra näher zu sich. Sie kämpfte mit sich. Er schien ihre Gedanken erraten zu können. "Morgen werde ich dir einen weiteren Traum erzählen“, flüsterte er lächelnd.
"Dazu musst du erst einmal schlafen." Ihre Lippen fanden sich zu einem verzehrenden Kuss, der ihre Gefühle füreinander bestätigt. Nandra zuckte etwas zurück, als sie bemerkte, dass Treece in einen fieberhaften Trancezustand gefallen war. Sie küsste ihn erneut liebevoll, strich ihm über die heiße, schweißnasse Stirn und entfernte sich dann wieder.
Draußen auf den Korridor angekommen, sank sie an der Wand entlang nieder, vergrub das Gesicht in den Händen und gönnte endlich ihren Tränen freien Lauf. Nicht sein miserabler Zustand hatte sie erschüttert. Nicht seine sehnsuchtsvollen Fieberträume. Nicht der wache Verstand, der trotz allem versuchte, durch die schemenhafte Nebelhülle des Fiebers zu dringen, sondern sie selbst. Sie selbst, die den einzig wahren Geliebten hintergehen und täuschen müsste. Sie selbst, die nicht imstande war, ihm die Wahrheit zu sagen, obgleich es ihm sein Befinden vielleicht nicht gänzlich hätte erlauben können. Sie selbst, die sich selbst verletzen und betrügen musste, um in einem wirren Intrigenspiel nicht aus dem Rennen geworfen zu werfen.
Die Tränen rannen wie kleine Bäche durch ihre Finger. Ihr Körper zuckte und wand sich. Sie fühlte sich elend und niederträchtig. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich schlecht dabei, wenn sie jemanden betrog.
* * *
Ob Doktor O'Halorhan nur wegen der versprochenen Zuwendung so zuvorkommend und einfühlsam war, oder ob er sich schon von Natur aus und wegen seiner Berufung um die aufgelöste Person in dem Korridor seiner Station kümmerte, vermochte sie nicht zu sagen. Irgendwann bemerkte Nandra, dass sie hochgenommen, in einen Repulsorstuhl gesetzt und in einen der kleinen Wartezimmer gebracht wurde. Der Arzt verabreichte ihr eine kleine Dosis Beruhigungsmittel und hielt ihre Hand, bis sie sich wieder etwas besser fühlte. Nandra lehnte sich an seine breite Schulter und schniefte dort die letzten Tränen aus. Dass sich der Mann, trotz des vollbesetzten Hospitales Zeit für eine Besucherin nehmen konnte, beeindruckte sie und sie überreichte ihm mehr als gerne, die kleine Datenkarte, auf der ein größerer Kreditbetrag zur Übertragung auf das Konto des Hospitales stand.
Seine besänftigenden Worte und auch ein wenig die kleine Injektion waren es schließlich, die sie gestärkt wieder in die frische Luft entließen. Zunächst saß Nandra viele Minuten lang in ihrem Gleiter und wusste nicht, was sie als nächstes unternehmen sollte. Doch dann erinnerte sie sich wieder an Lilian und startete den Motor. Sie musste ihre Freundin warnen und ihr mitteilen, dass sie sich eventuell mit dem Admiral persönlich anlegte, wenn sie weiterhin Nachforschungen über dingbare Killer anstellte.
Lilian war wie erwartet, irgendwo unterwegs. Nandra klapperte noch einige Stellen ab, an denen sie die junge Frau vermutete, doch vergebens. Stattdessen lief sie unvermittelt ihrem Vater über den Weg. Sein finsterer Blick erzählte ihr, dass er über ihren Besuch bei Rajan informiert worden war. Er nahm sie sogleich unter dem Arm, hielt sie fest, so dass sie nicht mehr davoneilen konnte und führte sie in eine leerstehende Kammer, die als Lager für sämtliches Reinigungsmaterial diente. Saug-, Wasch-, Desinfizier- und Vernichtungsgeräte aller Art standen tatenlos herum und einige Maschinen schalteten sich sogar selbständig ein, als sie die Präsenz von Lebewesen bemerkten.
Der Admiral zerrte seine Tochter in die Kammer, drehte sie so schwungvoll herum, dass sie beinahe über einen alten Besen gestolpert wäre und fuhr sie sogleich wütend an.
"Was zum Henker bildest du dir eigentlich ein?", schrie er sie an. "Was wolltest du bei Rajan? Du könntest damit alles zerstört haben."
Nandra verkniff sich ein Lächeln. Obwohl sie nicht viel von dem Königssohn hielt, rechnete sie ihm hoch an, dass er ihrem Vater gegenüber den Mund gehalten hatte. Er hatte ihm nicht erzählt, worüber sie gesprochen hatten, sonst würde ihr Vater anders reagieren.
"Ich wollte herausfinden, was er weiß“, sagte sie und strich ihre Uniform wieder glatt.
"Halte dich heraus“, verfügte er wütend. "Ich habe alles im Griff."
"Ich weiß“, gab sie reserviert zurück. "Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich untätig herum sitzen werde, während ein verrückter Killer unentwegt versucht meinen Liebsten umzubringen." Sie benutzte absichtlich dieses Wort, das ihr eigentlich selbst nicht sonderlich gefiel. Sie fand es zu altmodisch.
"Halte du nur weiterhin sein Händchen“, stieß der Admiral verächtlich hervor. "Ich werde dir den Täter schon servieren."
"Daran zweifle ich keine Sekunde“, erwiderte sie kalt. "Schließlich haben wir ja auch eine Abmachung."
Ihr Vater blickte sie prüfend an. Der Spazierstock in seiner Hand zuckte unmerklich. Er schien bereits zu ahnen, dass seine Tochter hinter die wahren Absichten gekommen war.
"Weißt du, was mich an der ganzen Sache wundert?", sagte sie und blickte sich kurz um. Ihr Blick schweifte über all die Geräte und Roboter der Kammer, jedoch ohne auch eines davon näher zu inspizieren. "Was ich mich immer wieder frage und worauf ich einfach keine Antwort finde?" Ihr Blick fing ihren Vater ein, der auf das erste Wort wartete, das seine Vermutungen bestätigte. Nandra wollte ihn nicht länger zappeln lassen. "Warum treibst du so ein langatmiges Spielchen mit Janol? Warum hast du ihn nicht gleich beim ersten Mal sterben lassen?"
Der Admiral starrte sie mit zu Schlitzen zusammen gekniffenen Augen an, verkniff sich jedoch jede Äußerung, die auf ein Zugeständnis hinleiten könnte.
"Du sagtest selbst, wäre der Killer besser informiert gewesen, wäre Janol längst tot. Es kann aber auch möglich sein, dass der Killer bestens informiert und instruiert worden war und absichtlich das Herz verfehlte. Dass der Schuss aus gutem Grund die Lunge treffen und das Opfer noch eine Weile leben lassen sollte. Ist das richtig?"
Nandra kannte ihren Vater inzwischen gut genug, so dass sie aus dessen Mienenspiel wahre Geschichten herauslesen konnte. Ihr Vater besaß ansonsten ein versteinertes Gesicht, doch wenn er sich verunsichert oder bei einem Fehler ertappt fühlte, dann begannen die Falten auf seiner Stirn zu flattern.
"Warum das Ganze? Hast du noch etwas mit ihm vor? Oder willst du mich noch eine Weile quälen, um mich irgendwann für eine ganz andere Mission zu missbrauchen? Sag mir die Wahrheit, Vater!"
"Dieser Treece ist nichts für dich“, gab er barsch von sich.
"Aber nicht, weil er kein richtiger Mensch ist“, fügte sie hinzu. "Sondern weil du mich eigentlich an der Seite von Kojan, Rajans Bruder sehen möchtest. Ist das so?" Sie schnaufte, als seine Stirnfalten zuckten. "Du enttäuschst mich, Vater. Ich wusste zwar schon immer, dass du über Leichen gehen kannst, aber dass du tatsächlich zwei Männer umbringen lässt, damit du dein Ziel erreichst, das lässt mir kalte Schauer über den Rücken jagen."
"Dass du auf einmal Skrupel bekommst“, stieß der Admiral verächtlich hervor. "Das wundert mich. Wolltest du nicht immer die Beste sein?"
"Aber nicht um jeden Preis“, entgegnete sie entschlossen. "Im Gegensatz zu dir, versuche ich mir noch etwas Leben zu bewahren, um am Schluss nicht von meinem Gewissen erdrückt zu werden."
"Gewissen“, äffte der Alte nach. "Wer braucht das schon." Er begann mit seinem Stock zu spielen. "Dieser Treece kann dir nichts bieten, außer Dreck, Schmutz, Hitze und Arbeit."
"Du hast etwas vergessen“, sagte sie gelassen. "Er bietet mir auch Liebe."
"Pah“, machte der Admiral. "Liebe brauchte nicht einmal deine Mutter um bestehen zu können. Ganz im Gegenteil. Sie verabscheute sie."
"Bist du deswegen so verbittert? Weil dir niemand Liebe entgegen bringen wollte?"
"Du kannst dir soviel Liebe nehmen wie du willst, wenn du dein Ziel erst einmal erreicht hast. Aber auf dem Weg dorthin ist sie dir nur hinderlich."
"Sie kann auch beflügeln und den Weg beschleunigen“, wusste Nandra.
"Ach was“, rief der Vater und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ihr jungen Heißsporne glaubt, das Leben zu kennen, ohne es jemals richtig ausgekostet zu haben. Ihr glaubt, auf Ideale wie Liebe und Vertrauen auf keinen Fall verzichten zu können. Dann will ich dir mal etwas sagen. Wenn du glaubst, diese Dinge unbedingt während des ganzen Weges mitschleppen zu müssen, dann hast du ein schweres Bündel zu tragen. Es ist nicht einfach, einen Berg mit mehreren vollgepackten Koffern zu erklimmen. Es ist wesentlich leichter, ohne Gepäck zu reisen."
Nandra starrte ihn kalt an. Sie fand sich nicht bereit, von ihren neu gewonnenen Empfindungen loszulassen. Früher hätte sie ihrem Vater blind geglaubt und alles hinter sich gelassen, was er für überflüssig fand. Doch heute wollte sie selbst entscheiden, mit was sie sich beladen wollte, auch wenn sie unter der Last zu zerbrechen drohte.
"Ich werde Janol beschützen und verteidigen, so gut ich kann“, sagte sie entschlossen und hielt seinem stechenden Blick mühelos stand. "Ich habe mit ihm etwas gefunden, was ich nicht wieder von dannen ziehen lassen möchte. Es interessiert mich nicht, wie du mein Leben verplant hast. Es gehört mir und ich werde es so verlaufen lassen, wie ich es für richtig halte."
"Das wirst du nicht“, verfügte der Admiral. "Ich habe deinetwegen zuviel riskiert, um mich nun nach deinem Kopf zu richten. Du wirst dich vom ihm lossagen, oder ... ."
"Oder was?", hakte sie nach, ehe er es aussprechen konnte. "Wirst du deinem Killer sagen, er soll ihn endlich töten?"
"Auch das“, nickte er. "Das Kommando der Ashantin, sämtliche Privilegien, sämtliche Guthaben. Du wirst ohne mich keinen einzigen Fingerzeig machen können. Du bist ohne mich ein Nichts."
"Wie kannst du nur so kalt sein?", wollte sie wissen. Es ging ihr wahrlich nicht um materielle Dinge oder ein behütetes und wohlsituiertes Leben. Es ging ihr nicht um eine gesicherte Zukunft oder die Aussicht auf Zugeständnisse. Die Tatsache, dass ihr Vater sich imstande zeigte, selbst über die Leiche seiner Tochter zu gehen, ließ den letzten Rest an Zuneigung, die sie ihm gegenüber noch aufzubringen vermochte, in Luft auflösen. "Wenn ich für dich gestorben bin, dann ist ja endlich alles geklärt. Dann sind wir uns ja endlich einig und du kannst mich endlich in Ruhe lassen. Lass uns beide in Ruhe." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm wenigstens halbwegs in die Augen sehen zu können. "Ich pfeife auf die Ashantin. Ich pfeife auf deine Privilegien. Du kannst dir meine ganzen Guthaben irgendwo hin stecken. Wenn das ganze durch dich ermöglich worden ist, will ich es sowieso nicht mehr haben. Ich pfeife darauf." Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, doch ihr Vater hielt sie fest und schleuderte sie in den Raum zurück. Nandra stolperte diesmal wirklich über den Besenstiel und knallte gegen einen unförmigen Desinfektionsapparat, der erschocken seine Exkremente ausfuhr und kleine Wölkchen weißen Giftgases verströmte. Nandra musste husten, als sie direkt in eines dieser Wölkchen purzelte und für einen Moment war ihr Blick verschwommen. Sie konnte nur noch sehen, wie etwas auf sie zustürzte und sie drehte sich einem Reflex folgend zur Seite. Doch da war eine andere Apparatur, die aus dem Gleichgewicht geriet und sie unter sich begrub.
Noch ehe sie sich darunter hervorarbeiten konnte, spürte sie den Spazierstock ihres Vaters auf ihrem Oberschenkel und sie schrie erschrocken und vor Schmerz auf.
"Du wirst gefälligst tun, was ich dir sage“, zischte ihr Vater zornig und einige Stirnfalten plusterten sich gefährlich auf. "Du wirst ein artiges Mädchen sein und gehorchen."
"Das werde ich nicht“, rief sie unter Tränen. Es war schon lange her, dass ihr Vater sie das letzte Mal verprügelt hatte. Sie war noch sehr klein gewesen und es sich erlaubt, an einem heißen Sommertag ein leichtes Kleidchen, anstelle dem verordneten, dickstoffigen Overall anzuziehen. Immer wieder landete der Stock auf ihren Beinen. Und immer wieder. Nandra besaß keine andere Möglichkeit, als zu schreien und die Schmerzen hinunterzuschlucken. Der Arbeitsroboter lag derart schwerfällig auf ihr, dass sie nicht ohne fremde Hilfe wieder unter ihm hervorkam.
"Du bist meine Tochter und du wirst tun, was ich dir sage“, herrschte der alte Mann, als Nandra nur noch wimmernd die Stockschläge kommentierte. "Haben wir uns verstanden?" Er schnaufte erregt, strich sich die losgelösten Haarsträhnen aus der Stirn, setzte die Mütze wieder richtig auf den Kopf und schlug den Stock unter seine Achsel. "Heute Abend werde ich dem König den Vorschlag unterbreiten, unsere beiden Familien durch eine Heirat zu verbinden. Und du wirst artig sein und nicken, wenn man dich dazu befragt. Hast du gehört?" Er schaffte den Roboter von ihrem Körper, zerrte sie an ihrer Uniform hoch und stellte sie wieder auf die Beine. "Hast du gehört?", fragte er scharf.
Nandra widerstand dem Drang, artig zu nicken, biss auf die Lippen und starrte mit tränenerfüllten Augen an ihrem Vater vorbei. Für sie war er bereits gestorben.
Eine Ohrfeige schallte durch den kleinen Raum. Nandra schluckte das Blut hinunter, dass ihre zerbissene Zunge ausströmte und schwieg. Auch auf eine weitere Ohrfeige, versuchte sie nicht zu reagieren. Sie wollte sich beim besten Willen nicht unterkriegen lassen. Das strenge Training und der harte Drill auf der Akademie halfen ihr dabei.
Admiral Okopaido schnaubte, stieß sie rücklings, so dass sie auf dem umgestürzten Arbeitsroboter landete, wirbelte herum und eilte aus der Kammer. Dann versah er den Schlosscode mit einer Sperre, so dass niemand außer ihm die Türe zu der Abstellkammer öffnen konnte und marschierte davon. Nandra vernahm noch die harten Schritte ihres Vaters, dann brach sie weinend zusammen.
Sie hatte niemals für möglich gehalten, dass ihr Vater zu so etwas fähig war.
* * *
Erst am Abend, als die Dunkelheit durch die kleinen Schlitzfenster knapp unterhalb der Decke ins Innere der Kammer drang, öffnete sich die Türe wieder und ihr Vater holte sie zur erwähnten Verabredung ab. Er schleppte sie hinter sich her, wie ein störrisches Kind und zerrte immer wieder wütend an ihrem Arm, der trotz seines beträchtlichen Alters die Kraft aufbrachte, sich auch gegen Nandras Befreiungsversuche zu erwehren. Er schleppte seine Tochter durch den ganzen Palast und stieß sie schließlich in ein Zimmer hinein, hinter deren Türe bereits Lilian wartete. Ihr Gesicht zeigte sich erschrocken über die Art, wie Okopaido mit ihrer besten Freundin verfuhr und presste das Kleid, das sie prüfend in den Händen gehalten und betrachtet hatte, an ihre Brust bis es Druckfalten besaß.
"In einer halben Stunde hole ich dich wieder ab und dann möchte ich, dass du aussiehst wie ein akzeptables Mädchen“, zischte er und knallte die Türe hinter sich zu. Im Königspalast gab es noch die schweren Holztüren, die schon seit Generation die Zimmer abschlossen. Der Wandel der Zeit hatte nur elektronische Schlösser und Schließmechanismen anbringen lassen.
"Mein Liebes“, rief Lilian bestürzt und ließ sich zu Nandra nieder. "Was um Himmels willen ist geschehen?" Sie strich ihrer Freundin über das tränenaufgelöste Gesicht. "Du siehst schlimm aus." Sie streichelte liebevoll über die rote Wange. "Dein Vater sagte, ich solle mit einem meiner besten Kleider hier erscheinen. Was ist denn los?"
"Hilf mir“, schluchzte Nandra und klammerte sich verzweifelt an Lilian fest. In ihren Augen stand die Verzweiflung deutlich geschrieben. Ihr Blick verriet, dass sie die Welt nicht mehr verstand. "Vater dreht durch. Er hat versucht, Janol töten zu lassen und es wird ihm auch gelingen, Rajans Hinrichtung durchzusetzen."
Lilian starrte sie entsetzt an. "Er will dich auf den Thron bringen?", rief sie, mit scharfem Verstand erkannt.
"Du musst mir helfen. Du musst mir helfen zu fliehen."
"Wie kann ich das?", rief sie achselzuckend. "Wir befinden uns im fünften Stock und vor der Türe steht bestimmt eine Wache. Ich würde gerne, aber ich weiß nicht wie."
Nandra schluckte ihre Verzweiflung, ihre Wut und ihre Tränen hinunter, wischte sich über das geschwollene Gesicht und dachte scharf nach.
"Weißt du noch?", rief sie, als ihr eine Idee kam. "Im Internat? Wie wir die Oberin täuschten?"
"Aber sicher“, rief Lilian sogleich begeistert und begann auch schon, sich auszuziehen. "Wenn du deinen Kopf unten hältst, wird es niemand merken."
"Lilian“, gab Nandra ergriffen von sich und brachte damit den Begeisterungsschwung ihrer Freundin für kurze Zeit zum Stillstand. Die beiden betrachteten sich einen Moment schweigend. "Ich weiß nicht, was Vater mit dir anstellen wird, wenn er es bemerkt. Er kann unberechenbar werden“, warnte Nandra.
"Mehr als mich verprügeln wird er nicht können. Ich bezweifle aber, dass er sich an einer mit einem Minister verheirateten Frau und zweifachen Mutter auslässt. Außerdem ... ." Sie küsste ihre Freundin auf die Stirn. "Endlich passiert etwas." Sie lächelte zuversichtlich. "Nun komm schon, zieh dich um. Wir haben nicht viel Zeit. Und du brauchst doch auch noch etwas Vorsprung."
"Lilian, ich liebe dich“, entfleuchte Nandras Lippen.
"Ich weiß, Liebes“, lächelte Lilian und ließ ihr Kleid auf den Boden fallen.
Vor der Türe stand tatsächlich eine Wache, die erschocken aufsprang und die Person beäugte, die es gewagt hatte, an die Türe zu klopfen und um Auslass zu bitten. Durch die geschlossene Türe hatte sich Lilian darüber brüskiert, dass sie die Frau eines Ministers war und deshalb nirgendwo festgehalten werden durfte. Sie hatte noch einige Termine wahrzunehmen und sie wolle nicht die Ausrede, sie sei eingesperrt worden, dazu benutzen müssen, sich zu entschuldigen. Die Wache betrachtete sie eingehend, doch sein Kurzzeitgedächtnis schien nicht das Beste zu sein. Denn dann hätte er bemerken müssen, dass das glatte schwarze Haar plötzlich zu einer kaum zubändigenden dunkelbraunen Lockenpracht geworden war, dessen Spitzen unter dem mantillaähnlichem Kopftuch hervorspitzelten. Er schien sich nur an das farbenprächtige Kleid erinnern zu können und gestattete ihr mit einem Kopfnicken, den Raum zu verlassen.
Nandra hatte sich die Mantilla tief ins Gesicht gezogen und versuchte sich an dem schwingenden Gang, den sie kurz zuvor nur wenige Male geprobt hatten. Die Wache und einige Bediensteten schien die Vorstellung zu überzeugen, denn sie kam unbehelligt bis zum Ausgang. Da die Frau des Ministers Tasslories ein oft gesehener Gast im Königspalast war, ließ man sie selbst zu fortgeschrittener Stunde ungehindert durch die Räumlichkeiten schreiten. Sobald Nandra außer Sichtweite der Palastwache war, rannte sie so schnell sie konnte hinunter auf die Straße, rief ein Gleittaxi und ließ sich zum Palais des Vizekönigs chauffieren. Da die beiden Anwesen nicht weit voneinander entfernt lagen und sie den Fahrer zu höchster Eile angespornt hatte, befand sie sich nur knapp fünf Minuten später vor dem Toilettenraum, in welchem Prinz Rajan festgehalten wurde.
Noch während sie in ihrem Kleid durch die Korridore wehte, an den müde wirkenden Portalwachen vorbei, überlegte sie, wie sie Rajan befreien und heilen Hautes wieder auf die Straße gelangen konnte. Dann entdeckte sie die Warnblinker der Detektoren, die im gesamten Komplex für eine waffenfreie Zone sorgen sollten. In jedem Stockwerk gab es welche, in jedem Zimmer und in allen Winkeln und Ecken. Wenn man nicht vom Empfangspförtner als Berechtigter eingetragen wurde, erledigten unzählige Lichtblitze die Arbeit von Palastwachen; schneller, als irgendein Revolvermann zu ziehen vermochte. Unter Lilians Kleid trug sie ihre kleine Pistole, die zwar entsichert und abgeschaltet war, aber von den Detektoren sicherlich noch als gefährlich eingestuft werden musste. Noch schützte die Mantilla sie vor den tödlichen Strahlen, doch sobald sie tiefer in den Palast eindrang und die Detektoren auch Haut und Knochen durchleuchteten, würde es ans Tageslicht geraten.
Sie blieb stehen und überlegte einen Moment. Schließlich ging sie weiter und steuerte geradewegs die Sozialunterkünfte des Personals an, drückte auf den Knopf, damit sich die Türe öffnete, zog die Waffe aus der Versenkung und noch während sie ausholte und sie mit weitem Bogen in den Sozialraum warf, duckte sie sich und rollte sich zur Seite. Ein Warnblitz schoss nur einen Augenblick später in die Wand ein, wo ihr Kopf gewesen war. Dann zuckten die Blitze im Inneren des Sozialraumes.
Nandra hoffte, dass sich zu dieser späten Abendstunde kein lebendiges Wesen mehr in diesen Räumen aufhielt und dachte mit Schaudern daran, falls sie sich täuschte. Dann rannte sie zurück, einige Stockwerke hoch - in welchem sich der Toilettenraum befand und wartete im Auge des Treppenaufganges, wo sich eine großblättrige Rankenpflanze gen Glashimmel hangelte. Wie erwartet war der Alarm losgegangen und sämtliche Wachen liefen zusammen. Nandra besaß gerade noch genug Zeit, sich hinter einem der beinahe manngroßen Blätter zu verstecken und auf einer dünnen Querstrebe, die der Rankpflanze Halt geben sollte, zu balancieren. Der Palast des Vizekönigs beherbergte aufgrund der Detektoren nicht viel Wachpersonal. Für Rajan schienen drei zusätzliche Wachen hinzugezogen worden zu sein. Denn insgesamt vier Männer rannten die Treppe hinunter, um nach dem Rechten zu sehen.
Nandra beeilte sich. Sie besaß nicht viel Zeit. Es waren inzwischen weitere fünf Minuten vergangen. Sie musste den Vorsprung so gut wie möglich ausnutzen. Wenn ihr Vater ihre Flucht bemerkte, musste sie sich außerhalb seines Geltungsbereiches befinden. Die Wachen im Anwesen des Vizekönigs konnte er in weniger als einer viertel Minute alarmieren.
Der Toilettenraum war verschlossen. Sie nahm Anlauf und trat die Türe einfach ein. Rajan sprang wie von einer Nadel gestochen hoch, als Nandra samt Türe ins Innere des Raumes flog.
"Schnell“, rief sie außer Atem und winkte ihn zu sich.
"Was geht hier vor?", fragte er verwirrt und brauchte viel zu lange, bis er sich in Bewegung setzte.
"Nun komm schon. Oder willst du hingerichtet werden? Setz deinen Hintern endlich in Bewegung." Sie rannte mit Rajan im Schlepptau den Korridor weiter, bis sie an einem Fenster eine Sackgasse fand. Rajan wollte sogleich wieder zurücklaufen, doch Nandra hielt ihn zurück. Sie befanden sich im dritten Stock. Wenn man vorsichtig die Fassade herunterkletterte und sich dabei nicht sonderlich dumm anstellte, würde man ohne gebrochene Knochen davonkommen.
"Nun komm schon“, rief sie leise. Sie konnte die Wachen, die ihren Posten wieder einnehmen wollten, schon die Treppe hinaufklettern hören. Wenn sie die eingetretene Türe sahen, war ihre Flucht schneller beendet, als sie je gedacht hatte. Schnell raffte sie das Kleid zusammen, band es zwischen ihren Beinen hindurch um ihren Bauch und hangelte sich behände auf den schmalen Sims. Vorsichtig ließ sie sich tiefer gleiten und suchte mit ihren Zehenspitzen blindlings nach einem sicheren Tritt. Rajan folgte ihr unversehens. Auf seiner Stirn standen bald Schweißperlen. Seinen weiten Kaftan hatte er sich flugs um den Bauch gebunden. Seine weichen Festtagsschuhe in den Gürtel gesteckt und kletterte nun, etwas weniger behände und barfüßig und in Unterkleidung die Fassade herunter.
Die letzten drei Meter überwand Nandra im freien Fall und rollte sich geschickt ab. Das weite Kleid verhedderte sich in ihren eigenen Beinen und sie verstauchte sich etwas den Knöchel. Es behinderte sie jedoch nicht an der weiteren Flucht.
"Wie komme ich zu der Ehre?", wollte Rajan leise wissen, als auch er die letzten Meter heruntergesprungen war und sich stöhnend und den Schweiß von der Stirn wischend wieder aufrichtete. Hastig schlüpfte er in seine weichen Schuhe und warf sich die weiße Robe über die Schultern, als müsse er damit eine brachliegende Blöße bedecken.
"Später“, rief sie hastig, noch ehe er die Robe an sich glatt streifen konnte. "Wir müssen von hier fort, bevor man uns sieht."
"Hast du etwa Angst, mit mir gesehen zu werden? Ach ja richtig, ich bin schließlich ein Mörder."
"Spar dir deine billigen Witze“, knurrte sie missmutig und zerrte ihn eiligst mit sich. Sie konnte nur noch wenig Respekt für den Königssohn aufbringen. Wenn ihr Vater mit Rajan nicht ein Druckmittel gegen sie gehabt hätte, wäre sie gar nicht erst auf die Idee gekommen, ihn zu befreien.
Da erwies sich die Angelegenheit mit Janol als wesentlich schwieriger. Der Trenkjar war nicht transportfähig, geschweige denn, selbst in der Lage, zu gehen oder sich auf seinen Beinen zu halten. Sie musste, so schwer es ihr auch fiel, darauf hoffen, dass ihre inzwischen eingetroffenen Ashantin-Leute, ihre Posten verteidigten und sich nicht abkommandieren oder vertreiben ließen. Als sie das letzte Mal in der Klinik war, hatte sie ihnen befohlen, komme was wolle, ihre Stellung zu halten und das Leben des Generals notfalls mit ihrem eigenen zu verteidigen. Nur sie selbst solle ihnen gestatten dürfen, die Klinik zu verlassen oder zu ihrem Landurlaub zurückzukehren.
Sie hoffte inständig, dass sich die Männer auch an ihren Befehl gebunden hielten, wenn man ihnen erzählte, dass Nandra Okopaido nicht mehr die Kommandeurin der Ashantin war.
"Wir brauchen ein Versteck, wo uns niemand vermutet“, sagte sie und blickte sich etwas ratlos um. Sie waren quer durch den angrenzenden Park gelaufen und befanden sich nun auf einer am helllichten Tag stark frequentierten Straße. Zu dieser Stunde jedoch bequemten sich nur sehr wenig Benutzer über die nächtliche Fahrbahn.
"Wenn es weiter nichts ist“, rief Rajan und winkte sie mit sich. "Es ist zwar nicht gerade für eine Dame angemessen, aber durchaus zweckmäßig." Er winkte dem rotgelben Leuchtzeichen eines Miettaxis, das zufällig des Weges kam.
"Sogar ein Bordell wäre mir recht“, schnaufte sie und folgte ihm bereitwillig. Sie sah auf die Uhr. In zehn Minuten würde ihr Vater die Türe öffnen und sie zu seinem arrangierten Rendezvous bitten. Eine Minute später würden sich die Wachen im Haus des Vizekönigs wünschen niemals geboren worden zu sein. Denn auch sie würden Nandras Verschwinden mit dem von Rajan in Verbindung bringen können.
"Ich weiß, warum du mich diesem Trenkjar vorziehst“, sagte Rajan. "Er würde es nicht wagen, dich in einem Bordell zu verstecken."
Nandra wagte einen Seitenblick. Ihre Bemerkung sollte eigentlich ein hohler Scherz gewesen sein. Dass er dies durchaus wörtlich nahm, hatte sie nicht erwartet. Sie schnaufte, trottete aber doch hinter ihm drein und setzte sich in das Gleittaxi. Bald war sie in trübe Gedanken versunken. Ihr ganzes Leben drehte sich um sie und nichts schien mehr wie vorher zu sein. Was bislang stets geregelt und gewohnt seinen Gang ging, war plötzlich vollkommen aus den Fugen geraten. Was ihr bislang als recht und richtig vorgekommen war, entpuppte sich nun als Farce. Was bislang ihr Leitfaden gewesen war, zeigte nun sein wahres Gesicht und war sogar imstande gewesen, sie in den Abgrund zu führen. Tränen schossen ihr in die Augen und sie musste blinzeln. Die Lichter der Nacht verschwammen zu einem einheitlichen Brei. Tanzende Nebelschwaden umhüllten sie mit seinem kühlen Hauch. Dann packten sie zwei Arme und zogen sie an sich. Zwei Hände, die sie stets nur mit Widerwillen hautnah an sich herangelassen hatte, legten sich tröstend auf ihre Schultern. Nandra war dies im Augenblick vollkommen gleichgültig. Ihre Tränen wollten sich nicht länger zurückhalten lassen. Dass sie an diesem Tag so viele Tränen wie noch nie in ihrem ganzen bisherigen Leben vergossen hatte, dafür besaß sie in diesem Moment keinen einzigen freien Gedanken mehr.
* * *
Dass der ewig marklos aussehende Rajan, mit seinen viel zu feinen Kleidern und seinem geziert höfischem Gehabe tatsächlich dazu imstande war, sie auf seinen Armen ins Haus zu tragen, hätte Nandra zu denken gegeben, wenn all ihre Sinne beieinander gewesen wären. Doch von den überwältigenden Eindrücken verwirrt und von vielen Tränenschwallen aufgelöst, besaß sie weder für seine überraschenden Kräfte, noch für das anrüchige Haus, in dessen Räumen sie sich für eine Nacht verstecken wollten, Gedanken. Sie ließ sich widerstandslos auf das breite, viel zu weiche Bett legen und schlief weinend ein.
Als sie wieder erwachte, fühlte sie sich zwar nicht wesentlich besser, doch das gleißende Sonnenlicht, das durch die schmutzigen Fenster ins Innere des Zimmers drang, erhellte ihr Gemüt ein wenig und sie räkelte sich genussvoll. Ein dezentes Geräusch machte sie auf die Anwesenheit einer weiteren Person aufmerksam und Nandra schrak hoch. Auf einer zusätzlichen Pritsche, die offenbar speziell für die ungewöhnlichen Gäste herbeigeschafft worden war, thronte Rajan mit überschlagenen Beinen und inspizierte ausführlich seine Fingernägel. Als er erste Regung in seiner Zimmergenossin bemerkte, zuckte er nur unmerklich mit den Augenbrauen, widmete sich aber weiterhin seinen Fingernägeln, als bedeuteten sie für ihn das wichtigste in seinem Leben.
"Wo sind wir hier?", wollte Nandra wissen. Rajan war wenigstens so galant gewesen und hatte sie in Lilians Kleidern ins Bett gelegt. Nur die Sandalen nahm er ihr ab, bevor er sie zudeckte. Die Ausstattung des Zimmers war einfach aber zweckmäßig gehalten. Stetig ratternde Ventilatoren sorgten für gute Luft und das Bett roch nach Desinfektionsmittel.
"Die Leute hier sind sehr verschwiegen“, antwortete er, ohne von seinen Fingern aufzusehen. "Der Service ist dafür zwar etwas teurer, aber dafür sind auch die Zimmer sauber." Er wischte sich die Hände an seiner Brust ab und richtete sich gerader. "Ich wäre echt dankbar, wenn ich endlich eine Erklärung bekäme. Ich möchte schon gerne mehr darüber wissen, warum ich zwei Tage in ein stinkendes Zimmer gesperrt wurde und dann Hals über Kopf fliehen musste. Nach deinem Besuch habe ich mir so einiges zusammengereimt. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das den Tatsachen entspricht." Er betrachtete Nandra eingehend. "Deinem gestrigen Zustand entsprechend, muss es den Trenkjar nun doch erwischt haben. Ich habe selten biestige Frauen wie dich, derart aufgelöst gesehen."
"Biestige Frauen?", wiederholte sie, als traute sie ihren Ohren nicht. "Du hältst mich für biestig?" Sie räusperte sich. Ihre Sinne waren wieder so klar und aufgeräumt, dass ihr der persönliche Ton zwischen ihnen beiden auffiel. Er war schließlich der Sohn des Königs und würde irgendwann selbst den Thron besteigen.
"Ich halte dich imstande dazu, mir das Gesicht zu zerkratzen, sollte ich es jemals wagen, dich zu küssen."
"Das könnte schon gut möglich sein“, erwiderte sie lächelnd.
"Und dass irgendetwas von mir, dich zum Lächeln bringen könnte, hätte ich noch viel weniger erwartet“, sagte er anschließend und stellte seine Beine auf den Boden, um sich auf die Knie aufzustützen und sie mit leicht vorgebeugtem Oberkörper zu betrachten. "Erfahre ich endlich die ganze Geschichte. Ich möchte wissen, ob meine Vermutungen stimmen."
"Im Moment ist so ziemlich alles richtig. Welche Vermutungen hast du denn?", wollte sie wissen. Sie versuchte einfach bei dem vertraulichen Ton zu bleiben. Solange er keine Einwände dagegen erhob, musste sie sich nicht einer selbst auferlegten Verkünstelung unterziehen. Zudem befand sich kein Protokollar und auch kein Haushofmeister in der Nähe, der sie maßregeln konnte. Sie durften sich ganz ungezwungen benehmen.
"Nachdem der Trenkjar beseitigt werden soll, will dich jemand für sich haben. Und nachdem ich ebenfalls aus dem Weg geräumt werden soll, muss es dieser jemand zusätzlich auch auf den Königsthron abgesehen haben. Vielleicht Kojan selbst. Ich wüsste sonst niemanden, der ... ."
"Mein Vater“, erklärte sie und verzog ihr Gesicht. Die Blutergüsse an ihren Beinen schmerzten etwas und erinnerten sie an die Züchtigung.
"Admiral Okopaido? Was hat er davon? Außer dass seine Tochter bei offiziellen Anlässen eine Krone trägt, springt für ihn doch nichts dabei heraus."
"Ich wage es nicht, weiter als bis zum Jetzt zu denken“, sagte sie. "Wer weiß schon, was er noch alles austüftelte. Es ist gut möglich, dass Kojan ebenfalls irgendwann daran glauben sollte. Oder was auch immer." Sie tat es mit einer wegwischenden Handbewegung ab. Sie hatte Angst vor ihren eigenen Überlegungen.
"Ich hätte den alten Mann niemals für so ruhmsüchtig und eiskalt gehalten."
"Da stehst du nicht allein." Nandra rieb sich die schmerzenden Stellen. "Ich hoffe nur, dass er Lilian nicht allzu weh getan hat. Sie verhalf mir zur Flucht. Meine liebe kleine Lilian." Sie seufzte traurig. Gerade jetzt hatte sie ihre tröstende Schulter nötig.
"Was ist mit Treece?", erkundigte er sich interessiert.
"Er befindet sich auf der Intensivstation des Hospitals“, berichtete Nandra. Sie sehnte sich nach ihm, auch wenn sie ihm zur Zeit nur die fieberheißen Hände hätte halten können. "Er ist nicht in der Verfassung transportiert zu werden. Ich befürchte aber, dass der Killer es erneut versuchen wird. Sooft, bis er Erfolg hat. Vielleicht trifft er beim nächsten Mal wirklich." Sie erschauderte. Erneut keimte in ihr der Drang auf, aufzuspringen und ihrem Geliebten zu Hilfe zu eilen. Sie blieb aber sitzen. Wenn sie sich auf offener Straße zeigte, würde bald ihr Vater in ihrem Nacken sitzen. "Ich habe ihm einige Leute von der Ashantin zum Schutz dagelassen. Ich weiß aber nicht, ob es ihm viel nützen wird."
"Besser als gar nichts“, gab Rajan wissend von sich und erhob sich. "Ich gönne es diesem Kerl zwar, das er elendig krepiert, mir wäre es aber lieber gewesen, wenn es durch meine Hand geschieht."
"Warum hasst ihr euch? Was ist zwischen euch vorgefallen? Wegen der alten Geschichte zwischen euren Vätern? Das kann doch nicht der eigentliche Grund sein."
"Ist es auch nicht“, grinste Rajan, sein für ihn überlegenes Grinsen. Er besann sich jedoch schnell wieder und verkniff sich sogar ein Zucken der Mundwinkel. "Im Grunde hatte Treece Recht. Ich führte mich damals auf, wie eine lächerliche Schießbudenfigur. Heute würde ich das anders anstellen. Doch Treece hat mich bloßgestellt. Er trat mir in den Hintern, stieß mich in den Dreck und befahl mir, ihn zu fressen. Meine Lakaien waren nicht weit entfernt. Sie packten ihn und schlugen ihn sofort zusammen. Ich muss auch gestehen, dass ich damals etwas unfair gehandelt hatte. Ich hätte es dabei belassen sollen. Doch ich konnte mich nicht zurückhalten, ihm ebenfalls noch ein paar Schläge zu verpassen. Er schwor, dass er sich bei passenderer Gelegenheit revanchieren würde."
"Waren Schlägereien zwischen Kadetten denn nicht verboten?", wusste Nandra aus eigener Erkenntnis.
"War es auch?", nickte Rajan grinsend. Er rief sich sogleich wieder zur Ressort. "Bei mir machte man sowieso eine Ausnahme. Und Treece erhielt nur eine Verwarnung, weil er der Jahrgangsbeste und der Liebling der Ausbilder war." Er schnaufte amüsiert, als er daran zurückdachte. "Das allein war schon ein triftiger Grund, ihn zusammenzuschlagen." Er seufzte und rief sich in die Gegenwart zurück. "Im Grunde bewundere ich ihn, doch ich kann ihn immer noch nicht ausstehen. Wenn er auftaucht, bin ich vergessen. Das konnte ich damals noch viel weniger als heute verkraften. Mich juckt es jedes Mal gehörig in den Fingern, seine hübsche Visage mal ordentlich zu polieren." Seine Mundwinkel zuckten, als er Nandras Blick suchten. "Du behältst das hoffentlich für dich“, sagte er. "Treece braucht das nicht zu wissen. Wir handeln das wie Männer aus, klar?"
"Klar“, nickte Nandra und sah einigen Staubkörnern hinterher, die munter im Sonnenlicht tanzten. "Ich hoffe nur, dass ihr die Gelegenheit haben werdet, euch zu versöhnen. Vater will dich unbedingt wegen Mordes zum Tode verurteilen lassen. Dazu aber muss Janol sterben. Und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann."
"Du sollst ihn in Gefahr wissen, ohne an ihn herankommen zu können“, begriff Rajan die Lage. "Dein Vater versucht dich damit unter Druck zu setzen. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn du dem Trenkjar zur Flucht verholfen hättest."
"Janol ist nicht in der körperlichen Verfassung davonzulaufen“, erklärte sie eindringlich. "Er bedarf intensiver medizinischer Betreuung. Er ist nicht einmal bei klarem Verstand." Sie musste erneut mit den Tränen kämpfen.
"Jetzt, nach deiner Flucht, wird er ihn entgültig töten lassen“, schlussfolgerte der Königssohn nachdenklich. "Damit dir dein Leben sinnlos vorkommt und du wieder in seine Arme flüchtest."
"Er drohte mir, das Kommando der Ashantin wegzunehmen."
"Ist das schon geschehen? Ich meine offiziell?"
"Keine Ahnung“, zuckte Nandra mit den Schultern.
"Wenn nicht, dann könntest du doch deine Einheiten dazu benutzen, das Hospital zu umstellen und das Opfer zu schützen. Gegen verrückte Killer wie mich zum Beispiel. Ich bin ausgebrochen, weil ich besessen davon bin, den Trenkjar zu töten." Er zog eine hässliche Grimasse und verkrampfte seine Hände zu Klauen, um seine Aussage zu unterstreichen.
"Das kann ich nicht tun. Außerdem befindet sich die gesamte Mannschaft im Landurlaub." Nandra musste sich ein amüsiertes Lächeln arg verkneifen.
"Ein kläglicher Rest wird doch noch übrig sein. Außerdem steht es dir als Raumkommandeurin jederzeit frei, Bodentruppen in Anspruch zu nehmen."
Nandra starrte ihn sprachlos an. Einen solchen Scharfsinn hätte sie ihm nicht zugetraut. Aber dass man ihr sagen musste, was sie zu tun hatte, beschämte sie mehr, als sie Verwunderung Rajan gegenüber aufbringen konnte. Sie sprang auf ihre Beine, schnappte sich das Interkom-Gerät und wählte die Nummer des wachhabenden Offiziers auf der Ashantin, die aufgrund des Werftaufenthaltes an das örtliche Netz angeschlossen war. Wesentlich erleichterter warf sie den Hörer des etwas antiken Gerätes wieder auf die Gabel und nickte Rajan zu. Der Offizier hatte noch keine Auflösungserklärung erhalten und würde augenblicklich Roten Alarm geben, versicherte er ihr. Roter Alarm hieß, dass sämtliche Besatzungsmitglieder die Mitteilung erhielten, sich auf ihren Posten zu begeben. Unabhängig davon wollte er den kläglichen Rest an Notdienst zusammentrommeln und die Einkesselung des Hospitales bereits in die Wege leiten.
Wenn ihr Vater imstande war, ein Inferno an Intrigen zu entfachen, wollte sie ihm in Nichts nachstehen und einen kleinen Krieg inszenieren. Janol musste beschützt werden, koste es was es wolle.
Dankbar küsste sie Rajan auf die Wange, schlüpfte in Lilians Slipper und eilte aus dem anrüchigen Haus. Der Königssohn hatte seine liebe Müh und Not, ihr hinterher zu kommen.
* * *
Trotz allem sollte es ein Freudentag werden. Der wachhabende Offizier der Ashantin hatte bereits vor dem Hospital Stellung genommen. Obwohl außer ihm nur noch fünf weitere Männer an den schildgepanzerten Laserkanonen standen, gelang es ihm den Besucherstrom zu stoppen und sämtliche Lieferungen und Krankentransporte einer Kontrolle zu unterziehen. Einige der Ärzte und Helfer bedachten ihn mit einem verärgerten Blick. Doch der Mann hatte sich nicht erweichen lassen und jeden einzelnen mit einer strengen Leibesvisitation abgetastet.
"Danke, Henriks“, sagte sie zackig, schenkte ihm einen Salut und stürmte an den Schildpanzern vorbei ins Hospital hinein. In ihrem Schlepptau befand sich Rajan, der sich nach bewaffneten Einheiten, in Form von Palastwachen oder Bodentruppen, suchend umsah, konnte jedoch noch nichts entdecken. Auf Nandras Einkesselung musste erst einmal reagiert werden, was sicherlich noch mindestens eine halbe Stunde auf sich warten ließ. Bis dahin würden sie die Lage besser abgecheckt und eventuell den Trenkjar fortgeschafft haben.
Freudestrahlend rannte Nandra die Gänge entlang, in der Erkenntnis, gleich in die Arme ihres Liebsten zu fallen. Doch als sie das Krankenzimmer betrat in welchem Janol Treece halb aufrecht in seinem Bett saß und die hereinstürmende Frau zunächst mit einem überraschten, dann mit einem äußerst missmutigen Gesicht begrüßte, verlangsamte sich ihr Schritt und schließlich blieb sie stehen. Sein Blick hatte sich zusehends verdüstert und schien überhaupt nicht erfreut darüber zu sein, dass ihn seine Liebe besuchte.
Der Trenkjars wand sein Gesicht ab und betrachtete etwas, was er in seinen Händen hielt. Nandra überkam ein ungutes Gefühl. Ihre Finger wurden kalt und klamm und ihre Knie begannen zu zittern. Die Freude über seine rasche Besserung wich rasch einer bösen Vermutung. Sollte ihn das Hofgetratsche auch bis ins Krankenzimmer erreicht und ihn über sämtliche Geschehnisse informiert haben, dann sah Nandra schon dunkle Gewitterwolken aufziehen - welche offenbar bereits den Horizont erreicht hatten.
"Was ist los?", fragte sie vorsichtig.
Treece ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er bemühte sich nicht einmal, Nandra anzusehen, geschweige denn ihr ein Lächeln oder einen Kuss zukommen zu lassen. Sein Gesicht war versteinert und finster, als hätte man ihn während des ganzen Aufenthaltes mit Sauermost gefüttert.
"Ein Bote vom Verwaltungsamt war heute morgen hier“, berichtete er. Inzwischen wollte auch der Nachmittag bald dem Abend weichen. Nandra hatte lange und erholsam geschlafen. "Mein Gesuch, das Sektionsverwaltersamt vom Jeeran-System zu übernehmen, wurde ohne nennenswerte Gründe abgelehnt“, erzählte er kalt.
"So?", machte sie und überlegte einen Moment, ob sie ihm von den restlichen Geschehnissen berichten sollte.
Treece sah hoch und blickte ihr mit eisernem Blick in die Augen.
"Kaum war er gegangen“, fuhr er fort. "Erschien ein weiterer Bote. Diesmal vom Tribunal, mit einer dringenden Meldung. Sämtliche auf Smiiles, Ruoasm, Trenkjar und K'kabot stationierten Stützpunkte sind mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Alle freigewordenen Einheiten werden der Bataillon von Sha'Vaijda unterstellt. Unterschrieben vom Sektionsverwalter des Jeeran-Systems, Commander Okopaido." Er feuerte ihr eine Datenkassette vor die Füße und richtete sich gänzlich auf. "Was hast du mir dazu zu sagen?", wollte er, noch immer Herr seiner selbst wissen. Doch unter der Oberfläche brodelte es gewaltig. Dunkle Adern quollen an seiner Stirn hervor und seine Augen funkelten wütend und voller Erregung.
Nandra schluckte. Sie sah sich flüchtig um, in der Hoffnung irgendwo auf eine gute Erklärung zu stoßen. Doch alles was sie hervorbringen könnte, klang so töricht und einfältig, wie es der Kommandeurin eines Kriegsschiffes eigentlich nicht unterkommen sollte. "Das wollte ich nicht“, sagte sie leise und biss sich auf die Lippen.
"Was bildest du dir eigentlich ein?", schrie er, so plötzlich aufgebraust, wie eine vom Wind aufgeworfene Türe. Länger schien er sich nicht mehr zurückhalten zu können. "Du hast dich selbst als Sektionsverwalter aufstellen lassen, um mich anschließend aus Jeeran rauszuwerfen. Wie kommst du eigentlich dazu?" Er machte eine kleine Pause, in der er kurz sein Gesicht verzog. Eigentlich hatte er ihr wesentlich mehr zu sagen. Sein Zustand war zwar sicherlich stabil, doch noch lange nicht behoben. Noch ehe er seine Standpauke fortführen konnte, meldete sich Nandra zu Wort.
"Das war ich nicht“, rief sie und musste gegen die aufsteigende Röte ankämpfen. Die Intrigenfäden ihres Vaters hatten noch weitläufigere Netze gespannt, als sie zunächst angenommen hatte. Er hatte sogar den Fall einkalkuliert, dass Nandra Widererwarten zu Treece durchdringen konnte. "Wir sollen gegeneinander ausgespielt werden. Ich erhob keine Einwände gegen die Ernennung, weil ich dachte, dass wir dann eher eine Chance hatten, Jeeran zu bekommen. Aber das mit der Auflösung der Einheiten ... ." Sie schüttelte energisch den Kopf. "Das stammt nicht von mir. Außerdem ... ." Sie musste noch die richtige Lücke finden, in welcher sie die Heiratspläne ihres Vaters und ihre Ernennung zur Sektionsverwalterin in Einklang bringen konnte.
Dann rauschte Rajan um die Ecke und stürmte ins Zimmer. Die beiden Männer blickten sich mit versteinerten Mienen an, wobei Rajan beinahe sofort wieder seine lockere Art zurück gewann, während Treece fragende Blicke zwischen der jungen Frau und dem Königssohn hin und her wandern ließ.
"Sie sind hier“, rief Rajan außer Atem. "Der Tanz geht los."
"Wer ist hier? Was wird hier gespielt? Was soll das alles?"
Nandra nahm die Datenkarte vom Boden auf und näherte sich ihm vorsichtig. "Sie sind hier, um dich zu beschützen. Es widerstrebt mir zwar, ein Hospital abzuriegeln, aber für dich, gehe ich das Risiko ein."
"Abriegeln?", wiederholte Treece fragend und stellte sich auf seine Beine. Er wankte noch etwas unsicher, als er sich zum Fenster begab und hinunterblickte, hielt sich jedoch tapfer auf den Beinen. "Das alles wegen eines einzigen Killers?", wollte er überrascht von Nandra wissen. "Das finde ich etwas übertrieben. Die beiden Wachen vor der Türe hätten vollkommen genügt."
"Mittlerweile geht es nicht nur um einen einzigen gedungenen Killerdroiden“, erklärte sie. "Mittlerweile geht es um mehr. Mein Vater hat mich herausgefordert und ich weiß passende Antworten zu erwidern."
"Dein Vater?" Treece sah sie ungläubig an.
Nandra nickte und warf die Datenkarte auf das Krankenbett. "Er heuerte einen Droiden an, der dich schwer verletzen, aber nicht töten sollte. Er versprach mir, Rajan für diesen Anschlag zur Verantwortung zu ziehen, wenn ich einwillige, mich selbst als Sektionsverwalterin für Jeeran aufstellen zu lassen. Sein Ehrgeiz ging aber soweit, dass er mich mit Dojan verkuppeln wollte, um mich auf den Thron zu bringen. Deswegen solltet ihr beide auch sterben. Ich bin mir nur nicht im Klarem, was ich dann als Sektionsverwalterin soll." Sie schnaufte und warf ebenfalls einen Blick aus dem Fenster hinaus. Henriks, die treue Seele hatte es tatsächlich geschafft, binnen so kurzer Zeit nahezu die ganze Mannschaft der Ashantin zurückzuordern und sie hinter schwerem Gerät um das Hospital auffahren zu lassen. Die ihr so erwiesene Ehre ihrer Männer ehrte sie. Am Ende der Seitenstraßen, noch in Sichtweite befanden sich die Gegenparteien. Einheiten der Palastwache und einige eiligst abkommandierte Bodentruppen. "Ich kann mir nur vorstellen, dass er das Sektionsverwaltersamt kommissarisch für mich übernehmen wollte." Sie suchte den Blick des jungen Generals. Wie gerne hätte sie sich ihm um den Hals geworfen und sich von ihm drücken lassen. Doch sein noch immer finsterer Blick hielt sie davon ab, die Initiative zu übernehmen. "Vielleicht wusste mein Vater um die Besonderheiten von Trenkjar."
"Sicherlich wusste er davon“, nickte Treece. "Das ist kein Geheimnis. Eine Vielzahl von Forscher und Abenteurer überlegen fieberhaft, wie sie es trotzdem ausbeuten können." Er musste sich plötzlich irgendwo festhalten. Sein Gesicht war kreidebleich geworden und in seiner Not fand er nur Nandras Schultern, auf die er sich stützen konnte. Gefällig begleitete sie ihn zu seinem Bett und half ihm, sich langsam darauf niederzulassen.
"Das mit dem Sektionsverwalter, tut mir leid. Ich hielt es für eine gute Idee“, gestand sie und hätte seine Lippen lieber jetzt als irgendwann berührt. "Ich wusste nicht, dass mein Vater auch mich zu hintergehen versucht."
"Du wirst damit keinen Erfolg haben“, sagte er etwas erschöpft. Seine Atemzüge gingen für Nandras Geschmack etwas zu ungleichmäßig und zu flach. "Niemand kennt dich im Jeeran-System. Es wird Unruhen und Ärger geben."
"Ich hatte eigentlich gehofft, dass du mir dabei hilfst; und wenn du mich nur mit deinem Anblick aufheiterst." Sie benutzte absichtlich seine eigenen Worte, um ihn wohl zu stimmen. Doch sein Gesicht wollte sich nicht aufhellen.
"Nein“, entgegnete er leise. Die Enttäuschung war ihm deutlich anzuerkennen. "Niemand wird mir dann noch Respekt erweißen können, wenn ich in dieser Angelegenheit versage."
"Du bist zu ehrgeizig, Treece“, gab Rajan dazwischen. "Das war schon immer dein Fehler. Du solltest dich mit dem zufrieden geben, was dir das Glück beschert."
"Wer hat dich um deinen Rat gefragt?", zischte Treece verärgert zurück.
"Jemand wie du sicherlich nicht“, hieb der Andere dagegen. "Du bist schon immer besser und klüger als Alle gewesen. Du hast noch nie Rat und Unterstützung gebraucht. Warum solltest du dich jetzt dazu herablassen ... ."
"Genug“, fuhr Nandra dazwischen und schob sich ruckartig von dem Krankenbett weg. "Eure Köpfe könnt ihr ein andermal aneinander schlagen. Ich kann nicht auch noch eine innere Aufruhr gebrauchen. Verdammt, ich brauche etwas anderes anzuziehen. In diesem hinderlichen Lappen, werde ich mich noch selbst übertölpeln." Sie wirbelte herum, dass die Saumspitzen von Lilians Kleid für einen Moment in der Luft tanzten, dann flatterten sie hinter der Trägerin her, wie kleine Fähnchen im starken Wind.
"Du hättest die Gelegenheit wahrnehmen sollen“, sagte Rajan zum Abschluss, als Nandra samt Kleid verschwunden war. "Ich kann nicht versprechen, dass sie ihr Angebot wiederholen wird." Damit machte auch er auf dem Absatz kehrt und eilte ihr hinterher. Er erreichte sie, als sie im Kleiderfundus des Krankenhauses einen Overall anprobierte. Dass sie sich nur in ihrer Unterwäsche befand, störte im Moment keinen von beiden.
"Ich würde es bei dem Kleid belassen“, gab Rajan anerkennend von sich. "Er wird sicherlich noch zur Vernunft kommen, wenn er erst merkt, dass er keine andere Wahl hat."
"Das kann mir nicht vorstellen, außerdem ist das jetzt nicht wichtig." Sie musste ihr Gesicht vor Rajan verbergen, so dass er die Anstrengungen nicht bemerkte, mit denen sie ihre Tränen zurückhalten und Fassung bewahren musste.
"Was hast du vor?", wollte er interessiert wissen. "Da draußen hat sich ein wahres Schlachtfeld entwickelt."
"Ich muss irgendwie versuchen, meinen Vater zu sprechen."
"Glaubst du wirklich, dass er auf deine Forderungen eingehen wird?"
"Ich bin aus seinem Holz geschnitzt. Er wird sich an mir einen Spalter einhandeln, wenn er versucht, mir Kerben zu verpassen."
"Ich wünschte, meine Verlobte hätte auch so viel Pfeffer wie du“, entfleuchte es ihm.
Nandra hielt inne und musterte ihn prüfend. Dann ziepte sie den Verschluss bis unter ihren Kehlkopf und küsste ihn zum zweiten Mal auf die Wange.
"Danke“, hauchte sie bewegt und eilte davon.
* * *
Als sie vor die Türe trat, nickte ihr Henriks zu. Er hatte die Lage voll unter Kontrolle und würde jeden Übergriff sofort mit einer gesalzenen Antwort kontern. Nandra gab ihm ein Zeichen, das sie beide sehr gut kannten. Wie viele Male sie mutig zu den Verhandlungspartner gegangen war, während sich in ihrem Rücken zahlreiche Männer über ihre Visiere gebeugt hatten, vermochte sie nicht mehr zu sagen. Dies hier bedeutete eines von vielen Malen. Dass der Verhandlungspartner ausgerechnet ihr Vater war, musste sie verdrängen.
Admiral Okopaido hatte sich tatsächlich dazu herabgelassen, selbst am Ort des Geschehens zu erscheinen und er kam ihr bereitwillig entgegen. Sie blieben mitten auf der Straße stehen. Von allen Seiten war sie gesperrt und abgeriegelt worden und kein einziges Fahrzeug frequentierte den Asphalt. Abgesehen von vielen hundert Mann, befanden sie sich allein auf der Kreuzung.
"Was beabsichtigst du mit dieser Aktion?", fuhr sie ihr Vater sogleich an.
"Wenn du Lilian auch nur ein Haar gekrümmt hast, werde ich die Erste sein, die einen Schuss auf dich abgibt“, warnte sie. Noch war sie die Ruhe selbst und ihr gewohnter kühler, sachlicher Überlegungsgeist besaß die Oberhand über ihre persönlichen Empfindungen. Wenn sie es sich tatsächlich selbst eingestand, dann empfand sie in diesem Augenblick nur Hass und Verachtung für ihren Vater. "Hast du ihr etwas angetan?", fragte sie schärfer nach.
"Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?", wollte er wissen.
"Eine sehr große“, antwortete sie kühl. "Du hast mich gefragt, was ich mit dieser Aktion beabsichtige. Ich will es dir sagen. Ich kämpfe um mich selbst und um mein eigenes Leben. Ich kämpfe um die Leute, die mich lieben, respektieren und ehren. Und ich kämpfe darum, dass diejenigen, die mich vernichten und missbrauchen wollen, dem Richter des Gerechten vorgeführt werden."
"Was verlangst du?"
"Ich möchte, dass du diese ganze Misere aufklärst und die Verantwortung übernimmst. Ich möchte, dass sämtliche Anklagen fallengelassen werden und dass du deinen Killer zurückpfeifst. Ich verlange, dass du abdankst und dich irgendwo auf dein Altenteil zurückziehst."
"Das ist ganz schön heftig“, schnaufte der Admiral.
"Solltest du dich weigern, werden meine Leute auf dich feuern."
"Bist du dir eigentlich im Klaren, dass du Unschuldige in den Tod schickst? Abgesehen von den Patienten, die nicht mehr richtig medizinisch versorgt werden ... ."
"Seit wann kümmerst du dich um Skrupel?", wollte sie wissen. "Ich dachte, du hättest kein Gepäck bei dir. Was soll das Ganze dann?" Für die Versorgung der Patienten und des Notdienstes hatte sie Vorsorgungen getroffen und Doktor O'Halorhan damit beauftragt. Sie musste sich nicht mit dieser Schuld belasten. Doch ihrem Vater gegenüber wollte sie keine Schwäche zeigen.
"Es ist dir demnach wirklich ernst“, schien er jetzt erst allmählich zu begreifen.
"So ernst, wie es mir noch nie war“, gab sie kalt zurück. "Du bist eine Bedrohung für mein Leben und für alle unmittelbar Beteiligten. Du musst beseitigt werden." In gewissem Maße versuchte sie, den Spieß umzudrehen. Sie hoffte, dass es funktionierte.
"Und wie willst du das bewerkstelligen?"
"Notfalls durch meine eigene Hand. Und wenn du klug bist, ziehst du schneller."
"Ich sehe keine Waffe an dir“, sagte er feststellend.
"Du würdest notfalls sogar mich töten, wenn es dich näher an deine Ziele bringt, richtig?", wollte sie bestätigt haben und umfasste den Griff der kleinen Handfeuerwaffe fester, die sie hinter ihrem Rücken versteckt hielt. Einer ihrer Leute hatte sie ihr noch rasch zugesteckt, bevor sie gänzlich auf die Straße getreten war. Sie musste innerlich lächeln, über die Besorgnis und die Loyalität, die ihre Mannschaft ihr gegenüber besaß. "Und das ist genau der Unterschied zwischen uns beiden. Ich weiß nicht, ob es mit deinem Gewissen vereinbar ist, dass du dein eigen Fleisch und Blut tötest. Meines kann es nicht."
"Willst du mir jetzt wirklich mit Sentimentalitäten kommen?", fragte er genervt und begann mit seinem Spazierstock zu spielen. Für Nandra ein Zeichen, dass ein vorgefertigter Plan in den richtigen Reihenfolgen ablief. Sie versuchte ihn zu erraten und wenigstens nur zum Schein mitzuspielen.
"Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was ist mit Lilian?"
"Ihr geht es gut“, erwiderte er schnell. "Ich war wütend, mehr nicht."
"Dann kommen wir zu Punkt Zwei“, sagte sie, ohne weiter darauf einzugehen. Dass Lilian im günstigsten Fall eine harte Ohrfeige eingefangen hatte, damit hatte sie ohnehin gerechnet. Vielleicht sogar auch mit leichten Schlägen. "Sämtliche Anklagen gegen Rajan müssen fallen gelassen werden. Dein Befehl die Einheiten im Jeeran-System aufzulösen und sie einem anderen Kommando zu unterstellen wird ohne Umschweife zurückgezogen. Das Amt des Sektionsverwalters im Jeeran wird bis auf weiteres General Treece und seinen Nachkommen überlassen. "
"Du verlangst etwas zuviel“, bremste sie der Admiral. "Darauf habe ich keinen Einfluss."
"Dir ist es mühelos gelungen, mich für diesen Posten ernennen zu lassen. Dann kannst du die Umdisponierung ebenso leicht erwirken. Mach mir nichts vor“, schimpfte sie. "Dann wirst du dich bei dem König und dem Vizekönig entschuldigen und sämtliche Versprechen auflösen. Ich meine, die Angelegenheit mit Dojan und mir. Und zum Schluss, wirst du sämtliche Würden und Ämter niederlegen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden."
"Du schickst tatsächlich dein eigen Fleisch und Blut fort?"
"Du bist ebenso in der Lage gewesen, mich einfach so zu verschachern. Das beeindruckt mich nicht sonderlich."
"Soll ich dir sagen, was ich davon halte?"
"Es interessiert mich nicht“, sagte sie gefühllos und versuchte ihre ganze Abscheu und Enttäuschung in ihre Worte zulegen.
Ihr Satz war noch nicht einmal verklungen, da bemerkte sie ein kaum wahrnehmbares Zucken in der Schulter ihres Vaters und sie sackte zusammen, wie ein mehrgliedriges Klappmesser. Der Stock ihres Vaters sauste nur knapp über ihren Kopf hinweg und zerschnitt die Luft sirrend in zwei Teile. "Das zieht bei mir nicht mehr“, rief sie und brachte ihre Waffe zum Vorschein. "Wirf den Stock weg, oder ich schieße."
"Ich dachte, du könntest dein eigen Fleisch und Blut nicht töten“, rief er in Erinnerung.
"Das stimmt auch. Deswegen haben meine Leute auch den Befehl, als erstes auf dich zu schießen."
Die Stirnfalten des Admirals begannen wieder zu zucken. Für Nandra ein Zeichen, dass er sich getäuscht hatte und sein Plan doch nicht in die vorhergesehene Richtung lief.
"Von dem Moment an, wo du mich geschlagen und in die Kammer gesperrt hast, warst du für mich gestorben, Vater“, sagte sie und stieß das letzte Wort besonders verächtlich hervor. "So etwas macht man nicht mit seiner erwachsenen Tochter."
"Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?", wollte er wissen.
"Das was ich dir gesagt habe. Erfülle meine Forderungen und ich lasse dich ziehen."
Der Admiral ließ den Stock sinken und blickte sich flüchtig um. Er schien tatsächlich darüber nachzudenken und auf eine gemeinsame Lösung kommen zu wollen. Doch bereits im nächsten Moment, fuhr er herum, ließ den Stock hochfahren und schlug ihr die Waffe aus der Hand. Nandra stieß einen Schrei aus und machte in ihrer Panik, jene Handbewegung, die Hendriks wohl als verabredetes Zeichen erkennen musste. Die Laserblitze sausten ihnen nur noch so um die Ohren, noch bevor Nandra sich flach auf den Boden werfen konnte.
Der Spuk dauerte nur wenige Sekunden und als sich der Rauch verzog und der geschmolzene Asphalt wieder verfestigt hatte, wagte es Nandra den Kopf anzuheben. Neben ihr stöhnte ihr Vater. Ein prüfender Blick informierte sie über seine Verletzung. Er war getroffen, jedoch nicht schwerwiegend und würde es vermutlich sogar überleben. Sie setzte sich in die Hocke. Einige ihrer Leute waren aus ihrer Deckung gekommen und hielten einige Palastwachen in Schach, die ihrerseits aus ihrer Deckung gesprungen waren, um dem Admiral zu helfen.
"Sag deinen Lakaien, dass sie sich zurückziehen sollen“, verlangte Nandra streng, kickte den Stock fort und vergriff sich in dem Stoff seiner ansonsten tadellosen Uniform. "Du treibst hier noch alle zum Wahnsinn. Sag ihnen, sie sollen verschwinden, sonst artet das noch in einem Massaker aus."
Zu ihrer Überraschung gehorchte der Admiral und die Einheiten, die er zu seinem Schutz oder zur Aufhebung der Belagerung herangezogen hatte, räumten ihr Gerät zusammen und zogen wieder ab. Nandra half ihrem Vater noch auf die Beine und stieß ihn einem herbeigeeilten Soldaten in die Arme. "Lasst ihn nicht aus den Augen, bis er sämtliche Forderungen erfüllt hat."
"Was haben sie jetzt vor, Commander?", wollte der treue Hendriks wissen.
"Ich gehe jetzt erst einmal etwas essen. Ich habe Hunger“, sagte sie, wirbelte herum und marschierte davon. Tatsächlich hatte sie seit dem gestrigen Tag nichts mehr zu sich genommen. Die beiden Gesichter, die ihr von einem Fenster aus dem einhundertfünfundachtzigstem Stockwerk mit einem Feldstecher aus nachsahen, bemerkte sie nicht.
Hendriks überreichte ihr eine Checkliste, die sie ebenso sorgsam durchging, wie alle anderen Checks und Protokolle in den letzten fünf Tagen. Nach über vier Monaten in der Werft konnte die Ashantin endlich wieder in den weiten Weltraum entlassen werden. Insgeheim freute sich die Kommandeurin des Kriegsschiffes darauf. Doch andererseits war die Mission, die sich selbst auferlegt hatte und zu der sie anschließend reisen werden, für sie keine besonders erfreuliche.
Nandra seufzte unmerklich, gab die Checkliste zurück und nickte dem Mann zu. Der fröhliche Ausdruck in seinem Gesicht stammte nicht nur allein von der Tatsache, dass sie bald wieder jede Menge Abenteuer bestreiten durften. Nandra hatte höchstpersönlich dafür gesorgt, dass ihr Obermaat seine drei Streifen gegen eine dicke gestrichelte Linie tauschen und sich von nun an Oberbootsmann betiteln durfte. Sie erwiderte sein beschwingtes Lächeln und ließ ihren Blick kurz auf die Gruppe Matrosen schwenken, die noch im Begriff waren, die letzten Landefähren abzusichern. Hendriks salutierte, mit unter dem Arm geklemmtem Checkbrett und wartete geduldig darauf, dass die Kommandeurin den Gruß erwiderte und ihn entließ. Nandra nahm Haltung an und tippte sich mit den Fingerspitzen der flachen Hand an die Stirn, worauf Hendriks endlich herumwirbelte und davon marschierte.
Nandra seufzte erneut und beobachtete noch einmal die Matrosen, die sich redlich abmühten, die Landestützen einer Fähre in die Reiseverankerung zu drängen. Dann zuckte sie zusammen, als jemand in ihrem Rücken die Hacken zusammenschlug und lauter als nötig ihren Namen rief.
"Commander Okopaido“, rief er zackig und stand vor ihr stramm, wie in Blei gegossen. "Die Passagiere befinden sich an Bord."
"Danke, Stuart“, sagte sie und warf den Matrosen einen letzten Blick zu. Sie würden die Stützen auch ohne ihren prüfenden Blick, in die Raster drängen können. "Sind die Unterkünfte vorbereitet?"
"Jawohl, Commander“, rief der Stuart und stand noch eine Spur strammer. Auf seiner Stirn zeigten sich erste Adern vor Anstrengung.
"Gut! Ich komme." Sie nickte dem Mann zu, worauf dieser auf dem Absatz kehrt machte und davon marschierte. Nandra hatte irgendwie den Eindruck, dass ihre Mannschaft ihr nach ihrem Landeurlaub wesentlich mehr Respekt erwies, als vorher. Eine merkwürdige Stimmung hatte sich an Bord entwickelt. Beinahe wie ein Freudenfest und beinahe wie eine Ehrung. Sie hatte die Gesichter der neuen Kadetten gesehen, als sie sie an Bord der Ashantin willkommen hieß. Sie hatten geglänzt vor Hochachtung. Ihre Augen strahlten und sie hatte noch nie so stramm stehende Kinder gesehen.
Lächelnd folgte sie dem Stuart aus den Docks heraus und ließ sich von ihm zwei Stockwerke höher führen, wo ihre Passagiere in einem Art Foyer, das nur während der Andockzeiten an einer Werft oder einer orbitalen Station als solches diente, warteten und den kärglich gehaltenen Raum interessiert begutachteten.
"Lilian“, rief Nandra und nahm die junge Frau sogleich in den Arm. "Willkommen an Bord." Sie umarmte die Freundin herzlicher, als sie es je getan hatte und blickte ihr liebevoll und beinahe zärtlich in die Augen. "Reisefieber?", erkundigte sie sich schmunzelnd.
"Eher das Fieber der Erwartung“, erwiderte Lilian und warf einen Blick auf die übrigen Passagiere. Ihre beiden Kinder durften ebenfalls mit auf die Reise gehen. Der zweijährige Tomee, der sich ängstlich und verunsichert an seine Mutter klammerte und die fast vierjährige, quirlige Arani, die schon die ganze Zeit neugierig in den Korridor vor dem Foyer spähte. Ihre Mutter war noch imstande, sie zurückzuhalten, doch das Mädchen zappelte unentwegt ungeduldig hin und her und hätte das Schiff lieber sofort, als erst in ein paar Minuten erkundet. Und dann war da noch das schüchterne Kindermädchen, das sich nahe am Andockschott herumdrückte, ein kaum fünfzehnjähriges Mädchen, mit langen Zöpfen und ewig bleicher Nase.
"Kommt“, rief Nandra den Kindern zu und streckte ihre Hände nach ihnen aus. "Mal sehen, wo ihr schlafen werdet." Sie hatte in den letzten Monaten viel mit den Beiden verbracht. Solange die Ashantin noch in der Werft saß, war sie zum Nichtstun verdammt gewesen und musste ihren Zwangsurlaub auf irgendeine Weise genießen. Die Kinder waren ihr schon immer eine Freude gewesen.
Arani tanzte und hüpfte vor ihnen her und blickte neugierig in jeden Seitengang.
"Später, wenn wir gestartet sind, werde ich euch auf die Brücke holen“, versprach sie den Beiden. "Jetzt müsst ihr erst mal eurer Mutter beim Auspacken helfen. Und anschließend habe ich noch eine Überraschung für euch."
Das Mädchen wollte sogleich wissen, um welche Überraschung es sich handelte, doch Nandra hielt sich verschwiegen. Das Kindermädchen trottete hintendrein, als gehörte sie nicht zu dieser Delegation.
Die Ashantin war eigentlich kein Passagierschiff. Sie diente ausschließlich militärischen Zwecken. Dennoch besaß sie Unterkünfte für zusätzliche Fahrgäste, die in der Nähe der Kapitänskabine untergebracht waren, in welcher Nandra für ihren Aufenthalt auf dem Kriegsschiff wohnte und die ihr schon fast zur Hauptwohnung geworden war. Die zusätzlichen Unterkünfte waren ebenfalls an der Außenseite des Schiffes angebracht und der ansonsten eher spärliche Komfort durch großzügige Sichtluken und Fenster angehoben. Die Kinder drückten sofort ihre Nasen an den Scheiben platt und bedachten jede Bewegung draußen in der Werft mit großen Ah's und Oh's. Das Kindermädchen versuchte ihnen die Vorgänge so gut sie konnte zu erklären. Lächelnd half Nandra ihrer Freundin, das Gepäck, das der Stuart bereits in die Kabinen gebracht hatte, in die Schränke zu räumen. Da ihre Reise nach Jeeran über zwei Wochen dauern würde, lohnte sich das Auspacken.
"Geht es dir gut?", erkundigte sich Lilian besorgt, als sich Nandras Blick für einen Moment verfinsterte.
"Mir geht es gut“, sagte sie schnell und strafte sich selbst Lügen. Ihr ging es wahrhaftig nicht gut. Sie fühlte sich einsamer denn je. Sie fühlte sich verlassen, verraten, gedemütigt und ausgenommen. Sie fühlte sich leer, elend, angegriffen und in winzige Stücke zerhackt. Wenn es nur ihren Vater gegeben hätte, der sie auf so schändliche Weise ausgenutzt und übervorteilt hatte, dann wäre da immer noch Janol gewesen, auf dessen Schultern sie sich gestützt und an dessen Brust sie sich hätte ausweinen können. Doch auch er hatte sich von ihr abgewendet und war beleidigt nach Trenkjar zurückgekehrt. Ohne Lilian wäre sie vermutlich zusammengebrochen.
"Um deine Nase leuchtet ein weißer Ring“, sagte Lilian, legte die Wäsche beiseite und widmete sich ihrer Freundin. "Du kannst es auch einfach auf sich beruhen lassen. Jeeran ist bislang ganz gut ohne Sektionsverwalter ausgekommen."
"Das ist es ja gerade“, seufzte Nandra. "Der Verwaltungsrat besteht auf eine Besetzung. Der König muss derart Gefallen an diesen Provinzsachen gefunden haben, dass er auf die Außenposten beharrt. Ich muss im Jeeran-System unbedingt jemanden finden, der das Amt übernehmen will."
"Insgeheim hoffst du doch, dass du den General doch noch dazu überreden kannst, habe ich Recht?"
"Seine Antwort war klar und deutlich. Wenn er auf Almosen verzichten kann, dann werde ich ihm auch keine geben."
"Es muss ihn hart getroffen haben“, bemerkte Lilian mitfühlend.
"Ich kann es ihm sogar nachfühlen“, gestand Nandra. "Doch ich kann nicht akzeptieren, dass er keine Alternativen annehmen will. Für ihn heißt es nur, er oder niemand. Sein übertriebener Ehrgeiz und Egoismus wird ihm noch mal das Genick brechen."
"Ich denke, dass er es nur damit soweit brachte“, sagte die Freundin und sah kurz nach ihren Kindern, die sich an der Scheibe noch immer nicht sattgesehen hatten. "Du hast mir zwar erzählt, dass er seinen Titel von seinem Vater erbte, aber so ohne weiteres wird dies nicht vonstatten gegangen sein. Ich meine, ohne ausreichende Voraussetzungen wird ihn das Tribunal nicht zum General ernannt haben."
Nandra seufzte nur und betrachtete ihre Hände, ohne sie jedoch zu sehen.
"Hast du deinen Vater noch einmal gesehen, bevor er ging?", wollte Lilian interessiert wissen.
Nandra schüttelte nur den Kopf. Auch wenn ihr die Gelegenheit dazu gegeben wäre, hätte sie sie nicht wahrgenommen. Sie verspürte nicht die geringste Lust, noch einmal sein Gesicht zu sehen. Zu sehr hatte er sie enttäuscht.
"Dass er deine Bedingungen kommentarlos erfüllte, überraschte mich sehr. Ich hatte mit mehr Widerstand gerechnet."
"Ich denke, dass er begriffen hatte, dass er mich nicht für seine Zwecke benutzen konnte“, entgegnete Nandra etwas traurig. Seufzend richtete sie sich gerader. "Rajan's Ehre wurde von allen Anschuldigungen bereinigt. Obwohl er im Grunde ein Großmaul ist, hat er das nicht verdient." Dann schnaufte sie laut, wischte ihre Hände an der Uniform ab und warf ihrer Freundin ein Lächeln zu.
"Wie auch immer“, rief sie sich selbst zum Aufbruch. "Ich muss diese Angelegenheit hinter mich bringen, sonst schleppe ich nur unnötiges Gepäck mit mir herum." Sie betrachtete noch einmal die Kinder, die ihre Nasen noch immer an dem Fenster platt drückten. Mit einem Seufzen riss sie sich wieder los. "Ich muss auf die Brücke. Wir werden in zwanzig Minuten ablegen."
Lilian küsste sie liebevoll auf die Wange und nickte ihr zum Abschied zu.
Auf der Brücke hatten die Startvorbereitungen bereits ohne sie begonnen. Das hieß, soweit es die Vorschriften erlaubten, übernahm ihr Oberbootsmann die Abschlusschecks und das Aufwärmen der Antriebsmotoren.
"Commander auf der Brücke“, rief Hendriks und stand stramm. Augenblicklich sprangen auch alle anderen Crewmitglieder von ihren Sitzen und nahmen steife Haltung an.
"Danke, weitermachen“, sagte sie beinahe gelangweilt und schlenderte zum Kapitänssessel. "Wie sieht es aus, Hendriks?"
"Die Ashantin läuft wieder wie geschmiert“, antwortete dieser zuversichtlich. "Wir erhielten bereits die Starterlaubnis."
"Dann schippern sie uns mal langsam zur Schleuse." Nandra ließ sich müde in den Sessel sinken und überflog die holographischen Anzeigetafeln und die Meldungen auf ihrem persönlichem Terminal. Sie sah auch auf die Uhr und stellte fest, dass sie fast zwanzig Minuten von Lilians Kabine zur Brücke gebraucht hatte und fragte sich unwillkürlich, was sie auf der kurzen Strecke, die in einem zügigen Schritttempo keine vier Minuten benötigte, alles getan hatte. Mit einem stillen Seufzer widmete sie sich wieder den Anzeigetafeln und überwachte "Schleusen sichern“, befahl Nandra und war wieder in ihren gewohnten Befehlston gefallen.
"Schleusen sind gesichert“, kam es von Hendriks.
"Ablegen!" Nandra lehnte sich zurück. Die Anzeigetafeln zitterten ein wenig, als ihnen Energie abgezapft wurde. Sie erholten sich jedoch rasch wieder und an den großen Sichtfenstern entfernte sich allmählich die Dockstation. "Kurs auf Schleuse und dann ab ins All“, sagte sie lächelnd. Es war für sie immer wieder ein ergreifendes Gefühl in den weiten Weltraum hinaus zu starten. Sie fühlte sich dabei jedes Mal frei und ungehemmt und bereit für jegliche Art von Taten.
"Schleuse erreicht in fünf, vier, drei, zwei, eins“, rief der Lotse und riss Nandra damit aus ihren Gedanken. Als sie hochschrak, bemerkte sie, dass inzwischen fast eine halbe Stunde vergangen war. Sie befanden sich an der Schleuse und würden bald den Sprung in den Überraum wagen. Wo waren nur ihre Sinne geblieben, schalt sie sich und blinzelte verlegen.
"Schleuse erreicht. Koordinaten festgelegt. Fertig zum Sprung."
"Antrieb zünden“, befahl sie, während sie die Anzeigetafeln betrachtete. An den Sichtfenstern löschte sich das Licht und sie befanden sich bald im absolut dunklem Überraum.
"Antrieb gezündet“, kam es zurück. "Wir sind unterwegs."
"Gut. Alles auf Wache." Sie schob sich aus ihrem Sessel. "Informieren sie mich, wenn etwas außergewöhnliches vorfällt. Ich werde mich in meine Kabine zurückziehen."
"Jawohl, Commander“, rief Hendriks und stand bereits wieder stramm. Diesmal erhoben sich die anderen Crewmitglieder nicht mehr, ignorierten sie sogar. Während der Fahrt war ein Verlassen des Postens absolut verboten, wusste sie und bedachte den Pflichtsinn ihrer Mannschaft mit einem Lächeln. Es waren gute Männer und sie hatten ihre Kommandeurin noch nie enttäuscht.
* * *
Während der nächsten Tage machte sich Nandra rar auf der Brücke und überließ ihrem Oberbootsmann weitgehend selbsttätig die Überwachung aller Abläufe. Wenn sie sich aus ihrer Kabine bemühte, dann nur, um mit den Kindern zu spielen, oder mit Lilian zu sprechen. Ihr Herz war noch immer gebrochen und sie wusste nicht, wie sie es wieder reparieren sollte. Sie versuchte, die bevorstehende Konfrontation so weit wie möglich aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, doch je näher sie an das Jeeran-System herangelangten, desto intensiver beschäftigte sie sich mit dem eigentlichen Grund ihrer Reise. Sie musste einen geeigneten Ort für den zukünftigen Sektionsverwalter finden.
"Was meinst du dazu, Lilian?", wollte Nandra wissen und drehte den Holoprojektor so, dass sie mitlesen konnte. Sie hatte Lilian und ihren Oberbootsmann Hendriks in den prunkvollen Salon bestellt, um mit ihnen über ihre Ergebnisse zu diskutieren. "Ich bin gründlichst alle Kriterien durchgegangen und zu dem Schluss gekommen, dass Smiiles der geeignetste Ort sei. Die bereits dort vorhandene Station verfügt über die beste Ausrüstung und sitzt außerdem noch mitten in Jeeran, in unmittelbarer Nähe strategisch und kommerziell wichtiger Punkte. Ruoasm, Trenkjar und K'kabot sind zu weit vom Zentrum entfernt. Außerdem verfügen sie nicht über ausreichend geeignetes Gelände, die für den Bau eines neuen Sektionsverwalterkomplex von Nöten wäre. Wie denkst du darüber?"
"Da kenne ich mich nicht aus“, gab Lilian achselzuckend von sich. "Du musst es für richtig halten."
"Hendriks?", sprach sie den Mann an, der ihrem Vortrag konzentriert gefolgt war.
"Soweit ich weiß, verfügt Smiiles über hervorragende Kampfflieger, die die Sicherheit des neuen Sektionsverwalters gewährleisten können. Ich halte es für eine gute Wahl." Hendriks lehnte sich zurück und betrachtete seine Kommandeurin. "Wir sollten aber dazu auch die Kommandeure der einzelnen Basen zusammenrufen und sie um Mithilfe und Kooperation bitten“, schlug er anschließend vor.
"Ich will sie nicht sehen“, rief Nandra urplötzlich überreizt. Ihre Stimme war kurz vor dem Überschlagen.
"Das ist aber unbedingt notwendig“, sagte Hendriks erschrocken.
"Ich brauche sie nicht. Ich werde das allein durchziehen." Nandras Blick hätte ihn durchbohren können, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden. Jede Faser ihres Körpers sträubte sich gegen diesen Vorschlag.
"Ich kann die Gespräche führen“, erklärte sich der Mann schließlich bereit. Es gab sicherlich niemanden auf diesem Schiff, der nicht über die psychische Lage ihrer Kommandeurin Bescheid wusste.
"Danke, Hendriks“, sagte Nandra und lehnte sich zurück. Der Prunk dieses Saales beeindruckte sie schon lange nicht mehr. Das leise Knistern der Samtpolster verklang ungehört in ihrem Ohr. Sie überlegte tatsächlich, ob sie eine Beförderung in das Logbuch eintragen sollte. Wenn Hendriks die Gespräche mit den Bodenkommandeuren führte, würde sich ein Leutnant sicherlich mehr Respekt erbitten können. "Ich glaube, ich würde durchdrehen“, gestand sie den beiden. Sie fand keine Gründe, warum sie ihrem Oberbootsmann ihre Gefühle verheimlichen sollte.
"Ich vertrete sie selbstverständlich in dieser Angelegenheit“, erwiderte er mitfühlend. "Aber die Kommandeure der einzelnen Basen sind unbedingt notwendig. Es muss schließlich eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Sektionsverwalter und ihnen verfolgen."
"Ich sollte es einfach einem von ihnen aufdrücken. Vielleicht dem Major von Smiiles“, dachte sie laut. "Das wäre die einfachste Lösung."
"Leider nicht die legalste“, bemerkte Hendriks. "Laut Satzung darf ein Sektionsverwalter nur in Ausnahmefällen aus den Reihen des Regimentes kommen. Nur wenn er zusätzlich Verbindungen zum öffentlichen Volk besitzt, wenn er zum Beispiel auch Oberhäuptling oder ähnliches ist."
Nandra versank kurz in Gedanken. Sie überlegte, wie Janol nur auf die Idee kam, das Sektionsverwaltersamt für sich beanspruchen zu können. Jemand wie er musste die Satzung so gut kennen, dass ihm dieser Absatz sicherlich aufgefallen war. Ihre eigene Ernennung hatte sie nur dem Drängen ihres Vaters zu verdanken und vielleicht musste er dem Verwaltungsamt sogar versprochen, aus seiner Tochter eine Privatperson zu machen. Die organisierte Verheiratung mit Dojan war sicherlich einer der vorgeschobenen Gründe, warum sie die Ernennung erhalten hatte. Allein deswegen schon, musste sie jemanden finden, der sie ablösen wollte.
"Wir sollten einfach mit ihnen reden“, sagte Lilian. "Vielleicht weiß einer von den Kommandeuren einen Rat."
Nandra nickte nur. Wenn die Last dieses Gespräches von ihr genommen worden war, würde sie sicherlich leichter darüber nachdenken können. In zwei Tagen erreichten sie das Jeeran-System und die Konfrontation mit vielen schmerzlichen Erinnerungen würden sicherlich ohnehin schon einen beträchtlichen Druck auf ihre Schultern und ihren Tränenddrüsen ausüben. So viele Tränen wie in den letzten Monaten, hatte sie ihr ganzes Leben noch nicht vergossen, bemerkte sie im Stillen. Irgendwann musste es endlich ein Ende damit haben, sonst würde sie noch in ihrem eigenen Tränenstrom davon fließen.
Nandra musste lächeln, als sie an die strahlenden Gesichter der Kinder dachte. Sie hatte sie auf die Brücke kommen lassen, um ihnen die Teilnahme an dem Sprung aus dem Überraum zu ermöglichen. An den Seitenfenstern zeigte sich das Lichterspiel noch lange nicht so spektakulär, wie durch den Frontscheiben. Zudem würden die vielen Anzeigelichter, die flackernden Holoschirme und die vielen vielbeschäftigten Männer und Frauen ihr übriges tun, um diesen Besuch zu einem nie wieder vergessenem Erlebnis werden zu lassen.
Hendriks hatte sie darüber informiert, dass die Bodenkommandeure vollzählig der Einladung gefolgt waren und sich im Salon versammelt hatten. Dass ihr Janol Treece so nahe war, wie seit langem nicht, ließ sie etwas kribbelig werden und sie musste sich gewaltsam wieder dem abermaligem Durchbürsten ihres widerspenstigen Haares widmen. Nach Jeerans Standardzeit, war es später Abend und sie fühlte sich tatsächlich müde und erschöpft. Sie wollte ein heißes Bad nehmen, ein Beruhigungsmittel schlucken und dann tief in süßem Schlummer versinken.
Doch kaum hatte sie ihren Traum zuende gedacht, klopfte es an der Türe und Leutnant Hendriks trat unaufgefordert herein. Sie wollte ihn schon zur Rechenschaft ziehen, doch als sie sein betrübtes Gesicht bemerkte, schluckte sie ihre Standpauke wieder herunter. Üble Vorahnungen keimten in ihr auf.
"Ich bitte um Verzeihung“, sagte er aufrichtig und wusste nicht, wie er seinen Kummer am besten loswerden sollte.
"Spucken sie es einfach aus“, gab sie zurück, legte die Bürste sorgsam auf den Toilettentisch, raffte ihren Morgenmantel zusammen und erhob sich. "Es gibt Schwierigkeiten. Richtig? Wie sollte es auch anders sein. Warum kann nicht einmal etwas glatt laufen?"
"Ihre Anwesenheit im Besprechungsraum wird dringend verlangt“, berichtete er endlich. "Sie beharren darauf."
"Wer beharrt darauf?"
"General Treece."
Nandra starrte ihn entsetzt an. Dass ausgerechnet der Trenkjar ihr Erscheinen verlangte, überraschte sie trotz allem. Sie hatte schon erwartet, dass er die Einladung auf die Ashantin ausschlagen und sich gänzlich verweigern würde.
"Er machte mit seiner energischen Forderungen sogar schon die anderen ganz verrückt“, rief Hendriks, der sichtlich mit den Nerven am Ende war. Er hatte sein Bestes gegeben und versucht, es dem General so gut wie möglich auszureden. Doch selbst eine vermeintlich ansteckende Krankheit hätte ihn nicht davon abbringen können, die Anwesenheit der Kommandeurin zu verlangen.
"Gut. Ich komme“, gab sie sich geschlagen. "Geben sie mir fünf Minuten."
"Jawohl, Commander“, rief Hendriks, hieb die Haken zusammen, machte auf dem Absatz kehrt und eilte aus der Kapitänskabine.
Nandra ließ sich auf ihr Bett sinken, vergrub ihr Gesicht in den Händen und atmete einige Mal tief durch. Sie brauchte Kraft, um die nächsten Minuten, Stunden oder sogar noch mehr zu überstehen. Sie brauchte Kraft und Durchhaltevermögen. Sie musste unentwegt eisern, unerschütterlich und ohne jegliche Gefühle sein. Sie musste kalt und unbeweglich sein. Sie musste es einfach - um sich selbst gerechtfertigt zu werden.
Dann erhob sie sich, schlüpfte in ihre Uniform und verließ die Kabine mit einem letzten Blick in den Spiegel. Da fünf Minuten nicht ausreichten, um ihre Locken zu einem strengen Zopf zurückzuflechten, ließ sie sie einfach offen über ihre Schultern fallen. So offiziell war der Anlass nun auch wieder nicht.
Hendriks schritt voran, als sich die Gleittüre zum prunküberladenen Salon der Ashantin öffnete. An seiner Gestalt vorbei konnte sie die Bodenkommandeure sehen, die sich zu beiden Seiten des wuchtigen Tisches niedergelassen hatten. General Treece bemerkte sie erst, als sie sich bereits im Salon befand. Er hatte wie bei seinem ersten Besuch keinen Platz genommen und blieb wie angewurzelt in der Mitte seiner Begleiter stehen.
"Guten Abend, meine Herrschaften“, begrüßte Nandra die illustre Runde, marschierte an allen vorbei und platzierte sich hinter die Lehne des Stuhles, an der Stirnseite des Tisches. Treeces Beispiel folgend, setzte sie sich nicht hin, sondern blieb, mit auf den Rücken zu Fäusten geballten Händen stehen. Sie hatte schnell begriffen, dass dies eine Geste der Erhabenheit war und wollte sie damit ebenfalls nutzen.
Zu ihrer unmittelbaren Linken saß der Kommandant von K'kabot, Colonel Tt'rekabon, ein verhutzeltes Wesen mit hammerartigem Kopf, an dessen Enden zwei große, schwarze Augen saßen, die sich in alle Richtungen schwenken konnten. Sein Körper war schmächtig und schien nur aus Haut, Knochen und dicken Sehnen zu bestehen. Seine Hände glichen hornhautüberzogenen Knochen und an seinen Fingerspitzen saßen dicke Hornhautkrallen. Er trug nur einen Umhang auf seinen schmächtigen Schultern, die schmäler waren als sein Kopf. Ein dickes Schulterband beherbergte seine sämtlichen Würden und Abzeichen und sogar das königliche Hoheitszeichen, um ihn damit dem Verbundheer des Königsreiches zugehörig zu machen.
Neben ihm lehnte in beinahe unverschämt lässiger Weise der Kommandeur vom Smiiles-Regiment, Major Snijor auf seinem Sitz. Die Mütze saß schief auf seinem borstigen Kopf. Eine Unzahl von primitivem Schmuck und Tand zierte seine Brust, wodurch das königliche Hoheitszeichen und seine Abzeichen beinahe nicht zu sehen waren. Er glich im großen und ganzen einem Menschen, wäre da nicht die übergroße Kieferpartie mit den widerstandfähigen Reißzähnen und die übertrieben muskelbepackte Nackenpartie gewesen, an der sich winzige Ansätze von stachelbesetzten Hornhautplatten abzeichneten.
Der Kommandant zu Nandras Rechten, General Uol von der Einheit auf Ruoasm, saß wie eine Aufziehpuppe, in beinahe rechtem Winkel auf seinem Stuhl und schien es aufgrund der Ernsthaftigkeit des Gespräches nicht zu wagen, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Und wenn er sich Widererwarten bewegte, dann ging es ihn einem derart schnellen und abrupten Ruck, dass man die Bewegung beinahe kaum mitverfolgen konnte. Ein hauchdünnes Gefieder zeichnete den Ruoasm aus, welches im Laufe der Jahre einige kahle Stellen an seinen flügelartigen Armen bekommen hatte und die großporige Haut entblößte. Die kahlen Stellen trug er ebenso stolz zur Schau, wie die breitgliedrige Kette mit geschmiedetem Hoheitssymbol und dem Standardzeichen für General. Er besaß eine weitvorgezogene Kieferpartie, die vermutlich eine Abart von Schnabel darstellen sollte und seine Augen glänzten in reinstem Giftgrün mit einer sternförmigen schwarzen Iris. Auf seinem Kopf saß anstatt der vorgeschriebenen Mütze ein Federkamm, der entgegen des sonst farblosen Gefieders seines übrigen Körpers in den grellsten Farben leuchtete.
Ein jeder hatte ausreichend Begleiter mitgebracht, die scheinbar die jeweilige Stellung und Position bekräftigen sollten. Major Snijor sparte mit seinen fünf Begleitern, die allesamt gehorsam hinter ihm Stellung genommen hatten, nicht an Dominanz. Colonel Tt'rekabon und General Uol hingegen hatten sich mit jeweils zwei Gefolgsleuten begnügt. General Treece war von drei weiteren Leuten begleitet worden. Einer von ihnen kannte Nandra als den Gerichtssekretär und Unterbürgermeister von Trenkojar. Der zweite war Treeces Leiblakai Parija. Den dritten, einen älteren Trusgs, hatte sie jedoch noch nie gesehen.
"Es war ein anstrengender Tag“, fuhr sie fort und räusperte sich unmerklich. So gänzlich hatte sie sich noch nicht unter Kontrolle. "Aber selbstverständlich komme ich ihrer Forderung nach. Ich hoffe, wir kommen bald zu einer Einigung. Wo liegt das Problem?"
Major Snijor räusperte sich und wollte schon das Wort erheben, als ihm eine feste Stimme in seinem Rücken dazwischenfuhr. Es war die von General Treece, der sich hinter der Delegation aus Smiiles zu verstecken schien. Dass dem nicht so war, wusste Nandra genau. Treece liebte es, aufzufallen und sich anders zu verhalten, als alle Anderen.
"Ich bitte die Sektionsverwalterin zu einem kurzen Gespräch unter vier Augen“, rief er und übertönte damit Snijors erste Worte.
"Ich wüsste nicht, was ich mit ihnen zu besprechen hätte, was die anderen Kommandeure nicht auch anging“, sagte sie kalt, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
"Einige kurze Worte, draußen auf dem Korridor“, bat der Trenkjar unumstößlich und mit steinerner Miene. "Bitte“, fügte er nachhaltig hinzu.
Nandra schnaufte leise, gehorchte der Aufforderung aber dann doch, nickte den Versammelten entschuldigend zu und marschierte wieder hinaus in den Korridor.
"Was haben sie auf dem Herzen, General Treece?", empfing sie ihn sogleich, als sich die Gleittüre hinter ihm geschlossen hatte. Sie versuchte soviel Sachlichkeit und Scheinheiligkeit in ihre Stimme zu legen, wie sie nur konnte.
"Ich möchte im Vorfeld über ihre Pläne bezüglich Trenkjar informiert werden“, verlangte er.
Nandra ballte ihre Hände zu Fäuste und musste sich Gewalt antun, ihm keine Ohrfeige zu verpassen. Alles mögliche hatte sie erwartet und war doch überrascht worden.
"Ich habe keine“, sagte sie heißer. Ihr Gesicht war vor Wut sicherlich weiß angelaufen. "Bleiben sie ruhig unbesorgt auf ihrem goldenen Sumpfei sitzen. Es interessiert mich nicht im Geringsten." Damit wirbelte sie herum und schritt durch die sich wieder öffnende Türe, um das Gespräch fortzuführen. Treece ließ sie grußlos zurück und überließ es ihm selbst, ob er ihr folgen oder davonlaufen wollte.
"Einen Moment noch“, versuchte er sie zurückzuhalten. Doch Nandra fand sich nicht bereit, länger als nötig mit ihm allein zu bleiben.
"Meine Herren“, begann sie, noch während sie den Tisch abermals umrundete und sich wieder an die Stirnseite stellte. "Wir haben noch eine anstrengende Angelegenheit vor uns. Ich möchte sie bitten, persönliche Differenzen beiseite zu legen und sich auf den Grund unserer Zusammenkunft zu konzentrieren." Sie räusperte sich. Die Aufmerksamkeit war wieder die ihre. Selbst Treece hatte sich wieder zu seinen Gefolgsleuten gesellt. "Laut Beschluss des Verwaltungsamtes ist es unabänderlich, dass ein Sektionsverwalter für das Jeeran-System ernannt wird. Ich kam unwissentlich und im Grunde ungewollt zu dieser Ehre. Da ich Kommandant eines Kriegsschiffes bin und dies auch für die Zukunft beibehalten möchte, kann ich die zusätzlichen Aufgaben nicht zur ihrer vollsten Zufriedenheit, wie auch der des gesamten Jeeran-Systems und des Verwaltungsamtes ausführen. Zudem bin ich als Flottenkommander Mitglied der königlichen Raummarine und verstoße damit gegen einen Grundsatz aus der entsprechenden Satzung. Ich habe daher beschlossen, die Ernennung an eine andere Person weiterzugeben. Diesbezügliche Genehmigungen des Verwaltungsamtes liegen mir vor. Und nun zu dem Grund unseres Zusammentreffen." Sie machte eine kurze rhetorische Pause, in der sie kurz die Blicke ihrer Gesprächspartner suchte - abgesehen von Treece natürlich. "Ich möchte sie bitten, mich darin zu unterstützen, einen qualifizierten Ersatz zu finden und die Ansiedelung eines zweckmäßigen Botschaftskomplexes auf einem geeigneten Planeten des Jeeran zu ermöglichen. Meine Vorschläge können sie aus den vorliegenden Aufzeichnungen ersehen." Sie beugte sich vor und betätigte einen kleinen kaum sichtbaren Knopf in der Tischplatte, worauf sich knisternd und kleine Lichtblitze erzeugend, ein Raumholo bildete und den Konferenzgästen ihre Idee unterbreitete. "Ich persönlich halte Smiiles für den geeignetsten Ort, wegen der Anbindung an die interstellare Transferverbindung, der Nähe einer fähigen und voll funktionsfähigen Kampfbasis und den nahen Örtlichkeiten ansässiger Industrie. Einwände dagegen oder Vorschläge für andere Orte werden selbstverständlich angenommen. Ich hoffe, sie haben sich Zeit mitgenommen, meine Herren."
Ein Raunen ging durch den Saal und Nandra musterte die Anwesenden kühl lächelnd. Ihr war nach ihrer Einführungsrede wesentlich leichter geworden und es war ihr sogar gelungen, Treece für kurze Zeit aus ihren Gedanken zu verbannen. Zu ihrem Glück verhielt er sich weitgehend wortkarg und verfolgte das folgende hin und wieder hitzig werdende Gespräch mit Interesse, ließ sich aber zu keinerlei Kommentar hinreißen. Hätte er sich energisch in das Gespräch eingeschalten, wäre Nandra gezwungen gewesen, sich ebenfalls mit ihm zu unterhalten und ihn vielleicht sogar zu registrieren. Sie war ihm dankbar dafür, dass er den Trenkjar, dessen Namen sie nicht kannte in die Wortschlacht geschickt hatte und sich selbst bis auf einige kaum wahrnehmbare Handzeichen heraushielt.
Da die Bodenkommandeure mit dem Sektionsverwalter auch Ruhm, Ehre und vielleicht sogar auch Reichtum verbanden, verlangte ein jeder, dass der Verwalter auf seinem jeweiligen Planeten ansiedelt werden sollte. Für und wieder wurden abgewogen, auseinander gerissen und wieder sorgsam sortiert aneinander gefügt. Immer wieder wog das Gespräch auf, spitzte sich in einen beinahe handfesten Streit zu, den Nandra aber mit einigen scharfen Worten wieder zu schlichten wusste und dümpelte weiter dahin im allgemeinen Gerangel um die besten Plätze. Irgendwann schnaufte Nandra genervt. Sie waren kein Stückchen weiter gekommen.
Plötzlich ging die Gleittüre auf und eine kleine Person stürmte herein.
"Nein, Arani, das darfst du nicht“, rief eine Frauenstimme aus dem Korridor und nur einen Augenblick später erschien auch Lilian. Mit entschuldigendem Lächeln packte sie ihre Tochter und zerrte die Kleine zurück. Einen weiteren Augenblick später war der Spuk vorbei, als wäre er niemals geschehen. Die Konferenzteilnehmer steckten wieder die Köpfe zusammen und begannen die Debatte von neuem. Einer beugte sich zu ein paar kurzen Worten zu seinem Sprecher und verließ schließlich den Saal.
Nandra sah ihm hinterher, bis sich die Türe hinter ihm geschlossen hatte und forderte dann den Trenkjar auf, eine Erklärung abzugeben.
"Er sagte, er hätte eine alte Bekannte gesehen“, meinte der Trusgs achselzuckend.
Nandra biss die Lippen zusammen und kämpfte tapfer die aufkeimenden Gefühle von Eifersucht und Hilflosigkeit nieder.
"Darf ich fragen, wer sie sind?", erkundigte sie sich höflich, nicht nur um sich abzulenken. Treece hatte Lilian gesehen und wiedererkannt. Sie konnte sich das Thema ihres Gespräches wohl denken, versuchte es aber zu verdrängen.
"Verzeihung. Natürlich“, rief er und versuchte sich an der strammen Haltung. Es schien ihm ungewohnt zu sein. "Ianos Treece, Captain der Fliegerstaffel. Ich bin ein jüngerer Bruder des alten Gerai."
"Fliegerstaffel?", wiederholte Nandra fragend. "Ich dachte, auf Trenkjar könne man nicht fliegen."
"Natürlich kann man das“, entgegnete er schwungvoll. "Man muss nur aufpassen, wo man fliegt, sich nahe am Boden halten und die Gegend gut einprägen."
"Aha“, machte Nandra wissend. Trenkjar hatte sie in ihren Vorbereitungen vollkommen außer Acht gelassen. Nicht nur wegen seiner Oberflächenbeschaffenheit und seiner ungünstigen Stratosphäre war der Planet als Standort nicht in Frage gekommen. "Und was fliegen sie da für Maschinen?", erkundigte sie sich interessiert, während der Rest der Konferenzteilnehmer weiter über den in Frage kommenden Standort diskutierte.
"Meist schlagbolzenbetriebene Düsenmaschinen“, erklärte er fachmännisch. "Aufgrund der atmosphärischen Störungen müssen wir gänzlich auf elektronische Regelungen verzichten. Unser Leitsystem ist unser Gedächtnis. Und wenn wir auf Tour sind, sind wir uns vollkommen selbst überlassen."
"Und was ist, wenn ein Flieger abstürzt?"
"Die Piloten sind für diesen Vorfall ausgebildet. Sie müssen sich allein durchschlagen. Außerdem sind auf Janols Anweisung in regelmäßigen Abständen und in einem durchdachten Raster Sichtbojen in den Baumwipfeln oder an erhabenen Stellen angebracht. Bisher sind alle verunglückten Piloten wieder heil nach Hause gekommen."
"Nach General Treece Beschreibung, dachte ich, es sei unmöglich übers Land zu fliegen."
"Es ist gefährlich, aber nicht unmöglich“, gab der Captain schmunzelnd von sich. "Der Gerai neigt mit Vorliebe dazu, Begründungen für Dinge und Taten zu finden, auf die er keine Lust hat."
Nandra betrachtete ihn eingehend. "Das heißt also mit anderen Worten, er hatte damals keine Lust auf einen Luftkampf und zog daher den schweißtreibenden Marsch durch den Dschungel vor."
"Der Luftkampf hätte wesentlich mehr Leben gekostet“, wusste der Captain. "Meist sind die ersten Impulse des Gerai auch die besten."
"Aha“, machte Nandra erneut und versuchte sich wieder an dem Gespräch zu beteiligen, das sich abermals zu einem äußerst hitzigem Streit zu zuspitzen drohte. Sie rief die Kommandeure zur Vernunft und hörte sich die einzelnen Vorschläge an. Doch ein jeder war nach wie vor auf seinen eigenen Vorteil bedacht, so dass sie sich irgendwann entnervt setzte und sich erschöpft zurücklehnte.
"So kommen wir nicht voran. Wir sollten sämtliche Vertreter aller zugehörigen Planeten und Monde zusammenkommen lassen und eine faire Wahl abhalten."
"Dann werden wir hunderttausend verschiedene Nominierungen bekommen“, wusste Snijor grinsend. "Nein, das ist kein guter Vorschlag."
"Dann nennen sie mir einen“, verlangte Nandra.
"Mein Vorschlag ist, wir sollten bei Smiiles bleiben. Es ist der günstigste Ort."
"Damit sie der Sektionsverwalterin ständig um den Rocksaum tanzen können“, maulte General Uol. "Wir kennen ihre Praktiken inzwischen. Die Terrilium-Fabrik haben sie sich doch auf die gleiche Weise eingeheimst."
"Das war ein faires Abkommen. Außerdem wussten die Inhaber ebenfalls die günstige Lage von Smiiles zu schätzen."
"Ruoasm verfügt über wesentlich mehr freies Gelände. Für den Fabrikbau hätte man daher nicht erst ganze Areale roden müssen."
"Das Terrilium hätte auf ihrem Planeten keiner langen Lagerzeit standgehalten. Außerdem bezweifle ich, dass auch nur ein Steinklotz lange auf ihrem löchrigen Sandsteinboden stehen geblieben wäre."
"Würden sie sich bitte wieder dem eigentlichen Thema zuwenden?", fuhr Nandra energisch dazwischen. "Wenn das so weitergeht, werde ich den Verwalter noch mitten in den Sthii-See pflanzen."
Nur die Trenkjarsche Delegation fand dies amüsant. Der Rest brüskierte sich über die Übervorteilung.
"Genug, meine Herren“, rief Nandra und erhob sich. "Da wir heute zu keinem Ergebnis gelangen, schlage ich vor, dass wir erst einmal darüber schlafen werden. Vielleicht sind ihre Gemüter morgen in einem besseren Zustand. Gute Nacht." Damit schenkte sie den Kommandeuren noch einen abschließenden Militärgruß und marschierte davon. Kurz vor der Gleittüre blieb sie stehen. "Falls sie nicht wissen, wie sie die Zeit überbrücken können, Leutnant Hendriks wird ihnen unsere Unterhaltungs- und Sozialräume zeigen. Wenn sie es wünschen erhalten sie auch Schlafkabinen - nur dürfen sie nicht mit übermäßigem Komfort rechnen." Dann verschwand sie endgültig. Die Kommandeure ärgerten sie. Keiner von ihnen wollte nachgeben. Doch wenn sie erst einmal etwas an der langen Angel zappelten, vielleicht waren sie dann etwas kooperativer.
Sie sah auf die Uhr. Es waren inzwischen über fünf Stunden vergangen. Fünf Stunden, in denen sie nichts anderes getan hatten, als hin und her geredet, ohne auch nur ein Ergebnis vorweisen zu können. Ihr Ärger war abrupt angewachsen und sie hieb vor Wut einfach in die Wand. Es verschaffte ihr ein wenig Erleichterung und als sie endlich in ihrer Kabine angekommen war, ließ sie sich mit einem Seufzen auf ihr Bett fallen und starrte gedankenverloren an die Decke.
Dass das Leben auch so kompliziert sein musste. Hätten sich die Kommandeure nicht einfach einigen können und sie hätte in ein paar Wochen wieder davonziehen können? Aber nein, sie musste sich mit jedem einzelnen herumstreiten, womöglich noch Massenversammlungen mit den übrigen Planetenvertretern abhalten und sich auch noch mit deren Meinungen und Wünschen herumärgern. Es musste doch eine einfachere Lösung geben, fragte sie sich im Stillen. Ihr wollte jedoch nichts einfallen.
Schließlich begab sie sich wieder auf ihre Beine und verließ ihre Kabine. Lilian war die geübtere in Diplomatenangelegenheiten. Vielleicht wusste sie einen Rat.
Lilian war wie sie noch nicht an die Zeitverschiebung angepasst. Als sie die Kabine ihrer Freundin betrat, lag sie bäuchlings auf dem Bett und beobachtete ihre Kinder, die mit dem Mädchen auf dem Boden spielten. Lilian fuhr sogleich herum und kam ihr entgegen.
"Du siehst aus, als hättest du dich gegen eine ganze Horde verbohrter Männer behaupten müssen“, sagte sie feststellend.
"Woher siehst du das immer?", wollte Nandra überrascht wissen. "Sieht man mir das an der Nasenspitze an?"
"Nicht ganz“, lachte Lilian. "Du hast schwarze Ringe unter den Augen und deine Gesichtsfarbe ist vor Wut fast weiß. Setz dich. Du brauchst etwas Ruhe."
"Janol war hier, richtig?", sagte sie, als es ihr plötzlich wieder einfiel. "Was wollte er von dir?"
"Bist du deswegen hier?" Lilian lächelte erleichtert und setzte sich neben Nandra auf das Bett. "Ich dachte schon, du wolltest mir eine Standpauke halten, weil ich Arani aus den Augen verloren habe. Sie hörte von irgend jemandem, dass du im großen Salon bist und war auf einmal verschwunden." Sie warf ihrer Tochter einen strafenden Blick zu, worauf diese schuldbewusst den Kopf senkte. Das Kindermädchen schien sich überhaupt nicht angesprochen zu fühlen. Sie versuchte geduldig dem kleinen Tomee ihr Spiel beizubringen.
"Janol verließ die Besprechung, kurz nachdem ihr hereingeplatzt wart. Was wollte er von dir?"
Lilian lächelte nur und interessierte sich plötzlich nur noch für ihre spielenden Kinder.
"Lilian“, rief Nandra fordernder. "Was wollte er von dir? Bitte erzähle es mir."
"So ziemlich das gleiche, was du von mir willst“, antwortete sie ausweichend. "Wie geht es dir? Was hast du gemacht? Wie hast du es verkraftet? Und noch mehr solcher Fragen. Mein Liebes, er ist verrückt nach dir. Er verzehrt sich nach dir. Er vermisst dich."
"Warum sagt er mir das nicht selbst?", wollte Nandra mit errötenden Wangen wissen.
"Weil er Angst vor dir hat."
"Angst vor mir?" Nandra glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.
"Genau dieselbe Angst, die du vor ihm hast“, sagte Lilian wissend. "Ihr beide habt euch gegenseitig wehgetan und befürchtet, die Wunden noch mehr auseinander zu reißen, falls ihr es wagen solltet, dem anderen auch nur in die Augen zu sehen. Ihr solltet euch endlich zusammensetzen und euch gegenseitig an den Kopf werfen, was euch nicht passt. Besser ihr zerfleischt euch tüchtig und leckt dann gemeinsam eure Wunden."
Nandra schnaufte verzweifelt und beteiligte sich vor sich hin sinnierend, an dem Beobachten der spielenden Kinder.
"Er lud mich zu sich ein“, berichtete Lilian und zerstörte damit die wirren Gedankengänge ihrer Freundin. "Er sagte, wir wären herzlich zu einem trenkjarschen Frühstück willkommen. Und sein Gesichtsausdruck meinte wirklich wir. Er will, dass du mitkommst."
"Wenn er es nicht ausdrücklich erwähnte, bezweifle ich, dass er die Einladung auch an mich richtete."
"Bist du tatsächlich so dumm, oder gibst du dich nur aus Liebeskummer so störrisch?", schimpfte Lilian. "Liebes, du kommandiert über hundert Besatzungsmitglieder herum, die weit weniger Anstand und Manieren besitzen, als ein gewöhnlicher Straßenköter. Und da willst du bei einem einzigen Mann den Schwanz einziehen und dich verkriechen? Zeig es ihm doch endlich, was du für ihn empfindest. Du stellst dich an, als wärst du zum ersten Mal verliebt."
"Zum ersten Mal richtig“, nickte Nandra fast schwärmerisch. "Zum ersten Mal bis über beide Ohren und mit jeder Faser meines Körpers. Ich würde mein Leben für ihn geben, wenn er es verlangte."
"Fürs erste würde ein Kuss genügen“, gab Lilian anteilnehmend von sich und nahm sie in den Arm. "Du meine Güte“, seufzte sie. "Muss Liebe schwierig sein."
Nandra hatte sich fest vorgenommen, die Einladung anzunehmen, auch wenn sie nicht an sie persönlich gerichtet war. Doch als Lilian einige Tage später reisefertig, mit den beiden Kindern und dem Mädchen in ihrem Rücken in ihrer Kabine erschien, zog sie tatsächlich den Schwanz ein und weigerte sich auch nur einen Schritt in Richtung Fähre zu machen.
"Du kommst mit“, verfügte Lilian streng, riss Nandras Schränke auf und brachte ein schlicht gehaltenes Kleid aus grobgewebtem, beige und hellgrauem Stoff mit Überkleid zum Vorschein. Eines der wenigen zivilen Kleidungsstücke, die Nandra mit auf die Reise genommen hatte. Außer einer viel zu feinen Abendrobe und einem grobschlächtigen Wanderrock, besaß die Okopaidotochter keine weibliche Kleidung. Fast war sie schon der Versuchung nahe, Nandra aus ihrer eigenen Garderobe einzukleiden. Doch als sie ihre Freundin in das Kleid gezwungen hatte, fand sie es genau richtig. Dazu kniehohe Stiefel und einen taillierten Kurzjanker. "Das sieht nicht aus, als hättest du nur auf die Einladung gewartet, aber auch nicht, als wolltest du sie von vornherein ausschlagen. Perfekt. Und nun komm." Sie hakte sich unter Nandras Arm und zerrte sie mit sich. "Wir werden das Kind schon zu schaukeln wissen“, rief sie und schritt zügig in Richtung Fährhangar.
Der kleine Tomee hatte nur das Wort Schaukeln verstanden und verlangte lautstark auf eben jene Schaukel gesetzt zu werden. Das Kindermädchen hatte alle Mühe, ihm es auszureden. Nach einer Weile hatte sie es geschafft, ihn wenigstens auf später zu vertrösten, in der Hoffnung, dass er es dann vergessen hatte.
"Leutnant Hendriks, übernehmen sie“, sagte sie zu ihrem besten Mann. "Sollte etwas sein, erreichen sie mich in der Basis in Trenkojar."
"Jawohl, Commander“, rief er zackig, salutierte und lächelte den Kindern freundlich zu. "Sie werden an der Demarkationslinie empfangen und durch ein Loch geleitet - was auch immer das heißen mag“, erlaubte sich Hendriks eine Zwischenbemerkung. "Dann wird sie ein Bodengleiter zu ihrem Ziel führen. Viel Vergnügen“, sagte er abschließend und verschloss die Lukentüre.
Nandra nickte und seufzte, als sie sich einen Platz suchte. Die Fähre war für zehn Passagiere ausgelegt. Sechs Plätze wurden allein von den aufgeregten Kindern belegt, somit blieb jeweils einer für den Stuart, einer für das Mädchen, einer für Lilian und einer für Nandra übrig. Der Pilot befand sich hinter einer gerade schulterbreiten Trennwand. Lilian setzte sich neben Nandra und hielt ihre Hand. Sie nickte zuversichtlich, als sich die Fähre vom Boden abstieß und in Richtung Schleuse schwebte.
Die Reise nach Trenkjar würde knapp vier Stunden dauern. Somit blieb Nandra noch genügend Zeit, sich ihre Worte zu überlegen. Oder ob sie überhaupt etwas sagen sollte. Im schlimmsten Fall hatte er gar nicht mit ihrem Erscheinen gerechnet und würde sie missachten und übergehen, als gäbe es sie gar nicht. Nandra starrte aus dem Fenster, als sich die Sterne erst in schmierige Lichtstreifen verwandelten und schließlich ganz verschwanden und sie starrte noch immer aus dem Fenster, als plötzlich neben ihnen vier raumfähige Kampfflieger auftauchten. Erschrocken darüber fuhr sie hoch und sah sich verwirrt und mit Panik berührt um.
"Das sind die Begleiter, die uns zu dem Loch führen sollen“, erklärte Lilian. "Hast du gut geschlafen? Ich glaubte sogar, dich schnarchen zu hören." Ihre Kinder lagen inzwischen ebenfalls zusammengekauert in ihren Sitzen. Tomees Kopf thronte auf dem Schoß des Kindermädchens.
"Ich habe geschlafen?", fragte Nandra verwirrt.
"Was für ein Loch meinen die eigentlich die ganze Zeit?", wollte Lilian interessiert wissen, beugte sich vor und versuchte etwas zu entdecken, das einem Loch gleichkam.
"Funklöcher“, erklärte Nandra. "Sie sind wie das Auge eines Wirbelsturmes und ziehen sich bis auf den Boden hinunter. Elektronisch gesteuerten Fluggeräten ist nur der Eintritt durch eines dieser Funklöcher möglich."
"Warum? Was haben die für ein Problem?"
"Darüber unterhältst du dich am besten mit dem General. Er kann dir das sicherlich besser erklären." Sie blickte ebenfalls aus dem Sichtfenster und sah sie alten Kampfmaschinen an ihren Seiten flankieren. Dass Trenkjar wahrhaftig über eine Fliegerstaffel verfügte, hatte ihr erst Janols Onkel erzählen müssen. Ihr wurde erst jetzt klar, wie wenig sie über Trenkjar und seine Bewohner wusste. Ihr wurde klar, wie wenig sie über all diese Planeten herrschen konnte. Ihr wurde auch klar, dass sie jämmerlich versagen und das gesamte Jeeran in den Ruin treiben würde, wenn sie es trotzdem versuchte.
Die Fähre wurde etwas gerüttelt und geschüttelt, als sie in die Atmosphäre eintrat, wodurch die Kinder von ihrem süßen Schlummer erwachten. Ihre anfängliche Panik wandelte sich schnell in grenzenlose Neugierde und sie klebten bald mit ihren Nasen an den Sichtfenstern. Der Pilot ließ sich nach Anweisung über Funk, die auch die Passagiere mitbekamen, geradewegs zu Boden sinken. Die smaragdfarbene Oberfläche von Trenkjar kam bedrohlich schnell näher. So als ob sie vom Weltraum aus mit dem Fallschirm absprangen. Der Blick aus dem Fenster war beinahe schwindelerregend und Nandra ging alsbald dazu über, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Doch kaum sprachen die Kinder von den ersten Baumwipfeln, musste sie ebenfalls wieder aus dem Fenster sehen.
Der Pilot verringerte erst knapp zwei Kilometer über der Oberfläche sein Tempo. Nandra befürchtete schon, dass sie direkt auf die Sendestation knallen würden, die immer deutlicher erkennbar wurde. Doch gerade noch rechtzeitig, zündeten die Bremsdüsen und er lenkte die Fähre vom Sturzflug in einen leichten Sinkflug. Eine handvoll Flugmaschinen tauchte wie aus dem Nichts auf und brachten die Fähre in ihre Mitte. Der Anführer des Konvois drückte den Fährpiloten noch tiefer auf die Oberfläche herunter, so dass zwischen ihnen und der Wasseroberfläche kaum noch zehn Meter Abstand verblieben. Die Kinder kreischten, als das Wasser so knapp unter ihnen vorbeischoss, sie dann und wann abstehende Zweige und Äste streiften und sogar einmal unter einem tief herunterhängenden Ast hindurchfliegen mussten. Der Konvoianführer ermahnte den Fährpiloten immer wieder so tief wie möglich runter zu gehen und sich möglichst unterhalb des Ausstoßstrahles des ersten Führers zu halten. Nandra schnallte sich ab und wankte nach vorn.
Der Pilot hatte seine liebe Müh und Not, die Fähre unter Kontrolle zu halten. Warnlampen leuchteten auf und Anzeigen spielten vollkommen verrückt. Dass er sein Falltempo erst so knapp über der Oberfläche abgebremst hatte, schien vermutlich nur daran zu liegen, dass er die Fallgeschwindigkeit nicht mehr selbst abzuschätzen wusste. Womöglich waren sie nur knapp an einem tatsächlichen Aufprall vorbeigeschliddert. Sämtliche Instrumente spielten verrückt. Aus dem Lautsprecher kam die Stimme des Konvoiführers nur mit starken atmosphärischen Störungen begleitet, wobei der Pilot ohnehin schon den größtmöglichen Filter und Entzerrungsmaß eingestellt hatte. Auf seiner Stirn erschienen Schweißperlen. Seine Hände umklammerten den Steuerknüppel, als bedeutete es den letzten Rettungsanker. Die Steuerunterstützung war ausgefallen, bemerkte Nandra mit einem prüfenden Blick. Der Pilot musste versuchen, die Turbulenzen selbst auszugleichen und die schwerfällige Maschine in eine einigermaßen angepasste Linie zu dem Konvoi zu bringen.
"Brauchen sie Hilfe?", fragte sie leise. Sie wollte die Konzentration des Piloten nicht übermäßig ablenken. Bei ihrem aller ersten Besuch hatte sie sich nicht um die Nöte des Piloten gekümmert. Sie hatte gar nicht erst um die Schwierigkeiten gewusst, die ein Flug nach Trenkjar zu bieten hatte.
"Schienen wären genau das richtige“, keuchte er und wischte sich schnell über die Stirn, nur um seine Hand gleich wieder um den Steuerknüppel zu verkrampfen.
"Damit kann ich vielleicht nicht dienen, aber wie wäre es mit einem zweiten Paar Augen." Nandra verkrallte sich in die Lehne des Pilotensitzes.
"Akzeptiert“, keuchte er und betätigte einige Knöpfe. Die zugehörigen Warnlampen flackerten weiterhin bedrohlich. Nach den Anzeigen zu schließen, flogen sie ohne jegliche Unterstützung und Erleichterung. Es grenzte schon an ein Wunder, dass der elektronisch gesteuerte Antriebsmotor nicht den Geist aufgab.
"Tiefer runter“, wiederholte sie die Aufforderung aus dem Lautsprecher.
"Dann fahren wir Wasserski."
"Nur Mut. Die wissen, was sie verlangen."
Der Pilot kurvte in atemberaubendem Tempo durch Waldschneisen und ausgefrästen Trassen. Er hatte seine eigene Geschwindigkeit kaum unter Kontrolle. Er war weder in der Lage abzubremsen, noch die Geschwindigkeit zu erhöhen, um sich am nächsten Baum den Gnadenschuss zu geben. Nur die Steuerung, die sich mühsam durch die Luftströmungen kämpfte, gab ihnen etwas Zuversicht.
"Wohin fliegen wir eigentlich?", erkundigte sich Nandra interessiert. Wenn sie ihr spärlicher Orientierungssinn nicht verließ, flogen sie geradewegs in die entgegengesetzte Richtung. Trenkojar musste auf der anderen Seite des Sees liegen.
"Ich weiß nur, dass wir dem Konvoi folgen sollen“, keuchte der Pilot angestrengt. "Und ich bete, dass wir überhaupt ein Ziel haben."
"Die werden uns schon nichts ins Wasser plumpsen lassen“, entgegnete Nandra zuversichtlich. Und meinte damit eigentlich, dass wenn Janol wirklich darauf erpicht war, sie wieder zu sehen, dann würde er dafür sorgen, dass sie heilen Hautes ankam. Vermutlich wurden sie durch einen Korridor nach Trenkojar geführt, der einigen natürlichen Trassen angepasst einen Umweg machen musste.
"Da bin ich mir nicht so sicher." Der Pilot riss den Steuerknüppel herum, als der Führer eine scharfe Kurve vollführte, um dem Lauf einer Trasse zu folgen. Nur um Haaresbreite schlidderten sie an dicht bewucherten Baumgrenzen vorbei. Einige Äste und die Köpfe junger Bäume wurden von den Tragflächen abrasiert. Aber im Großen und Ganzen hatte es der Pilot ganz gut gemeistert. "Puh“, machte er und wischte sich erneut über die Stirn. "Ob der Rückweg auch so interessant wird?"
Nandra lächelte nur und strengte ihre Augen an.
"Sie sollen tiefer runter“, wiederholte sie das kaum noch zu verstehende Krächzen aus dem Lautsprecher. "Ich glaube da vorn kommt noch eine Kurve."
Diesmal wählte der Pilot einen schwächeren Winkel, um die scharfe Kurve zu bewältigen und schaffte es sogar, dabei die Botanik zu verschonen. Irgendwo summte ein Warnpiepser auf. Wenn man der Anzeige der Energiekonverter Glauben schenken durfte, dann flogen sie ohne jegliche Energie. Nandra vermutete aber, dass sie sich mittlerweile tatsächlich in einem bedrohlichen Bereich befanden.
"Sie müssen tiefer runter“, sagte sie diesmal, ohne die Aufforderung über Funk zu bekommen. "Je tiefer sie sind, desto eher arbeitet die Elektronik."
Der Pilot leistete dieser Aufforderung diesmal sogar Gehorsam und drückte den Knüppel sanft nach vorn. Der Abstand zur Wasseroberfläche musste inzwischen nur noch einen knappen Meter betragen.
"Gehen sie soweit runter, wie sie nur können“, riet Nandra und beobachtete die Anzeige für die Konverter. Die Ziffernanzeige tanzte zwischen sämtlichen Grenzwerten hin und her. Doch irgendwann verstummte das Warnsummen und sie lächelte zuversichtlich und erleichtert.
Es folgten noch einige scharfe Kurven, dann wurden sie vom dichten Wald ausgespuckt wie ein unverdauliches Stück Nahrung und sie rasten über einen dichten Teppich aus Algengewächs. Aus dem Wasser ragten einige niedere Holzpfosten und Nandra glaubte sogar den Kopf eines Mannes gesehen zu haben. Der Pilot schwitzte noch mehr. Wasser war relativ leicht zu verdrängen, wenn man dagegen stieß. Doch Holzpfosten würden erst einmal gehörigen Widerstand leisten, bevor sie zerbrachen und die Fähre mit sich ins kühle Nass nahmen. Dennoch vergrößerte er den Abstand nicht und raste nur um haaresbreite über die Holzpfosten hinweg.
Am Horizont zeichnete sich langsam eine weiße Linie ab, die schnell bizarre Formen annahm und sich bald als Ansiedelung entpuppte. Nandras erste Vermutung, dass sie nun in Trenkojar angekommen waren, musste sie schnell wiederlegen. Sie hatte in ganz Trenkojar kein einziges weißes Haus gesehen.
"Wo sind wir?", wollte sie wissen. Die krächzende Stimme aus dem Lautsprecher verlangte, dass die Fähre ihre Geschwindigkeit drosselte. Nandra hieb auf einige Knöpfe, worauf ein paar Lampen erloschen. Der Pilot knurrte und zerrte an dem Bremshebel. Nur zögerlich gab die Fähre dem Druck nach verlangsamte ihr Tempo. Die weiße Ansiedelung kam dennoch im atemberaubendem Tempo näher und nur mit knapper Not und mit Aufbürdung aller Kräfte, gelang es dem Piloten, die Bremsdüsen zu Vollschub zu überreden und wie ein blutiger Anfänger auf einem wackelig aussehenden Holzgestell, was eine Plattform darstellen sollte zu landen.
Er schnaufte, lehnte sich zurück und stieß einen Großpack an Dankesgebeten gen Himmel.
"Ging doch gut, oder nicht?", versuchte Nandra ihn aufzumuntern. Den Grund ihres Besuches hatte sie längst vergessen. Sie klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und begab sich in die Passagierabteilung der Fähre. "Alles aussteigen. Wir scheinen da zu sein."
"Wenn die Rückfahrt auch so werden sollte, werde ich mir überlegen, ob ich nicht ein Einbürgerungsgesuch abgebe“, schnaufte Lilian und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Kinder schienen ihre wahre Freude an der turbulenten Fahrt gehabt zu haben und sprangen übermütig und unternehmenslustig durch die Luke ins Freie. Nur ihr Mädchen stieg mit noch bleicherer Haut aus, als sie von Natur aus schon besaß.
"Für die Rückfahrt werde ich mir etwas überlegen“, erwiderte Nandra tröstend und trat ins Freie. Dicke Wolken hatten sich über ihren Köpfen zusammengebraut. Wenn sie es nicht anders wüsste, würde sie sagen, dass bald ein Gewitter aufkam. Neben ihr erschien, wie aus dem Nichts aufgetaucht, ein spärlich bekleideter Trusgs, an dem noch das Wasser von seinem Körper abperlte. An der Landeplattform zogen sich noch weitere Wassermenschen aus dem See und betrachteten neugierig die Ankömmlinge. Parija stand am Ende des Steges, hieß sie mit einer steifen Verbeugung willkommen und winkte sie mit sich.
Von der Plattform führte ein hölzerner Steg hinüber zu den niederen, weißen Häusern in Flachbauweise, die geschickt und dicht gedrängt einen kleinen Berg zu besiedeln schienen. Wie eine Pyramide schraubte sich die Mitte der Ansiedelung in die Höhe. Der höchste Punkt wurde von einem zweistöckigen Bau gekrönt, der wiederum von einem großzügigen Pavillon in Form einer Krone verziert wurde. Sämtliche verwendete Materialen bestanden aus Naturelementen. Holz, Kalk, Hanfstricke, getrocknetes Seegras, ganze Baumstämme, Lehm und Steine, was Nandra auf den ersten Blick erkennen konnte. Bei näherem Herantreten bestätigte sich ihre Vermutung. Einfache Material wurden zu reichhaltigen Bauwerken verarbeitet. Weitläufige Flachbauten umsäumten einen Berggipfel. Hölzerne Pfade führten durch die verwirrenden engen Gassen und schraubten sich in einem Irrweg immer höher hinauf zu dem gekrönten Bau in ihrer Mitte.
"Wohnt hier Janol?", krähte Arani und Nandra wurde mit einem Mal an den Grund ihres Besuches erinnert. Ihre Hände wurden plötzlich kalt, obwohl die feuchtwarme Temperatur ihr wohlige Wärme verschaffte.
Parija hielt an einem Torbogen an, verbeugte sich abermals und lud die Gäste mit einer weitschwingenden Handbewegung dazu auf einzutreten. Hinter dem Torbogen kam der Besitzer des Anwesens angeschlendert, worauf sich Nandra augenblicklich ans Ende der Schlange setzte. Die Kinder sprangen als erste über die weiß getünchte Schwelle und tanzten in Richtung Haus. Lilian wurde galant von Janol bei der Hand genommen und zum Haus geführt. Nandra blieb am Torbogen stehen. Wie sie befürchtet hatte, war sie unerwünscht und würde während ihres ganzen Besuches unregistriert bleiben. Genauso gut, konnte sie durch das kleine Dorf schlendern und sich die putzigen Bauten betrachten. Als sie schon kehrt machen und davoneilen wollte, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
"Willst du nicht auch reinkommen? Commander?" Janol schien sich bezüglich der Anrede nicht mehr sicher zu sein. Er betrachtete sie verlegen und wusste nicht, ob er auch ihr die Hand reichen und sie herein geleiten sollte. Wie zwei verlegene Kinder, die zum ersten Mal den Hauch der Liebe spürten, verhielten sie sich unsicher und gehemmt.
Nandra musste einen Kloß herunterschlucken. Zur Feier des Tages hatte er sich in Zivilkleidung, in eine knielange, weiße Tunika und knöchelhoch geschnürte Ledersandalen gehüllt und verzichtete auf irgendwelche Würden und Abzeichen. Für Nandra sah er einfach zum Anbeißen aus. Sie musste der Versuchung arg widerstehen, die Hand zu ergreifen, ihn an sich zu ziehen und ihm einen Kuss zu rauben. Doch bevor sie ihren Gedanken zu Ende führen konnte, hatte er sich ihre Hand geschnappt, sie zu sich gezerrt und sie in seine Arme geschlossen. Ihre Gesichter verharrten nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ihre Augen glitzerten vor Erwartung. Ihr Atem ging heftig. Ihre Knie zitterten und dann fanden sich ihre Lippen wie von selbst.
Allen Ungereimtheiten zwischen ihnen zum Trotz. Ihre Liebe hatte gesiegt und die Oberhand übernommen. Sie hatten gar keine andere Wahl mehr, als sich gehen zu lassen und ihr Wiedersehen mit einer leidenschaftlichen Umarmung und einen andauerndem Kuss zu feiern.
Erst ein Räuspern und leises Kinderkichern machte sie auf die Zuschauer aufmerksam. Nandra schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land, aber nicht, weil ihr eventuell die Atemorgane zugehalten worden waren. Die Wiedersehensfreude, die Berührung, der Kuss, sein Atem, der Druck um ihren Brustkorb und sein unwiderstehlicher Duft nach Seife, hatten sie atemlos gemacht, hatten ihr die Sinne geraubt und ließen sie wanken. Janol reagierte sofort, hob sie auf seine Arme und trug sie ins Haus.
"Bist du mir nicht mehr ... ?", begann sie vorsichtig, als er sie absetzte.
"Scht“, machte er und legte ihr einen Finger auf die Lippen, um sie zu verschließen. "Vergiss es. Lass uns einfach nicht davon sprechen. In Ordnung?" Er küsste sie erneut und führte sie tiefer in sein Haus, um ihr alles zu zeigen.
Die Räume waren spärlich aber zweckmäßig eingerichtet und nach allen Seiten hin offen. Die einzelnen Raumaufteilungen übernahmen dünne aus Hanf oder Holzstreifen gewirkte oder geflochtene Zwischenwände. In dem größten Raum, der eine ganze Front des Hauses einnahm, lagen Hanfteppiche auf dem Holzboden und sorgte lediglich einige Schwammgebilde für bequemen Sitzkomfort. Es gab weder Tische noch Stühle, keine Lampen oder andere Leuchtkörper an den Decken, keine Bilder an den Wänden, keine Schränke und keine sonstigen Luxusgüter, wie Klimaanlage, Videowand, Holograph oder ähnliches. In einem anderen Raum, gab es eine steinerne Kochgelegenheit, die an ein Jahrhunderte altes Museumsstück erinnerte und Hanfteppiche auf den Böden. Einen Stock tiefer waren die Schlafräume untergebracht. In jedem lag eine längliche Schwammmatratze, die allein schon beim Betrachten Kreuzschmerzen verursachte. Es gab noch ein Badezimmer, mit handbetriebener Dusche und Toilette, die nur aus einem Loch im Boden bestand, was besonders die Kinder amüsierte.
"Es ist einfach aber man kann leben“, erklärte Janol und führte sie wieder hinauf in den Salon. "Die meisten Trusgs besitzen nicht einmal eine Hütte."
"Wo schlafen die dann?", wollte Arani neugierig wissen.
"Im Wasser."
"Da schlafen doch nur Fische“, wusste das Mädchen.
"Ich bin ein Fisch“, erklärte Janol schmunzelnd. "Und ich werde es dir irgendwann beweißen." Parija war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Janol nickte ihm zu, worauf dieser wieder wortlos verschwand. "Ihr habt sicherlich Hunger“, rief er den Kindern zu, worauf diese jauchzend auf den Schwammsesseln herumsprangen und lauthals nach Essen riefen. Janol nahm Nandra bei der Hand und hielt sie zurück, als sie sich ebenfalls in den Salon begeben wollte. "Komm mit“, sagte er leise. "Ich will dir vorher etwas zeigen."
Er führte sie wieder aus dem Haus heraus und an den Rand einer Plattform, die Andere vermutlich als Veranda bezeichnet hätten. Die anderen Häuser grenzten beinahe nahtlos daran an und ließen nur kleine Lücken frei, durch die kühle Luft und der Duft von algenhaltigem Wasser stieg. Für einen Moment dachte Nandra darüber nach, ob sie sich vielleicht doch nicht auf einem Berg befanden, da öffnete Janol auch schon eine Luke im Verandaboden und schickte sich an, eine kleine Steigleiter hinunterzuklettern.
"Was willst du mir zeigen?", wollte Nandra wissen.
"Sieh es dir erst einmal an, dann erkläre ich es dir“, sagte er und lud sie mit einer Handbewegung dazu ein, ihm zu folgen.
Schnaufend folgte Nandra der Aufforderung und kletterte die Leiter hinunter. Als sie tief genug war, um in einem Rundblick erkennen zu können, wo sie sich befand, musste sie feststellen, dass ihre erste Vermutung vollkommen falsch war. Die Ansiedelung war nicht um einen Berg herumgebaut, dessen Spitze aus dem Wasser herausragte. Sie stand vollkommen auf Pfählen. In einer komplizierten Bauweise ineinander verschachtelt und aneinander befestigt, war dieses Dorf errichtet worden, auf Pfählen, die so dick waren, dass ein Erwachsener sie kaum mit beiden Armen umgreifen konnte. Sie reichten so tief in die Dunkelheit hinunter, dass es Nandra beinahe schwindelig wurde. Tief unter ihr hallte das dumpfe Klatschen und Dümpeln von Wasser herauf.
Nach mindestens zweihundert Stufen erreichten sie eine weitere, wesentlich kleinere Plattform. Eine schwimmende Insel, auf der zwei kleine Öllampen standen, die ihnen wenigstens annähernde Sichtverhältnisse verschafften.
"Zieh dich aus, wir müssen ins Wasser“, sagte Janol.
"Mir ist im Moment nicht nach schwimmen."
"Du wirst es bereuen, wenn du es dir nicht wenigstens angesehen hast."
Es musste ihm sehr wichtig sein, dass Nandra es sich betrachtete. Sie seufzte und zog sich tatsächlich aus. Dann nahm er sie in den Arm und sprang mit ihr von der Insel. Wasser schlug über ihren Köpfen zusammen und vollkommene Dunkelheit empfing sie. Während er sich mit ihr zu einem atemspendenden Kuß vereinigte, sanken sie kopfüber immer tiefer. Nandra hielt die Augen geschlossen und umklammerte den Brustkorb des Trusgs so fest sie konnte, denn sie wusste noch von ihrem ersten Taucherlebnis, dass seine Schwimmgeschwindigkeit durchaus in der Lage war, ihre Klammerkräfte zu übersteigen und die Strömung ihre Netzhaut derart reizen konnte, dass sie hinterher gar nichts mehr sehen konnte. Er zog sie immer tiefer, so dass Nandra annahm, bald am Grund des Sees angelangt zu sein. Doch es ging immer tiefer und tiefer. Der Druck des Wassers wirkte sich immer mehr auf ihre Lunge aus und sie hatte bald Schwierigkeiten, die eingepresste Atemluft aufzunehmen.
Schließlich hielt er an. Nandra öffnete die Augen und wurde geblendet. Sie hatte eigentlich gedacht, vor lauter Dunkelheit nicht einmal mehr Janol sehen konnte, doch sie war überrascht worden. Es war so hell und das Wasser so klar, dass sie viele Meter weit sehen konnte, wären da nicht die dichten Schwärme glühender Wassertierchen gewesen. Kleine wuselnde Geiseltierchen, kaum länger als ein Finger, mit rotleuchtenden Augen und ständig rotierendem Schwanz. Es gab so viele davon, dass das Wasser um sie herum, beinahe taghell beleuchtet war. Tausende, Millionen, vielleicht sogar mehrere Billiarden. Nandra vermochte ihre Anzahl nicht abzuschätzen. Janol löste sich von ihr und fuhr mit seiner Hand durch einen dichten Pulk dieser Tierchen, worauf diese ihre Leuchtfarbe wechselten und nun in den verschiedenartigsten und grellsten Farben leuchteten. Sie glitzerten wie ein Schwarm Sternschnuppen, die alle gleichzeitig vom Himmel stürzen wollten. Ihre roten Augen bildeten einen amüsanten Kontrast zu ihren leuchtenden Körpern und Nandra musste innerlich lächeln. Janol nahm sie erneut in den Arm, bließ ihr einige Lungenzüge voll Atem zwischen die Lippen und zog sie noch tiefer. Der Druck des Wasser machte sich ohnehin schon ziemlich erdrückend auf ihr bemerkbar. Nandra verspürte keine Lust, noch tiefer zu tauchen. Sie befürchtete vom Wasser erdrückt zu werden.
Als sie begann, sich dagegen zu wehren hielt er an und sie öffnete abermals die Augen. Die Leuchttierchen hatten hier lange Ketten von dicht aneinander gereihte Leuchtkügelchen gebildet, die von den ausgewachsenen Tierchen wie Glucken umschwärmt wurden. Lange Ketten, die sich in bizarrsten Formen um die Pfähle herumschlängelten. Nandra bemerkte, dass sich noch einige glitzernde Sternschnuppen dazugesellten, die nicht von den glühenden Tierchen herrührten. Sie versuchte den Trusgs mit Handzeichen begreiflich zu machen, dass sie nach oben wolle, worauf er nickte, sich fest unter den Arme packte und mit ihr wieder an die Oberfläche schwamm.
Nandra schüttelte den Kopf, als sie frische Luft atmen konnte. Sie mussten so tief unten gewesen sein, dass sie drohte einen Tiefenkoller zu bekommen. Keuchend zog sie sich auf die Insel und legte sich rücklings nieder, die Füße noch im Wasser baumelnd.
"Was war das?", wollte sie atemlos wissen. Allmählich beruhigte sich ihr aufgewühlter Körper.
"Jawies“, erklärte Janol stolz, während er sich ebenfalls auf die Insel zog und sich neben sie setzte. "Wir dachten, sie wären vollkommen ausgerottet. Bei einer Tour entdeckte ich zufällig einige letzte Exemplare und versuchte sie hier anzusiedeln. Es funktionierte, was uns wiederrum den Anbau von Muno erlaubte. Es ist ziemlich schwierig Jawies zu züchten. Sie brauchen einen bestimmten Gehalt an Muno-Sporen, um überleben zu können. Die Muno-Planze benötigte wiederrum Jawies, um sich fortzupflanzen. Da hier früher schon einmal eine Plantage war, hatte ich gehofft, dass es funktioniert. Und es hat funktioniert."
Nandra konnte das gesamte Spektrum dieses unheimlichen Glückes nicht gänzlich begreifen. Für sie waren es nur lustige leuchtende Tierchen, die ihre Farbe wechselten, sobald man sie berührte. Sie lächelte trotzdem.
Janol beugte sich zu ihr nieder. "Ich möchte dir noch soviele Dinge zeigen, doch ich befürchte, dass uns nicht genügend Zeit bleibt."
"Im Augenblick ist mir mehr danach, mit dir zusammen zu sein“, sagte sie und zog ihn an sich. Sein Kuß schmeckte nach Algen, nach kühlem Wasser und nach mehr. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn gänzlich zu sich, während sie seine kühlen Hände auf ihrer naßen Haut spürte, die sich mit dem Rest ihrer Unterkleidung abmühten. Leidenschaft, Gier, Sehnsucht und Hingabe übernahm die Kontrolle über sie und sie ließen sich zu etwas hinreißen, was keiner von ihnen jemals zu bereuen gedachte.
Als Nandra wieder die lange Steigleiter hochkletterte, fühlte sie sich so gut, wie seit langem nicht mehr. Sie fühlte sich beschwingt und wie unter Strom gesetzt. Sie fühlte sich, als tanzten ihre Nervenenden nach einem wilden Rythmus. Wenn sie sich nicht hätte an der Leiter festhalten müssen, wäre sie dem heftigen Rythmus in ihrem inneren gefolgt. Sie fühlte sich einfach großartig.
Durch die Luke prasselte dichter Regen. Parija stand mit großen Tüchern, die bereits vom Regen durchnäßt waren an der Luke und legte sie über die Schultern der beiden. Er eilte voran und nahm ihnen die Tücher im Haus wieder ab, um sie durch trockene zu ersetzen. Während er die Tücher wechselte, tauschte er mit seinem Herrn einige Worte in ihrer Sprache aus und verschwand schließlich nach einem kurzen Nicken.
"Was sagte er?", erkundigte sich Nandra neugierig. Sie nahm sich vor, die Sprache der Trenkjar irgendwann zu lernen.
"Er wollte wissen, ob er die Zimmer für die Nacht herrichten soll."
"Wir sind nicht darauf eingerichtet. Wir haben kein Gepäck und nichts dabei."
"Das hat dich doch auf unserem Gewaltmarsch zum Sthii auch nicht gestört."
"Apropos“, rief sie, wieder an etwas erinnert.
"Vergiß es“, fuhr er ihr dazwischen und schloss ihren Mund mit einem Kuß, bevor sie sich darüber beschweren konnte. "Ich wollte lediglich Zeit schinden, um dich kennenzulernen“, erklärte er mit einem entschuldigenden Lächeln. "Und nun laß uns duschen, bevor wir zum Essen gehen. Wenn die Muno-Sporen trocknen, verbreiten sie keinen angenehmen Duft." Er nahm sie bei der Hand und führte sie in das schlichte Badezimmer, wo sie unter einem kühlen Wasserstrahl und wie kleine Kinder unter Feixen und Kichern die schleimigen Sporen abwuschen.
In trockene Trenkjar-Tuniken gehüllt erschienen die beiden endlich im Salon, wo die Kinder bereits wohlgesättigt und müde in den Schwammsesseln räckelten. Auf einem der bunten Hanfteppich in der Mitte des Raumes war das Essen gerichtet worden. Schüssel, Schalen, Trinkbecher und kleine Körbe mit gesüßtem Mogg-Kuchen standen einfach auf dem Boden. Lilian stand an der offenen Fensterfront und betrachtete das schlechte Wetter, während das Kindermädchen versuchte, sich mit den ungewöhnten Sitzmöbeln anzufreunden und dennoch ihre steife Sitzhaltung beizubehalten. Tomee und Arani knabberten jeweils an einem Stück gesüßtem Mogg-Kuchen.
"Regnet es immer so stark hier?", fragte Lilian neugierig, als sie Nandra und Janol Hand in Hand hereinkommen sah. Ihr mitfühlendes Lächeln war nicht zu übersehen.
"Nur alle fünf bis sechs Tage“, berichtete der Trenkjar. "In drei Stunden hört es wieder auf." Er ließ sich vor der tischlosen Tafel auf den Hanfboden nieder und angelte sich aus einer Schale eines der kleinen schwarzen wurmähnlichen Gebilde, die kunstvoll um dunkelgrüne Blätter trapiert worden waren. Von seinen Gästen schien keiner den Mut besessen zu haben, diese merkwürdigen Dinger zu kosten. Das Arangement war nicht angebrochen.
"Was ist das?", wollte Nandra wissen und piekte sich mit spitzen Fingern ebenfalls eines aus dem kunstvollen Gebilde heraus. Sie erinnerte sich, dass Parija schon einmal eine solche Schale serviert hatte. Mit skeptischem Blick betrachtete sie es und drehte es mehrmals hin und her. Die krosse Schale knisterte zwischen ihren Fingern. Darunter schien sich ein weicher Kern zu befinden.
"Lujemee. Probiere es, bevor ich es dir erzähle."
"Aus was ist es?"
"Probiere es“, verlangte er.
Vorsichtig biß Nandra auf den kleinen schwarzen Wurm und schmeckte süßlichen, kernigen Teig auf ihrer Zunge. Sie kaute lange, um den Geschmack näher kennenzulernen. Als sie ihren Bissen endlich hinunterschluckte, fand sie es gar nicht so schlecht. "Aus was ist es?", wollte sie abermals wissen.
"Aus dem Roggen einer einheimischen Schlangenfischart“, sagte er schließlich. "Man sagt, sie schenken Fruchtbarkeit." Damit schnappte er sich ein zweites und schob es mit einem Mal in den Mund. Nandra boxte ihn feixend in die Seite, nahm sich aber ebenfalls ein weiteres Lujemee und kaute genüßlich darauf herum.
"Ich hatte schon befürchtet, dass ihr euch gegenseitig die Fische an den Kopf werft“, sagte Lilian und setzte sich ebenfalls auf den Boden. Ihre Kinder beanspruchten bei dem Spiel, dass ihnen plötzlich eingefallen war, beinahe alle Sessel, so dass sie sich liebendgern auf den Boden setzte. "Ich war mir nämlich nicht sicher, ob ich den Wink richtig gedeutet hatte“, gestand sie. "Ich meine, das mit der Einladung." Sie tauchte Blicke von einem zum anderen und versuchte sich ebenfalls an den Lujemee.
"Das war genau richtig“, stimmt ihr Janol nickend zu. "Meine Hoffnung dabei war, dass wenn ich sie in eine andere Umgebung bekomme, dass sie vielleicht eher dazu bereit war, mit mir zu reden." Er zwinkerte Nandra zu und schnappte sich noch einen kleinen schwarzen Wurm.
"Durch diese ganze Sektionsverwalter-Angelegenheit war Nandra so verkrampft. Ich glaube, ich hätte sie auch ohne Einladung einfach so hierher geschleppt. Nur damit sie etwas anderes sieht."
"Ihr sprecht, als ob ich krank gewesen wäre,” prüskierte sich Nandra.
"Das warst du auch. Und wenn du diesen Job nicht bald loswirst, dann sehe ich schwarz für dich." Lilian betrachtete den Inhalt ihres angebissenen Lujemee. "Hast du ihn eigentlich schon gefragt, ob nicht doch er es übernehmen möchte?"
Nandras Blick suchte schlagartig den von Janol, nur um sich errötend wieder abzuwenden.
"Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir dieses Thema ganz außer Acht lassen“, gestand er etwas verärgert. Es war ihm tatsächlich nicht recht, dass jemand die Sprache darauf brachte. "Wir sollten nicht davon reden, sonst streiten wir uns nur wieder und bereuen unsere Worte hinterher."
"Ich halte es für sehr wichtig, dass endlich eine Lösung gefunden wird, nachdem die Konferenz mit den anderen Kommandeuren in einem Fiasko geendet hat“, sagte Lilian und schob sich den Rest in den Mund. Sie kaute ein paar Mal darauf herum, dann schluckte sie es hinunter, um weiterreden zu können. "Sie wollten das Verwalteramt doch schon von Anfang an. Was spricht dagegen, dass sie es annehmen?"
Janol schnaufte. Lilian schien darauf zu beharren, dass endlich Klarheit geschaffen wurde und sie ihre Freundin um eine lästige Aufgabe und eine große Last erleichtern konnte.
"Mir gefällt Smiiles nicht“, gestand er und suchte Nandras Blick. "Und mir gefällt Snijor nicht. Wenn du wirklich beabsichtigst, den Sektionsverwalter in Smiiles unterzubringen, sägst du dir damit die eigenen Beine ab. Snijor ist ein habgieriger und kaltschnäuziger Gauner. Er wird dich schneller deines Amtes entheben, als du dich überhaupt breit machen kannst. Dasselbe hat er auch mit der Terrilium-Fabrik gemacht. Sie gehört ihm mittlerweile. Ganz Smiiles gehört ihm. Sogar sämtliche Smiiles umkreisenden Monde. Seiner Habgier wird mit diesem Verwaltungsposten einige weitere Türen geöffnet und dann sehe ich für Trenkjar schwarz." Er legte sein nächstes Lujemee zurück in die Schale. "Bevor ich nach Zooyma reißte, um den Verwaltungsrat persönlich darum zu bitten, auf den Sektionsverwalter für Jeeran zu verzichten, oder mich dafür einzusetzen, hatte ich bereits mehrere Versammlungen mit zahlreichen Vertretern der anderen Planeten und Monde hinter mir. Wir waren uns überein gekommen, dass ich mich dafür aufstellen lasse."
"Warum hast du mir das nicht vorher erzählt?", wollte Nandra anklagend wissen.
"Wollte ich auch. Doch du warst nicht aufzuhalten gewesen und bist gleich wieder in den Salon zurückgestürmt. Und ich wollte mich nicht unbedingt noch mehr als überrumpelten Tölpel präsentieren. Du hättest Snijors Gesicht sehen sollen, als er erfuhr, dass nicht ich für das Amt ernannt wurde. Auf eine weitere Plamage konnte ich daher getrost verzichten."
"Was schlägst du demnach vor?"
"Überhaupt nichts“, entgegnete er entschlossen. "Ich werde es nach wie vor nicht übernehmen. Ich habe hier genug zu tun, so dass ich darauf verzichten kann, mir auch noch die Probleme von ganz Jeeran aufzuhalsen."
"Was würdest du an meiner Stelle tun?", formulierte sie ihre Frage um.
Janol lächelte, als er ihre Absicht erkannte und zögerte mit seiner Antwort. "Ich würde mir den Asservaten-Mond von K'kabot näher betrachten“, sagte er schließlich. "Eine frühere Kultur hatte dort ihre sämtlichen Bauten hinterlassen. Sie warten nur auf eine Wiederinbetriebnahme. Die K'kabot können sie nicht nutzen, weil sie die geringe Luftfeuchtigkeit und die geringere Gravitationskraft nicht vertragen. Der Mond liegt zudem nahe genug an einer Transferlinie, um ihn mit einem kleinen Zwischenstop nicht auch noch bedienen zu können."
"Ist das mit Colonel Tt'rekabon bereits abgesprochen gewesen?", wollte sie wissen. Sie erinnerte sich wage daran, dass der Colonel mehrmals versucht hatte dies zur Sprache zu bringen. Es war jedoch immer wieder im allgemeinen Stimmengewirr und der steigenden Hitzigkeit der Gemüter untergegangen.
Der Trenkjar nickte nur.
"Ich weiß nicht, wer von uns der Tölpel ist“, gab Nandra kopfschüttelnd von sich. Ihr war wieder einmal bewusst geworden, wie wenig sie von Jeeran wusste.
"Dann wäre wenigstens dies geklärt“, stieß Lilian erleichtert hervor. "Bleibt nur noch die Frage offen, wer soll es machen. General Treece, sie kennen nicht etwa eine gute Seele, die nur darauf brennt, den anstrengenden Posten eines Sektionsverwalter auszuüben?"
"Ich könnte sicherlich einige geeignete Kandidaten dazu überreden“, sagte er abschätzend. "Doch ich bezweifle, dass auch nur einer von ihnen stark genug ist, um Snijors Angeboten auf die Dauer widerstehen zu können."
"Dann haben wir ein echtes Problem“, bemerkte Lilian und nahm sich noch ein Lujemee. Die unappetitlich aussehenden Würmer entpuppten sich als äußerst schmackhaft und bald war die Schale zur Hälfte geleert.
"Warum willst du es unbedingt abgeben? Ich wüsste niemand besseren als dich“, wollte Janol wissen.
"Ich bin Kapitän eines Kriegsschiffes und Mitglied der königlichen Streitmacht. Das widerspricht einem Grundsatz der Kollonialsatzung. Außerdem, als ich mich dazu mehr oder weniger bereit erklärte, wusste ich nicht, was ich tat. Ich habe genug um die Ohren. Ich brauche nicht auch noch die Sorgen von Jeeran." Damit gab sie das Argument zurück, mit welchem sich der Trenkjar versucht hatte herauszureden.
"Sie sind doch auch nur Mitglied der königlichen Streitmacht“, sagte Lilian kauend. "Eigentlich hätten sie gar keine Berechtigung gehabt, sich dafür zu interessieren."
"Das stimmt nicht ganz“, korrigierte er sie kopfschüttelnd. "Ich bin der General von Trenkjar, das ich richtig. Ich bin aber auch der Gerai."
"Was ist da der Unterschied?", hakte Lilian interessiert nach. "Ist das nicht dasselbe?"
"Keineswegs."
"Und was ist dabei der Unterschied?", wollte Nandra wissen.
"Dass Gerai wörtlich übersetzt etwas ähnliches wie der neue König heißt."
Die Münder der beiden jungen Frauen blieben offen stehen.
"Als irgendwann vor vielen Generationen die ersten Kontakte mit der Außenwelt geknüpft wurden“, begann er zu berichten. "Verwechselten die damaligen Missionare die Bezeichnung Gerai mit General, erkannten den hießigen Regenten einfach als Oberbefehlshaber an und setzten ihn als Wehrmachtsmitglied der neu aufgestellten Streitmacht auf. Somit besaßen wir einen General, als Bindeglied zwischen der interplanetaren Regierung und Trenkjar und bekamen zudem einen kleinen Stützpunkt errichtet, der uns zu einem vollwertigen Mitglied der damaligen Regierung machte. Dieses kleine Mißverständnis ist auch der Grund, warum der Titel General mit dem des Gerai weitervererbt wird."
"Weiß das Tribunal davon?" Nandra nahm Lilian die Worte aus dem Mund.
"Sicherlich“, gab er achselzuckend von sich. "Aber wie du bereits erwähntest. Aus Bequemlichkeit und aufgrund dessen, dass wir nur ein unbedeutend kleiner Stützpunkt und ein noch unbedeutenderer Planet sind, überläßt man uns dieses Privileg gnädig." Um seine Lippen erschien ein mildes Lächeln. "Aber keine Sorge. Inzwischen müssen alle Gerai-Anwärter sämtliche erforderliche Prüfungen und Vereidigungen ablegen, um überhaupt ernannt zu werden."
"Deswegen konnte Vater dich nicht töten lassen“, begriff Nandra endlich. "Mit deinem Tod hätte er keine Kontrolle über die Trenkjar gehabt. Es hätte Aufstände und Rebellion gegeben."
Treece nickte nur.
"Dann sind sie demnach der König von Trenkjar“, gab Lilian schlußfolgernd von sich und zwinkerte Nandra anerkennend zu.
"Ihr befindet euch auf Janol-Ge, meinem sogenannten Königspalast“, sagte er belustigt, aber nicht ohne Stolz. "Nicht gerade mit dem Bau des großen Königs zu vergleichen, aber mein ganz eigener Herrscherpalast. Der alte Gerai-Ge könnte es sicherlich eher mit Zooyma aufnehmen - wenn man die jeweiligen Verhältnisse berücksichtigt“, fügte er schmunzelnd hinzu.
"Wo ist der alte Gerai-Ge?", fragte Nandra interessiert.
"Das ist das Gebäude, in welchem heute der Stützpunkt untergebracht ist“, berichtete er.
"Dieser häßliche viereckige Klotz?", erriet Nandra und verzog ihr Gesicht.
Janol nickte nur. "Die ganze Familie wohnte dort früher im vierten Stock. Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, das Stockwerk umzubauen und für den Stützpunkt zu nutzen."
"Also ich finde das hier ganz niedlich“, bemerkte Lilian und schnappte sich das letzte Lujemee.
"Ich bin sozusagen hierher geflüchtet. In Trenkojar wurde es mir aufgrund des neu errichteten Raumhafens einfach zu laut und zu voll."
"Allmählich beginne ich zu begreifen, dass du tatsächlich jede Menge zu tun hast“, gab Nandra anerkennend von sich. "Du musst hier ganz schon aufgeräumt und die Leute hier aufgewirbelt haben. Selbst der Kapitän der Fliegerstaffel, dein Onkel glaube ich, spricht von großem Respekt von dir."
"Es war wirklich nicht einfach. Aber es konnte nicht ewig so weiter gehen. Wir wären irgendwann in unserem eigenem Trott versumpft."
"Das erlöst uns aber nicht von dem Problem mit Nandras Nachfolger als Sektionsverwalter“, kam Lilian zum ursprünglichen Thema zurück. "Irgend jemand muss gefunden werden. Beides kann sie nicht tun."
"Ich wollte mich in einigen Tagen wegen dieser Angelegenheit mit einigen Vertretern der produzierenden Planeten treffen“, verriet er. "Der Grund war eigentlich der gewesen, eine Möglichkeit zu finden, wie wir den Sektionsverwalter am besten wieder los werden konnten. Unter ihnen befindet sich sicherlich jemand, der dir helfen kann."
"Das hört sich zumindestens nach einem Anfang an“, bemerkte Lilian und sah sich kurz nach ihren Kindern um. In ihrem Spiel waren sie so laut geworden, dass sie ihnen einen strafenden Blick zukommen ließ. Zudem hatte die Stärke des Regengusses zugenommen, so dass auch die Erwachsenen ihre Stimme erheben mussten, um einander zu verstehen.
"Warum suchst du dir keinen Nachfolger für die Ashantin?", wollte der Trenkjar wissen und suchte Nandras Blick.
"Ich bin Kommandeurin und keine Diplomatin oder Geschäftsfrau“, erwiderte sie entschlossen. "Ich wurde für den Kampf ausgebildet und nicht für die Buchhaltung. Außerdem ist sie mein Leben und das einzige, was ich mir selbst erarbeitet habe."
"Es gibt demnach nichts, womit ich dich überreden könnte?"
"Nichts." In diesem Punkt war sie sich vollkommen sicher.
Traurig senkte er den Blick und beschäftigte sich für einen Augenblick mit einer Falte seiner Tunika. Dann seufzte er und brach sich ein Stück süßen Mogg-Kuchen.
Lilian gab ihrer Freundin mit einem strengen Blick zu verstehen, dass sie ihre Entscheidung noch einmal revidieren sollte. Schließlich bot einem das Leben nicht ein zweites oder gar drittes Mal eine derartige Gelegenheit. Nandra musste endlich an ihr Herzensglück denken und sich nicht nur von ihrer Berufung leiten lassen. Doch Nandra schüttelte energisch den Kopf und trennte den Blickkontakt zu ihrer Freundin. Sie wollte sich um nichts davon abbringen lassen. Die Ashantin gehörte ihr. Das Kriegsschiff war ein Stück von ihr selbst geworden.
Als der Regen etwas nachgelassen und schließlich gänzlich versiegt war, führte Janol sie in seiner Gerai-Residenz herum. Die meisten Häuser und Wohnbauten wurden von Arbeitern der Muno-Plantage bewohnt, wobei der Trenkjar betonte, dass nur eine geringe Anzahl der Trusgs die Gelegenheit nutzte, sich in den bereitgestellten Räumlichkeiten auszuruhen. Die meisten blieben selbst zum Schlafen im Wasser. Es gab sogar welche, die noch nie in ihrem Leben aus dem Wasser gestiegen waren.
Gen Abend, während Lilian es sich in einem der Schwammsessel bequem gemacht hatte und die Kinder mit ihrem Mädchen längst im süßen Schlummer versunken waren, führte Janol Nandra in das oberste Stockwerk, wo der kronenförmige Pavillon stand. Gemeinsam betrachteten sie die untergehende Sonne und genossen es, einfach zusammen zu sein und sich zu spüren.
Lange waren sich eng aneinander gekuschelt dagesessen und hatten dem flammenden Stern am Horizont nachgeblickt. Auch selbst, als längst die letzten Sonnenstrahlen hinter den Baumwipfeln verschwunden war, saßen sie noch schweigend im Pavillon.
"Mir wäre es trotz allem am liebsten, du würdest es tun“, brach Nandra das lange Schweigen.
"Laß uns nicht mehr darüber sprechen“, sagte er leise, selbst in tiefe Gedanken versunken.
"Du bist einmal bereit gewesen, die Unannehmlichkeiten dieses Amtes auf dich zu nehmen. Warum jetzt nicht mehr?"
"Weil ich Zeit hatte, darüber nachzudenken“, antwortete er und schlang seine Arme fester um Nandras Leib. "Zuerst wollte ich es unbedingt. Ich fürchtete um Trenkjar, wenn ich es nicht selbst in die Hand nehmen könnte. Ich wusste zwar nicht wie ich es bewältigen sollte, aber ich war mir sicher, dass mir irgendetwas einfallen würde." Er seufzte und streichelte mit seinen Fingerspitzen über ihren Oberarm. "Dann war ich gekränkt und wütend, als ich erfuhr, dass du den Zuschlag erhalten hast. Ich fühlte mich übergangen, glaubte mich betrogen und stand wahre Ängst wegen Trenkjar aus. Meine Antwort, als du mich darum gebeten hast, fiel etwas zu schroff aus. Entschuldige bitte." Er küßte sie auf den Oberkopf und ließ seine Lippen dort eine Weile liegen. "Ich war einfach wütend und gekränkt. Aber schließlich ließ ich es mir noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen. Und nun bin ich der Meinung, dass mir gar nichts besseres passieren konnte. Mir wäre es mehr als Recht, wenn du den Posten behalten würdest."
"Ich will die Ashantin“, sagte sie beinahe flehend. "Bitte dränge mich nicht zu etwas, was mich unglücklich machen könnte."
"Das steht mir fern“, gab er leise von sich und drückte sie liebevoll an sich. "Und ich will dich“, fügte er hinzu. "Mich macht es unglücklich, dich weiterhin in einem Kriegsschiff zu wissen. Ich weiß nicht, wie ich es verkraften könnte, wenn die Ashantin samt Besatzung einmal zerstört werden sollte."
Nandra seufzte leise. Janol würde sich sicherlich nicht viel Mühe geben, irgend jemanden für diesen Posten zu begeistern. Sie betrachtete noch eine Weile die letzten Lichtzuckungen des untergehenden Tages, dann lehnte sie ihren Kopf an seine Brust und blickte über sich ins Strohdach des Pavillons.
"Versprichst du mir etwas?", fragte sie leise.
"Alles, was du möchtest“, entgegnete er. Janol schien aber bereits zu wissen, was sie von ihm verlangen würde.
"Mich ziehen zu lassen, wenn sich jemand finden läßt." Sie drehte sich leicht, so dass sie ihm direkt ins Gesicht blickte. Seine Augen stachen deutlich aus dem helleren Gesicht hervor und starrten sie erwartungsvoll an.
"Ich verspreche es dir“, sagte er zu ihrer Überraschung. Nandra hatte eigentlich erwartet, mehr darum kämpfen zu müssen. Doch die Liebe des Trenkjar zu ihr war so groß, dass er selbst eine Trennung in Kauf nahm, nur um ihr einen Wunsch erfüllen zu können.
"Und ich verspreche dir, zurückzukehren, sobald ich meinen Auftrag erledigt habe. Dann reden wir nocheinmal darüber und entscheiden über unsere Zukunft. In Ordnung?"
Ein Kuß war seine ganze Antwort. Er war nicht bereit länger darüber zu reden. Zu sehr schmerzte es ihn, dass sich Nandra nicht gänzlich für ihn entscheiden konnte. Doch auch er hätte einige Abstriche machen müssen. Denn Trenkjar und dessen Wohlergehen gehörte zu seinem Grundsatz, welchem er sich verschworen und mit jeder Faser verschrieben hatte. Dass er zur Zeit im Begriff war, an seinen Vorsätzen zu wanken, wollte er nicht einmal sich selbst eingestehen, aus Angst vor einem Versagen.
* * *
Der nächste Morgen begann für Nandra mit einem unguten Gefühl. Sie hatte Janol mit einem Uniformierten sprechen hören und dabei einige Worte in ihrer eigenen Sprache, für die es kein trenkjarsches Wort zu geben schien aufgeschnappt. Worte wie: Abfahrt, Rückfahrt und Geleitschutz, die auf die Vorbereitung einer Abreise hindeuteten. Sie räkelte sich auf der breiten Schwammatratze, auf der sie die Nacht mit Janol verbracht hatte und zog das Laken über den Kopf. Sie wollte weder etwas von Abreise noch etwas von Rückfahrt hören. Sie wollte die wenigen Stunden und Minuten noch genießen können, ohne an ihre anderen Sorgen denken zu müssen. Sie wollte den Duft von Algen, Wasser und Seife in sich aufnehmen und ihn niemals vergessen können. Sie wollte die Nacht in Erinnerung rufen und die zärtlichen Berühungen und Liebkosungen erneut aufleben lassen. Doch nichts von dem wollte ihr nur annähernd gelingen. Sie knurrte mißmutig und drehte das Gesicht in die Matratze.
"Alles in Ordnung?", fragte eine bekannte Stimme besorgt.
Nandra murmelte Unverständliches in den Schwamm. Ihr war auch nicht danach, dass er sie verstehen konnte. Irgendwie wollte sie nie wieder fort von hier, aber auch die Ashantin niemals aufgeben müssen. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, beides zu behalten, ohne auch nur auf eines der liebgewonnenen Dinge verzichten zu müssen, würde sie sie sofort annehmen. Sie seufzte und drehte sich wieder herum. Seine dunklen Augen befanden sich dicht vor ihr.
"Schickst du uns wieder fort?", wollte sie wissen.
"Nein“, gab er entschlossen von sich. "Aber falls ihr gehen wollt, muss es vorher organisiert sein. Eure Fähre wurde heute morgen mit einem Lastengleiter nach Trenkojar geflogen, wo sie mit einem Transportschiff zur Ashantin zurückgebracht wird. Ihr fliegt mit einem unserer Schiffe zurück. Das ist zwar etwas unbequemer, aber sicherer."
Nandra lächelte und streichelte über sein Kinn. "Ich wünschte, wir könnten eine Lösung für uns beide finden“, sagte sie leise.
"Das werden wir“, gab er zuversichtlich von sich und küßte sie auf den Mund.
"Ich wünschte sofort“, flüsterte sie, als sich ihre Lippen für einen Moment trennten.
Janol lächelte und küßte ihre Nasenspitze. "Ihr könnt bleiben solange ihr wollt. Du kannst alles von hier aus erledigen."
"Was ist da draussen los?", erkundigte sie sich erschrocken, als plötzlich spitze Schreie und laute Rufe zu ihr drangen.
"Lilians Kinder spielen mit ein paar Zöglingen im Teich“, berichtete er lächelnd. "Was hältst du von einem Frühstück?" Er richtete sich auf und warf sich die Tunika über seine Schultern.
Nandra rieb sich die Augen und streckte ihre müden Glieder, erhob sich aber ebenfalls und kämpfte sich umständlich in die für sie ungewohnte Tunika. Als sie endlich den Gürtel um ihren Bauch gebunden hatte, saß es an ihr noch lange nicht so galant, wie an dem Trenkjar aus. Sie folgte ihm in den Salon. Lilian und das Kindermädchen standen an einer anderen Seite der Fensterfront, als am Abend zuvor und beobachteten das Spiel der Kinder. Dort war ein kleiner Garten angelegt worden, in welchem sich ein knapp hüfthoher Teich befand. An die zehn Kinder platschten kreischend darin herum und bespritzten sich gegenseitig mit Wasser oder tauchten sich unter, wobei die dunkelhäutigen Trusgs-Kinder weitaus weniger prustend wieder hoch kamen. Doch was Nandra sogleich auffiel, als sie die Kinder nur für einige Minuten beobachteten: Die Trusgs-Kinder achteten sorgsam darauf, dass die fremden Kinder nicht zu lange unter Wasser blieben. Deswegen waren Lilian und das Mädchen auch im Haus geblieben und hatten die Kinder sich selbst überlassen.
Die heitere und ausgelassene Art der Kinder steckte auch bald die Erwachsenen an und sie lachten bald über amüsante Episoden aus dem jeweiligen Leben. Doch plötzlich tauchte ein tropfnasser Trusgs auf, keuchend und mit vor Anstrengung hervorstehenden Augen, fiel dem Gerai vor die Füße und brachte vor lauter Atemlosigkeit nur Wortfetzen hervor. Mühsam stammelte er seine Nachricht zusammen. Das Gesicht des jungen Generals verfinsterte sich schlagartig und er suchte den Blick von Nandra.
"Was ist los?", wollte sie wissen, noch immer das Lächeln auf den Lippen.
"Die Ashantin wird angegriffen“, berichtete er.
Nandra ließ ihren Becher mit duftendem Tee fallen. "Von wem?", fragte sie sofort. "Von Snijor?
"Ich weiß es nicht. Als die Funkstation Kontakt mit der Ashantin aufnahm, um sie über den Rücktransport der Fähre zu informieren, erhielt sie diese Nachricht von Leutnant Hendriks."
Die Kommandeurin sprang auf ihre Beine und eilte aus dem Zimmer.
"Nandra!", rief ihr Janol hinterher. "Bleib hier! Warte!" Er setzte seinen Becher auf den Boden und eilte ihr hinterher. Er holte sie ein, als sie eben durch den Türbogen laufen wollte und hielt sie energisch zurück. Er musste sie krampfhaft festhalten und zurückzerren und dabei einen härteren Griff anwenden, als ihm lieb war. "Eine Staffel Kampfflieger ist bereits hierher unterwegs. Sie werden uns abholen. Ianos hat bereits das notwendige in die Wege geleitet und der Ashantin zur Unterstützung geschickt, was er entbehren konnte. Du solltest dir lieber etwas anderes anziehen. Da draussen wird es kalt werden."
Nandra sah an sich herunter. Sie war barfüßig und trug die leichte Tunika, die bestenfalls nur zum Bedecken ihrer Blöße geeignet war, aber keineswegs um sie zu wärmen. Sie nickte und rannte zurück. Während Nandra nach unten in Janols Schlafgemach eilte und nach ihrem Kleid suchte, warf er Lilian und Parija einige Erklärungen zu. Dann hastete er Nandra hinterher und schlüpfte in die Standarduniform der Bodentruppen, die er stets trug, wenn er sich außerhalb von Trenkjar befand. Bevor die beiden wieder nach oben eilten, nahm er sie kurz in den Arm und drückte sie besänftigend an sich.
Dann war auch schon in der Ferne das Sirren von Düsenmaschinen zu hören und die beiden trennten sich schnell, um auf der Plattform zu sein, bevor die erste Maschine dort landen konnte.
Kaum drei Minuten später saßen sie auch schon in einer altertümlich wirkenden Jagdmaschine, die mit dem Piloten und dem Kanonier gerade noch zwei weitere Sitzplätze bot. Nandra bezweifelte, dass mit diesen veralteten Maschinen überhaupt noch eine Schlacht geschlagen werden konnte, doch der Trenkjar nickte ihr zuversichtlich zu und streichelte über ihre Hand, die er fest umschlossen hielt.
"Wer greift die Ashantin an?", brüllte sie gegen den Lärm der Motoren an. Pilot und Kanonier trugen Gehörschutz. Für ihre Passagiere gab es keine zusätzlichen Maßnahmen.
Janol beugte sich vor und gab die Frage an den Piloten weiter. Dieser schüttelte jedoch den Kopf und konzentrierte sich voll auf den magenumkrempelnden Steigflug, beinahe senkrecht in die Höhe. Nandra musste sich mit Händen und Füßen verkrampfen und mit einer Hand am harten Polster festkrallen. Die andere Hand hätte sie um nichts aus der von Janol gezogen. Als sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, fiel ihr auf, dass der Pilot, wie auch der Kanonier Leskoje waren, was ihr sagte, dass es klare Aufteilungen zwischen den einzelnen Trenkjar gab. Ein jeder wurde bestmöglich eingesetzt.
Im luftleeren Raum angekommen wurden sie von einem Schlepper erwartet, an dem sich bereits ein ganzer Schwarm von Jagdmaschinen angehängt hatte. Lange Kabel hingen wie lose Spinnenfäden von ihm herab und an jedem hing ein kleiner schwarzsilberner Kokon. Der Pilot klinkte sich an ein loses Kabel und schaltete sämtliche Maschinen und Aggregate ab.
"Ihr wollt euch doch nicht im Ernst in die Lichtgeschwindigkeit schleppen lassen?", rief Nandra mit flauem Gefühl im Magen und starrte mit immer flauer werdendem Gefühl aus dem Sichtfenster. Sie hatte sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, wie die kleine Maschine, in der sie kaum Platz für ihre Beine fanden, geschweige denn sich aufrichten oder strecken konnten, die Strecke überwinden wollte.
"Unsere Jagdflieger sind nicht in der Lage, selbständig die Lichtgeschwindigkeit und somit dem Überraum zu erreichen. Aber keine Sorge, es hat bisher jedesmal funktioniert und der Schlepper hat noch keinen einzigen verloren."
Nandra starrte ihn entsetzt an. Wie veraltet die Ausrüstung von Trenkjar war, hatte sie noch nie vermocht abzuschätzen - und sie würde es niemals können. Janol hatte sich wirklich redlich bemüht, ein einigermaßen passables Heer auf die Beine zu stellen. Den Mangel an Kapital hatte er mit Einfallsreichtum, Erfindungsgabe und eine gehörige Portion Mut und Selbsteinschätzung überbrücken müssen. Sie lehnte sich zurück. Ihre Hände wurden schwitzig und kalt. Sie begann zu zittern.
"Vertrau mir einfach“, sagte er leise und zog sie an sich. Ein Piepen ertönte aus dem Cockpit und er drückte ihren Kopf an seine Schulter. Dann ging ein kaum wahrnehmbares Zittern und Ächzen durch das Material.
Nandra kniff die Augen zu und stellte sich vor, dass sie unter Wasser sei und Janol sie durch die Fluten trug. Sie klammerte sich an ihm fest und verkrallte ihre Fingernägel in den Stoff seiner Uniform. Erst lange Minuten danach, als nichts passierte, als sie nicht pulverisiert wurde oder nicht gegen irgendetwas stieß, als sie wiedererwarten überlebte, wagte sie es, die Augen zu öffnen und sich leicht zu bewegen.
"Wir sind zwar lausig ausgerüstet“, sagte er leise. Da die Motoren gänzlich ausgeschaltet waren, konnte er sich mit ihr im Flüsterton unterhalten. "Aber wir achten darauf, dass das Gerät auch funktioniert. Ich bin schon so viele Male mit dem Schlepper durch Jeeran und sogar bis nach Zooyma gereist, dass ich dir versichern kann, dass du deine Ashantin wiedersiehst."
"Wenn du noch mehr solche Überraschungen auf Lager hast, dann erzähle es mir lieber nicht“, sagte sie leise und drückte ihre Wange an die Stickerei auf seiner Schärpe. Sie atmete den Duft von Seife ein und fühlte sich bereits etwas wohler. In diesem Moment entschloss sie sich, eine Lösung für ihr persönliches Problem zu finden. Sie musste einfach einen Weg finden, der beide Seiten befriedigte.
Der Schlepper brauchte knapp zweieinhalb Stunden für die Strecke, die die Fähre in über vier zurückgelegt hatte. Dass die Fähre nicht eine der schnellsten war, wusste Nandra und zeigte sich dennoch überrascht, als über Funk der Befehl zum Ausklinken hallte. Sie sah auf ihre Uhr und blickte angestrengt durch das Sichtfenster, um das Kriegsschiff und die Schlacht zu sehen, die dort toben sollte. In der Ferne konnte sie das Glitzern eines einzigen Sternes sehen. Sie ahnte nur, dass dies die Ashantin und die sterbenden Feuerwolken von getroffenen Jagdmaschinen sein konnten.
Der Pilot schaltete den Antrieb wieder ein und ein Dröhnen ging durch die Kanzel. Nandra musste sich die Ohren zuhalten, als die Motoren auf höchste Leistung jammerten. Die Lärmdämmung war genauso mieserabel wie die Unterdrückung der Vibrationen und bald glaubte sie, dass ihr Hintern und ihr Rücken von der Dauermassage eingeschlafen waren.
"Die Staffel versucht einen Korridor zu schaffen“, rief ihr der Trenkjar ins Ohr. "Damit wir zu der Ashantin gelangen können."
Nandras Trommelfelle klingelten. Sie nickte und starrte aus dem Fenster. Der glitzernde Stern kam schnell näher. In ihrer Nähe tauchte ein weiterer Stern auf und auch eine kleine helle Kugel. Smiiles, die Ashantin und ein feindliches Mutterschiff formierten sich schnell zu Realbildern. Je näher sie kamen, desto deutlicher zeichneten sich die Umrisse der einzelnen Sterne ab. Ebenso die vielen kleinen Sternschnuppen, die um die beiden Schiffe herumwuselten, wie ein Schwarm frischgebohrener Laichlinge. Und sie konnte sie Laserblitze sehen, die zwischen ihnen hin und her zischten, wie ein Blitzlichtgewitter. Auf den ersten Blick waren Freund und Feind kaum zu unterscheiden. Doch je näher sie kamen, desto mehr kristallisierten sich die jeweiligen Parteien auseinandern. Die Formation der Trenkjar veränderte ihre Form, sobald sie nahe genug herangekommen waren, um in den nächsten Minuten in das Kampfgeschehen einzufallen. einzufallen und sie nahmen das Schiff mit der hochgradigen Fracht in ihre schützende Mitte. Bevor sie ernsthaft für die Verteidigung des Kriegsschiffes sorgten, hieß ihre erste Priorität das Schiff in ihrer Mitte zur Ashantin zu bringen. Die Formation fuhr in den Schwarm hinein, wie ein Hackbeil und bohrte sich mit aller Gewalt einen Weg zum Schiff. schützende er Gewalt einen Weg zum Schiff.
"Wer zum Henker ist das?", wollte Nandra wissen, die angestrengt nach einem Anhaltspunkt an dem fremden Mutterschiff suchte, jedoch keines entdecken konnte.
"Ich vermute Piraten“, rief Janol zurück. "Wir haben hier aber schon seit ewigen Zeiten keine mehr gesehen."
"Snijor kann es nicht sein, oder?"
Janol schüttelte den Kopf. Der Tenkjar schüttelte den Kopf.
"Piraten sind nicht so töricht, ein voll ausgerüstetes Kriegsschiff anzugreifen“, stieß Nandra hervor. "Dann können es nur die Extramuros sein."
"Vermutlich“, gab Janol von sich und wagte einen erneuten Blick aus dem Sichtfenster. Er beugte sich auch etwas vor, um die Anzeigen auf dem Scanmonitor zu erkennen. "Sie befinden sich weit in der Überzahl“, rief er Nandra ins Ohr. "Sie müssen genauestens mit den Verhältnissen der Ashantin vertraut sein. Hast du einen Erzfeind, von dem du mir noch nichts erzählst hast?"
"Nicht, dass ich wüsste“, gab sie mit einer Grimasse zurück. "Wenn das das einzigste Mutterschiff ist, dann müssen sie es bis unters Deck mit Jagdmaschinen vollgestopft haben“, bemerkte Nandra. Sie waren inzwischen schon so weit herangekommen, dass sie bereits die Leitlichter der Landehangars sehen konnte. Immer wieder versuchten, feindliche Jagdflieger durch die Barriere zu brechen, scheiterten allerdings an der Verbissenheit der Kampfpiloten, mit der sie ihren Gerai und die Kommandeurin der Ashantin verteidigten. Die feindliche Partei, die aus synchronisierten Y-Flüglern und modifizierten Langstreckenjägern aus der neuesten C55-Klasse, einer weiterentwickelten Art, der Jäger, die die Ashantin benutzte, bestand, stürzte sich immer mehr auf die enge Formation mit ihrer kostbaren Fracht in der Mitte. Doch die Blockade hielt eisern jeden Angreifer fern, verwandelte ihn in eine Feuerwolke und düste desinteressiert an den jeweiligen Schicksalen weiter Richtung Kriegsschiff. Einige Mal schliddertern sie nur knapp an einer Katastrophe vorbei, als eine leckgeschossene Maschine ins Trudeln geriet und gefährlich nahe dem Schiff in der Mitte des Konvois kam. Es gelang ihnen jedoch, ihren Schützling wohlbehalten in den Landehangar zu schaffen und noch bevor sie selbst in den Hangar einflogen, machten sie gerade noch rechtzeitig eine scharfe Kurve und warfen sich mutig ins Schlachtgetümmel.
Nandra hatte sich schon abgeschnallt, da hatte die Trenkjar-Maschine noch gar keine Parkposition einnehmen können. Ungeduldig starrte sie die Luke an, bis Janol sie endlich öffnete und sie hinter ihm aus dem kleinen Gerät herauskletterte. Der Pilot wartete noch geduldig, bis die beiden außer Reichweite waren, dann drehte er seine Maschine um und startete wieder hinaus ins freie All. Nandra konnte für diesen selbstlosen Edelmut nur einen winzigen Gedanken aufbringen, denn am Ausgang entdeckte sie schon Leutnant Hendriks warten.
"Wer sind die? Was wollen die?", überfiel sie ihn sogleich.
Hendriks zuckte nur mit den Schultern. "Sie belagern uns schon seit Stunden und waren bislang noch zu keiner Stellungnahme oder Verhandlung bereit. Sie reagieren nicht einmal auf unsere Kommunikationsversuche. Sie geben keine Erklärung ab und wollen uns auch nicht erzählen, was wir ihnen angetan haben. Sie tauchten auf und griffen uns einfach an."
"Irgendwelche Kenncodes, an denen man sie identifizieren könnte?"
"Nein, keine."
Im Expresslift hatten sie etwas Ruhe und und musste sich nicht im Laufschritt unterhalten.
"Was ist mit Unterstützung von Smiiles?", wollte sie wissen. Sie hatte nur die Y-Flügler und die beiden ähnlichen C55-Jäger entdeckt.
"Ich habe bereits sämtliche verfügbare Einheiten angefordert, doch Major Snijor sagte, dass es sich um eine außerplanetarische Angelegenheit handele und er deshalb nicht dafür zuständig sei. Er war nicht zu überreden, uns nur aus Gefälligkeit zu unterstützen."
"Er wird sich hüten, auch nur einen Jäger zu schicken“, wusste Janol und unterstützte damit nur Nandras Bild, das sie sich mittlerweile von Snijor gemacht hatte.
"Colonel Tt'rekabon versprach mit allem was er auftreiben konnte, bis in einer Stunde hier zu sein“, berichtete Hendriks mit Blick auf die Uhr weiter. "Und General Uol sagte, er besäße keine Jagdflugzeuge, die in einer annähernd annehmbaren Zeit hier sein könnten."
Nandra suchte Treeces Blick, der ihr daraufhin bestätigend zunickte.
"Also gut, dann holen sie mir sofort Snijor auf den Schirm“, verfügte sie. "Ich will ihm meine Meinung wegen unterlassener Hilfeleistung mitteilen. Außerdem möchte ich sämtliche verfügbare Daten über diese misteriösen Fremden auf meinem Terminal haben."
"Wird erledigt“, rief Hendriks Commander. Dass er sich nicht immer an die strenge Anredevorschriften hielt, hatte Nandra zum Teil sich selbst zuzuschreiben. Nach der Angelegenheit in Zooyma drückte sie mehr als einmal ein Auge zu, schwor sich aber für die Zukunft - sollten sie diesen Angriff überleben - mehr darauf zu achten. Die Expresstüren öffneten sich und entließen sie direkt auf die Brücke. Hendriks ließ seinen Ruf "Commander auf der Brücke" erschallen, aber keiner kümmerte sich darum. Sie waren zu beschäftigt, um sich auch nur eine Sekunde ablenken zu lassen. Außerdem gab es noch dieses strikte Verbot.
Nandra eilte zum Sitz des Kapitäns überflog die Datenlisten und verzog ihr Gesicht. "Überzahl ist gut gesagt“, bemerkte sie mit einem unguten Gefühl. "Da will uns jemand überrennen und dabei ganz sicher gehen, dass es uns auch erwischt." Sie sah hoch. "Wie groß ist die Anzahl deiner Kampfflieger?"
"Nach den letzten Erkenntnissen siebenundachtzig. Ich schätze, dass Ianos ungefähr siebzig zusammentrommeln konnte. Mehr schaffen auch die Schlepper nicht."
"Wie groß ist die von Snijor?"
"Wenn man seinen Worten Glauben schenken darf, dann sollen es über vierhundert sein. Meiner Schätzung nach, dürften es aber nicht mehr als zweihundert sein."
"Immerhin etwas“, schnaufte sie. "Wo bleibt Smiiles?", rief sie in den Raum.
"Kommt gleich“, kam es zurück. "Unser Funk wird gestört."
Auf dem Holoschirm erschien ein stark verzerrtes Bild, auf dem man aber deutlich die schillernde Gestalt von Major Snijor erkennen konnte.
"Was ist los mit ihnen? Wo bleiben sie?", fuhr sie ihn sogleich an. "Hatten sie nicht den Befehl, ihre Einheiten zu mobilisieren?"
"Entschuldigen sie, Commander Okopaido“, kam es ausweichend zurück. "Aber wir dürfen uns nicht einmischen. Da wir keine Angriffserklärung erhielten, handelt es sich auschließlich um eine außerplanetarische ... ."
"Kommen sie mir nicht mit diesem Müll“, rief sie erbost. "Ich bin in der Angelegenheit eines Sektionsverwalters hier und werde als solches angegriffen. Da haben sie gefälligst ihre müden Knochen aufzumühen und ihre Leute in die Kampfanzüge zu stecken."
"Wir erhielten keine ausdrückliche Angriffserklärung“, versuchte er sich herauszureden.
"Wenn sie sich nicht darüber im Klaren sind, wer hier das Sagen hat, werde ich es ihnen wohl ein für alle Mal beibringen müssen“, wetterte sie. "Sollte ich innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten keine Meldung über die herbeieilende Unterstützung von Smiiles erhalten, dann wird die letzte Aktion der Ashantin ein Todesstrahl in Richtung Smiiles sein. Haben wir uns verstanden, Major Snijor?"
Rauschen und Knistern antwortete ihr. Die Gestalt beugte sich zu einer anderen Person, die sich außerhalb des Objektives befand.
"Major Snijor?", rief Nandra. "Ich weiß, dass sie mich sehr gut verstehen. Sollten sie meinem Befehl keine Folge leisten, werde ich meine Drohung unverzüglich wahrmachen."
"Sie sind nicht bemächtigt ... ."
"Ich bin die Sektionsverwalterin vom Jeeran-System“, fuhr sie ihm energisch dazwischen. Sie musste sich gewaltsam zurückhalten, nicht ausfallend zu werden. "Und was ich verfüge, wird gefälligst gemacht. Wenn sie ein Problem damit haben, werden wir uns hinterher zusammensetzen, falls dann noch etwas von ihnen oder ihrem Firlefanz übrig sein sollte. Und nun bewegen sie endlich ihren Hintern und schicken die verlangte Unterstützung."
Sie gab ein Zeichen, worauf sich das verzerrte Bild und der Protest des Majors in Nichts auflöste. "Aufgedonnerter Lackaffe“, schimpfte sie wütend. "Sollte in fünfzehn Minuten nichts unterwegs sein, dann sucht die Koordinaten der Terrilium-Fabrik auf Smiiles“, befahl sie, worauf der Schützenmaat eine Bestätigung rief.
"Das könnte einige Leben kosten“, gab Janol zu bedenken.
"Was glaubst du wohl, was das hier kostet?", rief sie erbost und tippte auf den Monitor. "Wir werden von einer Lawine von über fünfhundert Jägern überrollt. Ein Wunder, dass wir es bis jetzt überlebten. Wir können von Glück sagen, dass wir best ausgebildete Schützen und brandneue Abwehrschilder besitzen."
"Eine Ahnung, wer deinen Tod wünscht?", fragte Janol, während er sich selbst ein Bild zu machen versuchte."Nachdem sie alle anderen Bodenstützpunkte gemieden, aber offenbar deren sämtliches Arsenal sogar die Schwierigkeiten miteinkalkulierten, müssen sie es speziell auf dich abgesehen haben."
"Ich habe schon eine Menge Ganoven eingefangen“, sagte sie achselzuckend. "Die alle aufzuzählen und sämtliche Möglichkeiten abzuwägen, würde unseren Zeitrahmen sprengen."
"Und das Mutterschiff? Kommt es dir bekannt vor?"
"Nicht, dass ich wüsste“, gab sie achselzuckend von sich, dachte aber dennoch kurz darüber nach.
"Ich glaube, ich habe soetwas schon einmal gesehen“, sinierte der Trenkjar. "Mir will nur nicht mehr einfallen, bei welcher Gelegenheit."
"Es wäre sicherlich hilfreich, wenn es dir in nächster Zukunft einfiele“, seufzte Nandra, während sie ihren Blick über die Anzeigeschirme gleiten ließ. Noch gab es gleichermaßen hohe Verluste auf beiden Seiten, doch durch die Überzahl des Angreifers saßen Nandras Leute weit im Hintertreffen. Die Trenkjar-Geschwader bildeten dabei nur einen winzigen Tropfen auf einem heißen Stein. Die Unterstützung von Smiiles war mehr als notwendig. Sie drehte den Kopf zurück, um den Blick des jungen Generals zu finden. Dieser starrte jedoch tief in Gedanken versunken vor sich ins Leere. Angestrengt versuchte dieser, sich die Gegebenheit in Erinnerung zurückzurufen, bei der er das Mutterschiff schon einmal gesehen hatte.
"Ich glaube, das war das Schiff, das Mignes ermordete - oder zumindest so tat, als hätte es ihn vernichtet“, sagte er nach einer Weile.
"Mignes? Wer ist das?"
"Mignes Lorgmarr, der Mann der die Senderanlage in Sthii errichtete."
"Du denkst, das sind Extramuros?" Sie deutete auf die Anzeigeholos. Irgendwie vermochte sie nicht daran zu glauben. Die Rebellen griffen niemals in der Totalen an. Sie hatten sich auf schnelle und lukrative Einsätze spezialisiert, um Kosten und Mühen zu sparen. Von vornherein die Unterstützungen von Trenkjar und Smiiles einzurechnen, paßte nicht zu der üblichen Denkweise der Extramuros. Sie hätten zugeschlagen und versucht die Ashantin soweit zu schwächen, oder gar ganz zu vernichten und zu verschwinden, bevor Hilfe von den umliegenden Stationen eintreffen konnte. Nandra schüttelte ungläubig den Kopf.
"Nein, das damals waren keine Extramuros“, wusste Janol. "Das war eine Gruppe, die sich Föderalistischer Vereinheitlichungsverband oder so ähnlich nannte."
FVV - Nandra fuhr herum und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als hätte er eben vom Unheil persönlich gesprochen. FVV - diese Abkürzung war ihr ein sehr guter Begriff. Noch bevor sie die Akademie besuchte, hatte sie einige Angelegenheiten für den Verband getätigt. Einfache Botengänge oder Überprüfung von Computerlisten. Arbeiten, die ein zehnjähriges, unschuldiges und dem Vater treu ergebenes Mädchen, das nicht nach dem Warum fragte, tun konnte. Arbeiten, die ihr ihr Vater auftrug und dabei den Dank des FVV aussprach.
Nandra schloss die Augen. Admiral Okopaido war der Vorsitzender des FVV. Er wünschte ihren Tod.
"Was ist mit dir?", erkundigte sich der General besorgt und legte seine Hand auf die von Nandra.
"Es ist mein Vater“, sagte sie mit leiser Stimme. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden. "Die FVV gehört ihm. Er rief sie ins Leben."
"Der Admiral ist ein schlechter Verlierer“, bemerkte Janol. Neue Zusammenhänge wurden ihm plötzlich klar. Er bezweifelte nicht mehr, dass Okopaido Lorgmarr zum Mord an dem alten Gerai angestiftete. "Rache wirkt sich niemals vorteilig für denjenigen aus, der sie ausübt“, fügte er hinzu.
"Ich brauche ein Verbindung zum anderen Schiff“, rief Nandra und lehnte sich zurück.
"Was willst du ihm sagen?", wollte der Trenkjar wissen.
"Dass er mich ein für allemal in Ruhe lassen soll“, knurrte Nandra mißmutig.
"Ich denke nicht, dass er etwas von dir will“, bemerkte er. "Ich denke, er will mich."
"Dich? Warum? Wenn er dich unbedingt hätte töten wollen, hätte er das schon in Zooyma getan."
"Er will mich lebend. Er braucht mich als Pfand." Nandra blickte ihn eingehend an. "Ich habe meine Leute soweit im Griff, dass sie für meinen Mörder keinen Handstrich tun würden. Er braucht mich als Druckmittel. Wenn es tatsächlich dieser Verband ist, dann versucht er schon seit Jahren Fuß auf Trenkjar zu fassen. Mein Vater ließ sie seinerzeit ziemlich rüde abblitzen und auch unter meiner Regie gelang es ihnen niemals, sich bei uns seßhaft zu machen - bis auf die Angelegenheit mit der Senderanlage natürlich."
"Das waren doch die Extramuros“, wusste Nandra.
"Mittlerweile bin ich nicht mehr dieser Meinung“, sagte Janol entschlossen. "Das war nur ein Deckmantel, unter dem sie versucht haben, sich nach Trenkjar einzuschmuggeln. Mir fallen da die Aussagen von Gror und Mignes wieder ein. Ich bezweifle, dass eine so antifaschistische Gruppe wie die Extramuros, ihren Leuten Ruhm und Reichtum versprechen würde. Ein besseres Leben oder Freiheit vielleicht, aber nicht Luxus und Reichtum. Das spricht gegen deren Grundsätze."
Nandra blickte ihn fragend an und betrachtete schließlich auch die Holoschirme, als stünde dort die Antwort auf ihre wirren Mutmaßungen.
"Sie hätten uns natürlich auch einfach alle vernichten können“, fuhr Janol fort. "Doch dann hätten sie teures und schweres Gerät herbeischaffen müssen, um wenigstens auf den Grund zu gelangen." Er schüttelte den Kopf. "Wenn es wirklich dein Vater ist, dann greift er dich an, um mich aus dem Loch herauszulocken. Er wartet geduldig und spielt mit deinen Leuten solange herum, bis ich erscheine."
"Aber du bist jetzt da. Und es ist noch nichts passiert."
"Es wird passieren. Glaube mir."
Nandra betrachtete ihn skeptisch. Irgendwie konnte sie nicht an dessen Theorie glauben. Dass sich ihr Vater an ihr rächen würde, leuchtete ihr mehr ein, als dass er sie nur benutzte, um leichter an den Trenkjar zu kommen.
"Sie antworten nicht“, kam es von der Funkkonsole.
"Auf Raumübertragung schalten“, verlangte sie und deutete dem General an, sich außerhalb des Objektives zu begeben. "Hier spricht Commander Nandra Okopaido“, rief sie kurz darauf laut. "Ich weiß, dass sie mich verstehen, wer auch immer sie sind - oder soll ich sagen - Vater?" Sie wartete gespannt. Einen Atemzug später flammten die Übertragungsschirme auf und das Gesicht ihres Vaters erschien in Überlebensgröße.
"Ich dachte schon, du würdest niemals darauf kommen“, sagte er erhaben. "Ich wollte dir noch genau zwanzig Minuten Zeit lassen. Dann hätte ich zum vernichtenden Schlag ausgeholt."
"So?", machte sie unbeeindruckt.
"Was hat denn solange gedauert?", fragte er interessiert.
"Ich wollte nur sichergehen, dass du dich ausgetobt hast“, gab sie zurück. "Was willst du von mir?"
"Ich habe dich gewarnt, dich mit mir anzulegen“, antwortete er. "Nun hat sich das Blatt gewendet und ich bin an der Reihe, Bedingungen zu stellen."
"Was wären das für Bedingungen?"
"Du weißt, was ich will."
"Mich mit Dojan verheiraten?" Sie schüttelte energisch den Kopf. "Dafür ist es bereits zu spät." Sie versuchte, sich den Seitenblick zu verkneifen. Sie durfte ihm keinerlei Anhaltspunkte geben, dass Treece ganz in der Nähe war.
Ihr Vater lachte kurz auf, beruhigte sich aber schnell wieder. "Das war nur ein Geistesblitz, bei dem ich dachte, zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen zu können“, sagte er amüsiert. "Wenn ich gewusst hätte, dass du deine Meinungen genauso schnell wechselst, wie deine Liebhaber, hätte ich zu anderen Maßnahmen gegriffen. Aber lassen wir das beiseite." Er machte eine kurze Pause, in der Nandra sein jähzorniges Gesicht betrachten konnte. "Im Nachhinein finde ich deinen Vorschlag gar nicht so schlecht. Das macht mir diesen Bastard von Grätenmensch vielleicht etwas gefügiger."
Also doch, schoß es Nandra durch den Kopf. Janols Kompinationsgabe verblüffte sie für einen Moment.
"Was willst du von mir?", rief sie fordernder. "Den Posten des Verwalters?"
"Ich will Trenkjar“, kam es entschlossen. Der Admiral beugte sich etwas vor, so dass Nandra nun nur noch das Gesicht ihres Vaters auf den Bildschirmen hatte.
"Soviel ich erfahren habe, ist es gar nicht sicher, dass Trenkjar voll von Bodenschätzen ist. Es ist nur eine Vermutung, eine Legende. Bislang soll noch niemand auch nur ein Quentchen an die Oberfläche befördert haben."
"Wer hat dir dieses Märchen aufgetischt? Treece etwa?" Wieder lachte Okopaido und lehnte sich gequem zurück. "Dieser Kerl ist gerissener, als ich annahm. Er vermag es sogar dich zu täuschen. Mit Geschichten über Katastrophen und Untergänge etwa? Dabei weiß er genau, was er tun muss. Stattdessen sitzt er auf einem unermessenem Reichtum wie eine fette Glucke auf ihren Eiern. Er ist nicht bereit, auch nur ein Stückchen davon abzugeben. Jetzt muss er die Konsequenzen ziehen und sich nötigenfalls von seinem sumpfigen Thron geschupst sehen."
Nandra zwang sich, nicht in Treece Richtung zu sehen.
"Wie denkst du könnte sonst ein vollkommen autarker Planet, ohne nennenswerte Anbaustruktur oder Fabrikation überleben? Wie könnte ein solcher Planet auf die Dauer überleben, wenn er sich auch noch vollkommen von der Außenwelt abschottet? Meine Kleine, du bist zu naiv."
Es fiel ihr immer schwerer, keine stumme Bestätigungen oder Einsprüche von dem Trenkjar zu holen.
"Laß uns darüber reden“, sagte sie schließlich. "Bei Waffenstillstand. Wir ziehen unsere Jäger zurück und du wirst dasselbe tun. Dann treffen wir uns irgendwo und reden darüber."
"Nicht mit mir, Mädchen“, gab Okopaido mürrisch zurück. "Ich habe nicht ein solches Aufgebot zusammengetrommelt, um irgendwann wieder von dir und deinen neuen Freunden überrumpelt zu werden. Mein Vorschlag wäre: Ich hole mir den Trenkjar und wenn dann noch etwas von euch übrig ist, dann können wir reden."
"Warum hast du ihn dir nicht schon in Zooyma geholt?"
"Da bist du mir leider zuvorgekommen“, seufzte er. "Ich hatte auch gehofft, ihn mit der Abkommandierung ohne großes Aufsehen zu mir zu holen."
"Was ist so wichtig an ihm?", wollte sie interessiert wissen.
"Er ist der Einzige, der die Stellen kennt, an denen man sofort fündig wird. Ich habe keine Lust einen planetengroßen Sumpf trocken zu legen, um an die Schätze zu gelangen." Er beugte sich wieder etwas vor. "Während wir hier munter plaudern, verlieren da draussen unschuldige Männer ihr Leben. Daran solltest du vielleicht auch denken."
"In Ordnung“, gab sie sich geschlagen. "Wie willst du die Übergabe haben?"
"Du rufst deine Leute zurück und ich die meine. Dann werde ich dir eine Fähre schicken, die ich genau zehn Minuten später wieder zurückerwarte. Schließlich wirst du Trenkjar vollkommen aus deinem Gedächtnis streichen und dir ein ruhiges Plätzchen suchen, von den aus du das übrige Jeeran verwalten kannst. Und ich warne dich, Nandra. Versuche keine Tricks. Ich weiß, dass er bei dir ist und zuhört. Mein Finger schwebt sozusagen über dem Abzug."
Nandra schnaufte und verkrallte ihre Fingernägel in das Polster ihres Sessels. "In Ordnung“, sagte sie und gab das Zeichen, die Verbindung zu unterbrechen.
"Sie werden doch nicht im Ernst ... ."
"Halten sie den Mund, Hendriks“, fuhr sie ihn sogleich an, ohne ihn jedoch dabei anzublicken. "Sämtliche Jäger zurückortern“, befahl sie und schnaufte. Aus dem Augenwinkel heraus erkannten sie, dass der Leutnant zögerte, den Befehl zu auszuführen, sich aber dann doch bewegte und die Anweisung weitergab. "Was ist wahr an dem, was mein Vater sagte?", wollte sie schließlich von dem Trenkjar wissen. Sie starrte vor sich ins Leere und versuchte wieder Herr ihrer Selbst zu werden.
"Vieles“, gestand Treece, ohne Reue oder Scham, ihr irgendetwas verschwiegen oder verheimlich zu haben. Sie hatten bislang nicht viel Gelegenheit, sich ausführlich zu unterhalten. "Aber nicht alles. Wir sind kein Volk, das große Zubereitungsfabrikationen benötigt, um uns ernähren zu können. Alles was wir brauchen, erzeugen wir selbst. Wir brauchen keinen regen Handel, um existieren zu können. Das ist auch nicht nötig. Über fünfundsiebzig Prozent unserer Bevölkerung hat die Wasseroberfläche noch nie überwunden. Der Rest sind überwiegend Leskojen, die in den wenigen Städten wohnen und das verarbeiten oder verwerten, was die Trusgs unter Wasser ernten. Und was das Wissen über die lukrativsten Gebiete betrifft, da überschätzt er mich etwas. Ich kenne in der Tat einige wenige Stellen, an denen Ruidium ins Wasser austritt und alles umliegende Leben vergiftet. Ich kenne auch einige Stellen, an denen man Xrax-Kristalle oder Rsomas-Fasern finden kann. Doch diese Dinge haben für uns keinen erheblichen materiellen Wert. Wir kennen fürwahr den Preis für diese Schätze und nutzen es gelegentlich, wenn wir etwas brauchen, was wir selbst nicht herstellen können. Aber bis auf das Letzte ausschlachten würden wir es niemals. Es ist unser Lebensraum und den möchten wir nicht zerstören."
"Es ist demnach möglich, die Schätze zu fördern, ohne gleich eine planetenüberzogene Katastrophe heraufzubeschwören“, wollte sie bestätigt haben.
"Sicherlich“, gab er sachlich von sich. "Tausende von Trusgs müssten dabei aber ihr Leben riskieren und vielleicht auch lassen, bei dem Versuch Xrax-Kristalle aus dem zenzrendicken Schlamm am Grund des großen Sthii zu holen. Nicht minder weniger würden dabei draufgehen, wenn sie versuchten, die Faserablagerungen unter dem schwimmenden Gebirge abzutragen. Rsomas ist leichter als Wasser und hält das Gestein an der Oberfläche. Entnimmt man es, wird es irgendwann untergehen und die Arbeiter unter sich begraben. Ein kommerzieller Massenabbau würde nur das gesamte Gleichgewicht zerstören. Deswegen lassen wir es einfach sein und holen uns nur das Nötigste."
Sie schnaufte erneut und lehnte sich zurück.
"Ich bin der Gerai. Ich habe dafür zu sorgen, dass mein Volk überlebt. Wenn eine Massenförderung der Bodenschätze erfolgt, wird bald nichts mehr von uns übrig sein. Und das kann ich nicht zulassen. Das musste ich meinem Volk versprechen."
Sie suchte sein Gesicht und hoffte, dort eine Lösung zu finden.
"Die Fähre ist unterwegs“, rief jemand und Nandra musste erneut einen Kloß hinunterschlucken.
"Was soll ich tun?", fragte sie den Trenkjar.
"Du hast vielen Männern das Leben gerettet“, sagte er. "Dein Vater kann mich nicht töten. Er kann mich einsperren und verprügeln. Er kann mich zwingen Dinge zu tun, die ich niemals freiwillig tun würde, aber er kann mich nicht töten. Er weiß selbst gut genug, dass jeder einzelne Trenkjar sein Leben dafür hergeben wird, wenn ihn dies nur erfolgreich daran hindern kann, Trenkjar auszubeuten."
"Du findest das ganze wohl auch noch schmeichelhaft, was?", maulte sie.
"Ganz im Gegenteil“, erwiderte er schmunzelnd. "Ich habe es schon immer gehaßt, Gerai zu sein. Ich bin aber auch ein Trusgs und als solches ist es mir eine Ehre, derartige Bürden auf mich zu nehmen, um meine Welt zu retten."
"Rede keinen Unsinn“, schimpfte sie. "Vater wird Wege finden, um deiner Welt auszusaugen was möglich ist, bevor sie zusammenbricht. Er wird Wege finden, dich bis ans Ende deiner Tage festzuketten."
"Schon möglich“, nickte Janol und bewegte sich endlich wieder auf Nandra zu. "Aber ich denke, dass ich Freunde besitze, die sich um dieses Problem kümmern werden."
"Du willst dich demnach freiwillig ausliefern?", erriet sie endlich.
"Wenn ich mich weigere, wird er dir das wichtigste in deinem Leben nehmen, die Ashantin. Er wird sie zerstören."
"Und mich gleich dazu, vergiß das nicht“, maulte sie. Sie hatte die Bemerkung richtig gedeutet. Er war eifersüchtig auf das Kriegsschiff.
"Die Fähre setzt zur Landung in Dock drei an“, ertönte es von irgendwo.
"Ich muss gehen“, sagte er und nahm die Schärpe ab. Für einige Augenblicke hielt er sie noch wehmütig in seinen Händen, dann reichte er sie an Nandra weiter. "Ich überlasse Trenkjar deiner Obhut. Ich bin sicher, dass du in meinem Interesse handelst."
"Aber ich ... „, stammelte Nandra und verstummte, als er einen Finger auf ihre Lippen legte.
"Sprich es nicht aus“, sagte er leise und nahm sie zärtlich in den Arm. "Wir würden uns doch nur streiten." Dann verschloss er ihre Lippen mit einem langen Kuß.
"Fähre ist gelandet“, kam es.
Die beiden trennten sich wieder. Eine einsame Träne rann über Nandras Wange. Er nahm sie auf die Fingerspitze und führte sie zu seinem Mund, um sie auf seine Zungenspitze zu nehmen. Dann küßte er sich abschließend auf die Stirn und trennte sich entgültig von ihr. Als sich die Gleittüren zum Expresslift hinter ihm geschlossen hatten, wand sich Nandra von den Anzeigeschirmen ab, so dass sie nicht sehen konnte, wie die Fähre wieder im Bauch des anderen Schiffes verschwand. Sie musste gegen ihre Tränen ankämpfen. Sie musste gegen den aufkeimenden Weinkrampf ankämpfen. Sie musste gegen ihr flatternden Nerven ankämpfen und sie musste darum kämpfen, auf ihren Beinen stehen zu bleiben. Ihre Hände verkrampften sich um das kleine Stückchen Stoff, das ihr noch von ihrem Liebsten geblieben war. Sie zerknüllten es zu einem dünnen Strang, aus dem die Falten niemals wieder herauszubügel waren.
"Commander?", rief Leutnant Hendriks leise. Besorgnis schwang in seiner Stimme mit. "Commander? Der Admiral rüstet sich zum Sprung. Und Major Snjiors Geschwader ist eingetroffen."
Nandra schniefte gewaltsam ihre Tränen hinunter und wischte sich über das Gesicht. "Snijor soll sich in Bereitschaft halten“, verfügte sie mit belegter Stimme. "Und treiben sie irgendwie Captain Treece auf. Außerdem brauche ich eine Tiefseetaucherausrüstung und einen Druckanzug."
"Sie haben doch nicht etwa vor ... ?"
"Hendriks“, rief sie und ließ ihn damit verstummen. "Manchmal läßt man sich zu Dingen verleiten, die man niemals freiwillig tun würde." Damit wirbelte sie herum und marschierte zur Gleittüre hinaus. Noch auf dem Weg zum Expresslift, legte sie die Schärpe an, strich sie glatt und bedachte die fremdartigen Schriftzeichen mit liebevollen Streicheleinheiten.
In ihrer Kabine war sie fast einem Schreikrampf erlegen. Sie hämmerte wie wild an Wände, Türen und Schränke und fegte in einem Wutanfall sämtliche Utensilien von den Regalen und dem Tisch in der Mitte ihrer Kabine. Ein fürsorglicher Stuart hatte dort einen kleinen Imbiß hinterlassen. Das Tablett landete mitsamt dem Porzellangeschirr und seinem Inhalt in einer Ecke. Dann warf sie sich tränenüberströmt auf das Bett und heulte wie ein kleines Mädchen, dem man eben die Lieblingspuppe weggenommen hatte.
Sie wusste nicht, wen sie mehr hassen sollte. Sich selbst, oder ihren Vater, der sogar über die Leiche der eigenen Tochter ging, um an seine habgierigen Ziele zu gelangen. Dass ihn je Trenkjars Reichtum interessierte, überraschte sie. Niemals hatte er auch nur eine Andeutungen gemacht, dass er in seinem Leben zu kurz gekommen war. Als ehrwürdiger Admiral hatte es sich schließlich auch gut leben lassen. Er konnte sich Besitztümer und Kostbarkeiten leisten, wovon ein normaler Offizier nur zu träumen vermochte.
Nandra hieb ihre Fäuste in das Kissen und schluchzte erbärmlich. Doch dann richtete sie sich abrupt wieder auf, warf sich einige Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, straffte ihre Uniform und verließ mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel ihre Kabine. Sie hatte sich entschlossen, um ihn zu kämpfen. Sie hatte sich dazu entschlossen, sich ihrem Vater in einem letzten Kampf entgegenzustellen. Notfalls würde sie sogar über die Leiche ihres Vaters zu gehen, um ihr eigenes Glück zu retten.
Zwischen dem Verlassen der Brücke und ihrem Wiederauftauchen, war beinahe eine Stunde vergangen. Hendriks hatte den Onkel des Gerai auf die Brücke bestellt, wo dieser verloren und sich fehl am Platze vorkommend, in einer Ecke stand und sich fragend umsah. Ihn schien noch niemand über die letzten Ereignisse informiert zu haben. Der Leutnant schüttelte den Kopf, als sie ihm einen fragenden Blick zukommen ließ. Ianos Treece wusste demnach tatsächlich noch nicht Bescheid. Doch als er die Schärpe des Gerai an Nandras Brust entdeckte, starrte er sie mit weitaufgerissenen, entsetzten Augen an.
"Folgen sie mir bitte“, sagte sie heißer. "Ich habe mit ihnen zu reden." Damit machte sie kehrt und marschierte wieder von der Brücke. Hinter ihr vernahm sie die harten Schritte des Trenkjar. Nandra vermochte sich kaum bis in den Salon zurückzuhalten.
Sie bot dem Trusgs den erstbesten Stuhl an und sank in den gegenüberliegenden.
"Ist er tot?", wollte der Captain sogleich wissen, noch bevor er sich setzen konnte.
"Nein." Nandra musste es sich selbst immer wieder vorsagen, um es selbst glauben zu können. "Mein Vater, Admiral Okopaido, der Kommandeur des Schiffes, das uns angriff, verlangte ihn als Pfand, um die Trenkjar unter Druck zu setzen. Janol ging freiwillig." Sie hob den Blick und suchte den Kontakt mit seinen Augen. "Dass sich mein Vater jemals unter die Schatzsucher und Diebe begeben würde, hätte ich niemals gedacht. Doch es ist so. Er will Trenkjar ausbeuten und dazu benötigt er Janol. Ich befürchte, dass er ihn bis auf den Grund eines tiefen Sees hinunterschickt, damit er ihm Diamanten oder andere Edelsteine oder Metalle heraufbefördert. Es ist auch gut möglich, dass er ihn andere Trusgs zum Tauchen zwingen läßt. Ich brauche ihre Hilfe, um ihn zu befreien. Sie haben sicherlich die Möglichkeit, die Aktivitäten meines Vaters von einem verstecken Winkel heraus beobachten zu lassen. Vielleicht gelingt es uns, uns tief unter Wasser anzuschleichen und ihn zu befreien."
"Das ist keine Angelegenheit für einen Leskojen“, sagte er, als er Nandras Pläne erriet.
"Ich habe das schon einmal gemacht, mit Janol“, erwiderte sie entschlossen. "Diesmal werde ich Taucherausrüstung dabei haben und nicht auf die Trusgs angewiesen sein."
"Es ist trotzdem zu gefährlich."
"Das brauchen sie mir nicht zu erzählen“, maulte sie gereizt. "Janol wartet auf mich und ich möchte ihn nicht enttäuschen." Sie strich über die Schärpe, nur um die Schriftzeichen zu fühlen und sich wieder etwas zu besänftigen. Für den Trenkjar schien es eine Geste der Macht zu sein. Er senkte den Kopf und gab sich schuldbewusst und demütig. Für ein Volk, dass sich unter Wasser nur mit Handzeichen und Gesten verständigen konnte, mussten selbst die banalsten Handgriffe eine Bedeutung haben. "Was hat es zu bedeuten, wenn er eine Träne auf seine Fingerspitzen nimmt und sie zu seinem Mund führt?", wollte sie interessiert wissen.
Um Ianos Mundwinkel erschien ein Schmunzeln. "Trusgs sind nicht in der Lage, Tränen zu vergießen“, erklärte er. "Für uns sind die Tränen etwas ganz besonderes. Das Salz brennt auf unseren Lippen und Zungen wie das Feuer der Liebe. Indem wir es in unserem Körper aufnehmen, symbolisieren wir damit die Vereinigung zweier Wesen. Wir nehmen einen Teil des Anderen in uns auf. Eine Geste der vollkommenen Verbundenheit, heißt es."
Nandra biß die Lippen zusammen, um nicht wieder losheulen zu müssen. Ihr Entschluß, Janol den gierigen Fingern ihres Vaters zu entreißen, bekräftigte sich damit nur noch mehr. Sie musste diese Liebe unbedingt festhalten. Kein anderer hatte dies bislang für sie getan. Nicht einmal ihr Vater.
"Helfen sie mir, ihn zu retten“, sagte sie flehend. "Er bedeutet für mich mindestens ebenso viel, wie für sie."
"Verfügen sie über mich“, gab er ernst von sich. "Verfügen sie über ganz Trenkjar. Es liegt in ihrer Obhut."
"Ich verwahre es nur für eine Weile. Ich habe nicht das Recht, irgendetwas zu verfügen."
Ianos nickte und erhob sich. "Der Admiral wird keinen Schritt tun können, ohne dass ihn ein Trusgs dabei beobachtet."
Nandra erhob sich ebenfalls. "Ich werde sein Schiff mit allen verfügbaren Einheiten in Schach halten“, erklärte sie. "Bis wir genau wissen, was er beabsichtigt, werden wir uns ganz still verhalten und dürfen ihn auf keinen Fall provozieren." Sie machte eine kleine Pause, in der sie über etwas nachdachte. "Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Ruoasm zu holen? Eventuell mit den Schleppern?", wollte sie wissen.
"Ein Versuch ist es immerhin wert. Ich werde mich darum kümmern."
"Wir brauchen noch mehr“, sagte sie. "Bei der letzten Schlacht müssen wir ihn vollkommen überrennen. Er darf keine Sekunde zur Besinnung kommen. Gibt es im Jeeran außerdem noch irgendwelche raumtaugliche Kampfgeschwader, die man einberufen könnte?"
"Einige kleine Handelsmissionen verfügen über schnelle, bewaffnete Jäger. Und soviel ich weiß, gibt es auf den vier Moran-Sternen ebenfalls eine privat organisierte Raumpatrouille. Ich kann versuchen, sie zusammenzutrommeln."
"Trommeln sie zusammen, was ihnen einfällt. Wir dürfen uns nicht wieder überraschen lassen." Sie begab sich in Richtung Ausgang. "Und noch etwas“, fiel ihr noch rechtzeitig ein. "Ich brauche Karten oder detaillierte Aufzeichnungen über mögliche Fundgebiete. Gibt es soetwas?"
"Sicherlich“, gab Ianos schulterzuckend von sich.
"Das heißt sie wissen es nicht."
"Ich weiß es nicht“, bestätigte er. "Nur Janol wurde darüber unterrichtet." Er überlegte kurz. "Aber vielleicht befindet sich etwas im vierten Stock des Gerai-Ge." Ganz wohl schien ihm dabei nicht zu sein. Etwas was für ihn stets tabu war, musste er nun notgedrungen preißgeben.
"Dann lassen sie uns nachsehen. Ich möchte wissen, durch welche Sümpfe ich waten muss, um Janol wiederzufinden. Auf Trenkjar ist es wichtig, zu wissen, wo man sich befindet." Sie warf ihm ein Lächeln zu und schritt durch die sich öffnende Gleittüre.
Colonel Tt'rekabon und Major Snijor waren inzwischen ebenfalls auf der Brücke eingetroffen. Nandra gab dem trenkjarschen Captain mit einem Nicken die Zustimmung, sich mit dem Funkoffizier zusammenzusetzen und die abgesprochene Unterstützung einzuberufen.
"Colonel Tt'rekabon“, rief sie erfreut und nickte dem Wesen mit dem Hammerkopf begrüßend zu, bevor sie sich in ihren Sessel setzte. "Ich freue mich, dass sie doch schon so früh kommen konnten. Leider kam auch ihre Hilfe zu spät."
"Trifft es zu, Commander Okopaido, dass sie den Trenkjar-General auslieferten, um selbst verschont zu bleiben?", wollte Major Snijor wissen, bevor sie ihn ebenfalls begrüßen konnte. Nandra hatte dies nicht unbedingt vor.
"Es trifft zu, Major Snijor“, erwiderte sie kalt. Jegliches Gefühl war von ihr gewichen. "Hätten sie den Anweisungen meines Leutnants früher Folge geleistet, hätte ich General Treeces selbstloses Angebot gar nicht erst annehmen müssen."
"Sie waren von vornherein die Unterlegene“, wusste er überraschend. "Irgendeinen Kompromiß hätten sie schließen müssen."
"Kompromisse sind dazu da, die bestmögliche Lösung für beide Parteien zu finden“, philosophiert sie.
"Und die beste Lösung war, den Trenkjar zu opfern. Ich finde das nicht sonderlich klug."
"Leider war nur er hier“, sagte Nandra und beugte sich leicht vor. "Wenn sie getan hätten, was man ihnen befahl, hätte ich mehr Auswahl gehabt."
Major Snijor blickte sie einen Moment starr an, dann kam sein überlegenes Grinsen zurück und er warf dem Colonel einen vielsagenden Blick zu.
"Ich bezweifle nicht, dass ihnen jemand andere lieber gewesen wäre“, gab er höhnisch von sich. "Soviel ich gehört habe, sollen sie sich nicht ganz gleichgültig sein."
"Niemand ist mir so gleichgültig, wie sie, Major Snijor“, entgegnete sie kalt. Sie schob sich von ihrem Sessel und näherte sich ihm gemächlich. "General Treece und Colonel Tt'rekabon waren die einzigen, die sich sofort zur Verfügung stellten. Ich bin jene Art von Kommandeur, die sich krallen, was ihnen freiwillig angeboten wird. Also geben sie auf sich acht und sehen sie zu, dass ich ihre Person nicht bemerke." Damit wand sie sich wieder um und fand den Blick des Leutnants.
"Dann können wir ja wieder abziehen“, lachte Snijor, rasselte mit seinem Tand und wollte sich schon wieder entfernen.
"Ich sagte, ihre Person will ich nicht um mich haben, nicht ihre Kampfflieger“, gab Nandra über ihre Schulter zurück.
"Leutnant Hendriks“, rief sie und drehte sich wieder um. "Colonel Tt'rekabon, sie beide übernehmen das Kommando. Ihnen untersteht alles, was fliegen kann."
"Aber ... „, begann Hendriks und wurde von Snijors schroffem Protest abgeschnitten.
"Sie maßen sich etwas zuviel an“, maulte er gereizt.
"Major Snijor“, fuhr ihn Nandra wütend an und brachte damit jeden weiteren Protest zum Schweigen. "Wegen ihrer Arroganz und ihrer fahrlässigen Insubordination war ich gezwungen gewesen, ein Leben zu opfern, um das von Hunderten zu retten. Wenn sie sich wenigstens bemüht und guten Willen gezeigt hätten, wäre ich etwas wohlgestimmter ihnen gegenüber. Doch aufgrund ihres Verhaltens halte ich sie für einen fehlplatzierten Würdengockel, der nur fähig ist zu protzen, aber niemals unter Beweiß zu stellen, wofür er schließlich eingesetzt worden ist. Gehen sie mir aus den Augen, Snijor." Sie funkelte ihn derart wütend an, dass er vergaß, sich seine nächste Hohn gespickte Bemerkung zu überlegen.
"Ich werde mich über sie beschweren“, gab er etwas kleinlaut von sich.
"Seien sie froh, dass ich im Moment zu beschäftigt bin, um sie sofort vor das Tribunalgericht zu bringen“, zischte sie wütend. "Ich kann sie aber nicht davon abhalten, sich lächerlich zu machen. In meinen Augen sind sie jetzt bereits eine Schießbudenfigur."
"Nur weil sie einen berühmten Namen und einen Weiberrock tragen, brauchen ... ."
Nandra fuhr herum, vergriff sich in dessen Halsschmuck und riß es ihm mit einem festen Ruck ab. Snijor starrte den Schmuckstücken, Perlen und Metallgliedern hinter her, die über den Boden schlidderten und kullerten und sich irgendwo unter einer Konsole verfingen. Eigentlich hatte Nandra beabsichtigt, sein Schulterabzeichen herunterzureißen. Doch in der heftigen Bewegung konnte sie nicht richtig zielen und erwischte seinen übermäßigen Schmuck statt des Abzeichens. Als das letzte Klicken und Klirren verklungen war, wanderte sein Blick wieder zurück zu der Kommandeurin.
"Wenn sie nicht in der Lage sind sich wie ein Offizier zu benehmen“, sagte sie kalt und riß endlich die Schulterklappen herunter. "Dann sehe ich nicht ein, warum ich sie noch länger im Dienst unserer Hoheit lassen soll. Mit ihrer überheblichen Tat haben sie bewießen, dass sie nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Und dies wiederrum verstößt gegen die Vorschriften. Außerdem sind sie für mich kein akzeptabler Aktionspartner. Verschwinden sie, bevor ich sie wegen Fahrlässigkeit inhaftieren lasse."
"Das wird ein Nachspiel für sie haben“, knurrte Snijor höchst verärgert, warf seinen Begleitern einen wütenden Blick zu und dampfte davon. Die restliche Delegation, mit der sich Snijor stets zu schmücken pflegte, blickte sich für einige Augenblicke ratlos an. Zwei von ihnen folgten schließlich ihrem Anführer. Drei entschieden sich zum Bleiben.
"Damit haben sie ihn entwertet“, bemerkte Colonel Tt'rekabon, als sich die Gleittüren auch hinter den zwei Smiiles-Leuten geschlossen hatte.
"Das interessiert mich nicht“, schnauzte Nandra gereizt, versuchte aber dann, sich wieder zu beruhigen. Der K'kabot hatte eine derartige Behandlung nicht verdient. "Er ist kein fähiger Soldat und als solches untragbar. Die königlichen Streitkräfte können auf jemanden wie ihn getrost verzichten."
"Ich meinte damit seinen Schmuck. Für die Smiiles symbolisiert er Macht und gesellschaftliche Stellung."
Nandra knirschte mit den Zähnen. Sie hatte ihre neue Aufgabe als Sektionsverwalter gebührend eingeweiht und gleich einen der wichtigsten Heeresführer gefeuert. "Das geschieht ihm Recht“, stieß sie wenig mitfühlend hervor und setzte sich in ihren Kapitänssitz. Nach einigen weiteren tiefen Atemzügen hatte sie mit dieser Angelegenheit abgeschlossen und konnte sich ihrem ursprünglichem Ziel widmen. "Colonel Tt'rekabon, Leutnant Hendriks, ich möchte, dass sie sich alles, was fliegen kann schnappen und für einen Sturmangriff vorbereiten. Captain Treece versucht noch weitere Einheiten zu mobilisieren. Wir müssen soviel kampftaugliche Jäger zusammentrommeln, wie es nur geht."
"Was ist mit ihnen, Commander?", wollte Hendriks wissen.
"Ich muss versuchen, den General zurückzuholen. Wir werden in ständiger Verbindung bleiben. Ich weiß zwar noch nicht, wie das vonstatten gehen soll, aber wir müssen unsere Übergriffe synchronisieren." Sie blickte hoch und betrachtete das Bild von Smiiles und seinen umliegenden Monden auf den Anzeigeschirmen. Weit hinter dem silberweißem Planeten, waren weitere Sterne zu sehen. Ihre Augen schimmerten plötzlich in einem glasigen Blick. "Ganz Jeeran muss endlich eine Einheit werden. Es kann nicht angehen, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht. Es muss endlich zusammenhalten und Hand in Hand arbeiten. Sonst kommen noch mehr zwielichte Gestalten und versuchen, sich noch mehr Stückchen von den Kuchen abzuschneiden." Sie suchte das Angesicht des Trenkjar, der noch immer nebem dem Funkoffizier stand. Nach Nandras letzten Worten hatte er sich aufgerichtet und sie ehrfürchtig angeblickt. "Bevor wir uns Gedanken machen, wo und wer es ausführen soll, sollten wir erst einmal dafür sorgen, dass aus dem losen Haufen verschiedenster Gruppen, endlich eine Einheit wird." Sie strich gedankenverloren über die Schärpe, worauf sich der Trenkjar straffte und ihr ein kurzes Nicken zukommen ließ. Nandra seufzte leise, ballte ihre Finger um den Schärpenstoff und musste erneut mit den Tränen kämpfen. Janol fehlte ihr so sehr, dass es ihr nicht mehr gelingen wollte, ihre alte Fassung wiederzuerlangen.
Als Nandra mit einem Abfangjäger und Captain Treece auf dem Copilotensitz nach Trenkjar zurückkehrte, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich wieder in ihre Uniform zu werfen. Auch wenn Snijor ihr den unvorschriftsmäßigen Weiberrock vorzuwerfen gewagt hatte, verspürte sie nicht die geringste Lust, sich umzuziehen. Zudem würde sie ihr Kleid ohnehin nicht mehr lange tragen, denn bald wollte sie sich in einen Druckanzug schälen und sich mit den Trusgs bis auf den Grund irgendeines Meeres wagen.
Ianos schritt voran, als er die Stufen im Gerai-Ge hocheilte. Kurz bevor er den vierten Stock erklimmen wollte, blieb er stehen und wand sich kurz um.
"Es wird in seinem Interesse sein“, besänftigte ihn Nandra, die sich denken konnte, weswegen der Mann innehielt. "Es geht um seine Rettung und die von Trenkjar."
Ihre Blicke trafen sich und verständigten sich stumm. Schließlich nickte er und eilte weiter. Die vierte Etage war mit einer einfachen Holztüre verschlossen, die weder Schloss, noch elektronische Sicherungen aufwieß. Ein einfacher Riegel war vor die Türe geschoben worden, so dass sie der Wind nicht aufstoßen konnte. Ianos schob den Riegel zur Seite und machte einen Schritt ins Innere der einstigen Wohnung. So viele Jahre war er schon nicht mehr hier oben gewesen. Ehrfürchtig und in flüchtige Gedanken versunken blickte er sich um, atmete tief durch und ging dann weiter.
Dunkelheit umfing Nandra, als sie ihm folgte. Die Fenster waren verschlossen: Jalousien oder Bretterverschläge sperrten das Tageslicht nach draussen. Zielstrebig marschierte Ianos in eines der Zimmer, zog die Jalousien hoch und blickte sich suchend um. Nandra sah sich ebenfalls um. Es musste das Büro des alten Gerai gewesen sein. Der wuchtige Schreibtisch, der hier seine bleibenden Abdrücke auf dem Holzboden hinterlassen hatte, musste jener sein, der nun im Vorzimmer des neuen Gerai stand. An einer Wand standen prallgefüllte Regale. Zusammengerollte Pergamente waren zwischen Bücher, Gesteinsbrocken, versteinerten Ornamenten und allerlei anderen Utensilien gestopft, von denen Nandra nicht auf anhieb deren Bedeutung erkennen konnte. Ianos suchte in den Pergamentrollen, entrollte die eine oder andere, um sie kurz zu betrachten, legte aber alle wieder beiseite. An einer anderen Wand hingen zwischen drei Öllampen, mehrere Landkarten und ein Poster von Trenkjar aus einer Warte aus dem Weltraum aufgenommen, worauf der alte Gerai sicherlich besonders stolz gewesen war. Bilder von der ganzen Familie, in einfachen Holz- oder Bastrahmen gerahmt, waren auf die freien Plätze zwischen den Karten plaziert worden. Nandra entdeckte einen sehr jungen Janol an der Seite eines wesentlich älteren Mannes, der die Schärpe um die Brust gebunden trug, die nun Nandra in Verwahrung besaß. Es musste Janol sehr schwer gefallen sein, ihr das Symbol seines Standes zu überreichen. Aber sie wusste auch, dass er es niemand anderem, als ihr gegeben hätte.
"Da ist etwas“, rief Ianos und breitete eine Karte auf dem Boden aus. Eine Art Seekarte, oder besser gesagt, eine Unterwasserkarte, mit der Nandra wenig anfangen konnte, solange sie sich oberhalb davon befand. Sie nahm die Papierrolle und hielt sie neben einer Landkarte, die schon viele Jahre an der Wand hing und bereits an den am Fenster zugewandten Rand starke Vergilbungserscheinungen aufwieß. Sie versuchte sich auf den beiden Karten zurecht zu finden und Gemeinsamkeiten zu entdecken.
"Was ist das?", fragte sie und legte ihren Zeigefinger auf einen der angekreuzten Punkte auf der Unterwasserkarte.
"Xrax-Vorkommen“, erklärte Ianos. "Auf dem Grund des Sthii, einem Nebensee jenes offenen Wassers auf welchem sich die Senderanlage befindet." Er hatte eine weitere Karte gefunden und hielt sie ebenfalls aufgerollt neben der Landkarte. "Hier sind Ruidium-Quellen verzeichnet."
"Für Ruidium braucht man große Tanks. Ich glaube nicht, dass Vater sich als erstes damit beschäftigt. So habgierig wie er war, will er zunächst große, relativ leicht erreichbare und lukrative Vorkommen ausschöpfen."
"Auf einer anderen Karte sind einige Stellen angekreuzt, an denen es Rsomas geben soll. Auf der anderen Seite von Trenkjar, dort wo die schwimmenden Gebirge sind."
"Nein, ich glaube, er will sich Xrax holen. Wie leicht sind die Kristalle zu bergen?"
"Überhaupt nicht leicht. Das heißt, auf dem Grund des Sthii liegt eine über hundert Zenzren dicht Schlammschicht, die die wechselhafte Strömung immer wieder aufwühlt. Wenn man von einer Woge zugedeckt wird, ist es aus."
"Das wird meinen Vater nicht interessieren. Ich glaube, wir können ihn hier erwarten." Sie legte ihren Finger auf das Kreuz in der Mitte des großen Sthii. "Ist es möglich, dort hinzugelangen, ohne gesehen zu werden?"
"Für einen erfahrenen Trusgs schon“, gab er achselzuckend von sich. "Ich weiß nur nicht, ob es - mit Verlaub - mit ihnen möglich ist." Seine Mundwinkel zuckten entschuldigend.
"Ich habe Erfahrung in Tiefseetauchen“, sagte sie und rollte die Karte zusammen. "Außerdem werde ich mich wie ein braves Mädchen verhalten und mich fest an ihre Versen heften - sofern sie sich Zeit lassen, beim Schwimmen."
Ianos rollte auch die anderen Karten zusammen, nahm Nandra die ihre aus den Händen und verstaute sie wieder sorgsam hinter einem Stapel abgegriffener Bücher. Nandra verspürte keine Lust, sich die Titel der Lektüren anzusehen. Sie hoffte aber, dass sie danach genug Zeit haben würden, dieses Stockwerk näher zu erkunden und sie eventuell für den Gebrauch umzugestalten. Sie seufzte und folgte Ianos hinaus ins Treppenhaus.
Im Erdgeschoß warteten ein Trupp ziemlich spärlich gekleideter Trusgs, die aufsahen, als die beiden aus dem Treppenhaus herauskamen. Einige von ihnen starrten entsetzt Nandras Schärpe an und versuchten von Ianos eine stumme Erklärung zu bekommen. Dieser machte eine schnelle Handbewegung und die ganze Truppe stellte sich in einer Reihe und in fast perfekter Haltung auf.
Nandra musste sich ihr Schmunzeln arg verkneifen. Die nahezu nackten Männer, mit gestählten Muskeln, durchgebogenen Knien und geradem Kreuz zu sehen, war weitaus imposanter, als eine ganze Kompanie in strammer Haltung. Sie ließ sich von diesem Anblick soweit ablenken, dass sie nicht ganz mitbekam, was einer der Trusgs zu sagen hatte. Er hatte zwar in Standardsprache gesprochen, doch Nandra verstand nur die Hälfte.
"Geht es ihnen gut?", fragte Ianos besorgt.
"Bestens“, rief sie und ermahnte sich selbst. "Um was geht es? Ich war einen Moment gedanklich woanders."
"Habe ich gemerkt, als sie auf meine Frage nicht antworteten." Er räusperte sich und wiederholte den Bericht des Trusgs. "Auf einem Nebensee des Sthii wurden tatsächlich mehrere Lasten- und Förderboote gesichtet. Er muss nur darauf gewartet haben, Janol in seine Finger zu bekommen. Auch in den drei Tagen, die wir ihm Zeit ließen, kann er nicht erst solches Gerät beschafft haben. Ich wollte wissen, ob wir gleich aufbrechen sollen, oder ob sie vorher noch etwas erledigen möchten."
"Was sollte ich vorher zu erledigen haben?", erkundigte sich Nandra überrascht.
"Wir werden ein paar Tage unterwegs sein, da wir nicht auf den direkten Wege dorthin gelangen können. Ich dachte, sie wollten sich vorher noch mit Leutnant Hendriks absprechen."
"Er hat Anweisung in genau fünfzig Stunden zuzuschlagen“, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr. "Und bis dahin müssen auch wir an Ort und Stelle sein. Also sollten wir keine Zeit vertrödeln und uns endlich in die Fluten werfen."
"Wir müssen einen Umweg machen, dass heißt wir müssen fast bis nach Jengojar und einige Unterwassertrassen ausnützen, wenn wir uns wirklich unbemerkt heranschleichen wollen."
"Was stehen wir dann noch hier herum?", fragte sie unschuldig und spazierte an ihm vorbei, in Richtung Ausgang.
"Sind sie sicher, dass sie fast zweitausend Zenzren unter Wasser durchstehen?", wollte er eingehender wissen. "Es wäre tödlich für sie, wenn ihre Kräfte auf halber Strecke versagen."
"Solange ich mich nicht auch noch mit Langueene herumärgern muss, stellt das für mich kein Problem dar. Können wir endlich?"
"Ich wollte sie nur gewarnt haben“, bemerkte der Captain achselzuckend. "Es wird kein Kinderspiel."
"Janol aus den Händen meines verrückt gewordenen Vaters zu reißen, bedeutet für mich kein Kinderspiel“, zischte sie, den lästigen Nachfragen überdrüssig. "Ich will es endlich hinter mich haben und wenn ich am Ende vor Erschöpfung zusammenbreche. Ich werde es durchstehen. Verstanden?"
"Natürlich, Commander Okopaido“, erwiderte der Trenkjar schnell und bog sein Kreuz ebenfalls durch.
"Dann können wir endlich“, rief sie und marschierte davon. Eines hatte Janols forsche Art an sich. Er hatte sie einfach vor Aufgaben gestellt, ohne sie lange darüber zu informieren. Sie war blindlings hineingestolpert und hatte sie vermutlich wesentlich besser gemeistert, als sie das nun Kommende überstehen würde. Sie schnaufte und eilte ins Freie. Die modrige Luft machte ihr schon längst nicht mehr soviel aus, wie früher. Sie genoß es sogar.
* * *
Auf dem Flug in Richtung Jengojar hatte Nandra mehr als ausreichend Gelegenheit, sich umzuziehen und sich mit den Handhabungen der Taucherausrüstung vertraut zu machen. Entgegen Hendriks Einwände hatte sie darauf bestanden, zwei verschiedene Beatmungsgeräte mitzunehmen. Die Sauerstoffeinheiten in den flachen Rückenpartien des Druckanzuges würden nur für siebenunddreißig Stunden Atemluft liefern und sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob dies ausreichte. Daher hatte sie darauf bestanden, dass eine zusätzliche Beatmungsmöglichkeit, die auf die Funktion künstlicher Kiemen basierte, am Anzug angebracht wurde. So konnte sie die Luft aus den Tanks sparen und sich des Sauerstoffes aus den oberen Bereichen bedienen. Sie hoffte, dass es auch funktionierte, wie sie es sich ausgemalt hatte und stieß ein stilles Stoßgebet gen Himmel, als sie die künstlichen Kiemen knapp oberhalb der Sauerstofftanks anbrachte und die letzten Riemen festzurrte.
Die Transportgleiter versammelten sich allesamt auf der glatten Oberfläche eines dicken Seitenflusses. Die Trusgs sprangen vom Gleiter aus ins Wasser. Nandra blickte hinunter und schluckte. Es mussten an die fünfzig Meter sein, die sie im freien Fall zu überwinden hatte.
"Wir werden sie in Schlepptau nehmen“, rief Ianos und wickelte sich einen Stick um die Schultern. "Dann müssen sie sich auf dem ersten Teilabschnitt nicht sonderlich verausgaben. Aber wenn wir den Korridor erreichen, sind sie auf sich allein gestellt. Keiner von meinen Leuten kann sie ziehen. Sie müssen selbst sehen, wie sie sich durcharbeiten."
Nandra sah auf die Uhr. In knapp vierzig Stunden würde draussen im All die Hölle los sein. In genau derselben Zeit sollten sie die Förderboote geentert und ihren Vater dingfest gemacht haben. Sie nickte und schob sich das Mundstück zwischen die Lippen. Dann schloss sie die Augen und ließ sich einfach über den Ausstieg fallen. Was Hunderte von Trusgs konnten, sollte auch für sie keine große Schwierigkeit darstellen. Fast erlag sie dem ersten panischen Impuls aufzuschreien, doch dann tauchte sie in die Wasseroberfläche ein und die Wellen schlugen über ihrem Kopf zusammen. Nandra nahm einen vorsichtigen Lungenzug aus dem aufbereiteten Sauerstoff der künstlichen Kiemen und jubilierte innerlich. Sie musste sich aber in Erinnerung rufen, dass die Kiemen unterhalb von fünftausend Meter ihren Dienst aufgaben und sie auf die Tanks zurückgreifen musste. Ganz so einfach war es schließlich nicht.
Das durch die Brechung des Wassers verzerrte Gesicht von Ianos tauchte in ihrer Nähe auf und bewegte sich auf sie zu. Während dessen wickelte er den Strick von seiner Schulter und legte ihn der Kommandeurin unter die Arme. Nach einem kurzen Zeichen, machte es einen heftigen Ruck und Nandra glaubte sich auf der Flutwelle von Torpedos, durch einen dünnen Faden mit ihnen verbunden und von ihnen mitgerissen. Mit kräftigen Schlägen trieben sich die zwei Trusgs voran und zerrten dabei ihre Last beinahe mühelos mit. Nur zu ihrer eigenen Beruhigung, versuchte sie die beiden Schwimmer mit Flossenschlägen zu unterstützen.
Der erste Teilabschnitt musste mehr als zehn Kilometer durch freies Gewässer betragen haben, schätzte Nandra nach einem flüchtigen Blick auf ihre Uhr ab, als sich die Stricke nach einer halben Stunde lockerten und Ianos neben ihr auftauchte, um ihr mit Handzeichen verständlich zu machen, dass sie jetzt nach unten gehen würden. Sie hatte mit ihm zuvor ausgemacht, dass sie sich solange wie möglich über der Grenze von fünftausend aufhalten sollten, damit sie den Vorrat an Sauerstoff aus ihrem Tank für ernsthafte Fälle aufsparen konnte. Nandra sah sich um. Vor ihnen breitete sich eine dunkle Wand aus. Ein wirres Geflecht von ineinander verwuchertem Wurzelwerk, die die schwimmende Vegetation von Trenkjar trug. Unter ihnen konnte sie die Umrisse der anderen Trusgs erkennen, deren Körper das schwache Licht des Tages absorbierten. Wie tief sie unten waren, vermochte Nandra nicht zu sagen. Sie hatte vergessen, einen Tiefenmesser zu besorgen - der ihr vermutlich sowieso nichts genutzt hätte. Aber den hellen Schein der Sonne, die irgendwo über ihr auf die glatte See strahlte, war beinahe nicht mehr zu sehen. Der Druckanzug bewahrte sie vor der Last des Wassers, so konnte sie nur ahnen, dass Ianos die Grenze von fünftausend Meter restlos ausgereizt hatte.
Und sie würden noch tiefer gehen.
Nandra verkniff es sich, den anschwellenden Kloß hinunterzuschlucken. Tiefer als fünftausend Meter war sie noch nie getaucht. Aber sie hatte geschworen, bis zum Ende durchzuhalten. Und schaltete sie ihre Sauerstoffversorgung auf die Reservetanks um und klinkte sich erneut am Zugseil der Trusgs ein, um sich noch tiefer ziehen zu lassen.
Ihr wurde bald noch mulmiger zumute, als es tiefer und tiefer ging und sie kaum noch etwas sehen konnte. Sie spürte nur den Druck der Stricke um ihren Leib und die zunehmenden Kräfte des Wasserdruckes, die bald selbst durch den Druckanzug zu spüren waren. Doch ohne ihn hätte Nandra vermutlich keinen einzigen Atemzug mehr machen können. Sie wurde immer tiefer gezogen. Gewaltsam musste sie die aufsteigenden Gefühle von Panik, Klaustrophobie und Tiefenkoller verdrängen. Sie musste sich immer wieder daran erinnern, dass sie dies irgendwie überstehen musste, sonst war Janol für immer die Geißel ihres Vaters.
Tiefer und immer tiefer.
Nandra klammerte sich am Seil fest. Sie bekam plötzlich Angst, nicht mehr zurückkehren zu können. Ihre Augen konnten nur noch Dunkelheit erkennen. Sie fand sich in tiefster Nacht. Einzig der Zug des Seiles erinnerte sie daran, dass sie in dieser vollkommenen Stille nicht allein war.
Dann wurde das Seil locker. Nandra glaubte, in die unendliche Tiefe zu stürzen und riß die Arme hoch. Dabei traf sie etwas, dass sie sofort zu greifen versuchte, doch in der Dunkelheit war nichts zu sehen.
Plötzlich flammte Licht in ihrer Nähe auf und Nandra war für einige Augenblicke geblendet. Als sich ihre Augen endlich an die Helligkeit gewöhnt hatten und Umrisse erkennen konnten, entdeckte sie, dass sie sich unterhalb eines Felsvorsprunges oder irgendeines anderen dunklen Gebildes befand. Das Licht war scheinbar nur wegen ihr angezündet worden. Denn die Lichtquelle in Ianos Hand war die einzige, die sie erkennen konnte. Der Trusgs legte eine Schlaufe um sein Handgelenk und band das andere Ende an Nandra fest. Dann gab er ihr zu verstehen, dass sie dicht hinter ihm bleiben sollte. Er führte sie zu einem engen Höhleneingang, der gerade Platz für eine breite Schulter bot. Nandra mit ihrem Tauchgerät musste sorgsam darauf achten, dass sie nirgendwo anstieß. Mit Händen und Füßen hangelte sie sich durch den Stollen, der beim näheren Betrachten ein ausgespülter Korridor zwischen engem Wurzelgeflecht, vor vielen Tausend Jahren abgestorbenem Gezweig, Lebewesen und Sonstigem war. Als vernünftige Taucherin würde sie sich niemals in einen solchen Korridor wagen. Die Gefahr, dass er irgendwann in einer Sackgasse endete, oder hinter einem die Stollenwände einstürzten war einfach zu groß. Doch die Trusgs schienen den Weg ausgezeichnet zu kennen. Ianos schwamm ihr voran und zerrte sie schneller mit, als sich Nandra selbst vorwärts bewegen konnte.
Sie wagte einen flüchtigen Blick auf die Uhr, als sich die Wände um sie schlossen. Mit Schreck bemerkte sie, dass sie über vier Stunden gebraucht hatten, um diesen Eingang zu erreichen. Wie weit man in vier Stunden sinken konnte, daran wagte Nandra im Moment überhaupt nicht zu denken.
Kleine Wassertiere schreckten vor dem Licht davon und verschwanden, sich windend und drehend in den großporigen Wänden aus Schlamm, Wurzeln und Geäst oder flüchteten in irgendeine Richtung des Korridores. Nandra versuchte sich abzulenken, indem sie sich gänzlich auf ihren Weg konzentrierte und ihre Augen in alle Richtungen wand. Sie musste mehr als alle anderen auf herunterhängendes Geäst achten und sich mühevoll daran vorbeiwinden. Ihr Druckanzug behinderte ein wenig ihre Bewegungsfreiheit, doch sie sagte sich immer wieder, dass sie ohne ihn nicht hier sein könnte.
Die schier endlose Röhre verschwand vor und hinter ihr in vollkommener Dunkelheit. Vor ihr konnte sie gerade noch die Beine des Trusgs erkennen. Hinter ihr sah sie nicht einmal ihre Flossen. Mühevoll zog sich Nandra durch die Röhre und musste gegen mehrere Gegner gleichzeitig kämpfen: die aufkeimende Klaustrophobie, die Angst niemals mehr wiederzukehren. Befürchtungen irgendwo hängen zu bleiben oder von den anderen getrennt zu werden und ihre schwindenden Kräfte.
Bei ihrem Marsch mit Janol, durch den Dschungel, hatten sie wenigstens regelmäßig Pausen einlegen können. Doch nun musste sie zusehen, dass sie so schnell wie möglich durch die Röhre kam, bevor ihr der Sauerstoff ausging. Sie besaß zwar noch für gut zweiunddreißig Stunden Atemluft, doch wer wusste schon, was sie hier erwartete.
Der Korridor wand sich in alle Richtungen. Mal ging es steil bergauf, dann wieder senkrecht nach unten. Die Biegungen links und rechts und sogar ein paar Mal wieder zurück, versuchte Nandra schon gar nicht mehr zu zählen. Sie hatte genug damit zu tun, Ianos Beine im Auge zu behalten und sich nirgendwo zu verhaken. Einige Male fragte sie sich im Stillen, ob es nicht einfacher gewesen wäre, sich durch den Dschungel zu kämpfen. Aber dann verwarf sie die Gedanken wieder. Wenn der andere Weg leichter gewesen wäre, dann hätte der Trenkjar ihn sicherlich auch ausgewählt.
Nandra versuchte, trotz Anstrengung gleichmäßig zu atmen und ihre Sauerstoffreserven nicht über Gebühr zu beanspruchen. Hin und wieder war sie jedoch gezwungen einen tiefen Atemzug zu nehmen, da der Sauerstoffverbrauch entsprechend der körperlichen Betätigung höher war, als sie annahm.
Sie versuchte auch, die Uhr zu ignorieren. Die Zeit würde ihr wie im Flug vergehen, wenn sie kein einziges Mal auf die Anzeige blickte. Die Zeit würde ihr Helfer sein, wenn sie sie einfach vergaß.
Plötzlich blieb sie irgendwo hängen. Ein kleines Etwas, das sie in ihrer augenblicklichen Gedankenlosigkeit übersehen hatte, verhakte sich an ihren Tanks. Aus Angst, dass sie die Tanks beschädigen könnte, hielt sie sofort an und zerrte an dem Seil. Sie faßte jedoch nicht selbst auf ihren Rücken, so dass sie auf die Hilfe des Trenkjar warten musste. Ianos kam sofort zurück und versuchte sie zu befreien. Lange zerrte und rüttelte er an ihrem Rücken herum, bis er es schließlich aufzugeben schien und ihr mit Handzeichen etwas zu begreiflich machen versuchte. Nandra brauchte lange, bis sie verstand, was er ihr zu erklären versuchte. Sie blickte auf die Anzeige der Reservetanks, die an einem kleinen phosphoreszierenden Armband an ihrem Handgelenk hing und musste das aufkeimende Gefühl von Panik gewaltsam niederkämpfen. Einer der Tanks war beschädigt. Er verlor kostbaren Sauerstoff.
Sie erwiderte ein Zeichen, das im Tiefseetaucher-Jargon eine Bestätigung bedeuten sollte, dann zog Ianos sie ruckhartig vom Haken weg. Ein Brodeln ging durch das Wasser. Nandra konnte die Vibrationen des mit einen Mal ausweichenden Sauerstoffes trotz des Druckanzuges förmlich spüren. Sie seufzte innerlich. Damit besaß sie nur noch für - sie rechnete kurz nach - für dreiundzwanzig Stunden Luft. Nein, sie berichtigte sich schnell, als sie entgegen ihres Entschlusses auf die Uhr sah. Nur noch für zwanzig.
Jetzt mussten sie sich beeilen.
Sie war müde. Ihre Glieder schmerzten und bewegten sich nur noch rein mechanisch. Ihre Gedanken waren irgendwo ins Nirwana entschwunden und längst hatte sie sämtliche Pläne, sämtliche Träume und sämtliche Illusionen in die unterste Schublade gesteckt. Sie wusste nicht, wie sie die nächsten fünf Stunden bewältigt hatte. Doch plötzlich wurde es heller. Sie unterdrückte ein Gähnen. Wenn ihr dazu die Gelegenheit gegeben wäre, dann hätte sie sich sofort hingelegt und wäre auf der Stelle eingeschlafen. Wie lange sie bereits unterwegs waren, daran vermochte Nandra nicht zu denken. Die Trusgs konnten offenbar wesentlich länger ohne Erholungsschlaf auskommen. Doch jemand wie Nandra brauchte nach einer Marathonanstrengung unbedingt eine Pause. Sie bezweifelte nur, dass sich hier unten, tief auf dem Grund des Sthii ein Hotelzimmer auffinden würde.
Dass es heller wurde, war für Nandra nur eine Farce. Sie hatte gedacht, dass sie endlich wieder an die Oberfläche gelangten, doch sie wurde jäh enttäuscht. Es wurde zwar heller, doch rührte das Licht nicht von der durchscheinenden Sonne sondern von einem Schwarm Jawies, die sich in einer Höhle eingenistet hatten. Der Jawiesschwarm bedeutete nur ein Bruchteil von dem was unter dem Janol-Ge lebte, er genügte aber, um die Höhle auszuleuchten und einige Muno-Pflänzchen gedeien zu lassen. Der Boden der Höhle war übersäht von einem dichten Teppich hellgrüner Algengewächse und Nandra fragte sich, ob es diese Stelle gewesen war, an der Janol die vermeindlich ausgestorbenen Jawies wiederentdeckt hatte.
Ianos führte sie weiter und schob sich am anderen Ende der Höhle wieder in ein kleines Loch hinein. Noch bevor seine Beine gänzlich verschwinden konnten, versuchte Nandra den Vorsprung aufzuholen. Das Seil verhedderte sich irgendwo und stoppte somit auch den Trenkjar. Sie versuchte, es zu befreien, doch das sich ständig bewegende Material an Wurzelwerk und Geäst hielt es fest umschlungen. Ianos nahm das Messer aus dem Halfter an seinem Unterschenkel und schnitt es kurzerhand durch. Dann nahm er Nandra bei der Hand und schob sie vor sich her.
Seine Warnung, dass sie in dem engen Korridor gänzlich auf sich allein gestellt war, schien er selbst nicht mehr sonderlich ernst zu nehmen. Fürsorglich kümmerte er sich um sie und gab ständig darauf acht, dass sie sich in dem weitverzweigten Höhlengang nicht verirrte.
Schließlich erhielt auch Nandra eine Gelegenheit, sich für diese Besorgnis zu revanchieren. Ianos hatte sich halb hinter ihr gehalten, so dass sich ihre Körper ständig berührten. Doch plötzlich war er verschwunden. Nandra blickte zurück und konnte gerade noch erkennen, wie eine helle Hand in einem Seitengang verschwand. Sie machte sofort kehrt und eilte hinterher. Irgendetwas hatte ihn gepackt und fortgeschleppt. Da sie sich im Sthii befanden, vermutete Nandra einen Langueene. Aufgrund der Enge des Stollens, musste der Trusgs erhebliche Schwierigkeiten haben, sich des Schlangenfisches zu erwehren. So schnell sie konnte, versuchte sie sich zu Ianos durchzuarbeiten und versuchte sich auch zu überlegen, wie sie den Langueene dazu überreden konnte, seine Beute loszulassen. Dass sie sie nicht töten durfte, fiel ihr als erstes ein. Dass sie ein sehr feinfühliges Schmerzempfinden besaßen, war ihr zweiter Gedanken.
Es gelang ihr, sich so nahe an Ianos heranzuarbeiten, dass sie seine Hand greifen konnte. Doch der Langueene war so kräftig, dass er ihren Griff mühelos wieder trennte. So besaß auch Ianos nicht viel Gelegenheit, sich irgendwo festzuhalten und das Tier zu einem Kampf zu zwingen. Er wurde stetig weiter rückwärts gezogen. Losgerissenes Material rieselte gemächlich gen Boden der Höhle oder blieb einfach in der Mitte schweben. Nandra hangelte sich über den Trenkjar hinweg, dabei aber wohl bedacht, dass sie ihren Rücken weit genug von der Decke fernhalten musste, nahm das Ende des Strickes, das noch immer um ihr Handgelenk gebunden war und schnürte es um das Schwanzende des Langueene, der als Ruder fungierend, munter hin und her wackelte. Erst nach dem dritten Mal wollte es ihr gelingen, eine Schlinge um das Schwanzende zu legen und sie fest zuziehen. Der Schlangenfisch stoppte, wand sich um und sein weitaufgerissenen, fangzähne bewaffnetes Maul schoß ihr rasend schnell entgegen. Noch bevor sie es überhaupt richtig sehen konnte, ballte Nandra ihre Fäuste und hieb ihm einen kräftigen Haken an den Unterkiefer. Sie hatte vergessen, dass sie Handschuhe trug und der Handrücken mit Kunststoffplatten verstärkt war. Als sie den harten Kieferknochen des Fisches traf, brachen sowohl die Kiefer des Langueene, wie auch die Bewehrungsplatten und bohrten sich tief in ihr Fleisch. Nandra unterdrückte den Schmerzensschrei gewaltsam, während sie den Fisch in die Dunkelheit davonflüchten sah. Nandras Handschuhe füllten sich mit warmer Flüssigkeit. Sie musste zusehen, dass sie bald an die Oberfläche gelangte, sonst würde sie in ihrem eigenen Blut ertrinken.
Der Trenkjar bedankte sich bei ihr mit einer flüchtigen Berührung ihrer Schulter und führte sie zurück in den Hauptkorridor, wo mehrere Trusgs angehalten hatten und nach den Vermißten suchten. Dann ging es weiter und Nandras Hand sandt zusehens mehr und aufdringlichere Schmerzwellen aus.
Zwei Stunden später waren urplötzlich Höhlenwände, Enge und Dunkelheit verschwunden. Irgendwo weit über ihr schummelten sich wage Lichtreflexe durch das Wasser, die durch große dunkle Flächen, den schwimmenden Grüninseln unterbrochen wurden. Der Trenkjar löschte das Licht an Nandras Helm aus und griff unter ihren Arm, um mit ihr gemeinsam wieder an die Oberfläche zu steigen. Als das Sonnenlicht sie wieder eingefangen hatte, nahm Nandra einen tiefen erleichterten Atemzug und genoß die Wärme des Lichtes, obgleich sie es durch den Druckanzug und soweit unten gar nicht spüren konnte.
Doch kaum war ihr Kopf über Wasser, riß sich Nandra das Mundstück heraus und sog ihre Lungen voll frischem Sauerstoff. Nichts gegen kompressierte, künstliche Atemluft, sagte sie sich in diesem Moment. Sie hatte es ihr immerhin ermöglicht, sich über fünfzehn Stunden unter Wasser aufzuhalten. Doch gegen die natürliche Luft, kam nichts an. Nichts würde sie so genießen, wie die mit Moder und Fäulnis angereichte Luft, zwischen den schwimmenden Inseln.
Sie keuchte vor Erregung und ließ sich von einigen Trusgs auf eine Insel helfen. Erst als sie ihre verletzte Hand dazu benutzen wollte, sich festzuhalten, wurde sie wieder daran erinnert. Sie verzog ihr Gesicht vor Schmerz, als sie ihre Finger zwang, sich um einen Ast zu krümmen.
"Verletzt?", fragte Ianos besorgt und ließ sich neben sie nieder. Er half ihr vorsichtig aus dem Handschuh und musste ihn dazu sogar aufschneiden, da die zerbrochenen Platten noch immer in ihrer Hand steckten.
"Man sollte sich einfach nicht mit balzenden Langueenen anlegen“, bemerkte sie, nur um sich von den Schmerzen abzulenken. Dass mittlerweile tatsächlich ein ganzes Jahr vergangen war, fiel ihr erst wieder ein, als der Trenkjar zustimmend nickte. Jemand reichte ihm eine Handvoll schwarzem Schlamm, den er vorsichtig auf Nandras Wunden strich. Sie konnte zwar nicht denken, wofür er gut war, aber sie spürte bald daraufhin keine Schmerzen mehr. Sie lehnte sich erschöpft zurück und genoß die Sonne.
"Wie weit ist es noch?", fragte sie müde.
"Die Hälfte wäre geschafft“, erklärte er, nicht ohne Stolz über seinen Schützling. Er schien damit gerechnet zu haben, dass sie unten in dem Stollen einen Koller bekam und ihr Leben damit verwirkte. Dass sie einige Male ganz nahe dran war, verriet sie ihm lieber nicht.
Nandra schloss die Augen. Sie fühlte sich so unermeßlich müde. Die Insel wankte leicht und schaukelte sie rasch in einen leichten Dämmerzustand. Die Stimmen der Anderen, das Platschen des Wassers und die Geräusche des Waldes wanderten immer weiter von ihr fort. Sie fühlte selbst, wie sie in einen immer tieferen Schlaf glitt und versuchte dagegen anzukämpfen. Doch sie verlor diese Schlacht haushoch. Nach nur fünf Minuten war sie fest eingeschlafen.
Ein schrilles Geräusch in ihrer Nähe ließ sie aus ihrem Schlaf hochfahren. Fast wäre sie ins Wasser gefallen, wenn sie nicht ein paar kräftige Hände gepackt und zurückgezerrt hätten. Erschrocken blickte sie die amüsierten Gesichter an und erinnerte sich endlich daran, weswegen sie sich auf einer kleinen schwimmenden Insel, mit nur einem Busch und einer beinahe zehn Meter hohen Blütenpflanze befand.
"Sie haben mich schlafen lassen“, schimpfte sie und wischte sich die letzten Träume von den Augen.
"Wir brauchten alle eine Rast“, sagte eine Stimme hinter ihr. Ianos lehnte an einem kräftigen Blütenstamm. "Und sie am allermeisten. Es hätte nichts genützt, wenn sie am Ziel zusammengebrochen wären."
"Damit haben wir Zeit vergeudet."
"Die letzten siebenhundert Zenzren geht es durch offenes Wasser von Seitenkanälen. Da können wir das Versäumte wieder aufholen." Er sprach ruhig und gelassen und hatte sich von Nandras Panik nicht im Geringsten beeinflussen lassen. "Wenn sie etwas gegessen haben, können wir wieder weiter. Vielleicht schaffen wir es dann bis zur Morgendämmerung den Seitenkanal zu erreichen."
"Etwas essen?" Sie drehte sich um und blickte ihn fragend an. Sie hatte nicht an die Möglichkeit einer Nahrungsaufnahme gedacht. Sie trug weder Proviant noch Angelzeugs bei sich und sah sich ratlos um. Einer der Trusgs überreichte ihr bereitwillig ein breites Blatt mit einem bereits erlegten Wassertier. Zu seinen Lebzeiten musste es ein spiralförmiges Wirbeltier gewesen sein. Jetzt war es ein fleischiges, in sich gedrehtes Würmchen, bei dessen Anblick sich Nandras leerer Magen umdrehte.
"Essen sie es. Es spendet Kraft." Ianos beugte sich nieder. "Mit Mogg und Lujemee kann ich leider nicht dienen."
Nandra brach sich etwas von dem verschnörkelten Etwas ab und knabberte vorsichtig daran. Es schmeckte nach rohem Fisch und solches hatte sie schon viele Male in Zooyma gegessen, nur etwas würziger. Daher nahm sie das Blatt dankbar an und verspeißte ihr kärgliches Mahl. Ihr Magen dankte es ihr, indem er etwas leiser knurrte.
Die Wunde an ihrer Hand war verkrustet, der Heilschlamm inzwischen getrocknet.
"Wielange habe ich geschlafen?", wollte sie wissen, während sie ihre Hand betrachtete. Der Trusgs schälte vor ihren Augen ein weiteres Spiraltierchen aus seinem schillernden Panzer und trapierte es vorsichtig auf das Blatt. Nandra musste sich Gewalt antun, es einfach hinunterzuschlucken. Übelkeit keimte in ihr auf.
"Etwa drei Stunden“, kam es aus ihrem Rücken. "Die Späher berichteten, dass der Admiral inzwischen weitere Trusgs kidnappte und sie zu Tauchgängen zwang. Einige von meinen Leuten haben sich einfangen lassen."
"Sehr gut“, stieß sie hervor. Dann wurde sie stutzig. "Was heißt einfangen lassen?"
"In dem Nebensee lebt eine große Kollonie von Trusgs“, erklärte er. "Admiral Okopaidos Leute fischten sie mit Treibnetzen aus dem Wasser, wie niederes Wassergetier. Nicht nur, dass sie auch Alte, die nicht mehr nicht mehr dazu in der Lage sind, pure Gase zu atmen: mit den Netzen zerstörten sie einen Großteil der Nestbauten. Die Familie meiner Frau lebt dort unten."
"Gier kennt keine Skrupel“, bemerkte Nandra. "Das wäre zuviel Gepäck für diesen anstrengenden Part." Sie begann allmählich ihren Vater zu hassen. "Wenn ich dazu in der Lage wäre, würde ich persönlich mithelfen diese Netzbauten wieder zu errichten. Doch ich bezweifle, dass meine Hände auch nur eine annähernde Geschicklichkeit dafür entwickeln können."
"Sorgen sie nur dafür, dass dies nicht noch einmal geschieht. Es steht in ihrer Macht."
Nandra wand sich erneut um. Sein Gesicht wieß Sorgenfalten auf. Sie schenkte ihm ein Lächeln und schob sich den Rest des noch warmen Spiraltierchens in den Mund.
"Können wir?", rief sie, nachdem sie es mühevoll hinuntergeschluckt hatte und hievte sich auf ihre Beine. Die Insel wankte unter ihrem verlagerten Gewicht und sie musste sich festhalten, wenn sie nicht schneller im Wasser sein wollte, als ihr lieb war.
Ianos stieß einen schrillen Pfiff hevor, worauf sämtliche Trusgs auf den umliegenden Inseln aufsprangen und beinahe mit einem Mal ins Wasser sprangen. Nandra erschrak erst bei dem ungewöhnlichem Laut, dann bei der prompten Antwort der Trusgs. Wieviele hundert fähige Kämpfer und Schwimmer der Captain zusammengetrommelt hatte, vermochte Nandra nicht abzuschätzen. Ihre Zahl war so hoch, dass sie bezweifelte, dass es sich ausschließlich um rekrutierte Trusgs handelte.
"Woher haben sie die alle?", erkundigte sie sich interessiert.
"Ich hätte noch viel mehr haben können“, erklärte er mit einem stolzen Glitzern in seinen dunklen Augen. "Als es bekannt wurde, dass der Gerai in Gefahr war, stellte sich halb Trenkjar zur Verfügung. Ich suchte mir schließlich die besten heraus."
"Ist Janol so beliebt?", wollte sie wissen.
"Sie hegen gewissen Erwartungen in ihm“, sagte Ianos.
Nandra beobachtete die Trusgs noch für einen Moment, bevor sie wieder ihren Druckanzug verschloss, sich die Atemvorrichtung über den Kopf stülpte und ebenfalls ins Wasser sprang. Ein Gewimmel von vielen hundert viergliedrigen Schatten erfüllte das Wasser rings um sie. Es war schwer für sie, das Gesicht eines bestimmten Trusgs herauszukennen. Doch Ianos fand sie zielstrebig, band ein zusammengewundenes Tau aus Schlingpflanzen um ihren Leib und mimte für sie wieder das Zugpferd.
Es ging auf und ab. Knapp an der Wasseroberfläche entlang und wieder bis tief unter das Wurzelgeflecht. Nandra ignoriere diesmal eisern die Uhr und ließ sich einfach treiben. Solange es durch offenes Gewässer ging, musste sie nicht viel mehr tun, als sich strampelnd warm zu halten und ihre müden Glieder etwas aufzulockern. Die Trusgs wechselten sich sogar einige Male ab, so dass ständig einigermaßen ausgeruhte Schwimmer die Last zu ziehen hatten. Nandra musste über soviel Edelmut schmunzeln und überlegte, ob sie es taten, weil der Gerai an ihr sein Herz verloren hatte, oder weil sie ihnen half, ihren neuen König zu retten.
Die Nacht brach über sie herein. Für eine lange Zeit schwebte Nandra in der Dunkelheit dahin. Für viele Stunden wurde sie einfach von der Strömung weitergetragen. Dann blitzten wieder die ersten Sonnenstrahlen durch den glitzernden Himmel und Nandra blickte zum ersten Mal seit langem auf ihr Handgelenk. Sie betrachtete sorgenvoll die Anzeige der Sauerstoffreserven. Sie waren fast gänzlich aufgebraucht. Rein nach Gefühl stellte sie auf künstliche Kiemen um, als ihre Zugpferde sie nach oben zogen. Sie stiegen entlang einer dunklen Wand aus Wurzeln, Schlamm und abgestorbenen Pflanzen hoch und schlichen sich um die schwimmende Insel herum. Nandra hangelte sich an dem losen Geflecht um die Insel herum und spähte gerade mal die Nasenspitze aus dem Wasser erhebend, in Richtung der Förderboote, von denen unentwegt Leute herunter sprangen oder wieder hinaufkletterten. Sie strengte ihre Augen an und entdeckte auf einem erhabenen Plateau, unterhalb eines eingeholten Kranarmes, an dessen Ende das steil in den Himmel ragte ein schlaffes Fangnetz hing, mehrere Gestalten, die in ein hitziges Streitgespräch vertieft waren. Einer von ihnen trug einen weißen Anzug und eine weiße Mütze auf dem Kopf - Admiral Okopaido. Ein andere kauerte halb zusammengekrümmt vor dessen Füßen und musste einige Stockschläge auf seinem Rücken erduldigen. Dann richtete er sich wieder auf und schien den Streit fortzuführen, als wäre nichts geschehen. Dass der Admiral seine Argumente mit weiteren Stockschlägen kommentierte, schien ihn nicht weiter zu stören. Der Trenkjar beharrte auf seiner Meinung. Bis ihn der Admiral schließlich an den Haaren packte und vom obersten Aussichtsdeck über die Rehling warf.
Nandra rauchte vor Wut, als sie mitansehen musste, wie ihr Vater Janol mißhandelte. Der Sturz ins Wasser, aus einer Höhe von ungefähr hundert Metern war für Janol sicherlich weniger ärgerlich, als für Nandra, die dies beobachtet hatte. Ihr gefiel es beinahe selbst nicht, dass sie sich immer mehr von dem einst vertrauten Vater-Tochter-Gefühl entfernte. Für sie war der Mann in der weißen Uniform nur noch ein Gegner, den es auszuschalten galt. Sie nahm das Mundstück heraus und suchte Ianos.
"Die Leute aus der Kollonie müssen austauscht werden“, flüsterte sie. "Ist das machbar?"
Ianos deutete wortlos auf die Boote, wo unentwegt schwerbeladene Trusgs die Strickleitern hochkletterten und wieder ins Wasser sprangen, sobald sie ihre Säcke entleert hatten. Offenbar hatte er dies bereits in die Wege geleitet und seine eigenen Leute, die Trusgs von der Kollonie ablösen lassen.
"Die Wachen“, formten ihre Lippen lautlos und zeigten auf einige bewaffnete Männer, die Argusaugen auf die Wasseroberfläche geworfen hatten. Aber keiner von ihnen bemühte sich selbst ins Wasser, um die Aktivitäten unterhalb der Oberfläche zu überprüfen. Damit verschafften sie Nandra und den Trenkjar eine Möglichkeit, sich unbemerkt heranzuschleichen. "Sind unter Wasser auch Wachen?", wollte sie aber dennoch bestätigt haben.
"Einige Tauchgeräte“, berichtete Ianos. "Sie sind aber zu schwerfällig und schnell auszuschalten."
"Oben darf niemand etwas davon mitbekommen." Sie steckte sich das Mundstück wieder zwischen die Lippen und tauchte unter. Noch bevor sie den anderen folgte, sah sie kurz auf die Uhr. In einer halben Stunde würden Hendriks und Tt'rekabon ihren Angriff starten.
Sie schlichen sich entlang der schwimmenden Inseln so nahe heran, wie es ihnen nur möglich war. Dann schickte Ianos einen Trupp von Trusgs los, um die Tauchgeräte untauglich zu machen, während ein anderer sich die Förderboote vornehmen sollte. Nandra versuchte, ihm begreiflich zu machen, dass sie nach unten ging, um Janol zu suchen. Sie strich dafür über ihre Brust, wo bis vor einigen Stunden noch die Gerai-Schärpe gewesen war und deutete nach unten. Ianos nickte und schloss sich der Gruppe für die Förderboote an.
Je tiefer sie tauchte, desto weniger konnte sie sehen. Irgendwann musste sie auf die Reservetanks umschalten, da ihre künstlichen Kiemen nicht mehr richtig funktionierten. Sie hoffte, dass sie nicht so tief hinunter musste, dass sie erneut den Druck des Wassers durch den Anzug spüren musste. Einige Trusgs schwammen an ihr vorbei. Ihre Säcke waren voll. Sie versuchte, ihnen begreiflich zu machen, dass sie ihre Last fallen lassen und verschwinden sollten. Schnell begriffen sie Nandras Versuche, streiften sich die Riemen von den Schultern, so dass die schweren Säcke bald in der Tiefe verschwunden waren und eilten davon. Sie schwammen aber nicht an die Oberfläche, sondern versuchten, in den Schutz der schwimmenden Vegetation zu gelangen. Nandra fragte sich, ob sie jemals die Nestbauten der Trusgs würde sehen können. Interesse hatte sich schon daran.
Unscharfe Schatten kristallisierten sich aus der Dämmernis tief unten auf dem Sthii zu weiteren Trusgs, die noch immer mit der Xrax-Ernte beschäftigt waren. Sie schickte einen jeden fort. Unter ihr breitete sich ein schwarzer Teppich aus Schlamm aus. Sie konnte auch einige Wogen erkennen, die sich durch die wechselhafte Strömung aufbäumten und einíge glitzernde Kristalle freilegten, nur um sie dann wieder mit einer aufwallenden Schlammwelle zu bedecken. Es war eigentlich ein beeindruckendes Schauspiel, wenn man die Gefährlichkeit außer Acht ließ.
Nandra konnte kaum die Hand vor Augen sehen und musste sich zudem auch noch vor der Strömung und dem aufgewirbeltem Schlamm vorsehen. Die Strömung spielte mit ihr, wie mit einem Seegrashalm und sie hatte Mühe, nicht davongewirbelt zu werden. Die Strömung war manches mal so stark, dass sie viele Meter seitlich versetzt wurde oder einen dermaßen kräftigen Schub bekam, dass sie glaubte aus einem Katapult ausgespuckt worden zu sein. Schlammlawinen bäumten sich zu meterhohen Türmen auf und gingen in einer rauschenden Brandung wieder nieder. Das Wasser war gesättigt von Schmutzpartikeln und so trübe, dass sie fast ihre Hände dazu benutzen musste, um irgendetwas zu finden. Und schließlich entdeckte sie etwas.
Eine einzelne Gestalt, die breitbeinig auf dem Boden stand und versuchte, der kräftigen Strömung zu trotzen. Sie spülte Schlamm und Schmutz unter seinen Füßen fort, während er mit den Armen um Gleichgewicht rang. Dann rutschte er etwas ab und sackte in sich zusammen. Im nächsten Moment hatte Nandra ihn aus den Augen verloren. Eine gigantische Schlammwelle war über ihn niedergegangen. Sie konnte nur noch aufgewirbelten Schmutz erkennen und musste sich an irgendetwas hervorstehendem festhalten, um nicht auch noch fortgespült zu werden.
Als sich die Strömung für einen Moment beruhigt hatte, entdeckte sie ihn wieder. Bedeckt von Schlamm konnte sie nur eine zappelnde Bewegung auf dem Boden erkennen und arbeitete sich zu ihm vor. Auch wenn es nicht Janol war, sie musste einfach dem Trusgs helfen. Mit blosen Hände wühlte sie in dem weichen Schmutz und fächerte kleine Schlammwogen auf. Sie bekam ihn zu fassen und versuchte, ihn aus dem Dreck zu ziehen. Doch er saß fest. Als er sich aufbäumte und sie sein Gesicht sah, wäre Nandras Herz beinahe stehen geblieben. Es war Janol. Er warf seine Arme hoch und bäumte sich vor und zurück. Etwas an seinem Rücken oder Nacken schien ihn mehr zu stören, als die Tatsache, dass er mit einem Fuß irgendwo festhing.
Nandra begriff augenblicklich, warum es für Trusgs so gefährlich war, sich von einer Schlammlawine bedecken zu lassen. Die Kiemen füllten sich mit den feinen Partikel und verstopften damit die Atemwege. Er musste ersticken.
Es waren sicherlich über fünf Minuten vergangen, seit ihn die Woge bedeckt hatte. Nandra bugsierte sich hinter ihn, umklammerte ihn mit Armen und Beinen und riß das Mundstück heraus, um es ihm zwischen die Lippen zu drücken. Allmählich beruhigte er sich, dann nahm sie selbst einen tiefen Atemzug, gab es an Janol zurück, um ihn ebenfalls noch einige Male tief durchatmen zu lassen und schob es sich wieder in den Mund. Sie ließ ihn los und hangelte sich an ihm entlang zu seinen Beinen, um ihn zu befreien. Da spürte sie, wie die Strömung an ihr zerrte und klammerte sich so fest sie konnte an ihm fest. Unter ihr raste der Schlammboden dahin, als wolle er vor irgend etwas flüchten. Wenig später war der befestigte Boden sichtbar und sie erkannte, wo sich Janol verheddert hatte. Abgestorbene Wurzeln und Geäst hatten sich zu einem engen Netz verwoben, aus dem man nur noch schwerlich herauskam. Sie spürte plötzlich, wie sich Janol über sie beugte und dann ging die Welt unter. In ihren Ohren rauschte es trotz des enganliegenden Helmes und des Ohrenschutzes. Das Visier vor ihren Augen knirschte und knisterte, als die Partikel mit erheblichem Druck dagegenwarfen. Sie warf kaum in der Lage, sich zu bewegen. Die Strömung und die auf sie niedergehende Schlammlawine deckte sie vollkommen zu.
Schließlich kehrte wieder für einige kurze Minuten Ruhe ein und Nandra richtete sich auf. Der Schlamm war weich genug, so dass sie die dicke Lage auf ihr mühelos beiseiteschieben konnte. Ihr erster Gedanke galt wieder Janol. Sie wühlte in dem Schmutz nach seinem Fuß und versuchte ihn aus den Widerhaken zu bugsieren, doch das Geäst hatte sich wie ein Klemmeisen, fest um den Knöchel verhakt. Nandra arbeitete und kämpfte mit den Fesseln und schließlich wollte ihr nichts anderes einfallen, als mit purer Gewalt das Geäst auseinander zu brechen. Dass dabei auch Janols Knöchel in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, kalkulierte sie ein. Sein Leben zu retten, stand absolut im Vordergrund. Sie zog, zerrte und rüttelte mit aller Kraft und plötzlich gab es knackend nach.
Sie spürte wie der Trusgs zusammenzuckte und sich in ihrem Arm verkrallte. Trotz des dicken Druckanzuges vernahm sie hautnah die Kraftanwendung, die der aufkeimende Schmerz bei ihm ausgelöst hatte. Sie wand sich um, nahm das Mundstück heraus und schob es ihm zwischen die Lippen. Mit einem Blick auf die Sauerstoffanzeige, hakte sie ihre Arme unter seine Achseln und zog ihn mit sich. Sie musste so schnell wie möglich nach oben. Ihre Atemlufttanks waren leer.
Als sie sich das Mundstück wieder zwischen die Lippen schob, stellte sie schnell fest, dass auch sie ein kleines Problem besaß. Ohne einen Gedanken an ihre eventuelle Tiefe zu verschwenden, schaltete sie auf Versorgung durch die künstlichen Kiemen um und musste einige Minuten lang schwer darum kämpfen, überhaupt eine ganze Lunge voll Atemluft zu bekommen. Doch dann arbeiteten die Kiemen immer besser und sie konnte bald freier durchatmen. Abwechselnd versorgten sie sich mit der Luft aus dem Kiemen, während sie allmählich immer höher stiegen. Das Sonnenlicht glitzerte spärlich durch die Oberfläche und je höher sie stiegen, desto leichter wurde es Nandra ums Herz. Sie spürte das Gewicht des Trenkjar, den sie umklammert hielt, als wolle sie ihn niemals mehr freigeben und jubilierte innerlich. Es wurde immer heller und Nandra konnte es nicht mehr erwarten, an die Oberfläche zu gelangen. Schließlich trennten sie nur noch ein paar hundert Meter und sie strengte sich an, so schnell wie möglich wieder aufzutauchen.
Ein Langueene strich nur knapp an ihnen vorüber. Nandra seufzte innerlich. Ihr Glück musste noch offenbar etwas warten. Sie drehte sich mit Janol im Arm, um ihre Achse, ließ ihn mit einer Hand los und hieb dem Schlangenfisch wohlsorglich mit dem Ellbogen, da ihre Hand bereits verletzt war, kräftig auf den Knieferknochen, als dieser eine enge Wende machte und sich anschickte, seine Opfer mit seinem langen Schwanz einzuwickeln, um sie mit sich in die Tiefe zu ziehen. Der Langueene fuhr herum, versetzte Nandra mit seinem Schwanz einen Hieb, den sie sogar durch den Druckanzug spürte und schwamm beleidigt davon.
Schließlich griff sie wieder unte Janols Arme und paddelte an die Oberfläche. Endlich an der frischen Luft angekommen, sog sie ihre Lungen so voll sie nur konnte und tauchte gleich wieder unter. Wenn dies überstanden war, würde sie bis ans Ende ihrer Tage keine einzige Tiefseetour mehr machen.
Noch bevor sie sich selbst wieder an die Oberfläche bringen konnte, hatte sie jemand gepackt und nach oben gezogen. Dann legten sich Lippen auf die ihre und sie gingen ein weiteres Mal unter. Während draussen auf den Förderbooten ein handfestes Gemenge und noch weiter draussen im Weltraum, eine Schlacht tobte, versanken die beiden Liebenden engumschlungen und in einem leidenschaftlichen Kuß vereint im Sthii.
Bis ihnen beiden die Luft ausging.
Sie keuchten und husteten beide, als sie endlich wieder auftauchten. Sie schwammen zu der Steigleiter eines der Förderboote und zogen sich daran hoch.
"Ich wusste, dass du kommen wirst“, keuchte Janol und spie das Wasser aus seinen Lungen.
"Um nichts in der Welt, hätte ich dich dort unten gelassen“, kam es hustend zurück. Sie riß sich das Visier und den enganliegenden Schutzhelm vom Kopf und sah sich kurz um. Kampfgeräusch, Feuersalven, Schreie und das Platschen von über die Rehling Gestürzte hallte von den Schiffswänden zurück.
Janol beugte sich zu ihr und gab ihr einen weiteren Kuß. Dann kletterte er nach oben, wobei er sich nur mit einem Bein abstützen konnte und hielt an, kurz bevor er über das Geländer stieg. Auf dem Oberdeck, wo Nandra die Gestalt im weißen Anzug mit dem Trenkjar gesehen hatte, stand ihr Vater und feuerte in unregelmäßigen Abständen in die kämpfende Menge, worauf fast jedesmal ein Aufschrei ertönte.
"Ich habe noch eine Rechnung offen“, rief Janol leise und schob sich unter die unterste Sprosse der Rehling auf das Deck.
"Du kannst doch gar nicht gehen“, rief Nandra leise zurück, die seinen verletzten Knöchel nahe vor ihren Augen gehabt hatte, als sie hochkletterten. Doch da war er bereits verschwunden.
Noch ehe sie selbst auf das Deck klettern konnte, zischte ein roter Blitz knapp an ihr vorbei. Nandra fluchte im Stillen. Sie war nicht bewaffnet und wäre nicht minder lebensmüde, wenn sie sich in den Kampf einmischen würde. Dass sie sich bereits mitten drin befand, bemerkte sie recht schnell. Der Schütze war an die Rehling gelaufen, um sich zu vergewissen, dass er sein Ziel richtig getroffen hatte oder gegebenenfalls nachzusetzen, falls der Schutz danebengegangen war. Noch ehe sein Körper dem Kopf, der sich als erstes über die Rehling gebeugt hatte, nachfolgen konnte, bekam er ein hartes Visier ins Gesicht geschleudert, das an ihm zerbrach und die Splitter tief in dessen Haut und Knochen bohrte. Mit einem Schrei ließ er seine Waffe fallen, die Nandra gerade noch auffangen konnte, bevor sie ins Wasser fiel und zog sich endlich auf das Deck.
Janol hangelte sich mühsehlig und sein verletztes Bein nur schwach belastend an der Wand entlang zu der Treppe, die auf das Oberdeck führte. Er musste sich mehr die Stufen hochziehen, als dass er sich hochschleichen konnte. Und als er endlich oben war, kroch er beinahe auf allen Vieren zum Aussichtsplateau, wo der Admiral noch immer stand und auf die im Kampf vereinte Woge feuerte. Er schnappte sich irgendein herumliegendes Teil, das er nicht einmal näher betrachtete und schleuderte es auf den Admiral. Dieser fuhr augenblicklich herum und feuerte einige Salven in den überdachten Bereich des Decks. Janol hatte sich reflexartig zur Seite geworfen und hinter dem breiten Mittelsteg der Überdachung in Deckung gegangen, noch bevor Okopaido erkennen konnte, wer auf ihn geworfen hatte. Vorsichtig schlich der Admiral näher, die Waffe aber noch immer zum Schuß bereit. Sein Finger zuckte auf dem Aufzug, als Geräusche von den unteren Decks heraufkamen.
Im richtigen Moment sprang Janol aus seiner Deckung und schlug Okopaido die Waffe aus der Hand. Mit der zweiten Bewegung entledigte er ihn seines Spazierstockes. Während die Waffe am niederen Umfassungssockel des Decks hängen blieb, flog der Stock über das Geländer und ins Wasser.
"Und nun werden wir beide uns richtig unterhalten“, zischte Janol böse. Sein verletzter Fuß schmerzte und er verzog das Gesicht. Er wagte es aber nicht, den Blick von Okopaido zu nehmen, um sich seine Verletzung zu betrachten. "Ihr hochtrabender Plan ist damit ins Wasser gefallen“, fuhr er fort. "Trenkjar gehört mir und vielleicht auch Nandra, wenn sie möchte."
"Ich bin noch lange nicht am Ende“, knurrte der Alte, während er sich im Augenwinkel nach einer Lösung umsah. Er bemerkte die Verletzung des Trenkjar, die ihn sozusagen fußlahm machte und deutliche Spuren auf den Planken hinterließ. Er sah seine einzige Chance darin, einem Faustkampf zu entkommen, indem er ihn zu schnellen und weiträumigen Reaktionen zwang. "Ich hole mir, was ich verlange. Ob mit oder ohne deiner Hilfe."
"Ganz Trenkjar wird sie in Stücke reißen, sollten sie es versuchen, noch einmal ihren Fuß auf unseren Boden zu setzen."
"Ich werde mit einer ganzen Armada zurückkehren und euch einfach vernichten. Mit einem Schlag."
"Das sollten sie erst einmal versuchen“, gab Janol unbeeindruckt zurück, obwohl er nicht bezweifelte, dass Okopaido seine Drohung in die Realität umzusetzen wusste.
Der Admiral machte einige Sätze zur Seite. Janol ließ sich nur zu einer Drehung verleiten.
"Vielleicht mache ich bei dir Laichqualle weiter“, zischte Okopaido verächtlich. "Wo ich mit deinem Vater aufgehört habe."
"Mein Vater wurde von Lorgmarr getötet“, wusste Janol. Er war entschlossen, sich nicht beirren zu lassen.
"Ja, richtig“, nickte der Admiral. "Der Trenkjar dachte, ihn damit zu einem größeren Tempo anspornen zu können. Aber letztendlich scheiterte er an den vollen Säcken mit Xrax, die er nicht in der Lage war, rechtzeitig an die Oberfläche zu befördern."
Seit dem Tod seines Vaters hatte es sich Janol zur Gewohnheit gemacht, niemals allein auf Tour zu gehen. Ständig war er von mehreren Leuten begleitet. Sein Vater hatte es geliebt, lange und einsame Spaziergänge zu unternehmen. Von einem solchen war er nicht mehr lebend zurückgekehrt und niemand konnte sich seinen plötzlichen Tod erklären. Man hatte ihn als Treibgut an Trenkojars Uferläufen gefunden. In seiner Lunge befand sich Wasser, als sei er beim Schwimmen ertrunken. Wie das geschehen sein soll, hatte sich ganz Trenkjar lange gefragt.
Janol knurrte erregt und visierte den Mann mit schmalen Augen an. Plötzlich saußte der dicke grellgelbe Blitz einer Faserkanone an ihnen vorbei in den Himmel und krachte über ihnen in die aufgestellte Fangnetzvorrichtung. Der Greifarm knickte ab, sämtliche Stricke wurden durchtrennt und das schwere, noch mit Wasser vollgesogene Netz raste in die Tiefe. Der Admiral flüchtete sich an die Rehling, während Janol unter dem Netz begraben wurde. Als er versuchte hatte, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen, war sein verletzter Knöchel eingeknickt und stolperte bäuchlings auf die Planken. Sofort versuchte er sich freizukämpfen, doch das Netz war zu groß und zu schwer, als dass er sich sogleich wieder davon befreien konnte. Okopaido ergriff augenblicklich die Gelegenheit, holte sich seine Waffe zurück und versuchte sich des Widersachers ein für alle Mal zu entledigen. Gerade noch im letzten Moment warf sich Janol herum. Der Schuß versenkte ihm die rechte Schulter, als er haarscharf an ihm vorbeiraste und zischend im naßen Netz verging.
Fieberhaft arbeitete Janol mit dem Netz, um sich zu befreien, bevor der Admiral sein Ziel neu anvisieren konnte. Es war im mehr als peinlich, dass er zum zweiten Mal in eine solche Lage geriet. Er musste in Zukunft mehr auf die Dinge über seinem Kopf achten, wenn er sich mit vermeindlich leichten Gegnern anlegte - falls er diese Angelegenheit hier überlebte.
Dann krachte es erneut und er hielt inne. Der Schuß hatte ihn verfehlt. Er versuchte sich zu drehen, verhedderte sich dabei aber noch mehr im Netz.
"Spielst du neuerdings Thunfisch?", hörte er eine bekannte Stimme. Es war die von Nandra.
Sie zerrte das Netz von ihm herunter und ließ sich neben ihn nieder. Ihre Augen glitzerten. Ihr Gesicht war kreidebleich. Unweit von ihnen lag der Admiral. In seiner Brust prankte ein großes, blutunterlaufenes Loch. Seine Augen waren vor Überraschung weit aufgerissen. Aus seinem Mund tropfte Blut.
"Geht es dir gut?", fragte er besorgt, als er das Geschehene begriff.
"Mir geht es bestens“, sagte sie mit belegter Stimme. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, seufzte leise und fuhr fort. "Ich stand vor einer großen Entscheidung. Ich hatte die Wahl, mich entweder für mein Herz oder für mein Blut zu entschließen." Sie suchte seinen Blick. "Ich habe zuviel für dich riskiert. Ich kann dich nicht einfach wieder gehen lassen."
"Dein Vater hat ebenfalls viel für dich riskiert“, sagte er und setzte sich endlich auf.
"Hat er nicht“, wusste sie. "Er benutzte mich. Er versuchte, aus mir einen Klon seiner selbst zu machen, um letztendlich doch das zu erreichen, was er sich einbildete." Sie betrachtete ihn voller Liebe. "Als ich die Wahl hatte, zwischen dir und ihm, befragte ich mein Gefühl. Bei meinem Vater empfand ich nichts. Aber bei dir, sprang es in einem Freudentakt." Sie beugte sich vor und küßte ihn zärtlich auf den Mund. "Versprichst du mir etwas?", fragte sie, bevor er sie näher an sich heranholen konnte.
Janol rang mit sich. Einerseits wollte er ihr jeden Wunsch von den Augen lesen, andererseits würde er Probleme damit haben, Versprechen, wie das im Pavillon einhalten zu können. "Ich weiß es nicht“, erwiderte er aufrichtig. "Du musst auch meine Gefühle verstehen. Ich kann dich nicht einfach mit der Ashantin davonziehen lassen. So sehr ich diesen Wunsch auch erfüllen möchte."
"Versprich mir einfach nur, dass du dich niemals wieder freiwillig für etwas waghalsiges zur Verfügung stellst“, sagte sie lächelnd und küßte ihn abermals.
Das Sirren von Düsenaggregaten war plötzlich zu hören und nur wenige Augenblicke später raste ein ganzer Schwarm von Kampffliegern am Himmel vorbei. Einige von ihnen gaben Warnschüsse ab, worauf auch die letzten widerspenstigen Schatzräuber aufgaben, ihre Waffen fortwarfen und sich ergaben. Einer der Kampfflieger warf etwas aus großer Höhe ab, was im ersten Moment wie eine Bombe aussah, doch als es ins Wasser eintrat, hatte auch Nandra erkannt, dass es sich um einen Trusgs handelte.
Wenige Minuten später stand ein Pilot in tropfnaßer Uniform vor ihnen und erstattete dem Gerai Bericht. Als sich die Ashantin mit sämtlichen, aus ganz Jeeran zusammengetrommelten Einheiten im Rücken dem Schiff des Admirals stellte, kapitulierte dieses nach kurzer Zeit. Einer Schlacht war damit vorgebeugt und die Trenkjar hatten sich nicht lange aufhalten lassen, um zu ihrem Heimatplaneten zurückzukehren und dem Gerai zu Hilfe zu eilen. Ohne viel Blutvergießen hatte sich der Kampf für Jeeran entschieden.
"Was machst du mit den ganzen Kristallen?", wollte sie wissen.
"Zurück ins Wasser“, sagte er.
"An deiner Stelle würde ich das nicht tun“, rief sie und hielt ihn davon ab, den Befehl auf das untere Deck zu rufen. "Es ist zuviel für sie riskiert worden. Umsonst soll es nicht sein. Du könntest dir anständige Kampfschiffe dafür kaufen und vielleicht auch die überholten Schlepper austauschen."
"Warum sollte ich das tun?"
"Damit ich beruhigter schlafen kann, wenn du auf Reisen bist." Sie lächelte ihn kokett an. Er nickte, nahm sie in den Arm und stützte sich auf sie, als sie zum unteren Deck hinuntergingen.
Sie verbrachten noch einige schöne und erholsame Tage auf Janol-Ge, in denen sie ihre Wunden pflegten und einfach die Zeit genossen - bis Nandra schließlich zum Aufbruch rief. Nicht nur Janol machte ein langes Gesicht, als sie eröffnete, dass sie gehen wolle. Er schien es erst nicht wahrhaben zu wollen, doch als sie ihre Habseligkeiten zusammenpackte, musste er es registrieren.
"Du kannst nicht gehen“, rief er beinahe verzweifelt. "Nicht nach dem ... ."
"Bitte Janol“, fuhr sie ihm dazwischen. "Du hast es versprochen."
"Aber ich dachte ... ." Er verstummte und blickte sie hilflos an.
"Wir haben eine Abmachung und daran hat sich nichts geändert." Sie stopfte ein Kleidungsstück in einen Sack und betrachtete das Bündel sinierend. "Du hast es versprochen. Bitte brich dein Versprechen nicht. Ich könnte dir sonst niemals wieder vertrauen." Sie sah hoch und traf geradewegs seine traurigen Augen. "Ich gab dir ebenfalls ein Versprechen. Ich komme zurück. Und ich werde es halten. Ich verspreche es."
Janol senkte seinen Blick und atmete tief durch. "Ich weiß nicht, ob ich ein weiteres Mal dazu fähig bin, von dir getrennt zu sein“, sagte er schließlich.
"Ich muss noch eine ganze Menge Dinge erledigen. Außerdem steht immer noch die Angelegenheit mit dem Sektionsverwalter offen. Ich muss das unbedingt hinter mich bringen."
Janol atmete erneut tief durch, nickte schließlich und wand sich um. Noch bevor er das Zimmer verließ, in welchem sie einige wundervolle Tage und Nächte miteinander verbracht hatten, hieb er seine Faust kräftig gegen den Türstock, so dass dieser knirschte und eine tiefe Delle davontrug.
Nandra schloss die Augen und schluckte den dicken Kloß hinunter. Dann warf sie ihren Sack auf den Rücken und marschierte ebenfalls hinaus. Ob sie erwartet hatte, dass Janol auf der Plattform erschien und sich von ihr verabschiedete, vermochte sie selbst nicht zu sagen. Jedenfalls war er nicht da und sie wand sich enttäuscht und traurig von Janol-Ge ab.
Gerüchten schenkte der junge General stets erst Glauben, wenn er sich von deren Richtigkeit überzeugt hatte. Dass sich der neue Sektionsverwalter in den verlassenen Städten des Asservaten-Mondes von K'kabot niederlassen sollte, überraschte ihn keineswegs. Hatte er es Nandra doch selbst vorgeschlagen und wenn ihm die Okopaido-Tochter nicht dazwischen gekommen wäre, hätte er es selbst getan. Für einen Moment dachte er darüber nach, wer wohl der neue Verwalter von Jeeran sein würde und überlegte sich auch die Worte, mit dem er dem Verwalter jeglichen Zugriff auf Trenkjar verbot. Es war ihm in der Zwischenzeit vollkommen gleichgültig geworden, wer den Posten letztendlich übernahm. Dieser Jemand sollte nur seine Finger von Trenkjar lassen.
Die Einladung zur Einweihung der restaurierten und wieder in Betriebnahme genommenen Bauten und die offizielle, feierliche Ernennung des Verwalters überraschte ihn ebenso wenig. Als Oberbefehlshaber einer stark aufgerüsteten und modernisierten Kampfeinheit auf Trenkjar, mit leistungsstarker Senderanlage und weitläufiger Raumüberwachung von mehreren Satelliten aus, stellte er eine ebenso starke Persönlichkeit wie der neue Major von Smiiles dar, der Snijor dem ersten Eindruck nach in nichts nachzustehen schien.
In seine schicke weißgraue Galauniform, in der er sogar bei Lilian Eindruck schinden konnte, traf er auf dem Mond ein und mischte sich unter die bereits zahlreich erschienen Gäste. Eigentlich verspürte er nicht die geringste Lust, sich in einen heiteren Trubel zu werfen, doch er war eine öffentliche Persönlichkeit und musste sich als solches bei derartigen Empfängen sehen lassen. Er hatte sich vorgenommen, sich dezent im Hintergrund zu halten und recht bald wieder zu verschwinden, sobald er dem neuen Verwalter vorgestellt worden war. Er hatte die Trennung von Nandra noch immer nicht verwunden und sich sogar schon einige Male überlegt, sich irgendeine Trusgs-Frau zu suchen, nur damit der Titel seiner Ahnen einen Erben bekam. Doch er konnte sich nicht so recht dazu entscheiden. Dass Nandra bei ihrer heißgeliebten Ashantin bleiben würde, sobald sie wieder deren Duft einatmete und Abenteuerblut in ihren Adern rauschte, war ihm ebenso klar, wie die Tatsache, dass sie sich vielleicht nie wieder sahen.
Er vermißte sie.
Beinahe verschluckte er sich, als er an einem Apperitiv nippte und dabei seinen Blick umher schweifen ließ. Er hatte in der Menge ein bekanntes Gesicht gesehen. Nein, zwei. In der Nähe einer alten, hochgewachsenen und wieder in Form getrimmten Hecke entdeckte er das lachende Gesicht von Lilian und das überhebliche Grinsen von Rajan, die sich über eine amüsante Geschichte zu unterhalten schienen. Entgegen seines ersten Impulses, sofort davonzulaufen, um nicht an Nandra erinnert zu werden, näherte er sich ihnen.
"General Treece“, rief Lilian sogleich, als sie ihn entdeckt hatte und winkte ihn hektisch zu sich. "Wie schön, dass sie hier sind." Sie streckte ihm ihre Fingerspitzen entgegen, die er gefällig in seine Hand nahm und einen Kuß darauf hauchte.
"Die Laichqualle persönlich“, gab Rajan breit grinsend von sich. "Verzeihung, General Treece“, verbesserte er sich selbst und machte eine höfliche, aber äußerst steife Verbeugung. "Dass du dich hierher bemüht hast“, fand er sich sogleich wieder in seinen gewohnten Trott zurück. "Du bist doch sonst nicht so für sinnloses Geplänkel."
"Manches muss man über sich ergehen lassen und nicht nach dem Grund fragen“, gab Janol scheinheilig zurück. "Was zum Rawaschleim suchst du hier? Brauchst du neue Schmeichler, die dir ständig sagen, wie großartig du bist?"
"Darauf kann ich verzichten“, grinste Rajan, sein gewohntes breites Grinsen. "Ich wurde von ... ." Er verstummte, als er von Lilian eine harten Ellbogen in die Seite gestoßen bekam.
"Benehmt euch, Jungs“, schimpfte sie mit einem entschuldigenden Lächeln und blickte beide mit gespielter Strenge an. "Wir wollen doch nicht wieder so einen Zwischenfall wie in Zooyma."
"Ich wollte sagen, dass ich von dem neuen Verwalter persönlich eingeladen wurde, da ich gewisse Beziehungen zu einigen Herren aus Jeeran habe“, maulte er und warf ihr einen verärgerten Blick zu. "Ich bin außerdem mit meiner Verlobten hier“, fügte er schnell hinzu und deutete über Treece Schulter.
Dieser wand sich um und entdeckte eine Frau mit dunkelbraunen Locken und einem Kleid, das ihm sehr bekannt vorkam. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und war in ein inniges Gespräch mit einigen andere hohen Herren aus dem Jeeran-System vertieft. Als sie sich umdrehte, fiel ihm fast das Glas aus der Hand. Es war Nandra.
Den ersten Impuls, einfach alles liegen und stehen zu lassen und beleidigt und gekränkt davonzulaufen, kämpfte er tapfer nieder. Er musste da durch. Auch wenn sie sich anders entschieden hatte und sein Herz dagegen rebellierte, er musste es akzeptieren.
"Darf ich dir meine Verlobte vorstellen?", sagte Rajan. Seine Stimme war weit von ihm fortgerückt. So weit, dass er es fast nicht mehr verstand. Und dennoch bohrte sie sich so tief in sein Fleisch, dass er sein Gesicht vor Schmerz verzog. "Kiomey, kommst du?", rief Rajan.
Janol erwachte aus seinem Tagtraum. Neben Nandra hatte eine weitere junge Frau gestanden, deren Anwesenheit ihm gänzlich entgangen war. Eine Frau, mit strohblondem, hüftlangem Haar und kalten, blauen Augen, gehüllt in glänzender, cremefarbener Seide und einem glitzernden Edelsteinkollier auf ihrer Stirn. Ihr Lächeln war schüchtern und sie zögerte, dem General ihre Fingerspitzen zu geben. Diese Geste schien ihr gänzlich fremd zu sein. Treece besaß auch keinerlei Gedanken dafür.
Nandra lächelte hocherfreut, als sie den Trenkjar erblickte. Dann drehte und wendete sie sich, als wolle sie ein neues Kleid präsentieren. Tatsächlich hatte sie Lilian darum gebeten, ihr ein Kleid schneidern zu lassen, das jenem gleichsah, welches sie auf dem Ball des Vizekönigs getragen hatte.
"Wie in deinem Traum“, sagte sie über das ganze Gesicht strahlend und schritt bedächtig näher. "Ich sagte doch, dass ich zurückkommen werde“, fuhr sie fort, als die Überraschung nicht aus seinem Gesicht weichen wollte.
Janol schluckte trocken. Ihr Lächeln war hinreißender denn je. Mehr als liegendgern hätte er es mit einem herzhaften Kuß verschwinden lassen.
"Sie ist die neue Sektionsverwalterin“, flüsterte ihm Lilian ins Ohr. "Und sie konnte es durchringen, dass die Ashantin als operative Verstärkung im Jeeran verbleibt und der Sektionsverwaltung unterstellt wird. Damit hat sie zwei, nein drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen."
Janol fuhr herum und starrte sie kurz an. Dann drückte er ihr sein Glas in die Hand, schnappte sich Nandra und zog sie ruckartig an sich, um ihr einen langersehnten Kuß zu rauben.
Texte: (c) Ashan Delon 2013 (Geschichte stammt aus dem Jahr 1997)
Bildmaterialien: rollingroscoe, jdurham, kconnors/www.morguefile.com
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2013
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