Cover

1.

 

Ein Gesicht aus Gold, dick und pausbäckig, spiegelnde Glatze, dünne Schlitzaugen, breites Grinsen.

Es verfolgte ihn beinahe in jedem Traum und überall hin. Niemand wollte ihm glauben. Alle lachten sie ihn aus. Ein Gesicht aus Gold gab es nicht.

Chrischka, ein junger Mann aus dem Stamm der Morkanen, sprach längst nicht mehr über seine Visionen, die für ihn zugleich Qual und verheißungsvolle Erfüllung von irgendetwas bedeuteten. Er fühlte, dass es etwas Besonderes war, doch da auch er niemals ein Gesicht aus Gold gesehen hatte, glaubte er mehr und mehr den amüsierten Reden seiner Stammesgenossen, seiner Freunde und denen, die die Gerüchte gehört hatten. Nur ab und zu sprach er mit seinem jüngeren Bruder Janosch über diese Visionen, wenn sie ihn am helllichten Tag plagten, oder wenn er schweißgebadet erwachte.

 

Und wieder packte es ihn, als er eines Tages Wache halten musste. Hoch über dem Zeltdorf, auf einem Felsen, von dem aus er das ganze Tal überblicken konnte, sank er in einen Tagtraum. Dieses goldene Gesicht grinste ihn beinahe beleidigend frech an. Er fühlte sich beschämt, gekränkt und verwirrt zugleich. Diese leeren goldenen Augen blickten ihn ausdruckslos an und doch durchbohrte ihn der Blick, als stünde es leibhaftig vor ihm. Dieser Blick schmerzte, je länger er auf ihm haftete. Dieses breite Grinsen demütigte ihn immer mehr, je länger dieser Tagtraum andauerte. Chrischka versuchte aufzuwachen, doch es gelang ihm nicht. Er fühlte das Brennen auf seinem Körper. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich seine Haut ablöste, verbrannt, schwarz und nutzlos. Er fühlte die Demütigungen, die von diesen pupillenlosen Schlitzaugen ausgingen und ihn maßlos erniedrigten.

Als der Schmerz und die Erniedrigung am Größten waren, gelang es ihm endlich, sich in einem Anflug von Panik von seinem Traum zu lösen. Ein eiskalter Nordwind pfiff über den hohen Felsen hinweg. Es roch nach Schnee. Chrischka sah sich verlegen um und zog seinen Wollmantel unter dem großen Wildbüffelfell enger um sich. Er gehörte wahrlich nicht zu den ängstlichen Muttersöhnchen, doch dieser Traum, dieses Gesicht jagte ihm von Mal zu Mal mehr Angst ein. Es konnte Besitz von ihm nehmen und ihn in einem Zustand der grenzenlosen Hilflosigkeit zurücklassen. Tief versunken in Scham und Machtlosigkeit, sodass es ihm nur schwerlich gelang, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Und es wurde von Mal zu Mal schwieriger. Irgendwann würde es derart von ihm Besitz ergreifen, dass er sich bald zu dem verrückten Batiska setzen konnte, der wirres Zeug von Wesen aus einer anderen Welt erzählte.

Chrischka fröstelte. Er redete sich ein, dass ihn die Kälte schaudern ließ. Früher, als er noch ein Junge war, vor zehn oder fünfzehn Jahren hatte er zu der Gruppe neugieriger Kinder gehört, die dem verrückten Alten mit offenem Mund und vor Staunen weit aufgerissenen Augen lauschten. Heute wusste er, dass die oft schaurigen Geschichten nur Hirngespinste aus dem verwirrten Geiste eines Verrückten waren. Batiskas Geschichten, die allesamt so wahrheitsgemäß erzählt sein könnten, hatten sich tief in sein Gemüt gefressen und heute noch schauderte er, als er daran denken musste.

Eine eiskalte Böe blies ihn beinahe von seinem Sockel herunter. Er zog die Mütze tiefer ins Gesicht, ließ seinen Blick über die Ebene schweifen und sank wieder in sich zusammen. Die dicke, mit Moos, Stroh und Lederhäuten versteifte Decke schirmte die Kälte nur spärlich ab. Es würde noch Stunden dauern, bis jemand mit Suppe oder heißem Tee kam und noch ein paar Stunden mehr, bis Ablösung auftauchte.

In den Zeiten der Steppenstreitigkeiten war Vorsicht geboten. Die Morkanen waren Nomaden und befanden sich daher zwischen den Fronten. Die jungen Männer, unter ihnen auch Chrischka und sein Bruder Janosch mussten oft genug ihre Fähigkeiten und ihre Kraft darin beweisen, ihr Hab und Gut und vor allem ihr Leben und das ihrer Familien vor plündernden Horden von Kleken, einem Völkerstamm nördlich der großen Sommersteppe, oder dem rivalisierenden Stamm der Mageerings, die mit ihren Wildbüffel-Herden den südlichen Teil besiedelten, beschützen. Seit der Streit um die Gebietsansprüche losgebrochen war, brachen auch für die Morkanen bittere Zeiten an.

Um aus dem unfruchtbaren und kalten Nordteil der Steppe in besser besiedelbares Gebiet umziehen zu können, beanspruchten die Kleken die Sommersteppe für sich. Ihr Anspruch stand im Widerstreit mit den Mageerings, die das saftige Gras der Steppe allein für ihre Herden fordern. So befanden sie sich zwangsläufig im Streit um jeden Quadratzentimeter und duldeten selbst die Anwesenheit eines ebenso jahrhundertealten Stammes wie den der Morkanen nicht auf dem Gebiet, das ein jeder für sich selbst verlangte.

Die Nomaden besaßen aufgrund einer langen Tradition ein Recht darauf, sich frei auf der Sommersteppe bewegen zu dürfen. Doch in dem unsinnigen Krieg um jeden Grashalm wollte sich keiner mehr daran erinnern. Die Morkanen und die anderen Nomadenstämme unterließen es tunlichst, um ihr Recht zu kämpfen.

Eine Legende besagte, wenn die Nomaden begannen, sich zu bekriegen, würde der Winter über die Sommersteppe hereinbrechen.

Chrischka ließ seinen Blick erneut über die Ebene schweifen. Auf der anderen Seite des Zeltdorfes, auf einem weiteren Felsblock, die überall auf der Sommersteppe, wie gigantische Kamine hoch in den Himmel ragten, saß ebenfalls ein Wachposten. Laraschka, der Mann seiner Schwester, wusste er und erwiderte das Zeichen. Seine Hand suchte einen Weg aus dem dicken Mantel und der störrischen, dicken Decke und winkte ihm zu. Gleich darauf versteckte er sich wieder unter seinem Mantel, zog den Hals tiefer unter den steifen Kragen der Decke und ließ den Blick ein weiteres Mal über die Ebene streifen.

Der Fels schien aus purem Eis zu sein. Das Atmen fiel ihm schwer. Die Luft war eiskalt und schwer wie Blei. Er musste seine Nase tief in den steifen Kragen stecken, wenn er nicht wollte, dass sie ihm zufror. Es war undankbar, ihn in dieser bitteren Kälte auf Wachposten zu schicken. Doch wenn er nicht wollte, dass er als vermeintlicher Feigling und Schwächling verhöhnt und ausgelacht wurde, musste er tun, was ihm auftragen war. Er würde Tage brauchen, bis er seine Gliedmaßen wieder aufgetaut hatte. Und wenn er Pech hatte, wie Klirosch, ein entfernter Verwandter von ihm, der vor fünf Tagen auf Wache geschickt worden war, würde er sogar erfrieren.

Die Kälte fuhr in seine Glieder und ließ sein Augenlicht trügerisch flimmern. Der Wind pfiff ihm eiskalte Luft ins Gesicht und peinigte ihn mit klirrend kalten Stacheln.

Und da war es wieder, dieses grinsende goldene Gesicht. Es schmerzte, schlimmer als die Kälte. Es peinigte ihn, ärger als der Wind. Und es ließ ihn verzweifelter werden, noch hoffnungsloser als ein unendlicher Winter. Chrischka versuchte krampfhaft, sich von diesem schrecklichen Tagtraum zu trennen. Doch mit jedem Versuch zu erwachen, wurden die Schmerzen schlimmer, die Demütigungen unerträglicher und seine Hilflosigkeit tiefer. Er öffnete den Mund, um seine Angst aus sich herauszubrüllen, doch dieses Gesicht grinste ihn mit kalten, schmalen Schlitzaugen an und verschluckte jede seiner Laute, ohne die dicken, wulstigen, schmierig grinsenden Lippen zu öffnen.

Die Decke wurde von seinem Leib gerissen. Jemand zerrte ihn herum und schlug ihm ins Gesicht. Chrischka brauchte einige Sekunden lang, bis er wieder in die Wirklichkeit zurückfand. Als er endlich seine Augen zu öffnen vermochte, entdeckte er das Gesicht seines Bruders vor sich.

"Ich dachte mir, dass du wieder träumst“, sagte Janosch besorgt und legte sich die Decke über die Schultern. "Du hattest einen so gequälten Ausdruck im Gesicht, dass ich in großer Sorge um dich war. Meinst du nicht auch, du solltest mal mit der alten Raiska sprechen?"

Die alte Raiska, eine lebende Kräuterküche, die Wunderheilerin der Morkanen.

"Was machst du hier?“, fragte Chrischka, in erster Linie, um von sich selbst abzulenken. Er zog seinen dick gepolsterten Mantel enger um sich. Seit sein Bruder die Decke um seine eigenen Schultern gelegt hatte, traf ihn der beißende Wind mit all seiner eiskalten Härte.

"Ich bin dran mit Wache“, antwortete Janosch und ließ seinen Blick über die langsam in Abenddämmerung eintauchende Ebene gleiten.

"Ist es schon so spät?“, fragte Chrischka verwirrt. Er zog die Mütze tiefer und suchte die Sonne, um sich über den fortgeschrittenen Tag zu informieren. Er musste Stunden geschlafen haben. Stunden, die er in diesem schrecklichen Traum verbracht hatte.

"Bitte, tu mir den Gefallen und geh zur alten Raiska“, bat Janosch inständig und kuschelte sich tiefer in die Decke. "Wenn du träumst, kann sich jeder an dich heranschleichen, ohne dass du es merkst. Und was ist, wenn sie uns überfallen? Du musst zu ihr gehen. Deine Träume müssen endlich aufhören."

"Ich würde nichts lieber tun als das“, gab Chrischka zurück. "Doch Raiska kann mich mit ihren Kräutertees nicht von meinen Träumen befreien."

"Vielleicht doch. Du hast sie nur nie gefragt."

Chrischka schüttelte den Kopf. Er wusste, dass sie ihm nicht helfen konnte. Aber wer sonst, außer ihr könnte ihm noch helfen? Schließlich nickte er.

"Geh zu ihr“, meinte der Bruder. "Vielleicht weiß sie doch ein Mittel gegen deine bösen Träume. Sie konnte Magda, die Tochter von Perosch auch von ihren bösen Träumen befreien."

"Magdas böse Träume waren nichts weiter als unerfüllte Jungmädchenwünsche“, gab Chrischka schmunzelnd zurück. "Sie haben mit meinen Träumen nicht das Geringste zu tun."

"Sie behauptete ebenfalls, ein dunkler Mann, mit schwarzem Gesicht würde sie jede Nacht in ihren Träumen besuchen kommen und sie mit seiner Anwesenheit quälen."

"Mich quält kein dunkler Mann mit schwarzem Gesicht."

"Aber dafür ein heller Mann mit goldenem Gesicht."

"Außerdem war Magda wütend darüber, dass sie nicht die Frau von Laraschka werden konnte“, versuchte Chrischka Ausflüchte zu finden. "Sie ist unserer Schwester Beraiska noch heute böse deswegen."

"Mit Garosch machte sie eine ebenso gute Partie“, gab Janosch nachdenklich zurück.

"Das Heilmittel für Magdas böse Träume hieß zufällig Garosch“, meinte Chrischka ironisch.

"Vielleicht brauchst du auch ein solches Heilmittel“, rief Janosch und stieß seinen Bruder in die Seite.

"Garosch?"

"Nein. Ich meine eine Frau. Vielleicht fehlt dir nur etwas Zerstreuung."

"Ich glaube nicht“, erwiderte Chrischka und ertappte sich dabei, wie er begann, darüber nachzudenken. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ihm fehlte keine Frau. Obwohl er 17 und längst in dem Alter war, in dem er allmählich an die Gründung einer eigenen Familie denken sollte, war es sicherlich nicht das Fehlen der gewissen Zerstreuung, das ihn nachts schweißgebadet hochschrecken ließ oder ihn um einige Stunden seines Tages beraubte.

"Geh zu Raiska“, bat Janosch erneut. "Einen Trank, damit du nachts wieder ungestört schlafen kannst, wird sie dir bestimmt mischen können."

Chrischka nickte und erhob sich. Der eiskalte Wind erfasste ihn in seiner vollen Heftigkeit. Er fröstelte und beeilte sich, den Felsen hinabzusteigen, bevor er festfrieren konnte. Er ging schneller, als es der unwegsame Pfad erlaubte, und rutschte einige Male aus. Er schürfte sich die Hände auf, doch es störte ihn nicht weiter. Plötzlich war er von einem unwiderstehlichen Drang befallen, die alte Raiska um Hilfe anzuflehen, sodass er immer schneller ging und schließlich rannte.

Als er im Zeltdorf ankam, vollkommen außer Atem und schweißnass, besann er sich und er blieb stehen. Die Alte konnte ihm nicht helfen. Keine Mixtur konnte ihn von seinen Träumen befreien. Kein Trank konnte das grässliche Grinsen fort spülen. Keine Wirkung wird die Schmerzen und Demütigungen betäuben können. Und dennoch setzte er sich wieder in Bewegung und marschierte auf das Zelt mit dem roten Zeichen für die Kräuterheiler zu. Er klopfte sich den festgefrorenen Staub aus Stiefel und Kleidung, schlug das Leder zurück, das das Eingangsloch bedeckte, und trat ein. Wohlige Wärme umfing ihn, wie die Arme einer Geliebten. Regenerierende und wohltuende Dämpfe spielten mit seiner Nase, wie eine seichte Prise mit dem Steppengras. Chrischka sog seine Lungen voll und augenblicklich kehrte die Wärme in ihn zurück. Die Dämpfe befreiten seinen geknebelten Geist und die Wärme seine verkrampften und durch gefrorenen Glieder. Die anheimelnde Atmosphäre in Innenraum dieses Zeltes nahm augenblicklich von ihm Besitz und er empfand seinen Entschluss nun nicht mehr so falsch.

Eine kleinwüchsige Gestalt formierte sich aus einer dunklen Ecke des Zeltes und wankte langsam in das Halbdunkel in der Nähe einer Tranleuchte. Leises Klingeln begleitete ihre Schritte. Ihr weiß leuchtendes Haar stand wirr vom Kopf ab, beinahe wie eine Strohperücke.

"Willkommen“, sagte eine hohe, alte Stimme. "Du bist Chrischka, nicht wahr? Setz dich." Sie deutete vor seine Füße auf den Boden.

"Sei bedankt“, nickte er und setzte sich auf einen mit weißem Wildbüffelfell überzogenen Holzblock. Ein Winterfell, bei Kräuterheilern sehr beliebt, dachte Chrischka, zog Handschuhe und Mütze aus und öffnete seinen Mantel. Die Hitze im Inneren des Zeltes hatte ihn ergriffen, wie die Kälte außerhalb davor. Das Hemd klebte auf seiner Haut. Seine Haare klebten ihm schweißgetränkt am Kopf. Er schüttelte den Kopf um die Strähnen aufzulockern und fuhr mit den Fingern durchs Haar, um die Flüssigkeit herauszustreichen.

Die alte Raiska überreichte ihm einen Becher mit einem dampfenden Inhalt, den er nur allzu gerne annahm. Die langen Stunden draußen in der Kälte waren auch durch einen Besuch bei Raiska nicht gänzlich zu vertreiben.

"Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis du zu mir kommst“, sagte die Alte und nahm ihm gegenüber Platz. Ihre glasigen grauen Augen glänzten flackernd im Licht der Tranleuchte. Dicht gesprenkelt bedeckten die dunklen Flecken des Alters ihr Gesicht. Ihre Finger drahtig und dünn und verfärbt von den vielen Kräutern. Ihr Gesicht eingefallen und fahl, aber dennoch strahlte es eine gewisse Stärke und Entschlossenheit aus, die Chrischka beinahe erschreckte. Er kannte die Alte seit seiner Kindheit. Sie hatte ihn schon von so manchen Krankheiten befreit. Doch immer wieder staunte er über ihre Stärke, die einen so einnehmen konnte wie ein Rauschmittel.

Sie zog einen alten Kater auf ihren Schoß und vergrub ihre verfärbten Finger in sein struppiges Fell.

"Du wirst geplagt von bösen Träumen“, sagte sie und betrachtete ihn eingehend, als wolle sie bald mit einer Diagnose aufwarten können.

"Du weißt davon?“, fragte er und nippte an der heißen Suppe, an der er sich beinahe die Lippen verbrannt hatte. Er stellte den Becher auf den niederen Tisch und zog den Mantel aus.

"Ja, natürlich“, antwortete sie. "Wer hat nicht von dem goldenen Gesicht gehört?" Sie lächelte und entblößte einige Zahnstümpfe. "Ich will dir einen Rat geben, mein Junge. Es ist dir bereits von Weitem anzusehen, dass dich diese Träume peinigen wie eine lästige Filzlaus, die einfach nicht zu finden ist. Du bist dünn geworden und deine Augen strahlen nicht mehr so freudig, wie früher. Ja. Ich beobachte dich bereits seit einiger Zeit. Seit dieses Gerede mit deinen Träumen begonnen hat. Und ich weiß, dass es kein Hirngespinst ist, wie die schaurigen Geschichten von Batiska. Kannst du dich noch an Magda erinnern, dieses enttäuschte junge Ding, das jedem erzählte, sie könne nicht einschlafen, weil sie in ihren Träumen von einem unheimlichen dunklen Mann bedroht wird?" Sie lachte hechelnd. Die Katze auf ihrem Schoß drehte den Kopf und wackelte mit den Ohren.

Chrischka schmunzelte und versteckte es hinter dem Becher.

"Die Leute denken, du hättest dasselbe Problem“, kicherte sie und zupfte der Katze am Schwanz. "Um dieses Gerede zu beenden, würde ich dir raten, dir irgendeine Frau zu nehmen."

"Ich will keine Frau“, rief Chrischka energisch. "Noch nicht“, fügte er leiser hinzu. "Nicht solange ..."

"Ich weiß“, unterbrach ihn Raiska. "Und ich weiß, dass dies nicht die Lösung deines Problems ist. Hast du versucht, der Ursache auf den Grund zu gehen? Woher kommen deine Träume? Was ist das für ein Gesicht?"

"Ich weiß es nicht“, antwortete Chrischka.

"Bevor wir ein Heilmittel finden können, müssen wir wissen, wo die Ursache liegt. Das heißt, wir müssen erst diese Filzlaus finden, bevor wir sie zerquetschen können." Wieder zeigte sie ihre Zahnstümpfe.

Chrischka musste bei dieser Bemerkung schmunzeln. Als lästige Filzlaus hatte er seine bösen Träume noch nie bezeichnet. Er musste aber zugeben, dass es in etwa zutraf.

"Wusstest du, dass Batiska früher ein magischer Heiler war?“, fragte Raiska unvermittelt.

Chrischka schüttelte den Kopf.

"Er ist in Wahrheit gar nicht verrückt geworden“, sagte sie und kraulte der Katze hinter den Ohren, dass diese leise zu schnurren begann. "Er will nur nicht auf seine Vergangenheit angesprochen werden. Deswegen erzählt er all diese Schauermärchen. Die ganz Alten wissen das noch. Er gab mir etwas für dich." Scheinbar aus dem Bauch der Katze zog sie eine kleine steinerne Tafel mit merkwürdigen Zeichen in verschiedenen Farben aufgemalt.

"Er sagte, dieses Ding hier sehnt sich nach der Wärme deines Körpers. Damit meint er, du sollst es auf der blanken Haut tragen." Sie griff erneut in den Bauch der Katze und brachte eine grüne Schnur hervor. "Damit kannst du es um den Hals hängen. Es ist ein geharztes Band aus Binsengras. Das Stockharz der Wildbüffelfliege vermischt sich mit dem Saft des Grases und dringt in deine Haut ein. Du wirst sehen, es wird dir bald besser gehen." Sie überreichte ihm das steinerne Amulett und das grüne Band. "Nimm es“, forderte sie, als er zögerte. "Oder willst du weiterhin Nacht für Nacht wachliegen?"

Chrischka schüttelte den Kopf und nahm es endlich an. Er fädelte das Grasband durch das kleine Loch an dem steinernen Plättchen, öffnete sein Hemd und hängte es sich um den Hals. Es fühlte sich erst kalt und unangenehm schwer an, doch bald spürte er es kaum noch. Und seltsamerweise ging es ihm besser, als es seine Körperwärme angenommen hatte. Als wäre eine schwere Last von seiner Brust genommen worden.

"Aber nichtsdestotrotz darfst du nicht vergessen, dich auf die Suche nach dieser Filzlaus zu machen“, warnte Raiska. "Dieses Steinding und mein Binsenband können nur mildernd einwirken, aber dich auf keinen Fall ganz davon befreien. Ich denke zwar, dass viele seiner Geschichten erfunden und erlogen sind, aber als er mir dieses Ding gab, war sein Gesicht ernst und so entschlossen, wie seit Langem nicht. Er sagte mir, du sollst dich vorsehen. Er erzählte mir von einem magischen Heiler, der sich stattliche junge Männer untertan machen wollte, in dem er sie bis auf den Tod quälte und sie verzauberte. Er meinte, dass vielleicht wieder ein solcher Scharlatan sein Unwesen treibe. Du musst der Sache auf den Grund gehen. Lass dich auf keinen Fall von der Wirkung dieser Mittel beeinflussen. Sie sind nur vorübergehend."

Chrischka nahm den Becher nickend in die Hand und legte ihn sich an die Lippen.

"Man sagt, Batiska wäre dein Mann gewesen“, sagte er, bevor er trank.

"So? Sagt man das?“, erwiderte sie und zog ihre Stirn in Falten. Sie wusste selbst genau, was gesprochen wurde. "Aber ich will das nicht leugnen. Er war mein Mann gewesen, und zwar genau einen Tag lang. Dann entschloss er sich, künftig im Dreck zu sitzen und unschuldige Kinder mit schaurigen Geschichten von berstenden Leibern, blutenden Augen und unheimlichen Wesen aus anderen Welten zu erschrecken." Sie knurrte ärgerlich, kniff die Katze in den buschigen Schwanz, dass sie aufschrie und vom Schoß der Alten sprang. "Aber lassen wir das. Es sind alte Geschichten und längst vom Steppenwind davongetragen worden. Du bist jetzt wichtiger. Ich sehe es mit Kummer, wie ein junger, stattlicher Mann, wie du, jämmerlich zugrunde geht. Während der Jagd zu fallen, oder bei einem Kampf, wie dieser vermaledeite Steppenstreit ist eine andere Sache. Doch einfach so dahinzusiechen und nicht zu wissen, was eigentlich mit einem passiert, das ist bittere Medizin. Zu bitter, selbst für mich."

"Sei bedankt“, sagte Chrischka und setzte den Becher wieder ab.

"Danke mir erst, wenn du wieder der freche Heißsporn bist, als den ich dich kenne“, sagte sie, ihre Zahnstümpfe entblößend. "Altes Kraut sollte sich nicht um junges Gemüse kümmern, heißt es, aber dafür bin ich schließlich eure alte Raiska. Und solange ich helfen und schlimmere Not verhindern kann, ist mir das Dank genug. Geh in dein Familienzelt, ruh dich gründlich aus und lege das Binsenband niemals ab. Erst wenn es von selbst zerfällt."

Chrischka nickte, schlüpfte wieder in seinen Mantel und seine Handschuhe, verabschiedete sich noch mit einem kurzen Nicken und verließ das Zelt der Kräuterheilerin.

 

 

2.


Er fühlte sich tatsächlich wesentlich erleichtert.

Der unangenehme Druck, den er erst bemerkt hatte, als er verschwand, lastete nicht mehr auf ihm. Die ständige Angst vor den Träumen hatte sich ebenfalls aufgelöst. Er konnte sogar wieder an das goldene Gesicht denken, ohne einen schmerzhaften Stich in sein Herz zu spüren. Er zog die Mütze tief ins Gesicht, als ihm der Wind eiskalte Luft entgegen peitschte und marschierte an zahlreichen Zelten vorbei, bis hin zu dem Zelt, das seinem Vater gehörte.

Wohlige Wärme schlug ihm entgegen. Die Köpfe seiner unverheirateten Brüder und Schwestern drehten sich nach ihm um, verloren aber bald das Interesse, als sie erkannten, wer eingetreten war. Die Kälte zwang jeden, zurückgezogen im Zelt zu leben, auf engstem Raum und nur bei Windstille und wolkenfreiem Himmel, wenn die Sonne ihre spärlich wärmenden Strahlen auf die Steppe schickte, hinauszutreten und frische Luft zu atmen.

Chrischka zog Handschuhe, Mütze und Mantel aus und ließ sich in sein Lager sinken. Neben ihm schnarchte leise eine Schwester, ihm gegenüber spielten zwei kleinere Brüder mit Steinen. Seine Mutter hatte sich erhoben und brachte ihm einen Becher mit heißer Suppe. Obwohl er bei Raiska bereits etwas Warmes zu sich genommen hatte, nahm er es an. Er hätte sie gekränkt, wenn er es abgelehnt hätte. Sie setzte sich neben ihn und strich ihm die schweißnassen Strähnen aus dem Gesicht, während er vorsichtig einige Schlucke über seine Lippen träufelte. Ein besorgtes Gesicht betrachtete ihn, als er den Kopf hob und sie anblickte.

"Ich war bei der alten Raiska“, sagte er.

"Was sagte sie?“, wollte seine Mutter wissen. "Kann sie dir helfen?" Sie wusste ebenfalls von den bösen Träumen ihres Sohnes. Sie musste besser wissen als jeder andere in der Sippe, dass es keine Hirngespinste waren. Nacht für Nacht musste sie beobachten, wie ihr Sohn schweißgebadet und voller Unruhe aus dem Schlaf schreckte, und wie ihn diese Träume immer mehr mitnahmen.

Chrischka öffnete sein Hemd und präsentierte das steinerne Amulett.

"Es ist von Batiska“, sagte er. "Wusstest du, dass er früher ein magischer Heiler war?"

"Man erzählt es sich“, erwiderte sie nickend und betrachtete das Amulett. "Sagte sie, woher diese Träume kommen?"

"Das muss ich selbst herausfinden“, entgegnete er und gab den leeren Becher zurück. Er zog sein Hemd über den Kopf und begann, die Stiefel aufzuschnüren. "Dies soll bis dahin für Linderung sorgen."

"Das will ich hoffen“, sagte sie etwas beruhigter und half ihm die Stiefel auszuziehen. "Was ist das für ein Ding, das dir Batiska gab?“, wollte sie wissen, während sie den vor Kälte noch immer starren Mantel nahm, ausschüttelte und sorgsam über einen Holzbock legte.

"Ich weiß es nicht“, antwortete Chrischka und betrachtete es. Er drehte und wendete es in seinen Fingern und versuchte die eigentümlichen Schriftzeichen und Zeichnungen zu deuten. Ihm war die alte Schrift beigebracht worden, doch diese Zeichen vermochte er nicht zu lesen. Sie schienen noch älteren Ursprungs zu sein. "Aber es wirkt bereits." Er hob den Kopf und betrachtete seine Mutter.

Sie lächelte für ihn, strich ihm ein weiteres Mal über das Gesicht, um einige Schweißperlen daran zu hindern in seine Augen zu laufen und erhob sich schließlich.

"Leg dich schlafen“, sagte sie fürsorglich und überwachte mit mütterlichen Argusaugen, dass ihr Sohn sich ganz auszog, Schweiß und Schmutz vom Körper wusch und sich schließlich in sein Nachtlager legte. Sie zog die Felldecke über seine Schultern, strich ein letztes Mal über seine Stirn und ging dann zu ihrem Mann zurück.

Chrischka lag auf dem Rücken und starrte an die Zeltdecke. Er hörte den Wind heulen und musste an Raiskas Worte denken. Ein magischer Heiler, der junge Männer quälte und sie verzauberte. Vielleicht war er von einem solchen Heiler befallen. Batiskas Amulett sollte diesen Einfluss verhindern. Er schloss die Augen und war erleichtert, als nicht, wie erwartet, das goldene Gesicht erschien und ihn erneut demütigte. Erleichtert und neuen Lebensmut gefunden, lauschte er dem leisen Schnarchen seiner Schwester, dem Säuseln des Windes und den gedämpften Unterhaltungen seiner Geschwister, bis ihn schließlich der Schlaf übermannte.


In dieser Nacht war er verschont geblieben von diesem grässlichen Grinsen, das ihn so sehr quälte, dass er nicht mehr wusste, was er tun sollte. Er schalt sich, nicht eher zu Raiska gegangen zu sein, nicht eher den Drängen seiner Mutter und seines Bruders nachgegeben zu haben, oder von sich aus diesen Schritt zu wagen. Es war ihm irgendwie unmöglich gewesen. Als er daran dachte, zu ihr zu gehen, blockierte ein dicker Kloß seinen Hals und er vermochte nicht einmal mehr zu atmen. Dieses goldene Gesicht grinste ihn dermaßen hämisch an, dass er sich ausgelacht, verhöhnt und erniedrigt vorkam. Wie ein dummer Junge, dem nichts zu gelingen schien.

Doch er hatte es geschafft und war zu ihr gegangen. Und nun war er froh darüber. Sie hatte ihn befreit von diesem Gesicht. Sie hatte ihn befreit von den Demütigungen dieses Grinsens. Und sie hatte ihn befreit von der Machtlosigkeit, die ihn nach jedem Traum befiel. Er konnte frei durchatmen und wurde bald wieder der draufgängerische Heißsporn, den Raiska in ihm vermisst hatte.

Batiskas Amulett und Raiskas Binsenband legte er niemals ab. Auch nicht, wenn er sich wusch oder mit den anderen Jungen in Flussläufen herumtollte. Mit der Zeit vergaß er das goldene Gesicht und die damit verbundenen Qualen und vergaß sogar, nach dem Ursprung zu suchen, wie ihm die alte Kräuterheilerin geraten hatte. Das Amulett wurde für ihn zu einem Schmuckstück, das zu ihm gehörte, wie seine schwarzen Haare oder die Narbe unterhalb des Knies, die er sich bei einem Sturz während der Jagd auf Kaninchen zugezogen hatte, als er noch sehr klein war. Er vergaß seine Ängste und die schlaflosen Nächte, in denen er sich absichtlich wach gehalten hatte, um nicht einzuschlafen und zu träumen. Dann und wann war das goldene Gesicht noch aufgetaucht, doch es konnte ihm lange nicht mehr so weh tun. Und schließlich verschwand es und er träumte von Dingen, die junge Männer in seinem Alter eben träumten.


Wenn sich der Wind gelegt hatte und die Wolken eine Lücke für die Sonne bildeten, saß der Älteste vor seinem Zelt und genoss die wärmenden Strahlen des Feuerballes. Im letzten Sommer war der älteste Mann der Sippe krank geworden, doch als die kalten Winde wieder über die Sommersteppe pfiffen, erholte er sich wieder und saß, zufrieden seine Pfeife schmauchend vor dem Eingang seines Zeltes und betrachtete das Treiben der Anderen. Nicht selten gesellten sich Kinder, Frauen und Männer zu ihm und er musste aus seinem langen Leben erzählen. Seine Geschichten waren anders, als die von Batiska, weniger grauenvoll und wahr. Er erzählte Anekdoten aus seinem Leben und für die meisten war er ein Lehrer. Wie auch für Chrischka.

Wann immer sich der Älteste vor sein Zelt setzte, ließ Chrischka seine Arbeit liegen, vergaß das Umhertollen mit seinen Freunden oder die neckischen Spiele mit den Mädchen und setzte sich zu ihm. Es dürstete ihn nach den Erfahrungen des Alten und er lauschte ihm aufmerksam, wie lange er auch immer reden mochte.

"Wisst ihr, woher die Sommersteppe ihren Namen hat?“, fragte Samoska, der Älteste.

Einige der Zuhörer nickten. Andere schüttelten den Kopf. Chrischka nickte ebenfalls. Er kannte die Geschichte. Samoska erzählte sie trotzdem, auch wenn die Mehrzahl wissend nickte.

"Unter dieser weiten Ebene befindet sich ein gewaltiger heißer Stein“, begann er." Seine Wärme zieht er aus der Sonne, die die Sommersteppe mit ihren Strahlen erwärmt. Selbst im Winter, wenn der eiskalte Nordwind über die Steppe zieht, ist der Boden nicht gefroren. Die hohen Felsen, die über die ganze Steppe verteilt sind, bilden die Kamine, damit der Stein nicht birst. Und sollte eines Tages ein Nomade einen ehernen Meißel benötigen, um die Pflöcke seines Zeltes in den Boden zu rammen, bedeutet dies, der Stein hat seine Wärme verloren und der Winter zieht über die Steppe herein."

"Das passiert aber nur, wenn wir Nomaden uns in den Steppenstreit einmischen“, sagte ein besonders kluger Zuhörer.

"Richtig“, nickte Samoska bestätigend. "Dieser Streit geht uns nichts an. Wir sind Wanderer der Steppe und brauchen keine feste Gebiete. Sollen sich die sesshaften Völker nur gegenseitig die Köpfe einschlagen. Es ist nicht unser Streit."

"Du bist so weise“, bemerkte ein kleines Mädchen und spielte verlegen mit ihren Zöpfen. Ihre Augen glänzten voller Hochachtung für den alten Mann.

"Ach, Unsinn“, fuhr er sie überraschend böse an. "Nur weil mein Herz nicht aufhören will zu schlagen, muss ich noch lange nicht weise sein. Es gibt klügere Männer als mich."

Das Mädchen verzog das Gesicht. Es stand kurz vor einem Tränenausbruch.

"Du bist ihr um viele Jahre voraus“, meldete sich Chrischka zu Wort. "Deine Erfahrungen sind in ihren Augen die Weisheit des Lebens." Er lächelte dem Mädchen zu und sah es mit Freude, dass sie ihr Gesicht nun dankbar verzog. Ein kleines Lächeln blinzelte ihm entgegen. "Du magst dich selbst nicht für weise halten“, wand sich Chrischka wieder an Samoska. "Doch für viele von uns bist du es."

"Die Unerfahrenheit der Jugend lässt sie voreilige Schlüsse ziehen“, sagte der Alte, sog die Lungen voller Rauch und blies die weißgraue Wolke genussvoll wieder aus. "Wenn so viele Jahre in eure Gesichter geschrieben sind wie in meines, werdet ihr erkennen, dass ihr damals dumm und ahnungslos wart. Ich halte mich selbst nicht für weise. Sollte ich es tun, wird Hochmut mich erfüllen und das letzte Jahr würde sich in meinem Gesicht verewigen."

"Deine Erfahrungen lassen unsere Unerfahrenheit schwinden“, bemerkte Chrischka unbeirrt. "Erzähle weiter." Er kannte die Reden dieses alten Mannes und jedes mal wenn ihn ein Zuhörer auf seine Weisheit absprach, reagierte dieser unwirsch und war nur mit der Forderung nach einer neuen Geschichte zu besänftigen.

Doch plötzlich tönte aus dem Westen ein Horn. Nur einen Atemzug später kam die Antwort aus dem Osten. Die Köpfe der Zuhörer flogen erst in die eine, dann in die andere Richtung und als sie das Signal erkannten, sprangen sie auf und rannten panisch und angsterfüllt schreiend durcheinander. Mütter griffen sich ihre Kinder und verschwanden in ihren Zelten. Männer brüllten Befehle und Anweisungen. In der Eile vergessene Kinder standen hilflos herum und schrien aus Angst.

Chrischka eilte zum Zelt seines Vaters, um seine Waffen – ein langer Speer mit einer metallenen Spitze und ein Schild aus gehärtetem Wildbüffelleder - zu holen und sich dann mit den anderen Männern zur Verteidigung des Dorfes zu sammeln.

Sie wurden angegriffen.

Aus dem Norden kam eine Horde von Kleken, die auf ihren Reittieren heran geschossen kamen wie der Winterwind höchstpersönlich. Eine dichte Wand von entschlossenen Morkanen-Männern stellte sich ihnen entgegen. Obwohl die Nomaden es unterließen, sich in die Streitigkeiten einzumischen, verstanden sie sich auf die Verteidigung ihres eigenen Hab und Gutes. Ein schier undurchdringlicher Wall von bizarr bemalten Wildbüffelschildern, aus denen gefährliche Speerspitzen hervorlugten, stellte sich ihnen entgegen, und ehe der erste Reiter über sie hinweg springen konnte, mussten einige der Angreifer an diesem Zaun ihr Leben lassen.

Chrischkas Schild wurde von den Hufen eines der Reittiere getroffen und es schleuderte ihn zu Boden. Noch im Fallen stieß er seinen Speer in den Bauch des Tieres, durchbohrte es und bahnte sich auch einen Weg durch den Leib des Reiters. Heißes Blut lief am Schaft entlang und verklebte seine Finger mit den Handschuhen. Das Blut gefror in der Kälte des nahenden Winters und es schien, dass er den Speer niemals mehr loslassen konnte. Keuchend rappelte sich Chrischka wieder auf die Beine und stemmte sich gegen den Kadaver des Tieres, um seine Waffe wieder zu befreien. Dann nahm er den Schild wieder auf und stürzte sich auf einen Reiter, der es geschafft hatte, die Barrikade zu überspringen. Die Speerspitze pikte in die Hinterbacken des Tieres, das daraufhin erschreckt hochging. Der Reiter wurde zu Boden geschleudert und Chrischka erlegte ihn mit einem gezielten Stoß.

Ein Schrei hinter ihm ließ ihn herumwirbeln und er ließ sich augenblicklich zu Boden fallen. Ein Kleke kam mit weit ausholend schwingendem Schwert auf ihn zu galoppiert. Sein Gesicht war verzerrt von Wut und Hass. Er wirbelte das Schwert über den Kopf und als sich Chrischka auf den Boden fallen ließ, senkte er sich tief auf den Hals seines Reittieres und ließ die Klinge nahe über den Boden sausen, so dass sie das trockene Gras der Steppe abschnitt und aufwirbelte. Chrischka rollte sich zur Seite, zog das Schild über seinen Körper und spürte den harten Aufprall der Klinge und den schweren Tritt der Hufe. Ihm blieb für einen Moment die Luft weg, doch das Schild hielt stand. Es hatte ihm schon so einige Male das Leben gerettet, was die vielen Kerben auf der Außenfläche nur bestätigen konnten. Er schnellte hoch, sobald der Reiter über ihn hinweg gesprungen war und suchte nach seinem Speer, das noch immer im Leib des zuletzt getöteten Kleken steckte.

Ein zweiter Warnschrei kam zu spät und ein kräftiger Schwerthieb zerbrach das Schild, das er noch im letzten Moment reflexartig hochgerissen hatte. Es bohrte sich in seine Schulter, zerschnitt das Binsenband und schleuderte ihn zu Boden. Chrischka spürte einen starken stechenden Schmerz und da war es wieder, dieses hämisch grinsende, goldene Gesicht. Es demütigte ihn schlimmer denn je. Er öffnete den Mund, um zu schreien, doch anstatt einem Laut quoll Blut über seine Lippen. Er hörte sich selbst gurgeln und prusten und konnte nichts dagegen tun, dass ihn diese kalten Augen anblickten und ihn schändeten, ihn peinigten, ihn quälten, bis weit über die Grenze des Erträglichen hinaus. Er fühlte sein eigenes Blut über seine Brust laufen und versuchte es aufzuhalten, doch der Blick der goldenen Schlitzaugen verdammte ihn zur Bewegungslosigkeit und er konnte nichts für seine Rettung unternehmen. Dieses Grinsen fraß sich noch schmerzhafter als seine Verletzung in seinen Körper. Es saugte ihn aus. Es trank sein Blut und ergötzte sich an seinen Qualen. Das Gesicht blinkte und blitzte heller und aufgeregter denn je, als wüsste es, dass sich bald eine Seele mehr zu seinen Opfern gesellte. Es verbrannte ihn bei lebendigem Leib. Es bettete ihn tief in einen Zustand der Machtlosigkeit und ließ ihn darin liegen, bis Chrischka schreien konnte, wenn er zu schreien vermocht hätte. Er wollte die Augen schließen vor diesem Gesicht. Doch seine Augen waren bereits geschlossen und es hatte sich erneut in seine Träume gefressen. Er konnte ihm nicht entrinnen. Feuer überkam seinen Körper. Seine Haut löste sich langsam von seinem Fleisch, schwarz und nutzlos. Seine Knochen lagen bloß. Sie dörrten in der Sonne und zerbarsten in der klirrenden Kälte.


Als er wieder zu sich kam und die Augen öffnete, entdeckte er das Gesicht seiner Mutter nahe vor dem seinen. Ihre Stirn war ihn tiefe Sorgenfalten gezogen und als sie erkannte, dass ihr Sohn erwacht war, huschte ein glückliches Lächeln um ihre Lippen. Sie platzierte einen kalten Umschlag auf seiner Stirn und tupfte vorsichtig das fieberheiße Gesicht ab.

"Wo ist das Amulett?“, flüsterte Chrischka mit schwerer Zunge. Er schmeckte sein eigenes Blut und spuckte geronnene Brocken aus.

"Es ist zerbrochen“, sagte sie traurig. Sie hatte selbst mit angesehen, wie er im Schlaf wieder mit seinen Träumen gekämpft hatte. Sie war zu der alten Raiska und zu Batiska gelaufen und hatte beide gebeten, ihrem Sohn ein weiteres Amulett zu fertigen, damit er wieder davon befreit wurde. Doch Batiska weigerte sich. Raiska schüttelte nur traurig mit dem Kopf.

Chrischka schloss erschöpft die Augen. Er hatte den Rat der alten Kräuterheilerin nicht beachtet und sich nicht auf die Suche nach dem Ursprung gemacht. Aufgrund dieses Heilmittels hatte ihn die golden grinsende Filzlaus nicht mehr peinigen können und er hatte sie vergessen. Doch nun war sie wieder da. Wenn er die Augen schloss, sah er das goldene Gesicht wieder und er riss sie wieder auf.

"Ich brauche es, Mutter“, flehte er.

"Ich weiß“, nickte sie und drückte ihn zurück, als er sich erheben wollte. "Es ist zerbrochen und nutzlos geworden."

"Batiska soll mir ein neues machen."

"Er sagt, das ist unmöglich. Du hättest deinen Teil der Abmachung nicht erfüllt."

"Was für eine Abmachung?“, keuchte er und weigerte sich, seiner Müdigkeit nachzugeben. Er wusste, wenn er die Augen schloss, würde ihn das Gesicht angrinsen und ihn demütigen.

"Ich weiß es nicht“, sagte sie leise und erneuerte den kalten Umschlag auf seiner Stirn. "Die alte Raiska sagte etwas von einer Filzlaus. Was meinte sie damit?" Sie betrachtete ihren Sohn und seine Kleidung, als befürchtete sie, er habe tatsächlich Filzläuse.

Chrischka wusste, was sie damit meinte und konnte seine Augen nicht mehr länger offenhalten. Er wollte schreien, als ihn dieses goldene Gesicht angrinste und war es schon lange leid. Doch er konnte nicht schreien. Seine Lippen wollten sich nicht öffnen. Stattdessen stieg das Fieber, entgegen den Mühen seiner Mutter und er wurde von Schüttelkrämpfen und Schweißausbrüchen befallen. Es war es leid, unendlich leid und er schwor sich, der Ursache auf den Grund zu gehen. Er musste diese Filzlaus finden und sie zwischen seinen Fingern zerquetschen, damit er endlich Ruhe fand.

Chrischka erholte sich allmählich. Langsamer, als erwartet. Denn er konnte nicht mehr ruhig schlafen. Immer wieder flammte das Fieber auf, als wolle es ihn nie mehr frei geben. Tage und Wochen verbrachte er in seinem Lager im Zelt seines Vaters, oder auf dem Rücken der zahmen Wildbüffel, die als Pack- und Lasttiere benutzt wurden, wenn die Sippe weiterzog.

Und erst, als der erste warme Wind über die Steppe wehte, fand er sich kräftig genug, um ohne Hilfe vor das Zelt zu gehen und sich die Beine zu vertreten. Unter den fürsorglichen Augen seiner Eltern spazierte er einige Male vor dem Zelt auf und ab, bis seine Beine zu zittern begannen. Janosch stand zum Sprung bereit, falls die noch zaghaften Kräfte seines Bruder aufgebraucht waren und er umkippte. Chrischka schaffte es noch zurück, zum Eingang und setzte sich auf einen fellüberzogenen Holzschemel. Dunkelgraues Sommerfell, struppig und abgenutzt und an manchen Stellen drang das alte gegerbte Leder durch. Er musste an das Winterfell von Raiska denken und sah nach ihrem Zelt. Er fand aber nicht die alte Kräuterheilerin, sondern den Blick des verrückten Batiska, der nur vorgab verrückt zu sein.

Chrischka stemmte sich wieder auf die Beine und wankte zu dem Alten, der sich vor einem leeren Gerbrahmen niedergelassen hatte und gedankenversunken ins Leere starrte. Er setzte sich neben ihn und betrachtete den Alten eingehend.

"Batiska, kannst du mir noch so ein Amulett machen?“, bat er aufrichtig.

Der Alte schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Nichts, das er anstarrte zu lassen.

"Ich brauche es. Meine bösen Träume lassen mich nicht mehr schlafen. Bitte, Batiska."

Erneut schüttelte der Alte den Kopf.

"Damit du ein weiteres Mal meine Anweisungen in den Wind schlägst?“, sagte er leise, immer noch dieses Nichts anstarrend.

"Diesmal nicht“, versprach Chrischka. "Ich werde nach der Ursache suchen. Doch ich kann nicht, wenn ich nicht einmal eine Nacht durchschlafen kann. Bitte, Batiska. Hilf mir und mache mir noch so ein Amulett."

"Das war kein Amulett“, sagte der alte Mann. "Das war kein magisches Heilmittel oder irgendein Götzending, dass böse Träume in gute verwandelt."

"Aber es wirkte. Die Träume verschwanden."

"Ja, richtig“, nickte er und wand endlich den Blick von seinem Nichts ab. Ein stahlharter Blick traf den jungen Morkanen. "Es war ein magisches Ideal. Ein uralter, aus alten Schriften überlieferter Schutzschild. Ich weiß selbst, dass es wirkte. Ich musste alle meine Kräfte aufbringen und längst vergessene Lehren in Erinnerung rufen, um es zu rekonstruieren. Ich habe keine Lust, all diese Arbeit ein weiteres Mal umsonst zu machen."

"Du machst es nicht mehr umsonst“, versicherte ihm Chrischka. "Ich werde mich auf die Suche machen. Ich verspreche es. Doch ich weiß nicht, wo ich anfangen soll zu suchen."

"Wo hast du dieses Gesicht zum ersten Mal gesehen?“, erkundigte sich Batiska.

Chrischka betrachtete ihn leicht verwirrt. "In meinen Träumen“, antwortete er schließlich.

"Wenn du das glaubst, dann weißt du, wo du deine Suche beginnen musst"

"In meinen Träumen?"

Batiska nickte.

"Wie kann ich das?“, fragte er und blickte nachdenklich und betreten zu Boden. "Wie kann man in Träumen suchen? Sie überkommen einen. Man hat keine Kontrolle über sie."

"Glaubst du das wirklich?“, wollte Batiska wissen und widmete sich enttäuscht seinem Nichts.

"Wenn man sie steuern könnte, hätte ich meine bösen Träume längst aus meinem Leben verbannt“, rief Chrischka wissend.

"Wenn du sie steuern könntest ..., richtig“, nickte Batiska, vor sich ins Leere starrend. "Aber du kannst es nicht und daher können andere die Kontrolle übernehmen."

"Welche andere?“, fragte Chrischka und richtete sich gerader.

"Das ist die Filzlaus, die du finden musst“, bemerkte Batiska.

Chrischka knurrte ärgerlich. Diese Bezeichnung verfolgte ihn, seit Raiska sein Problem derartig bezeichnet hatte. Allmählich fand er, dass es nicht mehr zutraf. Eine Filzlaus zu finden, war leichter, als die Ursache seines Problems. Und eine Filzlaus konnte zwar beißen und Juckreiz verursachen, doch nicht derartige Qualen hervorrufen wie dieses grinsende Gesicht.

"Was rätst du mir?“, wollte Chrischka schließlich wissen.

"Ich werde mich hüten, dir einen weiteren Rat zu geben, dem auch kein anderes Schicksal blüht, als vom Steppenwind davongetragen zu werden“, antwortete Batiska mürrisch.

"Ich verspreche, deinen Rat zu beherzigen“, sagte Chrischka aufrichtig. "Als es zerbrach, dieses steinerne Ding, trafen mich die bösen Träume mit einer solchen Heftigkeit, dass ich das niemals vergessen werde. Sie werden mich eines Tages umbringen."

"Ja, das werden sie“, gab ihm Batiska recht. "Und mein Rat lautet heute nicht anders als damals. Suche die Ursache."

"Was muss ich tun, wenn ich es gefunden habe?"

"Das kommt ganz auf das an, was es ist."

"Was kann es sein?"

"Wenn du das wissen willst, musst du einen Hellseher befragen, oder dich selbst auf die Suche machen“, entgegnete Batiska ungerührt.

"Ich kränkte dich, als ich deine Anweisungen nicht befolgte“, sagte Chrischka kleinlaut, als er begriffen hatte. "Ich entschuldige mich dafür und verspreche, diesmal zu tun, was du verlangst."

"Mit keinem Wort sagte ich, dass ich etwas von dir verlange. Du kannst nicht schlafen. Ich schlafe gut. Dich quält das goldene Gesicht. Nicht mich. Wenn du Hilfe von mir erbittest und dich nicht an die Abmachungen hältst, ist das deine Sache. Es kränkt mich, richtig. Aber ich kann einen beinahe erwachsenen Mann zu nichts zwingen. Erwarte demnach auch nicht von mir, dass ich zweimal sinnlose Arbeit verrichte."

"Ich habe meine Lehren gelernt“, gab Chrischka etwas verlegen zu. Er fühlte sich in Anbetracht dieser Zurechtweisung wieder als kleiner Junge. "Um meiner Selbst willen, werde ich mich auf die Suche machen."

"Fein“, war Batiskas ganze Antwort darauf.

"Machst du mir noch so ein magisches Ideal?“, fragte Chrischka vorsichtig.

"Nein."

"Wenn ich keine Ruhe finde, kann ich mich nicht erholen, um mich auf die Suche zu machen“, gab Chrischka zu bedenken.

"Auf diese Erkenntnis hättest du vorher kommen müssen“, blieb der Alte hartnäckig, verschränkte demonstrativ die Arme vor seiner Brust und starrte wieder vor sich ins Leere.

Chrischka seufzte resigniert, hievte sich wieder auf seine Beine und schleppte sich zum Zelt seines Vaters zurück. Er fühlte sich erschöpfter und träger denn je. Die Weigerung des alten Mannes hatte ihn seiner letzten Hoffnung beraubt. Und er schaffte den Weg nur mit knapper Mühe. Er konnte wieder den Blick der gelben, pupillenlosen Schlitzaugen auf seiner Haut spüren und weigerte sich, die Augen zu schließen. Gewaltsam hielt er sie offen.

Janosch half ihm ins Zelt und auf sein Lager zurück.

"Er will dir nicht helfen“, erriet er und bettete den Bruder auf das Fellbett. "Vielleicht wirkt es wieder, wenn wir die Teile aneinander kleben."

Chrischka schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht daran. Er sank in das Polster zurück, in dem er die letzten Monate verbracht hatte und starrte mit weit aufgerissenen Augen gegen die Zeltdecke. Er durfte nicht einschlafen, obwohl die Müdigkeit hungrig an ihm nagte, wie eine Maus an einem Stück Käse. Er durfte nicht einschlafen.



3.


Dieses Gesicht. Es quälte ihn. Der goldene Blick. Er hasste ihn. Er wollte weit fern ab von diesem Ding sein.

Was war es nur?

Als er versuchte, sich von ihm zu trennen und es ihm nicht gelang, erinnerte er sich wieder an die Worte des magischen Heilers und ging darauf zu. Immer näher kam er dem Gesicht und versuchte der Ursache auf den Grund zu gehen. Der gefühllose Blick bohrte sich tief in seinen Körper. Dieses Grinsen lachte ihn aus. Es schmerzte. Immer mehr, je näher er kam. Je näher er diesen wulstigen Lippen aus blinkendem Gold kam. Je näher er diesem fetten, glatzköpfigem Gesicht kam.

Und als aus den pupillenlosen, kalten Schlitzaugen ein kleiner Blutstropfen quoll, gellte ein lauter Schrei durch das Nomadendorf. Ein Schrei, gänzlich von Schmerz und Pein erfüllt, wie das Entsetzen leibhaftig.


Batiska bahnte sich einen Weg durch die gaffende und aufgebrachte Menge, die von diesem Schreien, mitten in der Nacht erwacht und zusammengelaufen war, bis hin zu Roschkas Zelt, dessen Sohn im Schlaf schrie, als stünde er im Traum vor seinem eigenen Tod. In einer Hand hielt er eine alte Schriftrolle umklammert und in der anderen, ein weiteres magisches Ideal, das er dem Jungen am Tag zuvor verweigert hatte. Er kämpfte sich durch die Leiber, warf den Fellstreifen am Eingang zurück und prallte auf Janosch, der die Neugierigen draußen halten sollte. Selbstverständlich gab der Junge den Weg frei.

Chrischka war vom langen Schreien heißer geworden. Doch ihn peinigten immer noch dieselben Qualen und es schien, dass es stetig schlimmer wurde. Batiska warf Mantel, Handschuhe und Mütze von sich, riss die Felldecke vom schweißgetränkten Körper des Gepeinigten und rollte die Schrift auf dessen Brust aus. Er strich immer wieder über das grobe Papier und presste es fest auf dessen Haut, bis es sich voller Schweiß gesaugt hatte und sich Chrischka langsam beruhigte.

Selbst erschöpft ließ er sich neben das Felllager nieder und betrachtete den leise wimmernden Jungen, der sich in seinem Fieberwahn wild hin und her warf. Er hatte nicht gedacht, dass es jemals so schlimm werden könnte. Als er selbst noch ziemlich jung war, ein Kind von zehn Jahren, hatte ihm sein Großvater, von dem er seine Gabe geerbt hatte, von einem magischen Heiler erzählt, der zahlreiche Jünger, aus allen Teilen des Landes, nicht nur von der Sommersteppe, um sich geschart hatte, indem er sie mit einem Bann belegte. Sie wurden zu seinen willenlosen Werkzeugen. Er raubte ihnen ihren Lebenswillen und benutzte sie für seine bösen Machenschaften. Sein Großvater erzählte ihn, dass er selbst einmal davon betroffen war, als einer der Sippenmitglieder über Kopfschmerzen klagte, die kein Heiler von ihm nehmen konnte. Sein Großvater hatte lange gebraucht, um auf die Ursache zu kommen und als er sie endlich fand, war es um den gepeinigten Mann auch schon zu spät. Ob Kopfschmerzen oder böse Träume. Die Ursache schien dieselbe zu sein.

Er strich die Schriftrolle mit den alten Zeichen erneut über der Brust glatt und atmete erleichtert auf, als auch Chrischkas Wimmern verstummte und er im Fieber nur noch dann und wann zusammenzuckte. Dann fädelte er ein neues Binsenband durch die kleine Steinplatte und hängte es ihm um den Hals. Er betrachtete Chrischka mit seltsamen Augen. Nur er wusste, dass er versuchte, sich in dessen Träume zu versetzen. Ein Schreck durchzuckte ihn selbst, als er das grinsende Goldgesicht sah. Doch er war vor dem Einfluss dieses Gesichtes gefeit und es konnte ihm nichts antun. Aber er spürte den bösen Willen dieses Gesichtes und nahm sich vor, höchstpersönlich für die Einhaltung der Abmachungen zu sorgen.

Er nahm ein Stück Kohle aus dem Zeltfeuer, drückte die Glut in seiner Handfläche aus, dass alle Umstehenden, die ihn neugierig beobachteten, vor Schreck die Luft anhielten, verkrümelte einige Brocken Kohle über Chrischkas Bauch und verrieb sie mit seinem Schweiß zu einer schlierigen Masse, die schwarze Spuren auf dessen Haut hinterließ. Er rieb solange, bis sich die Farbe tief in die Haut gefressen hatte und unauslöschliche Spuren hinterließ, auch als er mit einem feuchten Tuch darüber wischte, um die Überreste zu entfernen.

Für diese Tat fing er einen vorwurfsvollen Blick von Roschkas Frau ein, doch mit einem besänftigenden Nicken gab er ihr zu verstehen, dass er wusste, was er tat. Er war früher magischer Heiler gewesen und hatte keiner seiner Gaben vergessen.

Dann nahm er die Schriftrolle von der Brust, rollte sie zusammen, suchte nach Mantel, Handschuhe und Mütze, zog sich an und verließ das Zelt. Inzwischen waren einige der Zuhörer wieder in ihre eigenen Zelte zurückgekehrt. Die restlichen bedachten ihn mit neugierigen und wissbegierigen Blicken. Doch Batiska sagte nichts. Er zog sich in Raiskas Zelt zurück und bald kehrte wieder Ruhe ein.


Über den Vorfall in der Nacht wurde noch lange geredet. Doch als Chrischka sich rasch wieder erholt hatte und sich benahm, als wäre alle Krankheit von ihm gewichen, starben auch die Gespräche hinter vorgehaltener Hand. Chrischka bemerkte wohl, dass Batiska versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, doch er musste unbedingt mit ihm sprechen. Als die Sippe weiterzog, sah er seine Gelegenheit als gekommen.

"Batiska“, rief Chrischka, dem Mann neben der alten Raiska zu, wuchtete sein Gepäck auf die andere Schulter und eilte ihm hinterher. "Sei bedankt für dein magisches Ding“, sagte er und ging neben ihm her. "Ich habe wirklich versucht, der Ursache auf den Grund zu gehen. Ich versuchte, näher an dieses Gesicht zu kommen. Doch auf einmal hat es ... ."

"Du brauchst nicht weiter zu reden“, unterbrach ihn der alte Mann. "Ich weiß, was passiert ist. Und hätte ich einem Drängen vor langen Jahren nachgegeben und alle meine Aufzeichnungen verbrannt, wärst du jetzt tot. Dem Zufall sei gedankt, dass ich es nicht tat."

"Tot?“, rief Chrischka ungläubig und entsetzt.

"Ja, tot“, bestätigte ihm Batiska. "Deine Seele wäre vernichtet worden, doch dein Körper hätte es überlebt. Du wärst ein Werkzeug dieses Gesichtes geworden, zu wessen Körper es auch immer gehören mag."

"Ich versuchte, den Körper zu diesem Gesicht zu finden“, berichtete Chrischka. "Aber da gab es nichts. Nur das Gesicht. Nur der goldene Kopf."

"Dann hast du immerhin einen Anhaltspunkt, nach was du suchen sollst“, gab Batiska ungerührt von sich.

Chrischka blieb stehen.

"Deine Antworten sind auf keinen Fall befriedigend“, rief er ärgerlich. "Du benimmst dich, als wenn es dich überhaupt nichts anginge. Doch du bist der Einzige, der weiß, wovon ich rede. Und wenn du mir nicht helfen willst, dann werde ich die ganze Suche vergessen." Er zuckte zusammen. Etwas hatte sich in seinen Magen gebohrt, wie eine glühende Speerspitze. Er ließ sein Gepäck fallen, umfasste seinen Unterleib und versuchte krampfhaft, wieder zu Fassung zu kommen.

"Spürst du es?“, rief Batiska, nicht ohne Hohn. "Dieses Gesicht hat sich tiefer in deinen Körper gefressen, als du denkst. Von mir aus kannst du tun was du willst. Ich habe nichts dagegen. Aber dann werde ich vielleicht keine Lust mehr verspüren, die nächtliche Ruhestörung abzustellen."

Chrischka sank auf die Knie. Janosch war bei ihm und versuchte ihm zu helfen. Sein Bruder röchelte und schnaufte und sein Gesicht war verzerrt vor Schmerz. Er dachte, er hätte wieder einen Anfall.

"Lass ihn, Janosch“, befahl der magische Heiler. "Es wird aufhören, sobald sich dein Bruder dazu entschließen sollte, die Suche wieder aufzunehmen."

"Aber ... „, stammelte Janosch und strich tröstend über den Rücken seines Bruders.

"Es hat ihn befallen wie eine Krankheit“, fuhr Batiska fort. "Daher kann er nicht von mir erwarten, dass ich ihn davon befreie, ohne dass er einen Finger krümmt. Er muss die Anweisungen eines magischen Heilers ebenso befolgen, wie die eines Kräuterheilers. Eine Erkältung wird er auch nicht los, wenn er weiterhin leicht bekleidet im kalten Wind herumläuft. Es wird ihn früher oder später umbringen." Damit wand sich der Alte wieder um und folgte der Sippe, die inzwischen einen beachtlichen Vorsprung hatte.

"Chrischka“, rief Janosch besorgt und beugte sich zu ihm nieder.

Dieser keuchte und schnaufte. Sein Innerstes schien sich in krampfhaften Zuckungen zu winden und zu drehen.

"Nicht aufgeben“, rief Janosch besorgt. "Er sagt, du musst weiter suchen."

"Wie kann ich das?“, keuchte Chrischka unter Schmerzen. "Wenn ich nicht weiß, wonach ich suchen soll."

"Sag einfach, du suchst weiter“, schlug Janosch vor und strich eine Schweißperle von dem Gesicht seines Bruders. Schweiß war tückisch im Winter. Wenn es gefror, konnte es auf den darunterliegenden Hautpartien Erfrierungen hervorrufen. "Sag es einfach“, bat er besorgt. "Niemand sagte, dass du es gleich finden sollst. Es kommt vielleicht irgendwann. Eines Tages läuft es dir über den Weg. Einfach so."

Chrischka hob den Kopf und betrachtete seinen Bruder. Er verzog sein Gesicht, als er darüber nachzudenken versuchte. Schließlich nickte er und sein Innerstes hörte abrupt auf, sich stetig umzukrempeln. Er atmete erleichtert durch und ließ sich von Janosch auf die Beine ziehen. Der Boden war zwar nicht gefroren, aber immerhin so kalt, dass man sich eine anständige Erkältung zuziehen konnte, wenn man gedachte, sich für länger ohne ausreichenden Schutz darauf niederzulassen.


Die Überfälle der Kleken, an deren ursprüngliches Wohngebiet die Morkanen nahe vorbeizogen, hielten sich in Grenzen, solange klirrend kalter Nordwind über die Steppe fegte. Es roch nach Schnee, doch auch unerfahrene und junge Steppenbewohner wussten, dass Schnee auf der Sommersteppe selten war. Wenn Flocken vom trüben Himmel herab tanzten, so erreichten sie niemals den Boden. Sie vergingen nur wenige Zentimeter über der Sommersteppe und lösten sich in Nichts auf. Doch meist trieb der Wind die schwangeren Wolken über die Steppe hinweg und ließ sie in den Bergen, am Rande der Ebene niedergehen.

In einer besonders kalten Nacht starben zwei Leute an Unterkühlung, als des Nachts unbemerkt ihr Feuer erloschen war. So entschloss sich die Sippe gen Süden zu ziehen, wo der nur wenige Grad wärmere Teil der Steppe erträglicher sein würde. Zwar mussten sie hier verstärkt mit Übergriffen der Mageerings rechnen, doch da es um ihr Überleben ging, nahmen sie dies in Kauf. Sie waren in den Zeiten des Steppenstreites geübte Kämpfer geworden, hüteten sich aber dennoch davor, in den Streit einzugreifen. Obwohl ihr Eingreifen vielleicht ein Ende des Streites bedeuten könnte. Alle Nomadenstämme der Sommersteppe zusammengenommen, wären stark genug, um den uneinigen Parteien den Kopf zurechtzurücken.


4.

Am Fuße des großen Kamins, dem größten und breitesten Felsen auf der Sommersteppe, traf die Morkanen-Sippe auf einen anderen Nomadenstamm. Die verschiedenen Steppensippen waren sich untereinander nicht feindlich gesinnt und so lagerten sie friedlich nebeneinander und tauschten Erfahrungen, Ratschläge und sogar Lebensmittel und Waren aus. Eine übliche Handlung, wenn zwei Sippen aufeinander trafen. Niemand dachte sich etwas dabei. Niemand befürchtete etwas Unrechtes dabei.

Janosch zupfte Chrischka am Ärmel, der in Gedanken versunken eine Gruppe alter Männer beobachtete, eine Gruppe aus beiden Sippen, unter denen sich auch Batiska befand. Dabei kürzte er einen Holzstab langsam – Stück für Stück – mit einem Messer, ohne darauf zu achten, wo er die Schneide hinsetzte. Er schreckte hoch, als sich sein Bruder neben ihn nieder ließ.

Chrischka betrachtete ihn und musste zu seiner Überraschung erkennen, dass sich dessen Gesicht seltsam verändert hatte. Er glühte und seine Augen strahlten.

"Hast du geraucht?“, fragte er und beäugte ihn argwöhnisch. Er vermisste nur den glasigen Blick, den man bekam, wenn man Rauschmittel rauchte.

"Nein“, rief Janosch aufregt. "Ich habe mich mit einem Mädchen verabredet“, platzte er heraus. "Eine von der anderen Sippe, den Deeronen. Dort oben, wenn die Sonne am höchsten steht."

Chrischka folgte dem Blick seines Bruders.

"Es bringt Unglück sich auf einem Kamin zu verabreden“, sagte er schließlich. "Alle Leidenschaft soll sich in Luft auflösen, wie der Rauch im Wind, oder ein Unglück bricht über die Liebenden herein."

"Das sagte ich auch“, meinte er traurig und warf dem Berg einen kleinmütigen Blick zu. "Aber sie meinte, es wären alte Ammenmärchen." Er drehte den Kopf. Die Leidenschaft hatte wieder von ihm Besitz genommen. "Sie heißt Mireen und sie ist wunderschön. Du musst sie sehen. Du wirst entzückt sein."

Chrischka lachte kurz auf.

"Ich sollte wohl besser nicht hinsehen“, kicherte er. "Sonst bist du sie los."

"Glaubst du, es ist ein schlechter Platz, sich zu verabreden?“, wollte Janosch wieder wissen.

"Wenn ihr euch nicht von alten Ammenmärchen verunsichern lässt, kann ich mir keinen besseren Platz vorstellen“, meinte Chrischka und sah wieder zum Berg hoch. Er ragte beinahe steil und kerzengerade in den Himmel. Einer Säule gleich, die den wolkenverhangenen Himmel stützen wollte. Nur am Fuße bildete sich ein Wulst von einem Geröllhügel, in dem sich die gigantische Säule gesetzt hatte, als bräuchte sie ein Bett, das es fest umschloss und sie gerade hielt. Den Kamin würden die beiden Verliebten zweifellos nicht besteigen, obwohl es auf jeden der kaminartigen Berge einen Pfad gab, der bis auf die Spitze führte. Die Pfade schienen ebenso alt zu sein, wie die Berge selbst und viele waren nur in mühsamen Klettertouren zu überwinden. Die beiden würden sicherlich auf dem Wulst bleiben und dann befanden sie sich noch nicht auf einem Kamin, somit traf dieses Ammenmärchen nicht zu. Er lächelte seinem Bruder zuversichtlich zu.

"Ich wünsche dir viel Glück“, sagte er schmunzelnd.

"Soll ich sie fragen, ob sie eine Schwester hat?" Janosch zwinkerte ihm neckisch zu.

Erneut lachte Chrischka auf und schüttelte den Kopf.

"Ich frage sie“, rief Janosch und war auch schon davongelaufen.

Chrischka konnte ihn nicht davon abhalten.


Von Roschkas Kindern sah man stets nur diese beiden eng zusammen. Sie erledigten beinahe alle Arbeiten gleichzeitig, sorgten füreinander und verstanden sich prächtig, wie Zwillinge, obwohl vier Jahre zwischen ihnen lagen. Chrischka war seinem jüngeren Bruder nicht böse, weil er sich um ihn sorgte. Er hätte vermutlich genauso reagiert, wenn ihm ein Mädchen über den Weg gelaufen wäre, in das er sich auf Anhieb verliebt hätte. Doch bis jetzt war dies noch nicht geschehen und ihn quälte immer noch die Angelegenheit mit dem goldenen Gesicht. Er wollte erst dies geklärt haben, bevor er sich einer Frau und einem eigenen Leben widmete. Oft in den letzten Tagen und Wochen hatte er lange wach gelegen. Nicht, weil ihn erneut dieses Grinsen vom Schlaf abhielt. Er hatte darüber nachgedacht, wonach er suchen sollte, was dieses goldene Gesicht war und zu wem es gehören konnte. Wenn er diese Suche für aussichtslos betrachtete und sie aufgeben wollte, stach ein unsichtbarer Krieger seinen Speer tief in seinen Magen und rüttelte und zog daran, dass er vor Schmerzen beinahe aufgeschrien hätte. Und erst als er sich wieder für die Weitersuche entschloss, versiegten die Schmerzen. Es musste wohl an diesem seltsamen Zeichen liegen, das seinen Bauch zierte, seit diesem Zwischenfall in jener Nacht, als die Augen des goldenen Gesichtes bluteten. Doch so sehr Chrischka daran herum schrubbte und rubbelte, es mochte nicht von seiner Haut verschwinden.

Janosch kam wenige Minuten später wieder zurück, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

"Eine Schwester, die für dich interessant wäre, hat sie nicht“, berichtete er. "Aber eine Freundin. Und die bringt sie mit. Du musst mitkommen."

"Nein, muss ich nicht“, sagte Chrischka und schüttelte den Kopf. Der Stab in seiner Hand war nicht einmal mehr so lange, wie sein Daumen. Er warf ihn von sich. "Ich werde nicht mitgehen."

"Bist du zu feige?“, fragte Janosch schmunzelnd.

Chrischka knurrte ihn ärgerlich an.

"Du bist feige“, rief Janosch und stieß ihn in die Seite. Chrischka erwiderte den Stoß und schon wälzten sie sich balgend auf dem Boden herum, bis sie vor Lachen Bauchkrämpfe bekamen.


Für eine ungewöhnlich lange Zeit bildeten die dicken, schwarzen Wolken eine Lücke und gestatten es der Sonne, ihre Strahlen länger als üblich auf die Steppe zu schicken. Es war genau die Zeit, in der Janosch und Chrischka auf den Hügel kletterten, um sich mit den beiden Mädchen aus der anderen Sippe zu treffen.

Janosch war vor Erwartung zappelig und konnte den Mund nicht mehr zubringen. Ständig plapperte er vor sich hin und schmiedete Pläne mit seiner zukünftigen Frau für die Chrischka nur ein mildes Lächeln übrig hatte. Er hatte sich bis kurz vor dem Zusammentreffen keine Gedanken über diese Freundin gemacht, geschweige denn, schon mit dem schmieden von Zukunftsplänen begonnen. Obwohl er zugeben musste, dass er etwas nervös war. Er kannte dieses Mädchen nicht und vielleicht gefiel sie ihm auch nicht. Er wollte seinen Bruder aber auf keinen Fall enttäuschen und während Janosch munter weiter redete, dachte er darüber nach, wie er sich ohne Schaden anzurichten aus dieser Angelegenheit herauswinden konnte.

Mireen war zweifelsohne ein hübsches Mädchen. Chrischka wollte dies nicht leugnen. Doch ihre Freundin, die für ihn auserkoren war, entsprach ganz und gar nicht seinem Geschmack. Obwohl auch sie eine gewisse Schönheit versprach. Sie war ganz anders als ihre Freundin, welche in ihrem Äußeren sehr den Frauen aus der Morkanen-Sippe ähnelte. Mireen trug ebenfalls weite Röcke, mehrere übereinander, dicke grob gewebte Wollwesten, eine langärmelige und eine ohne Ärmel darüber, dicke, fellgefütterte Stiefel und eine Mütze mit langen Wangenlappen. Ihr Gesicht glühte aus der blauen Mütze heraus. Ihre Augen strahlten, als sie Janosch erblickte. Die Deerons waren eine verwandte Sippe und daher war es nicht verwunderlich, dass sie sich ähnelten. Doch diese Freundin stach vollkommen aus der Reihe.

Sie wurde ihm als Tatandra vorgestellt. Ein Mädchen aus einer befreundeten Sippe, jenseits des Gebirges. Sie trug keine Mütze und schirmte die Kälte mit einem glitzernden Kopftuch ab, dass sie sich bis über die Nasenspitze zog und nur auf Chrischkas prüfenden Blick über ihr Kinn streifte, damit er mehr von ihrem Gesicht sehen konnte. Sie trug lederne Hosen, feingegerbte Stiefel und eine dickgepolsterte lederne Jacke, die ihr knapp über den Hintern reichte. Die Handschuhe allerdings stammten aus einem hiesigen Nomadenstamm. Sie selbst schien keine zu besitzen. Vermutlich von Mireen geborgt. Tatandra besaß im Gegensatz zu den Nomadenfrauen schwarzdunkle mandelförmige Augen, umrahmt von dunkelbraunem Haar, das offen unter dem Tuch hervor spitzelte. Ihre Haut war wesentlich dunkler als die der Nomadenfrauen.

"Sie ist zu Besuch hier“, erklärte Mireen lächelnd und warf Janosch schmachtende Blicke zu. "Ihre Familie schloss sich uns an, als wir an das südliche Grenzgebiet stießen."

Chrischka nickte nur und blieb nur aus Höflichkeit noch sitzen. Ihm gefiel dieses Mädchen nicht. Sie war so ganz anders als die Mädchen, die er gewohnt war. Sie setzte sich neben ihn und lächelte ihn freundlich an. Chrischka konnte es nicht erwidern.

"Sollten wir nicht etwas spazieren gehen?“, fragte sie, mit einem Seitenblick auf Janosch und Mireen, die bereits eng zusammensaßen und sich verliebte Blicke zuwarfen.

Chrischka nickte. Obwohl er keine Lust dazu verspürte mit diesem Mädchen allein zu sein, wollte er seinem Bruder nicht seine erste Verabredung verpatzen.

Sie kletterten höher den Hügel hinauf und setzten sich außer Sichtweite auf einen Felsblock. Vor ihnen breitete sich die Sommersteppe aus und für eine Weile verharrten sie in Schweigen.

"Du bist enttäuscht, richtig?“, brach Tatandra das Schweigen und zog ihr Tuch höher über die Nase. Der Wind pfiff über die Ebene und rüttelte arg an ihrer Kleidung. Die Sonne war noch zu schwach, um wirksam gegen die Kälte ankämpfen zu können.

"Verlangst du darauf wirklich eine Antwort?“, fragte er zurück.

"Aber eine aufrichtige“, nickte sie. "Ich bin es mittlerweile gewohnt. Ihr Sommersteppennomaden seid irgendwie seltsam. Was nicht wie ihr ist, verabscheut ihr vollkommen. Du hast nicht erwartet, so etwas wie mich anzutreffen, habe ich recht?"

"Richtig“, gab Chrischka knapp von sich und versuchte seine Gedanken abzulenken, in dem er an das goldene Gesicht und seine Suche danach dachte.

"Ich wäre auch nicht mitgegangen, wenn es mich nicht interessiert hätte, wie du aussiehst“, sagte sie und ließ ihren Blick über die Ebene schweifen.

"Wie ich aussehe?“, wiederholte er und betrachtete sie.

"Man erzählt von dir, du seist krank“, nickte sie. Dabei tippte sie sich an die Stirn. "Du hättest böse Träume von goldenen Gesichtern." Sie kicherte leise.

Chrischka knurrte verärgert, erhob sich und entfernte sich etwas. Dass man ihn für verrückt hielt, traf ihn schmerzhaft. Vielleicht sollte er sich wirklich zu Batiska setzen und wirre Geschichten von grinsenden, goldgesichtigen Wesen erzählen.

"Ist das wahr?“, fragte sie. Eine eiskalte Brise ließ sie frösteln.

"Woher kommst du eigentlich?“, wich er aus.

"Aus Lantiagomingo“, antwortete sie. "Jetzt musst du meine Frage beantworten."

"Wo ist Lantiagomingo?“, wollte er wissen.

"Weit hinter dem südlichen Grenzgebirge“, entgegnete sie und sah ihn erwartungsvoll an.

Chrischka wusste, was sie von ihm wollte und schnaufte laut.

"Ich bin nicht krank“, sagte er schließlich.

"Das sehe ich“, bemerkte sie lächelnd. "Dann ist es ein falsches Gerücht über dich. Und diese Träume? Die sind doch wahr, oder nicht?"

"Sie sind wahr“, gab Chrischka knurrend von sich.

"Was sind das für goldene Gesichter?“, wollte sie als nächstes wissen.

"Ich will nicht darüber reden“, fuhr er sie verärgert an.

"Ich kann mir denken, dass dich das ärgert“, sagte sie, unbeeindruckt seines Wutausbruches. "Aber nicht ich brachte diese Gerüchte in den Umlauf. Ich wollte lediglich den Ursprung erfahren."

Chrischka fuhr herum und sah sie durchdringend an.

"Sagte ich eben etwas Falsches?“, gab sie erschrocken von sich.

"Nein“, entgegnete er schnell und drehte sich wieder um.

"Bitte, erzähle mir von den Gesichtern“, bat sie.

Chrischka atmete tief durch. Was hatte er schon zu verlieren, wenn er ihr davon erzählte. Eine Person mehr, die ihn für verrückt hielt. Er setzte sich wieder auf den Felsen zurück, versteckte seine Hände tief in den Ärmeln und zog seine Schultern hoch. Ein höchst unangenehmer Platz für eine Verabredung und eine höchst unangenehme Zeit. Im Sommer würde es wesentlich mehr Spaß machen. Doch Mireen und Janosch waren sich jetzt im Winter über den Weg gelaufen. Er seufzte und begann von seinen Träumen zu erzählen. Was machte es schon, sagte er sich. Wenn sich die Sippen trennten, würde er sie nie mehr wieder sehen.

Tatandra hörte ihm aufmerksam zu. Kein einziges Mal unterbrach sie ihn oder verzog ungläubig ihr Gesicht. Sie saß einfach nur neben ihm und lauschte seinen Worten, wie die neugierigen Kinder um Batiska. Er kam sich beinahe schon so vor. Vielleicht war er wirklich verrückt. Vielleicht sollte er sich künftig ebenso in den Dreck setzen und die Kinder mit Schauermärchen erschrecken.

Als er geendet hatte, verzog sie leicht ihre Mundwinkel.

"Jetzt musst du mich auch für krank halten“, sagte er und wand enttäuscht und in seinen Erwartungen bestätigt den Blick ab.

"Nein, ganz und gar nicht“, sagte sie. "Das klingt nicht nach einem Verrückten. Das Gesicht, so wie du es beschrieben hast, erinnert mich an einen unserer alten Götter. Mendiato, den Gott der Qual. Er wurde früher als Schutzpatron in den Folterkammern der hohen Fürsten gepriesen, um unter seinem Namen und unter seinem Schutz, Menschen zu Tode quälen zu können. Mendiato, der dritte Sohn des Allmächtigen, liebte es die Sterblichen zu quälen und zu demütigen und als er es zu bunt trieb, wurde er verbannt in die Gestalt einer goldenen Statue. Sein gemeiner Blick und sein niederträchtiges Grinsen war der Statur entgegen dem Wunsch des Allmächtigen beibehalten." Sie sah ihn erwartungsvoll an und traf auf seinen verwunderten Blick. "Die Geschichte gehört zu meinem Glauben. Sie wurde uns in den Schulen erzählt. Aber ich denke, es ist nur eine Geschichte, um den Kindern zu lehren, kein Unrecht zu begehen."

Chrischka sah sie noch immer verwundert an. Vielleicht war dies doch der Ursprung seiner Träume. Er riss den Blick von ihr und suchte den Kontakt mit der Ferne. Wenn er nicht weiter wusste, oder wenn ihn etwas derart verwirrt hatte, dass er nicht mehr klar denken konnte, war er auf irgendeinen Kamin geklettert und hatte Antworten aus der weiten Ebene der Sommersteppe gesucht.

"Kannst du mir mehr darüber erzählen?“, fragte er schließlich.

"Viel mehr gibt es darüber nicht zu erzählen“, meinte sie achselzuckend.

"Ich muss ihn finden."

"Ihn finden?“, rief sie ungläubig. "Einen Gott kann man nicht finden. Eher schon findest du eine Statue, die noch irgendwo herumsteht. Als die Fürsten ihr uneingeschränktes Recht über ihr Land verloren, hörten auch die Folterungen auf und mit ihnen verschwanden auch die Lobpreisungen an Mendiato. Das ist vorbei."

"Wo kann ich so eine Statue finden?“, wollte er wissen.

"Er gehört nicht zu den Göttern, die heute noch verehrt werden“, sagte sie. "Im Gegenteil. Es ist beinahe verpönt, sein Bild oder die Statue aufzustellen."

"Wo kann ich so etwas finden?“, wiederholte er eindringlicher.

Tatandra zuckte mit den Schultern.

"Hier auf der Sommersteppe jedenfalls nicht“, entgegnete sie.

"In Lantiagomingo?“, fragte er.

Sie nickte. "Ich halte es aber für keine gute Idee, dass jemand wie du nach Lantiagomingo geht“, bemerkte sie.

"Warum nicht?"

"Du gehörst nicht dorthin, wie ich nicht hierher."

"Ich muss ihn finden. Damit ich endlich wieder ohne magisches Ideal leben kann."

"Was ist ein magisches Ideal?“, fragte sie neugierig.

"Eine kleine Steinplatte, mit alten Schriftzeichen, die mich vor seinen Einfluss schützt“, erklärte er bereitwillig.

"Gibt es so etwas?“, fragte sie kichernd

Entgegen der klirrenden Kälte öffnete Chrischka seinen Mantel, knöpfte sein Hemd halb auf und präsentierte das Amulett, das magische Ideal. Interessiert betrachtete es Tatandra. Ihre Hand glitt langsam unter das geöffnete Hemd und zu dem Anhänger, als Chrischka plötzlich zusammenzuckte. Er verzog sein Gesicht, schloss den Mantel und beugte sich auf die Knie nieder.

"Was ist passiert?“, fragte Tatandra besorgt. "Bist du krank?"

Crischka schüttelte den Kopf und hörte von irgendwo seinen Namen rufen. Er hob den Kopf und entdeckte Janosch. Mireen kletterte hinter ihm her, den Pfad hoch, vollkommen außer Atem. Chrischka atmete einige Male tief durch, bis sich der Speer wieder aus seinen Eingeweiden zurück gezogen hatte und richtete sich wieder auf.

"Habt ihr schon genug voneinander?“, rief er ihm entgegen und versuchte ein Grinsen. "Oder befürchtest du, wir könnten uns verlaufen?"

"Ich weiß ja, dass du nicht sonderlich begeistert warst von dieser Doppelverabredung“, rief Janosch ärgerlich zurück. "Aber uns deswegen zu stören, finde ich nicht nett." Er baute sich vor seinem Bruder auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte ihn wütend an.

"Euch stören?“, fragte Chrischka verwundert zurück. "Wie kommst du darauf? Wir haben euch doch extra allein gelassen."

"Und wer hat mich dann die ganze Zeit gerufen und Steine herunter geworfen“, rief Janosch wütend.

Chrischka und Tatandra sahen sich verwundert an.

"Wir nicht“, sagten sie beinahe gleichzeitig.

"Ihr habt euch gegen uns verschworen, gebt es zu“, rief Janosch wütend.

"Vorsicht, Janosch“, rief Chrischka ermahnend und erhob sich. "Vielleicht werden die alten Ammenmärchen doch noch wahr. Die Kamine haben etwas dagegen, als Verknüpfungspunkt benutzt zu werden."

Janosch schnaufte noch ein paar Mal wütend und beruhigte sich bald wieder.

"Glaubst du?“, fragte er vorsichtig und sah den Kamin hoch.

"Ich käme niemals auf die Idee, deine erste Verabredung zu stören“, erwiderte Chrischka und nahm seinen Bruder in den Arm. "Geschweige denn Steine auf euch zu werfen. Wir sollten uns aber trotzdem einen anderen Platz suchen. Es wird bald Nacht und die möchte ich nicht draußen verbringen."

Ein Geräusch über ihnen ließ sie aufschrecken. Janosch konnte noch einen Warnruf ausstoßen und Chrischka sprang auf die Seite. Ein losgelöster Felsen schlug auf eben der Stelle auf, wo Chrischka noch vor einem Augenblick gestanden hatte.

"Es gibt offensichtlich noch jemand, der uns stören will“, schimpfte Chrischka. "Ihr wartet hier." Er wand sich um und kletterte den Pfad hinauf.

"Ich komme mit." Janosch war ihm bereits auf den Fersen. Die beiden Mädchen blieben stehen. "Ich hoffe, dass wir jemanden finden“, rief er kleinmütig. "Das ist mir lieber, als von der Wut eines Kamins getroffen zu werden."

Chrischka lachte kurz auf und musste bereits vor einem weiteren Stein in Deckung gehen. Er vergewisserte sich noch, dass der niedergehende Fels weder seinen Bruder, noch die Mädchen treffen konnte und kletterte weiter.

Einige Meter über ihnen gab es einen Felsvorsprung. Der Pfad führte direkt dorthin und auf der anderen Seite weiter. Die beiden folgten dem Weg. Über ihnen gab es erneut ein Geräusch herabfallenden Gesteines. Sie drückten sich an die Wand und sahen bald darauf einen Felsen herabstürzen. Mit einem Blick gegenseitiger Bestätigung lösten sie sich von der Wand und eilten den Pfad höher hinauf. In Chrischka keimte mit jedem Meter, den er höher stieg, ein ungutes Gefühl auf. Er glaubte plötzlich zu wissen, dass er einen Fehler beging und blieb für einen Moment stehen.

"Ganz schön anstrengend“, keuchte Janosch hinter ihm. Stoßweise quollen weiße Rauchwölkchen über seine Lippen. Es sah nach unten und musste feststellen, dass sie bereits ein ganzes Stück zurückgelegt hatten. Dann ließ er seinen Blick nach oben gleiten und musste feststellen, dass er nicht einmal den Kamin selbst erreicht hatte. Wieder fielen Steine von oben herab. "Vielleicht es ist doch der Kamin“, rief Janosch und zog seinen Bruder aus der Gefahrenzone.

"Vielleicht“, gab Chrischka zurück. Er sah nach oben. Ein schmerzhafter Stich fuhr ihm in seinen Magen. Er zuckte kurz zusammen und kletterte weiter.

Endlich am Fuße des Kamins, auf der Spitze des Hügels, in dessen Mitte der größte Kamin der Sommersteppe in den Himmel ragte, standen sich die beiden Morkanen gegenüber und versuchten zu Atem zu kommen. Die dünne Luft hier oben machte ihnen ebenso zu schaffen wie die Kälte, die hier oben noch eisiger, klirrender und beißender war, als unten auf dem Boden der Steppe. Sie sahen sich um und konnten niemanden entdecken. Janosch kletterte über einige Felsen und blickte hinter Vorsprünge und in kleine Schluchten, doch niemand war zu entdecken, der imstande gewesen wäre, Steine ins Rollen zu bringen. Chrischka untersuchte die andere Seite. Wenn jemand hier oben gewesen war, dann musste es einen zweiten Weg geben, auf dem er wieder hinunter geflüchtet war.

Er stieg über einen Felsbrocken auf ein höheres Plateau und stieß einen Schrei aus. Vor ihm lag eine Leiche, in der Kleidung von Steppennomaden und mit zerschmettertem Gesicht. Eine goldgelbe Flüssigkeit war über seinem Kopf ausgeschüttet worden. Chrischka starrte den Leichnam an und ein schmerzhafter Speerstich bohrte in seinen Magen. Er wusste, er musste weg. Fort von hier. Wieder hinunter klettern, doch er konnte es nicht. Janosch stand plötzlich an seiner Seite und starrte ebenfalls die Leiche an.

"Keiner von uns“, sagte er wissend.

Dies hatte Chrischka bereits selbst festgestellt. Weder die Morkanen, noch die Deeronen trugen Ponchos. Aber einige Stämme aus dem Osten. Was ihm mehr Unbehagen bereitete, war die Flüssigkeit, die über dem Kopf des Mannes ausgeschüttet worden war. Sie hatte sich mit dem Blut und dem Schädelinhalt bereits vermischt. Er wandte sich angewidert ab und entdeckte fünf Männer in bodenlangen, schwarzen Umhängen, die Kapuzen tief ins Gesicht gedrückt, wodurch von ihren Gesichtern nichts mehr zu sehen war, mit langen silbernen Speeren, in einer Reihe aufgestellt, scheinbar geduldig darauf wartend, dass sie entdeckt wurden. Chrischka stieß seinen Bruder an. Mit einem weiteren Blick gegenseitiger Bestätigung ihres Entschlusses, wirbelten sie herum und eilten den Pfad zurück. Die Männer setzten sich in Bewegung.

Sie hatten beide Schwierigkeiten, in der Eile sicheren Halt für ihre Füße zu finden. Die Morkanen und die Männer in den schwarzen Umhängen, wobei diese scheinbar den Vorteil der Ortskenntnisse auf ihrer Seite zu haben schienen. Der Vorsprung wurde stetig kleiner.

Vor Chrischka und Janosch tauchten unerwartet fünf weitere Männer in schwarzen Umhängen auf. Die beiden blieben abrupt stehen und entflohen seitlich um einen Berghang herum, von dem sie hofften, dass er auf den Pfad zurückführen würde. Sie befanden sich unversehens auf einer grauweiß bemalten Plattform wieder. Nur kurz stutzten sie, als sie das Dach eines Hauses erkannten. Sie sprangen über die Kante, fanden sich auf einer Straße wieder und blickten auf eine terrassenförmig angelegte Ansiedlung nieder. Janosch sprang auf das nächste grauweiße Dach und zog seinen Bruder mit sich. Die Männer folgten ihnen in nur wenigen Metern Abstand.

Als sich Chrischka nur für einen Moment umdrehte, sackte der Boden unter seinem Fuß weg. Er verlor das Gleichgewicht, rutschte mit einem Bein in ein Abflussloch, knallte mit dem Kopf gegen eine Häuserecke und sah sich unversehens in einem Reich der Dunkelheit wieder.


Janosch rief nach ihm, doch die Männer hatten ihn bereits umringt und hoch gezerrt. Der Bruder konnte nichts mehr für ihn tun, wenn er nicht wollte, dass auch er gefasst wurde. Er rannte den Pfad hinunter, fiel mehrmals hin, schlug sich Knie und Handflächen auf und als er endlich wieder bei den Mädchen war, die mehr oder weniger erwartungsvoll auf die Rückkehr der Morkanen-Brüder warteten, hatte er nicht einmal ein Wort der Erklärung für sie übrig. Er rannte an ihnen vorbei, hinunter in das Dorf und ließ sich vollkommen aufgelöst und außer sich vor Schock und Schreck vor seinem Vater auf die Knie niedersinken.

Als wenig später sämtliche Männer der Sippe den Pfad hinaufkletterten und auf dem Gipfel des Hügels nach Chrischka suchten, war nichts mehr von dem vorhanden, was ihnen Janosch aufgelöst zusammen gestammelt hatte. Die Leiche war verschwunden, selbst von den Männern in den schwarzen Umhängen fehlte jede Spur. Auch von Chrischka.

"Er wird ihn irgendwo hinunter gestoßen haben“, rief einer der Männer.

"Konnte wohl das Gerede von dem goldenen Gesicht nicht mehr hören“, rief ein Zweiter und bedachte Janosch mit einem bösen Blick.

Janosch starrte nur von Einem zum Anderen und konnte es nicht begreifen.

"Wo ist Chrischka?“, wollte sein Vater streng wissen.

Janosch hatte die Wahrheit gesprochen.

Entsetzt schüttelte er den Kopf und sank auf einen Felsen nieder.

"Ist er abgestürzt? Sag es mir“, befahl Roschka, der Vater.

"Nein“, rief Janosch und schüttelte energisch den Kopf.

"Deine Kinder werden allesamt verrückt“, rief ein Sippenmitglied.

"Chrischka war nicht verrückt“, rief Tatandra, die ebenfalls auf den Hügel geklettert kam. "Er war besessen von Mendiato, einem Gott, der es liebt, Menschen zu quälen."

"Weißt du, was du da sagst, Mädchen?“, rief Roschka.

"Ich weiß es genau. Ich habe seine Geschichte gehört. Es ist Mendiato."

"Wo ist Chrischka jetzt?“, wollte der Vater wissen.

"Ich weiß es nicht“, gab Tatandra achselzuckend zu. Sie hatte Janoschs Geschichte mit den herabfallenden Steinen nur bestätigen können. Doch was wirklich passiert war, vermochte sie ebenfalls nicht zu sagen.

Die Männer suchten noch einmal den gesamten Hügel ab, mussten aber ergebnislos wieder absteigen. Da sie von Chrischka nichts fanden, nicht einmal den Leichnam, vermuteten sie, dass er vermutlich in eine der zahlreichen unzugänglichen Stellen oder tiefen Spalten gestürzt oder von seinem Bruder Janosch gestoßen worden war. Roschkas Frau sank weinend zusammen, als sie erfuhr, dass ihr Sohn nicht mehr zurückkehren würde.

Keiner von den Morkanen brach drei Tage später gerne die Zelte ab und zog ohne Gewissensbisse weiter, als Chrischka bis dahin immer noch nicht aufgetaucht war.


5.

Der Gebetsschreier verkündete das nahe Ende des Tages. Die flimmernde Luft kühlte sich allmählich ab und der Himmel leuchtete dort, wo sich die Sonne langsam dem Horizont entgegen senkte, glutrot. Solange es noch Tageslicht gab, würde das Treiben auf dem Marktplatz von Kentiado, der Hauptstadt von Lantiagomingo andauern.

Die letzten Händler, Käufer und Schaulustigen trieben sich noch um den Gebetsturm herum und schienen nicht so recht nach Hause gehen zu wollen. Eine Gruppe verschleierter Frauen in knöchellangen weißen Kleidern saß auf den Stufen vor dem Brunnen mit der fünf Meter hohen Palmenstatue und tuschelten leise miteinander. Eine Handvoll Kinder spielten jauchzend Fangen. Ein Hund schnüffelte unter einem Tisch nach Fressbarem und eine entlaufene Henne spazierte hilflos gackernd zwischen den Tischen und Tresen herum. Der Marktplatz leerte sich allmählich, je näher die Sonne dem flimmernden Horizont kam.

Als fünf Männer in bodenlangen, wallenden, schwarzen Umhängen um die Ecke bogen und über den Platz marschierten, vergaßen die Frauen ihren Tratsch, die letzten Händler, das Anpreisen ihrer Ladenhüter und der Hund das Schnüffeln. Eisiges Schweigen erfüllte den Platz vor dem Gebetsturm. Einige der Frauen wandten ihren Blick ab. Eine von ihnen spuckte sogar vor der herannahenden Gruppe aus. Ein Händler verzog angewidert das Gesicht und der Hund verzog sich mit eingekniffenem Schwanz hinter einer leeren Kiste. Unbeirrt marschierten die Männer über den Platz, in einer beinahe perfekten Reihe hintereinander, ohne nach rechts oder links zu sehen. In ihren Händen hielten sie lange silberne Speere, die ihre Köpfe um mindestens einen halben Meter überragten. Beinahe im Gleichklang bewegten sie die Speere und setzten sie beinahe zeitgleich bei jedem vierten Schritt vor sich auf den Boden, um vier Schritte zu tun und den Stab wieder hochzunehmen und nach vier Schritten erneut auf den Boden zu setzen.

Die Frauen begannen leise zu murmeln. Ihr Stimmen wurden immer lauter, je näher sie kamen und als die Männer nur wenige Meter an ihnen vorbei gingen, konnten sie sich nicht mehr zurückhalten.

"Verschwindet!", rief eine der Frauen und warf eine Handvoll Dreck auf die schwarzen Männer, deren Gesichter nicht zu sehen waren.

Eine weitere tat es ihr gleich, nahm eine Handvoll Staub auf und schleuderte es ihnen entgegen.

"Wir brauchen euch nicht. Verschwindet“, rief sie und warf noch eine Handvoll Dreck auf die Männer.

Die Männer ließen sich nicht provozieren und marschierten ungerührt weiter, was die Frauen noch mehr erregte. Sie sprangen auf, liefen ihnen hinterher, beschimpften sie, spuckten hinterher und bewarfen sie weiterhin mit Staub und Dreck, bis sie endlich stehen blieben. Beinahe zeitgleich wandten sie sich um und bauten sich in einer Reihe vor den Frauen auf, ohne Vergeltung für die Beleidigungen zu fordern. Sie beschränkten sich vorerst auf drohendes Schweigen.

"Verschwindet von hier, "kreischte eine der Frauen. "Ihr seid hier nicht erwünscht."

Die Männer setzten die Speere neben sich auf den Boden und schienen geduldig darauf zu warten, dass sich die Frauen von allein beruhigten.

Sie wollten aber keine Ruhe geben. Lange aufgestaute Wut und Hass brodelte in ihnen und verlangte Rechtfertigung. Die Frauen beschimpften sie aufs Gröbste, spuckten vor ihnen aus und bewarfen sie mit Staub und Steinen. Die Gleichgültigkeit der Männer stachelte die Wut der Frauen nur noch mehr auf. Eine von ihnen griff sich ein loses Brett und begann auf den Nächstbesten einzuprügeln. Dieser stellte nur seinen Speer quer und überließ es ihm, die Schläge abzuwehren. Eine Zweite griff ein und warf sich mutig auf einen Anderen. Er drehte sich leicht und ließ sie ins Leere laufen. In ihrer Wut hatte die Frau ihre Krallen nach ihm ausgestreckt und gerade noch den Umhang erwischt. Als sie vorbei stolperte, zerrte sie am Umhang und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Kurz stutzte sie, als sie die Totenkopfbemalung auf seinem Gesicht erkannte, dann kreischte sie wild auf und stürzte sich erneut auf ihn. Mit einer beinahe beiläufigen Handbewegung schleuderte er sie von sich und warf sie auf die Stufen des Brunnens zurück. Eine andere Frau, eine kleinere und zierliche, vermutlich jüngere, blieb neben ihm stehen und starrte ihn entsetzt an. Sie schien derart von seinem Gesicht eingenommen zu sein, dass sie ihre Wut vergaß und ihn nur noch anstarren konnte. Der Mann in dem schwarzen Umhang verpasste ihr eine Ohrfeige, dass sie zu der anderen Frau auf die Stufen flog, wirbelte herum, zog die Kapuze über den Kopf und reihte sich wieder zu den Anderen, um mit ihnen in einer Art Gänsemarsch ihren Weg fortzusetzen.

Lumarc, der Mann in dem schwarzen Umhang, erinnerte sich erst wieder an dieses Erlebnis auf dem Marktplatz, als er mit den anderen zur Basis zurückkam. Nach dem üblichen Empfang kehrten sie in ihr Gemeinschaftslager zurück. Lumarc nahm den Umhang ab und stellte sich vor einen Spiegel, eine blankpolierte Metallfläche, die sein Gesicht nur verschleiert wiedergab. Er betrachtete sich und fragte sich, was diese Frau an ihm fand. Die Totenkopfbemalung kannte inzwischen jeder. Sie konnte es nicht gewesen sein.

Was war nur an ihm, dass sie ihn derart anstarren musste? Er schloss die Augen und versuchte darüber nachzudenken. Sein alter Freund tauchte wieder auf. Dieses grinsende Götzenbild. Er grinste ebenso zurück und nach der gewohnheitsmäßigen blutigen Träne verschwand es wieder. Er lächelte, öffnete die Augen und wand sich suchend um. Denn wenn dieses grinsende Gesicht auftauchte, hatte er vergessen, die kleine Steinplatte umzuhängen. Das schäbige Grasband hatte er längst gegen eine silberne Kette eingetauscht. Er hängte es sich um den Hals und konnte sich nun ungestört waschen und ausruhen. Aus unerklärlichen Gründen machte ihm die Hitze mehr aus als den Anderen. Er hatte mehrmals versucht darüber nachzudenken, doch als ihm Kopfschmerzen aufkamen, gab er es wieder auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, woher er kam, oder wer er war. Rein musste er sein, wurde ihm gesagt. Reinheit bis in die kleinsten Gedanken. Er wurde von seiner Vergangenheit gereinigt. Auch die Anderen konnten sich nicht daran erinnern. Sie gaben sich mit ihrem Jetzt ebenso ergeben ab, wie er es tun musste.

Lumarc wusch die Bemalung von seinem Gesicht. Unter der schwarzen Kutte stand er jedes Mal Höllenqualen aus und die Farbe verlief mit Regelmäßigkeit. Er nahm einen Kohlestift und zeichnete die Konturen seines Gesichtes nach, sodass er binnen kurzer Zeit aussah, wie der Tod persönlich. Dann legte er sich den Umhang wieder über die Schultern, nahm den Speer und ging nach draußen. Aus unerklärlichen Gründen hielt er es niemals lange in geschlossenen Räumen aus. Er schlief und aß in dem Gemeinschaftsraum, doch die meiste Zeit verbrachte er draußen vor der Türe, obwohl ihn die Sonne mit ihren heißen Strahlen beinahe verbrannte. Und unter der schwarzen Kutte floss der Schweiß in Strömen, obwohl sie seinen Körper merkwürdig kühlend umschmeichelte. Seine Bemalung würde bald wieder verlaufen sein. Doch dies war ihm lieber, als in zwar klimatisierten aber geschlossenen Räumen zu sein.

Er stellte sich neben die Türe und beobachtete das allmählich einschlafende Geschehen rund um die Basis, durch den hohen Zaun aus in der Sonne glitzernden metallenen Latten hindurch. Die Basis passte mit ihrer turmhohen, schillernden Fassade aus spiegelblank polierten Metallplatten so gar nicht in diese trockene Wüstengegend, mit ihren weißgekalkten Häusern und den blau bemalten Dächern. Die Basis bildete das krasse Gegenteil zu diesem Land. Ihm war bereits mehrmals aufgefallen, dass sie sich anders verhielten als die Bewohner in diesem Land. Die Feindseligkeit konnte er sich nicht erklären. Er hatte ihnen niemals etwas getan. Er war stets strikt nach Anweisung vorgingen. Über seine Aufgabe hier hatte er ebenfalls kurz nachgedacht. Doch dann quälten ihn derart starke Kopfschmerzen, dass er es schließlich wieder aufgab. Nur Essen, Schlafen und durch die Stadt spazieren und sich von den Bewohnern beschimpfen lassen, konnte nicht der Zweck seines Aufenthaltes sein. Aber was war es dann?

Lumarc verzog das Gesicht, als ein stechender Schmerz von einer Schläfe zur anderen jagte und er gab es auf, über den Sinn seiner Arbeit nachzudenken. Stattdessen beobachtete er weiter das Geschehen draußen auf der Straße. Er entdeckte eine verschleierte Frau in einem weißen, knöchellangen Kleid an einer Ecke stehen und die Basis beobachten. Für einen Moment überlegte er sich, ob er aufstehen und zu ihr gehen sollte. Ihn interessierte es, warum sie die Basis beobachtete. Doch dann fiel ihm ein, dass er die Basis nur in Begleitung der Anderen verlassen durfte. Ihr Auftrag für heute war erledigt. Sie durften freiwillig ihren Auftrag wiederholen, doch keiner wollte dies bei dieser Hitze. Auch nicht, wenn die Nacht hereinbrach. In der Nacht war es nicht viel kühler als am Tag. Er versteifte sich, rammte den Speer in den Boden und streckte ihn mit ausgestrecktem Arm von sich. Die Haltung der Wache, und blieb viele Stunden so stehen. Beinahe so lange, wie die Frau an der Ecke stehen geblieben war. Sie löste sich als Erste und verschwand im Dunkel der Nacht. Lumarc nahm den Speer zu sich und ging hinein.


Fünf Männer in bodenlangen schwarzen Umhängen marschierten schweigend, in einer perfekten Reihe hintereinander, die Speere zu jedem vierten Schritt pochend auf den Boden setzend durch die Gasse. Zwei Frauen in weißen Kleidern kamen ihnen entgegen. Eine der beiden Frauen drückte sich ängstlich an die Wand. Die Andere blieb mutig in der Mitte der Straße stehen. Die Männer mussten um sie herum gehen und taten dies in einem perfekten Bogen, exakt hintereinander. Sie wand sich um und blickte ihnen hinterher.

"Chrischka“, rief sie.

Einer von ihnen, der Letzte in der Reihe blieb stehen und wandte sich um.

"Chrischka?" Sie ging vorsichtig auf ihn zu und versuchte unter seine Kapuze zu blicken.

Warum Lumarc stehen geblieben war, konnte er sich selbst nicht erklären. Er hatte dieses Wort rufen hören und glaubte aus unerklärlichen Gründen, irgendwie aus Gewohnheit, reagiert zu haben. Er drehte sich wieder nach den Anderen um, die sein Fehlen noch nicht bemerkt hatten.

"Du bist Chrischka“, sagte sie, ihre Vermutung bestätigt. Sie nahm den Schleier ab. "Ich bin Tatandra. Erkennst du mich?"

Er sah sie stumm an und klopfte mit dem Speer auf den Boden. Doch die Anderen hatten dieses Zeichen nicht vernommen, da zur selben Zeit irgendwo in der Nähe eine Glocke läutete. Er sah ihnen nach und wollte sich schon in Bewegung setzen, als sie ihn am Ärmel festhielt.

"Warte, Chrischka. Erkennst du mich denn nicht?“, fragte sie und nahm das Kopftuch ab.

Dieses Gesicht sagte ihm nichts. Er schüttelte sie ab und wand sich um. Sie stellte sich in seinen Weg.

"So warte doch“, rief sie. "Du bist doch Chrischka, der Nomade von der Sommersteppe. Erinnerst du dich denn nicht mehr daran?"

Er schüttelte den Kopf. Wenn er versuchte darüber nachzudenken, keimten seine Kopfschmerzen wieder auf. Er marschierte um sie herum und folgte den Anderen.

Sie stellte sich erneut in den Weg.

"Versuche dich zu erinnern“, rief sie schnell. "An Janosch, deinen Bruder. Er und Mireen heirateten. Weißt du noch, die Verabredung auf dem Kamin?"

Er stieß sie zur Seite.

"An deine Mutter, deinen Vater. Die alte Raiska. Den verrückten Batiska."

Bei diesem letzten Namen blieb er stehen.

"Du erinnerst dich an Batiska?" Sie sah ihn fragend an. "Er gab dir ein magisches Ideal, das dich vor Mendiato beschützen sollte. Ein kleiner flacher Stein mit Zeichen darauf. Erinnerst du dich daran?"

Lumarcs Hand glitt zu seiner Brust.

"Du trägst es noch“, rief sie freudig und sah ihre Vermutung nun vollkommen bestätigt. Der verschwundene Steppennomade war in Lantiagomingo aufgetaucht, in der Kutte eines der seltsamen Männer, die überall im Land auftauchten und scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als durch die Stadt zu marschieren und die Leute mit ihrem merkwürdigen Gehabe zu verunsichern. Seit sie in Kentiado aufgetaucht waren, gab es seltsame Zwischenfälle, die verständlicherweise ihnen zugeschrieben wurden.

"Als du es mir gezeigt hast, entdeckte ich an deinem Hals eine Narbe“, sagte sie und beobachtete freudig, wie seine Hand zu seinem Hals wanderte. Eben an die Stelle, an der das Schwert des Kleken ihn getroffen hatte. "Du bist Chrischka“, sagte sie nun vollkommen überzeugt. "Wie kommst du hierher? Bist du noch immer auf der Suche nach dem goldenen Gesicht?"

Durch Lumarc ging ein Ruck. Pochende Schmerzen quälten sich von der einen Gehirnhälfte zur anderen. Er fragte sich, woher sie von dem Talisman, der Narbe und dem grinsenden Götzenbild wusste und verzog sein Gesicht, als ein stechender Schmerz in seinen Kopf fuhr.

"Wieso bist du nach Lantiagomingo gekommen?“, fragte sie. "Ich sagte dir doch, dass es kein guter Platz für dich ist." Sie sah ihn fragend an. Dass er nicht antwortete, verunsicherte sie leicht. Sie streckte eine Hand aus und wollte die Kapuze von seinem Kopf ziehen. Mit einer schnellen Bewegung wischte er jedoch die Hand fort, wand sich um und marschierte die Gasse weiter.

Tatandra lief ihm hinterher und stellte sich erneut in den Weg.

"Wo willst du hin?“, rief sie. "Deine Familie ist in große Sorge um dich. Du bist einfach verschwunden. Du musst wieder zurück."

Lumarc gab einen knurrenden Laut von sich. Es klang nicht menschlich. Tatandra blickte ihn erschrocken an. Dann schnellte ihre Hand hervor und bevor er sie daran hindern konnte, hatte sie ihm die Kapuze vom Kopf gezogen.

"Was haben sie mit dir gemacht?“, fragte sie und betrachtete ihn unsicher. "Bist du in den drei Jahren zu einem Tier geworden?" Sie streckte ihre Hand nach seinem Gesicht aus.

Er wich zurück und stieß sie mit dem Speer gegen eine Hauswand.

Tatandra sprang mutig wieder in die Mitte der Gasse und baute sich mit ausgebreiteten Armen vor ihm auf.

"Du kommst hier nicht wieder weg“, rief sie beherzt. "Du musst mich töten, wenn du an mir vorbeikommen willst."

Lumarc zögerte, seinem Speer den Befehl zu geben, die Frau zu töten. Er konnte ihn mit seinen Gedanken lenken. Aber er zögerte, daran zu denken. Die Spitze zeigte auf ihr Herz, doch er stieß nicht zu.

"Du kannst mich nicht töten“, rief sie tapfer und unterdrückte ihr Zittern. Sie erkannte den Morkanen beinahe nicht wieder. Sie verging beinahe vor Angst. Aus dem Augenwinkel heraus suchte sie ihre Cousine und flehte mit Blicken, sie möge Hilfe holen. Das Mädchen stand starr vor Schreck an die Wand gepresst und würde es nicht wagen, sich zu bewegen, wenn der Mann in dem schwarzen Umhang den Speer auch auf sie richtete.

Lumarc bewegte die Spitze leicht auf sie zu und pikte in ihre Brust, dort wo ihr Herz unter den Rippenknochen wie wild pochte.

"Du schaffst es nicht“, rief sie und zuckte zusammen, als die Spitze durch ihre Haut stach. "Du schaffst es nicht." Tränen stiegen in ihre Augen. "Du schaffst es nicht“, rief sie immer wieder, bis er den Speer endlich absetzte.

Er rammte den Stab neben sich in den Boden und hob ihn mit ausgestrecktem Arm von sich. Die Wachstellung. Er wusste in seiner Hilflosigkeit nichts anderes zu tun.

Tatandra atmete unmerklich auf. Sie senkte die Arme.

"Wie wäre es mit einem Becher kühlen Wein?“, fragte sie und unterdrückte das Zittern in ihrer Stimme. Sein steinerner Gesichtsausdruck und die schreckenerregende Bemalung verunsicherten sie etwas, doch sie schluckte es hinunter und setzte ein Lächeln auf. "Ein Becher kühler Wein“, wiederholte sie. "Oder auch Wasser, wenn du willst. Komm mit mir." Sie machte einen Schritt zur Seite und winkte ihn mit sich. "Komm mit. Zu mir nach Hause." Sie ging langsam rückwärts, in Richtung ihrer Cousine, die sie mit einem erschrockenen Gesicht beobachtete. "Komm, Chrischka. Komm mit mir." Sie winkte ihm zu.

Lumarc reagierte nicht. Er verharrte in Bewegungslosigkeit und starrte vor sich ins Leere.

"Eine Verabredung, hörst du“, rief sie und näherte sich ihm wieder. Sie zupfte an seinem Ärmel und winkte ihn mit sich. Doch er setzte sich nicht in Bewegung. Dann fiel ihr etwas ein.

"Bist du immer noch auf der Suche nach Mendiato?“, wollte sie wissen.

Durch Lumarc ging ein Ruck. Er weigerte sich, zu reagieren.

"Ich kann dir zeigen, wo er ist. Ich führe dich zu ihm."

Lumarc drehte den Kopf und betrachtete sie. Dann verirrte sich sein Blick wieder ins Leere. Eine Speerspitze bohrte sich in seinen Magen. Er verzog das Gesicht und hatte sich bald wieder in der Gewalt. Dieses Problem quälte ihn schon seit Langem. Doch es schien nichts zu geben, was ihm Abhilfe verschaffen könnte.

"Das goldene Gesicht. Erinnerst du dich? Ich kann dir zeigen, wo du ihn finden kannst."

Endlich reagierte er. Mit dieser Reaktion verschwanden auch die Schmerzen in seinem Magen.

"Ich führe dich“, rief sie und winkte ihn mit sich.

Lumarc setzte sich in Bewegung.

Erleichtert atmete Tatandra auf und wartete, bis er sich fast gleicher Höhe befand. Dann wand sie sich um und ging neben ihm her. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie den veränderten Mann an ihrer Seite. Es war eindeutig Chrischka, der Steppennomade. Doch außer den Gesichtszügen hatte er nichts mehr mit dem Morkanen gemein.

Tatandra führte ihn durch Straßen und Gassen, bis hin zu dem Haus, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Ihre Cousine war den ganzen Weg hinter ihnen drein getrottet, den Schleier hoch über die Nase gezogen und vor Angst zitternd. Tatandra hatte sich entgegen der Sitte nicht mehr verschleiert. Aber die fragenden und verärgerten Blicke galten nicht ihr, sondern dem Mann an ihrer Seite.

Sie öffnete die Tür und trat ein.

Lumarc folgte ihr.

Die erschreckt aufspringenden Familienmitglieder beruhigte sie schnell mit einer Handbewegung.

"Setz dich. Ich komme sofort wieder“, sagte sie schnell und verschwand in einer Tür. Sie hoffte, dass er noch an derselben Stelle stand, wenn sie zurückkam. Als sie mit einem Becher Wein in der Hand wieder im Innenhof auftauchte, fand sie ihn tatsächlich steif wie eine Statue an eben der Stelle stehen, an der sie ihn verlassen hatte. Ihre Eltern, ihre Geschwister und die anderen Verwandten, hatten sich von ihren Sitzen erhoben und starrten den Gast argwöhnisch an.

Tatandra streckte ihm den Becher entgegen.

"Trink erst mal“, sagte sie und versuchte ein freundliches Lächeln.

Er reagierte nicht.

"Man kann Mendiato erst sehen, wenn man von diesem Trank genommen hat“, sagte sie und lächelte freundlich.

Endlich nahm er den Becher an. Sie nickte auffordernd, als er ihn an die Lippen setzte und ihn mit einem Zug leerte. Dann ließ er den Tonbecher fallen. Es gab ein schepperndes Geräusch und er zerbrach. Tatandra zuckte unmerklich zusammen und quälte wieder ihr Lächeln um die Lippen. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Der Chrischka, den sie auf der Sommersteppe kennengelernt hatte, existierte nicht mehr. Sie hatte es nun mit einem dieser unheimlichen Männer zu tun, denen man das Verschwinden zahlreicher Bewohner von Kentiado anlastete.

"Nun gehen wir zum goldenen Gesicht“, sagte sie und marschierte tiefer in den Innenhof. Die Bewohner wichen zurück, als der Mann mit der Totenkopfbemalung an ihnen vorüber ging.

„Komm mit“, lockte ihn die junge Frau zu einem Eingang. „Dort drinnen befindet sich das goldene Gesicht.“ Sie warf einen flüchtigen Blick über ihre Schultern und stellte zufrieden fest, dass er ihr folgte.

Doch plötzlich blieb er stehen, verdrehte die Augen und kippte einfach um. Tatandra schnaufte hörbar durch und sank auf die Knie.

"Was soll das?“, fuhr ihr Vater sie sogleich wütend an. Erst als der unheimliche Mann besinnungslos in sich zusammensackte, wagte er es, die Initiative zu ergreifen.

Tatandra zitterte noch immer und schalt sich, nicht genug Pulver in den Wein getan zu haben. Es hatte zu lange gedauert, bis die Wirkung eintrat. Sie wurde vom Boden hochgezogen. Starke Hände quetschten ihren Arm. Sie jammerte und versuchte sich zu befreien.

"Bist du verrückt geworden, einen von der Todeshorde in unser Haus zu bringen!“, schrie ihr die Stimme ihres Vaters ins Gesicht und versetzte ihr eine Ohrfeige.

"Das ist Chrischka“, rief sie, seine Stimme übertönend.

Ihr Vater beruhigte sich augenblicklich.

"Chrischka?“, fragte er ungläubig. "Bist du dir sicher?"

"Absolut“, nickte sie und unterdrückte ihre Tränen. Sie machte sich aus seinem Griff frei und kniete sich neben den Bewusstlosen nieder. Vorsichtig öffnete sie den Umhang und zog den flachen Stein unter dem Hemd hervor. "Er ist es“, sagte sie und atmete erneut erleichtert durch. Ihre Vermutung vor den Augen ihres Vaters bestätigt zu wissen und dadurch den Bruch mit der strengen Tradition zu übertünchen, war ihr im Moment sehr wichtig. Auf der Reise zur Sommersteppe und zurück, pochte ihr Vater nicht allzu sehr auf die Einhaltung gewisser Regeln. Er ließ sie walten, wie sie wollte. Doch seit sie zurück in Kentiado waren, musste sie sich wieder den strengen Regeln unterwerfen.

"Wie kommt er hierher nach Kentiado?“, wollte der Vater wissen und beäugte ihn ungläubig.

"Ich weiß es nicht“, erwiderte sie. "Ich glaube nicht, dass er uns das erzählen kann. Er erkennt mich nicht wieder. Er kennt nicht einmal sich selbst. Er reagierte nur auf die Bemerkung mit dem goldenen Gesicht. Weißt du noch, seine Träume?"

Ihr Vater nickte. Ihm war dieses Gerücht ebenfalls zugetragen worden, als er bei den Deeronen zu Gast gewesen war.

"Erzählte Janosch nicht, dass auf dem Hügel Männer in schwarzen Mänteln waren?“, erinnerte er sich. "Es waren welche von der Todeshorde“, erkannte er in diesem Moment. Der Name Todeshorde wurde ihnen von der Bevölkerung verliehen, da mit ihrem Auftauchen Menschen spurlos verschwanden und über manche auf mysteriöse Weise einen schrecklichen Tod erlitten. "Sie haben ihn mitgenommen."

Tatandra nickte und zerrte den vermeintlichen Chrischka vom Boden hoch. Mit Hilfe ihres Vaters und ihres Bruders schafften sie ihn in das Haus.



6.

Gleich nachdem Lumarc zu sich kam quälten ihn Übelkeit, Kopfschmerzen und Magenkrämpfe. Je klarer sein Verstand wurde, desto schrecklicher wirkten diese Gefühle auf ihn ein. Er schlug die Augen auf und fand sich in einem geschlossenen Raum wieder. Unbehagen gesellte sich mit dieser Erkenntnis dazu. Zudem war er an Händen und Füßen gefesselt. Er versuchte, sich aus den Fesseln zu winden, doch sie hielten stand. Er fragte sich, was passiert war, denn in dieser Situation hatte er sich noch nie befunden. So weit seine Fesseln es zuließen, richtete er sich auf und sah sich um. Er war in einem fremden Haus. Obwohl er sich in der Basis nicht sonderlich behaglich fühlte, vermisste er die blinkenden Metallflächen und die beinahe sterile Umgebung. Er befand sich zweifelsohne in einem der Häuser mit den blauen Dächern.

Es war Tag. Die Sonne warf ein grelles Viereck auf den Boden. Staub tanzte im Licht und es war kühl. Ein großer, mit Wasser gefüllter Kessel sorgte für die nötige Luftfeuchtigkeit. Lumarc schwitzte nicht. Er fand es nahezu angenehm. Trotzdem vermisste er die Basis. Er wusste, dass er nicht allein bleiben durfte und versuchte erneut, sich aus den Fesseln zu winden.

Der Vorhang auf einer Seite des Raumes wurde zurückgeschlagen und eine junge Frau, in einem weißen Kleid und einem nur nachlässig verdeckenden Schleier trat herein. Es war dieselbe, die ihn in einen Innenhof gelockt hatte. Er betrachtete sie eingehend und begriff plötzlich, dass sie ihn kennen musste. Aber woher?

Er war erst seit ein paar Tagen in dieser Stadt ... oder Wochen? Er konnte sich daran erinnern, dass er einige Zeit in einer Eiswüste verbracht hatte, wo er tagelang nichts anderes als Eis und Schnee gesehen hatte. Und er war auch in einer Gegend gewesen, die nur so grünte und blühte. Weitläufige Wiesen mit saftigem Gras und dichten Wäldern. Dann verbrachte er auch kurze Zeit in einem feucht heißen Wald und erinnerte sich noch an die seltsam bemalten Bewohner und die Unmengen von Stechmücken. Doch er erinnerte sich nicht daran, was er gestern oder vorgestern getan hatte. Nur durch die Stadt marschiert … ? Zu einem befohlenen Punkt und wieder zurück … ?

Ein stechender Schmerz jagte durch seinen Kopf. Lumarc verzog das Gesicht und versuchte sich zu entspannen.

Die junge Frau kniete sich neben ihn nieder und blickte ihn aufmerksam an.

"Tut mir leid“, sagte sie. "Doch wir können dich nicht wieder fortlassen. Du bist Chrischka. Eindeutig. Selbst Vater erkannte dich wieder."

Sie streckte eine Hand nach seinem Gesicht aus. Er wich zurück.

"Wie nennt man dich jetzt?“, wollte sie wissen. Sie interessierte weniger der Name. Sie wollte ihn lediglich zum Sprechen bringen.

Lumarc wand den Blick ab. Er entdeckte seinen Speer in einer Ecke an der Wand lehnen.

"Wie ist dein Name?“, fragte sie.

Er drehte den Kopf wieder zurück. Der Speer würde ihm nichts nützen, solange er ihn nicht berührte. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen.

Sie kannte ihn. Eindeutig. Er fragte sich nur, woher und musste das Gesicht verziehen, als ein weiterer Schmerz von einer Schläfe zur anderen jagte.

"Sind die Fesseln zu stramm?“, fragte sie besorgt.

Er schüttelte den Kopf und fragte sich gleich darauf, warum er dies getan hatte. Wenn sie die Fesseln lockerte, würde es ihm vielleicht gelingen, sich zu befreien. Doch aus unerklärlichen Gründen besaß er überraschend wenig Bestreben, sich zu befreien und wieder in die Basis zurückzukehren. Dennoch vermisste er die Basis.

Er hob den Kopf und betrachtete sie. Wenn sie ihn kannte, woher auch immer, dann würde sie ihm vielleicht seine wirren Träume erklären können. Nicht dieses hämische Grinsen, das immer wieder vor seinem Auge auftauchte, wenn er vergaß, den Stein anzulegen. Nein, die Träume von einer weiten Ebene, mit Bergen, die so kerzengerade in den Himmel ragten wie Schornsteine. Die Träume von einem Leben unter dem freien Himmel. Die Träume von vielen Menschen und immer wieder die gleichen Gesichter. Lumarc versuchte sich zu erinnern, ob jemals das Gesicht der jungen Frau in seinen Träumen aufgetaucht war. Er konnte sich nicht daran erinnern. Wieder jagte ein stechender Schmerz durch seinen Kopf. Er wusste warum. Er begann, unrein zu werden. Und er wusste auch, was er tun musste, um die Kopfschmerzen und die Unreinheit loszuwerden. Nicht an seine Vergangenheit denken.

"Kannst du nicht sprechen, oder darfst du nicht?“, wollte sie wissen und blickte ihn auffordernd an.

Lumarc betrachtete sie und überlegte, ob er sprechen sollte. Er konnte es, hatte aber in letzter Zeit nicht viel Gelegenheit dazu bekommen.

"Wie ist dein Name?“, fragte sie erneut, als sie bemerkte, dass er darauf reagierte.

"Lumarc“, antwortete er endlich.

"Lumarc“, wiederholte sie nickend.

"Wer bist du?“, wollte er wissen.

"Tatandra“, sagte sie. "Vermutlich erinnerst du dich nicht mehr an die Verabredung auf dem Kamin." Sie sah ihn eingehend an und versuchte aus seinem Gesicht eine Reaktion zu erkennen. Doch nichts schien in seinem Gedächtnis zurück geblieben zu sein. "Dein Bruder, Janosch und Mireen, verabredeten sich miteinander. Er brachte dich mit und Mireen mich. Erinnerst du dich?"

Lumarc weigerte sich, den Kopf zu schütteln, oder in irgendeiner anderen Weise darauf zu reagieren. Er wusste, wenn er es tat, würden seine Kopfschmerzen wieder aufkeimen. Daher blieb er stumm und unbeweglich.

"Aber du erinnerst dich an das goldene Gesicht“, sagte sie.

Diesmal nickte er. Daran brauchte er sich nicht zu erinnern.

"Warum fesselst du mich?“, wollte er wissen.

"Damit du nicht davonlaufen kannst“, erwiderte sie.

"Was willst du von mir?"

"Du bist jemand, den ich kenne“, meinte sie. "Vor drei Jahren, als wir uns auf dem Kamin verabredeten, bist du verschwunden, als du mit deinem Bruder höher stiegst, um den Steinewerfer zu fassen."

Dies gehörte nicht zu seinen Erinnerungen. Er wand den Blick ab und suchte den Speer. Er musste ihn nur berühren, um ihn lenken zu können.

"Du erinnerst dich nicht mehr, richtig?“, sagte sie. "Aber es war so. Alle glaubten, Janosch hätte dich hinunter gestoßen, weil er es nicht ertragen konnte, einen verrückten Bruder zu haben." Sie setzte sich auf den Boden, richtete das Kleid um ihre Knie und betrachtete ihn erwartungsvoll. "Sie hielten dich alle für verrückt“, fuhr sie fort. "doch du warst es nicht." Sie schwieg wieder. Scheinbar sprach sie gegen eine Wand des Vergessens. Der Mann vor ihr war eindeutig Chrischka. In seinen Erinnerungen schien jedoch nichts mehr von diesem Leben vorhanden zu sein.

"Ich kann dich nicht wieder zurückgehen lassen“, brach sie das Schweigen. "Was auch immer in der Zwischenzeit mit dir geschah, es ist nicht das, wofür du bestimmt bist. Ich sagte dir bereits einmal, dass dies hier kein Leben für dich wäre. Du passt nicht hierher."

Lumarc drehte den Kopf und blickte in ihre Augen. Woher konnte sie wissen, dass er sich hier unbehaglich fühlte?

"Wohin passe ich?“, fragte er und ignorierte das Stechen in seinem Kopf.

"Dorthin, wo du geboren wurdest“, antwortete sie. "Auf die Sommersteppe, in den Kreis deiner Sippe."

Lumarc dachte darüber nach und musste das Gesicht verziehen. Die Kopfschmerzen ließen ihm keine Gelegenheit, unrein zu werden. Er kämpfte dagegen an und sank auf die Unterlage zurück.

"Hast du Schmerzen?“, fragte sie besorgt. Dann erhob sie sich, verließ den Raum und kam wenige Augenblicke später mit einem Becher in der Hand zurück. "Trink das“, sagte sie. "es wird dir guttun."

Lumarc besaß nicht das Gefühl, dass sie ihm etwas Unrechtes antun wollte. Er öffnete die Lippen und ließ die kühle Flüssigkeit über seine Zunge rinnen. Es schmeckte etwas bitter und für einen Moment schalt er sich, erneut auf sie hereingefallen zu sein.

Sie setzte sich wieder neben ihn und strich ihm über das Gesicht.

"Sei mir nicht böse“, sagte sie entschuldigend. "aber deine Bemalung sah so furchterregend aus, dass ich sie abgewaschen habe."

Es war ihm gleichgültig. Wenn er wollte, konnte er die Konturen wieder nach fahren. Spätestens, wenn er in die Basis zurückkam, würde er es tun müssen.

Wenn er in die Basis zurückkam … !?

"Was hast du mit mir vor?“, wollte er wissen.

"Vater meinte, es wäre am Besten, dich von hier fortzubringen“, antwortete sie. "Damit dich die Todeshorden nicht wieder in die Finger bekämen."

Er sah sie fragend an. Er hatte keine Ahnung, wen sie mit Todeshorden gemeint haben könnte. Dennoch hakte er nicht nach. Er hatte bereits begriffen, dass sie ihn nicht freiwillig würde gehen lassen.

Irgendwie war ihm dies gleichgültig. Ihn kümmerte es weder, ob er für immer ein Gefangener sein würde, noch, ob die Anderen nach ihm suchten. Er fand sich mit seiner derzeitigen Situation ab und fürchtete weder das Eine noch das Andere.

"Vielleicht erinnerst du dich wieder an alles, wenn du auf der Sommersteppe bist“, meinte sie. "Wenn du siehst, wo du bisher gelebt hast. Wenn du deine Sippe und deine Familie wiedersiehst."

Aus unerklärlichen Gründen quälten ihn keine Kopfschmerzen, als er darüber nachdachte. Nur ein leiser Druck zwischen seinen Schläfen deutete darauf hin, dass er unrein wurde. Aber kein stechender Schmerz.

"Sommersteppe“, sagte er nachdenklich und freute sich darüber, dass er über seine Vergangenheit grübeln konnte, ohne vor Schmerzen das Gesicht verziehen zu müssen. "Eine Ebene mit kerzengeraden Bergen."

"Ja“, rief Tatandra freudig. "Du erinnerst dich wieder?"

"Nein“, entgegnete er ausdruckslos. "Ich träume davon."

"Wovon träumst du noch?“, wollte sie eifrig wissen.

Lumarc dachte darüber nach. Der Druck verstärkte sich. Aber kein stechender Schmerz. Er drehte den Kopf und betrachtete den Becher. Schmerzmittel, erkannte er. Sie hatte ihm ein Mittel gegen die Kopfschmerzen eingeflößt.

"Wovon träumst du noch?“, wiederholte sie begierig, rutschte zur Seite und versperrte damit die Sicht auf den Becher.

Lumarc dachte erneut darüber nach. Viele Gesichter, alte, junge, immer dieselben. Konnte das die Familie sein, von der sie gesprochen hatte? Massige Tiere mit langen, gebogenen Hörnern, deren zottiges Fell einmal weiß, dann wieder dunkel war.

"Nichts“, sagte er schließlich und schüttelte den Kopf. Der Druck in seinem Kopf war beinahe unerträglich geworden.

Enttäuscht rutschte sie ein Stück weg.

Noch ein Schluck aus dem Becher, dann würde vielleicht auch der Druck verschwinden, dachte er und suchte erneut den Becher. Seine Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt.

"Und Mendiato?“, sagte sie. "Das goldene Gesicht. Weißt du noch, warum du es suchen sollst?"

"Gib mir zu trinken“, befahl er und richtete sich mühselig auf.

Tatandra gehorchte und legte den Becher an seine Lippen.

"Weißt du noch, wer dir befahl, den Ursprung des Gesichtes zu suchen?“, fragte sie, als sie den Becher wieder auf den Boden stellte.

Er schüttelte den Kopf.

Sie erhob sich, schlug den Vorhang zurück und kam mit einer goldenen Statue zurück. Das Gesicht der kaum handtellergroßen Figur aus Holz, mit aufgeplättetem Goldbelag, der bereits an einigen Stellen wieder abblätterte, sah genauso aus wie das Gesicht, das ihn stetig angrinste, wenn er vergaß den Stein um den Hals zu hängen. Überrascht starrte er die Figur an und versuchte einen Zusammenhang zwischen dem grinsenden Gesicht und dieser Figur zu finden.

"Das ist Mendiato“, sagte sie. "Das, was du suchen solltest."

Er sah sie fragend an. Der Druck in seinem Kopf ließ allmählich nach.

"Aber nicht die Ursache“, erwiderte er.

Tatandra lächelte. Sie wusste Bescheid über den Rat von Batiska. Janosch hatte ihr alles erzählt. Er musste den Ursprung seiner bösen Träume finden. Jedoch von einer kleinen, alten Statue konnten sie nicht kommen. Sie überlegte, was sie als nächstes tun sollte, um ihm wieder zu seinem verlorengegangenen Erinnerungsvermögen zu verhelfen.

Der Vorhang wurde wieder zurückgeschlagen und ihr Vater trat ein.

"Sie suchen ihn“, berichtete er und deutete mit einem Blick auf Lumarc. "Es sind ungewöhnlich viel Todeshorden in den Straßen. Wir müssen ihn fortschaffen."

"Wohin?“, fragte Tatandra und erhob sich.

"Ich weiß es nicht“, sagte er und blickte versonnen aus dem Fenster. Dann drehte er sich um, nahm seine Tochter beim Arm und zog sie mit sich aus dem Zimmer heraus.


7.

Das Viereck wanderte allmählich in die andere Ecke des Zimmers, wurde auf dem Weg immer länger und dunkler und verschwand schließlich in der allgemeinen Dunkelheit des Zimmers. Als die Nacht gänzlich hereingebrochen war, kam Tatandra zurück, kniete sich neben ihn nieder und gab ihm kühlen Wein zu trinken. Die Nebenwirkung des Trankes versetzte ihn wieder in eine vollkommene Stille. Er träumte von einem grinsenden Gesicht, einer Herde massiger Tiere mit dunkelgrauem Fell, einer Gruppe Menschen, die mit einer großen Menge Gepäck über eine weite Ebene gingen und von sich selbst, wie er mit einem hölzernen Speer bewaffnet in die auseinander stobende Herde rannte und ein Tier erlegte.


Als er wieder zu sich kam, war es noch immer Nacht. Über ihm glitzerte ein klarer Sternenhimmel und unter ihm knirschte feiner Wüstensand. Er bewegte sich und musste feststellen, dass seine Hände und Füße noch immer aneinandergefesselt waren. Er fühlte sich in Anbetracht des freien Himmels wohler als in einem beklemmenden Raum und füllte seine Lungen mit der staubig, trockenen Luft.

Neben ihm bewegte sich jemand. Als er den Kopf drehte, erkannte er das Mädchen, das ihn in einen Innenhof gelockt hatte und sich mit ihm unterhielt, bis der ältere Mann hereinkam. Er erhob sich etwas und sah sich um. Sie befanden sich in der offenen Wüste und sie waren allein. Weit und breit war kein Haus, kein Baum und kein Mensch zu sehen. Der Mond ließ sein schwaches Licht über die sandige Ebene fallen und dann und wann glitzerte ein Sandkorn, von einer seichten Prise davongetragen, auf. Das Mädchen schlief. Ihr Kopftuch, das zugleich auch den Schleier bildete, benutzte sie als Kissen.

Lumarc legte sich wieder zurück. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm passiert war. Aber aus unerklärlichen Gründen war er niemandem böse deswegen. Im Gegenteil. Er fühlte sich so wohl, wie seit Langem nicht.

Er schloss die Augen und rief das grinsende Gesicht. Es sollte an diesem neuen Gefühl teilhaben. Doch es erschien nicht, da er den Stein noch um seinen Hals trug. Da er es sich in seiner momentanen Lage nicht selbst abnehmen konnte, beließ er es dabei und versuchte wieder einzuschlafen. Irgendwie gefiel es ihm, obwohl er die Basis vermisste.


Noch bevor die Sonne gänzlich hinter dem Horizont aufsteigen konnte, war Tatandra auf den Beinen und begann ihre Sachen einzusammeln und in ihren Taschen zu verstauen. Ihre Abreise war überraschend gewesen und sie hatte nicht annähernd soviel mitnehmen können, wie sie gern mitgenommen hätte. Sie musste sich von vielen liebgewonnenen Dingen trennen. Doch sie hoffte, dass ihr Verlust irgendwann einmal vergolten werden konnte – mit etwas anderem. Sie wand sich um, als sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.

Lumarc war erwacht und beobachtete sie bei ihrem Schaffen.

"Wo sind wir?“, wollte er wissen.

"Fünf Tagesreisen von Kentiado entfernt“, sagte sie und stopfte die Decke in eine Tasche. Ihr Vater hatte ihr seine Pferde überlassen. Sie war ihm dankbar dafür.

"Warum?“, fragte er.

"Warum was?“, fragte sie zurück. "Warum wir nur fünf Tage entfernt sind? Weil eines der Pferde lahmt“, beantwortete sie ihre Frage selbst. "Warum ich dich entführt habe?" Sie betrachtete ihn und setzte sich schließlich neben ihn. "Weil ich finde, dass du bei den Todeshorden nichts verloren hast. Du bist ein Steppennomade und kein Fluch. Du gehörst in einen Wildbüffelmantel gekleidet und nicht in solch einen Umhang." Sie zeigte auf den Stoff, den sie ihm ausgezogen und ihn trotz aller Unbehagen damit zugedeckt hatte.

Er sah sie fragend an. Der Druck in seinem Kopf nahm wieder zu, als er darüber nachzudenken versuchte. Je stärker er darüber nachdachte, desto stärker wurde der Druck, bis es schließlich wieder schmerzte.

"Gib mir zu trinken“, sagte er und versuchte sich aufzurichten.

Sie erhob sich, nahm einen Wasserschlauch und gab ihm zu trinken. Doch die ersehnte Wirkung blieb aus.

"Ich dachte, ich bringe dich zurück, auf die Sommersteppe“, bemerkte sie und verschloss den Schlauch sorgfältig. Jeder Tropfen war lebenswichtig. Sie, als Kind der Wüste, musste es genau wissen. "Es liegt noch ein langer Weg vor uns. Und wenn wir uns beeilen, könnten wir Naskiato erreichen, bevor die Sonne hoch am Himmel steht." Sie betrachtete ihn eingehend. "Ich würde dich gerne von den Fesseln befreien, wenn ich genau wüsste, dass du mir nichts antust."

Er sah sie erneut fragend an.

"Ich zerschneide deine Fesseln, wenn du versprichst, mir nichts zu tun."

"Warum sollte ich?“, fragte er unschuldig.

Tatandra nahm ein Messer und schnitt die Fesseln durch. Ein unbehagliches Gefühl kam ihr dabei schon auf. So als ob sie einen Fehler beging. Doch sie hatte sich dazu entschlossen, hatte ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen und sich auf die Reise gemacht. Nun musste sie auch diesen Schritt wagen.

Lumarc rieb seine wundgescheuerten Handgelenke und bewegte seine steifen Glieder. Als er sich umsah, entdeckte er an einem der Pferde seinen silbernen Speer. Er brauchte ihn nur zu berühren, um ihn zu lenken. Doch auf einmal wusste er nicht mehr, wohin er ihn lenken sollte. Er betrachtete die junge Frau neben ihm. Ihre Blicke trafen sich und plötzlich erschien ein Bild vor seinen Augen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde entdeckte er das Gesicht dieses Mädchens, umrahmt von einem glitzernden Kopftuch, im Hintergrund ein Felsen. Sie lächelte ihn an, so wie sie es eben tat. Und da war es auch schon wieder verschwunden.

Er verzog das Gesicht und krümmte sich zusammen. Sein Kopf schien zu platzen. Er presste die Handflächen auf seine Schläfen und stöhnte vor Schmerz. Es wurde immer schlimmer, je mehr er versuchte, sich dieses Bild wieder in Erinnerung zu rufen. Als er es schließlich aufgab, flaute der Schmerz langsam ab. Unrein zu sein, bedeutete Schmerz, wusste er und versuchte wieder zu Fassung zu kommen.

Tatandra musste hilflos mit ansehen, wie er sich zusammen krümmte und seine Hände auf die Schläfen presste Sie wusste ihm nicht zu helfen und konnte nichts tun, als abzuwarten, bis er sich wieder erholt hatte. Als er den Kopf endlich wieder hob, konnte sie die Folgen seiner Qual an seinem Gesicht erkennen.

"Ist es Mendiato, der dich quält?“, wollte sie wissen.

Er schüttelte den Kopf.

"Gib mir zu trinken“, befahl er.

"Wir müssen sparsam mit Wasser umgehen“, entgegnete sie und nahm dennoch den Schlauch in die Hand.

"Nein“, rief er ärgerlich und stieß sie von sich, als sie ihm zu trinken geben wollte. "Ich will das Schmerzmittel, das du in den Wein gegeben hast."

Tatandra blickte ihn erschrocken an, begriff aber, erhob sich und kramte in ihren Taschen, bis sie das Gesuchte fand. Ein kleiner, mit weißem Pulver gefüllten Beutel.

"Was hast du für Schmerzen?“, wollte sie wissen, während sie ein paar Krümel des Pulvers mit etwas Wasser vermischte und ihm schließlich überreichte.

"Kopfschmerzen“, sagte er und trank gierig. Er sehnte sich danach, über seine Vergangenheit nachdenken zu können, ohne dabei vor Kopfschmerzen beinahe wahnsinnig zu werden. "Erzähle von der Sommersteppe“, verlangte er, als die Schmerzen nachließen.

Während sie die restlichen Sachen in den Taschen verstaute und Richtung Norden weiterzogen, erzählte sie ihm von ihren Erlebnissen auf der Sommersteppe. Er hörte ihr aufmerksam zu und folgte ihr, wohin sie auch ging. Ihm kam dies alles bekannt vor, doch nicht aus eigenen Erfahrungen, sondern aus seinen wirren Träumen. Als hätte er es selbst erlebt.


Und schließlich stand er viele Tage und Wochen später leibhaftig vor der Sommersteppe. Auf dem Grat eines hohen Passes stehend, überblickte er die ganze weite Ebene, mit den kerzengeraden Bergen, Schornsteinen gleich, von denen er immer geträumt hatte. Aus unerklärlichen Gründen fühlte er sich wohler. Kalter Wind blies ihm entgegen. Lumarc sog die kalte Luft in sich ein. Tief in seinem Inneren wusste er, dass Tatandra die Wahrheit gesprochen hatte. Doch er konnte sich nicht daran erinnern. Er war schon immer in einer schwarzen Kutte durch die Städte marschiert und hatte sich von den Bewohnern beschimpfen lassen müssen. An ein Leben auf einer solchen Ebene konnte er sich nicht erinnern. Es bereitete ihm wieder Kopfschmerzen, wenn er darüber nachdachte. Tatandra musste ihm immer öfter das Pulver in einen Becher Wasser geben. Und als er auf dem Grat stand und unter sich die Sommersteppe sah, auf der er gelebt haben soll, begann sein Kopf zu dröhnen. Er wand sich um.

Tatandra kannte den Blick. Sie seufzte, öffnete dennoch ihre Tasche und nahm Beutel, Wasserschlauch und einen Becher, um ihm zum zweiten Mal an diesem Tag ein Schmerzmittel zu bereiten.

"Wenn wir bei deiner Sippe sind, solltest du wegen deinen Kopfschmerzen zu einem Kräuterheiler gehen“, sagte sie und gab ihm den Becher. "Dieses Pulver kann süchtig machen. Ich habe schon welche gesehen, die sind vor Wahnsinn gestorben, weil sie zu viel davon bekommen haben."

Lumarc zuckte nur mit den Schultern. Er trank den Becher in einem Zug aus und gab ihn zurück. Vielleicht war er bereits süchtig danach. Aber wenn es ihm ein paar weitere schmerzfreie Stunden verschaffte, würde er es bis an sein Lebensende zu sich nehmen. Seufzend nahm sie den Becher wieder und verstaute ihn in ihrem Gepäck. Dann streckte sie ihren Arm aus und zeigte mit dem Zeigefinger auf einen großen kaminartigen Berg, weit im Inneren der Steppe.

"Siehst du ihn?“, fragte sie. "Das ist der Kamin. Der größte auf der Sommersteppe."

Lumarc folgte ihrem Blick.

"Dort ist es passiert“, sagte sie.

"Gehen wir dorthin“, entschloss er und zog sich in den Sattel. Tief in seinem Inneren wurde etwas von dem berührt, was er sah und hörte. Es kam ihm alles irgendwie bekannt vor, aber auch irgendwie nicht. Er fühlte sich fremd, aber auch als wäre er endlich daheim. Wenn sein Dasein als Steppennomade auf diesem Kamin geendet hatte, dachte er vielleicht, könnte es dort wieder beginnen.

Er lenkte das Tier den Pfad hinunter. Der schwarze Umhang bäumte sich etwas auf, als ihn ein leichter Aufwind erfasste. Trotz des dünnen Stoffes fror er nicht. Er hatte in der Eiswüste auch nichts anderes getragen, als dünne Hosen und Hemden aus weichem, schimmerndem Stoff, leichte Stiefel aus dünnem Leder und den dünnwandigen Umhang. Und trotzdem hatte er nicht gefroren. Auch jetzt, als sie immer weiter in den Norden kamen und es immer kälter wurde, hüllte er sich in die schwarze Kutte und ihm war warm. Sein Gesicht tief unter der Kapuze versteckt, spürte ebenfalls nichts von dem eisigen Wind, der von der Thermik an dem Grenzgebirge hoch getrieben wurde. Tatandra hatte ihr leichtes weißes Kleid schon längst gegen lederne Hosen und eine dicke Jacke eingetauscht. Das weiße Schleiertuch diente ihr als Kopftuch und schützte sie gegen die Kälte. Sie steckte ihre Hände in die Ärmel zurück, so dass nur noch ihre Fingerspitzen hervor spähten.


Je näher sie dem Kamin kamen, dem einzigen Berg auf der Sommersteppe, der diesen Namen offiziell trug, desto höher schien er in den Himmel zu wachsen. Als sie ihre Reittiere am Fuße des Hügels festmachten und nach oben blickten, glaubten sie, die Spitze des Kamins sei mit dem Himmel verwachsen.

Tatandra warf immer wieder eindringliche Blicke in Lumarcs Richtung, in der Hoffnung, dass endlich seine Erinnerung wieder zu ihm zurückkam. Doch er zeigte keine Anzeichen. Da sein Gesicht tief unter der Kapuze versteckt war, konnte sie ohnehin keine Regung erkennen. Sie trottete hinter ihm her, kletterte den Pfad hinauf, wie vor drei Jahren, als sie mit ihrer Freundin Mireen zu der Verabredung gegangen war, beobachtete und wartete weiterhin stumm.

Lumarc blieb stehen und sah sich um. Tatandra hielt die Luft an und wartete darauf, dass er etwas sagte. Sie befanden sich an der Stelle, an der sie sich getroffen hatten. Wo Janosch und Mireen zurückgelassen wurden, damit sie ungestört sein konnten.

"Ist dir aufgefallen, dass der Hügel nur aus fest gewordenem Geröll besteht“, sagte er zu ihrer Enttäuschung.

Sie sah sich um. Es war ihr nicht aufgefallen.

"Wie kommst du darauf?“, wollte sie schließlich wissen.

"Von weitem sieht der Hügel aus wie der Abfallberg eines Ameisenhügels“, meinte er und blickte sich um.

"Ich verstehe nicht." Sie sah ihn fragend an. "Wie kommst du auf Ameisenhügel?"

"Sie tragen unbrauchbares Material vor ihren Bau. Die dadurch entstehenden Häufchen, sehen stark vergrößert ebenfalls aus, wie Geröllhaufen. Einzelne Brocken, die aufeinander geschlichtet wurden."

Tatandra sah sich abermals um. Jetzt, da er dies erwähnte, und bei genauerer Betrachtung, konnte dies wahrhaftig zutreffen. Doch wo sollte es derart große Ameisen geben, die einen solchen gigantischen Geröllhaufen aufeinander schichteten. Sie schüttelte verständnislos den Kopf und folgte ihm, als er den Pfad weiter hinaufkletterte.

Als sie an die Stelle kamen, an der sie sich unterhalten hatten, an der Chrischka von seinem bösen Traum erzählt hatte, blieb Lumarc erneut stehen und wand sich nach Tatandra um. Sie lächelte ihn ebenso an, wie in dieser kurzen Vision. Nur diesmal trug sie ein weißes Kopftuch, kein glitzerndes.

Der Druck in seinem Kopf wurde stärker. Er klammerte sich um den Speer, den er trotz Tatandras missmutigem Blick nicht bei den Pferden zurücklassen wollte, wirbelte herum und kletterte weiter, bis er endlich den Gipfel des Hügels erreichte.

Dicht hinter ihm schnaufte Tatandra heftig durch. Die Klettertour hatte sie außer Atem gebracht. Sie setzte sich auf einen Felsen und beobachtete den Mann in dem schwarzen Umhang, wie er über die Felsen kletterte, näher dem Sockel des Kamins entgegen. Sie atmete noch einmal tief durch, dann folgte sie ihm.

"Janosch sagte, hier wäre ein Dorf gewesen“, keuchte sie, immer noch atemlos. "Er hätte von einem Dach springen müssen."

"So etwas wie das hier“, antwortete er und zeigte zu seinen Füßen.

Tatandra lief zu ihm. Nun stand sie leibhaftig auf dem Dach eines in den Fels gemeißelten Hauses. Vorsichtig ging sie an den Rand, blickte hinunter und entdeckte das terrassenförmig angelegte Dorf, von dem Janosch gesprochen hatte. Was er niemals erwähnt hatte, fiel ihr sofort auf. Das Dorf war nicht mehr bewohnt.

Lumarc stand vor einem Loch im Dach. Er sah sich selbst plötzlich hinein fallen und mit dem Kopf gegen die Häuserecke stoßen. Mit einem Kopfschütteln warf er die Vision von sich. Vielleicht hatte es sich so zugetragen. Doch es war nun nebensächlich. Er musste herausfinden, ob er tatsächlich derjenige war, für den ihn die junge Frau hielt. Er betrachtete wieder das Loch. Wenn er sich wieder daran erinnern konnte, dass er in dieses Loch gefallen war, dann musste er der Steppennomade sein, von dem sie ständig erzählte. Er musste dieser Chrischka sein, der spurlos verschwand.

Wenn nur nicht diese Kopfschmerzen wären, sobald er daran dachte. Sie ärgerten ihn. Sie quälten ihn. Sie ließen ihn beinahe wahnsinnig werden. Lieber wahnsinnig von diesem schmerzlindernden Pulver, als von den Schmerzen, sagte er sich und wandte sich um.

In einer Entfernung von ungefähr fünfzig Metern standen fünf schwarzbemantelte Männer in einer Reihe auf den Felsen und beobachteten ihn. Ihre Speere in der Wachstellung von sich gestreckt, standen sie nur stumm da und schienen darauf zu warten, dass sie endlich entdeckt wurden.

Lumarc stieß seinen Speer zweimal auf den Boden. Es gab einen hohlen Klang. Denn er stand noch immer auf dem Dach. Tatandra wirbelte herum, als sie dieses Geräusch vernahm und hielt vor Schreck den Atem an. Sie sah ihre Flucht bereits als beendet, wich langsam zurück und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass hinter ihr das Dach zu Ende war und sie in die Tiefe stürzte würde, wenn sie weiter zurück wich. Also blieb sie stehen.

Die Männer erwiderten dieses Zeichen, nahmen ihre Speere zu sich und kamen ohne Eile näher.

"Sie werden dich wieder mitnehmen, wenn du nicht wegläufst“, sagte Tatandra leise, so dass es nur Lumarc hören konnte.

"Sie werden dich töten, wenn ich mich widersetze“, gab er zurück.

"Ich habe dich erst von ihnen befreit, ich will nicht, dass du wieder in ihre Hände gerätst“, rief sie voller Besorgnis.

"Sei still!“, fuhr er sie an, ohne sich nach ihr umzudrehen.

Tatandra biss sich auf die Lippen, um keine Widerrede aufkommen zu lassen.

Die fünf Gestalten kamen immer näher. Und schließlich standen sie bei ihnen auf dem Dach. Sie schienen irritiert zu sein, einen von ihnen allein anzutreffen. Noch dazu in Begleitung einer Fremden.

Lumarc kannte die leisen Gesten. Eine unbemerkte Bewegung mit der Hand bedeutete, dass er ihnen folgen sollte. Sprechen brauchten sie nicht. Dazu gab es die Gesten, die er beherrschte, ohne sie jemals gelernt zu haben. Er setzte seinen Speer etwas härter auf den Boden. Die Antwort auf die Bewegung. Er würde ihnen folgen. Es hieß vielmehr, er würde gehorchen. Es kam nur darauf an, welche Forderung an ihn gestellt wurde.

Die Männer wandten sich um, formierten sich zu einer Reihe und schienen zu erwarten, dass sich der Sechste wie selbstverständlich zu dieser Reihe gesellte. Doch er zögerte etwas, wand sich nach Tatandra um, die ihn erwartungsvoll und mit entsetztem Gesicht beobachtete.

"Dreh dich um“, sagte er leise und ohne darauf zu achten, ob sie gehorchte oder nicht, nahm er den Speer in die Hand, richtete die Spitze auf die davon marschierenden Gestalten und gab einen Befehl an den Stab in seinen Händen. Seine Gedanken lenkten ihn. Ein dünner, schwach gelb leuchtender Lichtstrahl schoss aus der Spitze, fuhr dem Letzten in den Rücken, durchbohrte auch den Vierten, den Dritten, den Zweiten und traf auch den Ersten in der Reihe. Sie blieben wie angewurzelt stehen. Als wären sie von einem Augenblick auf den anderen in Steinfiguren verwandelt worden. Dann gab es dumpfe Knalle und sie fielen von den Felsen. Ihre schwarzen Umhänge plusterten sich noch in Anbahnung eines letzten Lebenshauchs etwas auf, fielen aber alsbald in sich zusammen, als würde mit der ausweichenden Luft auch das Leben von ihren Trägern weichen.

Tatandra stieß einen leisen Schrei aus und schlug die Hände vors Gesicht.

"Ich sagte, du sollst dich umdrehen“, schimpfte Lumarc und zerrte das Mädchen vom Dach, in Richtung der getöteten Männer.

"Wo willst du hin?“, rief sie und versuchte sich aus seinem Griff zu winden. Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich in die Nähe der getöteten Männer der Todeshorde zu begeben. Ihr blieb aber keine andere Wahl. Er hatte sie fest im Griff und zerrte sie schneller vorwärts, als sie über die Felsen zu klettern vermochte.

"Ich war hier schon einmal“, sagte er. Er konnte sich plötzlich wieder daran erinnern.

"Natürlich“, gab sie zurück. "Du bist hier gefangen genommen worden."

Er konnte sich daran erinnern, in einer schwarzen Kutte über die Felsen geklettert zu sein. Und er konnte sich daran erinnern, im Inneren des Kamins gewesen zu sein.

Als sie an den getöteten Männern vorbei kamen, blieb Lumarc kurz stehen. Unter dem schwarzen Stoff lief eine gelbe Flüssigkeit hervor. Er schlug einen Umhang zurück und starrte in ein aufgeplatztes Gesicht, auf dem noch vage die Totenkopfbemalung zu sehen war. Gelbe Flüssigkeit lief aus den offenen Wunden und vermischte sich mit dickflüssigem, schwarzem Blut zu einer schmierigen Masse. Er kannte dieses Bild. Er hatte dies nicht zum ersten Mal gesehen und er hatte seinen Speer nicht zum ersten Mal auf diese Art gelenkt. Er konnte sich nicht erinnern, ihn jemals auf ein menschliches Wesen gerichtet zu haben. Doch er wusste, er hatte es getan. Er hatte Jagd auf Menschen gemacht. Er hatte sie gejagt, bei Nacht und bei Tag und er hatte sie niemals entkommen lassen. Dank seines Speeres konnte ihm keiner entkommen. Er konnte bestimmen, wann und was sein Speer traf, wie verheerend die Auswirkungen waren, in welcher Entfernung es treffen musste und ob es töten oder nur betäuben sollte. Zusammen mit den anderen Vier aus seinem Korps hatte er Menschen gejagt. Doch aus welchem Grund?

Er wand sich nach Tatandra um, die ihren Blick nicht von dem schrecklichen Anblick der Männer abwenden konnte. Auf einmal fand er seine Idee, sein Verlangen in das Innere des Kamins zu gehen, nicht mehr richtig. Er nahm das Mädchen am Arm und zog sie von den Leichen fort. Sie stolperte und fiel zwischen zwei Felsen. Er zerrte sie wieder heraus und zog sie hinter sich her.


Erst viel weiter unten, als sie beinahe wieder an der Stelle angekommen waren, an der sie sich vor drei Jahren unterhalten hatten, fand Tatandra ihre Sprache wieder.

"Das ist kein normaler Speer“, sagte sie mit einem verunsicherten Seitenblick auf den silbernen Stab in seinen Händen. "Was ist das für eine Waffe?" Sie wünschte sich, sie hätte den silbernen Stab im Haus ihres Vaters zurückgelassen. Doch sie wollte kein Risiko eingehen. Nichts sollte darauf hinweisen, dass jemals einer aus der Todeshorde das Haus betreten hatte. Selbst die Unterkleidung, die dünnen Sachen - sie hatte sie ihm ausgezogen und ihn statt dessen in die übliche Männerkleidung gesteckt, damit es keinen Verdacht erregte - selbst diese hatte sie ihn ihre Tasche gesteckt. Auch den Speer wollte sie nicht zurücklassen. Nichts sollte auf den Aufenthalt eines Todesboten im Haus ihres Vaters hinweisen. Im Schutze der Nacht gelang es ihr, unentdeckt zu entkommen.

Lumarc knurrte etwas, was Tatandra selbstverständlich nicht verstehen konnte, was sie auch nicht verstehen sollte. Er wusste, er durfte niemand Uneingeweihten davon erzählen und musste sich stets unauffällig verhalten. Er überlegte kurz, ob er sich noch daran halten sollte, als die Kopfschmerzen seine Frage beantworteten. Er hasste sie mittlerweile. Sie quälten ihn stetig, während der ganzen Reise, Tag für Tag, Woche für Woche, in der sie nun unterwegs gewesen waren. Immer wenn er versuchte, seinem Leben auf die Spur zu kommen, kamen die Kopfschmerzen oder ein quälender Druck, wenn das Pulver noch seine Wirkung zeigte.

Sie kamen an die Stelle, an der sie sich zum ersten Mal verabredet hatten. Er blieb stehen und setzte sich auf den Felsen, auf dem er auch vor drei Jahren auch saß, als er mit seinem Bruder auf die Mädchen gewartet hatte. Tatandra blickte ihn erschrocken an. Sie konnte nicht begreifen, wie er so ruhig bleiben konnte, wo er doch eben fünf Männer getötet hatte.

"Was ist mit Janosch?“, wollte er plötzlich wissen.

"Dein Bruder?“, rief Tatandra fragend und blickte besorgt den Pfad hinauf, den sie eben gekommen waren. "Mireen und er haben geheiratet“, fuhr sie fort, als sie niemanden entdeckte, der ihnen gefolgt sein könnte. "Janosch meinte, der Fluch des Kamins müsste sich nicht auch noch bei ihm bewahrheiten."

"Der Fluch des Kamins?“, fragte er und sah sie schief an.

Tatandra nickte. "Die Kamine mögen es nicht, wenn man sich auf ihnen verabredet“, erklärte sie. "Die Leidenschaft vergeht in der Luft wie Rauch oder es passiert ein Unglück. Damals traf wohl letzteres zu."

Er betrachtete sie stumm. Dann wand er den Blick ab und ließ ihn über die weite Ebene schweifen. Dieses Bild gab ihm etwas, was er seit langem vermisst hatte, ohne es zu bemerken. Er war sich nun sicher, dass er der Mann war, für den ihn Tatandra hielt.

"Gehen wir meine Sippe suchen“, sagte er schließlich, erhob sich und stieg weiter ab.

8.

Für Janosch bewahrheitete sich ein Albtraum, als er den Reiter bemerkte, der gemächlich über die Steppe geritten kam. Der schwarze Umhang war bereits von Weitem zu sehen. Janosch begann zu zittern. Die Erinnerungen an das Erlebnis auf dem Kamin kehrten zurück und wurden zu Fleisch. Mireen erkannte die Gestalt neben dem unheimlichen Mann als Erste. Sie gab einen jauchzenden Laut von sich und lief ihnen entgegen. Auf Janoschs Rufen reagierte sie nicht.

Tatandra sprang aus dem Sattel und lief ihrer Freundin entgegen. Sie umarmten sich und vergaßen für einen langen Moment den Begleiter. Erst als Janosch und einige Neugierige näher kamen, trennte sich Tatandra von Mireen und lächelte ihn verheißungsvoll an.

"Rate mal, wenn ich mitgebracht habe“, rief sie und grinste über das ganze Gesicht. Lumarc hatte, wie auf der ganzen Reise, sein Gesicht tief in der Kapuze versteckt. Sie wand sich um, als Janosch ihr einen fragenden Blick zukommen ließ und nickte dem Reiter zu. Nur zögerlich stieg er aus dem Sattel und schlug die Kapuze zurück.

Auf Janoschs Gesicht spiegelte sich ein Wechselbad der Gefühle wieder. Er schien das Gesicht zu kennen, doch es kam ihm gleichermaßen fremd wie bekannt vor. Er zögerte, den tot geglaubten Bruder in die Arme zu schließen.

"Er ist es“, sagte Tatandra und schob ihn auf seinen Bruder zu.

"Was macht er in diesem Aufzug?“, fragte Janosch fassungslos.

"Sagtest du nicht, auf dem Hügel wären Männer in schwarzen Mänteln gewesen?“, fragte Tatandra zurück. "Sie haben ihn mitgenommen. Daher dieser Aufzug."

Noch immer zögerte Janosch. Er drehte den Kopf und blickte sie fragend an. Dann wandte er sich wieder Lumarc zu. Ihn machte es stutzig, dass der lang vermisste und tot geglaubte Bruder kein freudiges Gesicht besaß und ihn nicht überglücklich über seine Heimkehr in die Arme schloss

"Er kann sich nicht daran erinnern“, klärte Tatandra ihn auf. "Sein ganzes bisheriges Leben ist aus seinem Gedächtnis gelöscht. Das einzige, an was er sich erinnern kann, ist das goldene Gesicht."

Janosch fuhr herum, starrte Tatandra ernst an. Dann wechselte er wieder zu diesem bekannten Fremden.

Lumarc betrachtete den jungen Steppennomaden. Sein Anblick sagte ihm nichts. Aber aus unerklärlichen Gründen erfüllte es ihn irgendwie mit Wärme. Er sehnte sich danach, ihn in seine Arme zu schließen. Doch er hielt sich zurück. Ein gewisser Druck machte sich in seinem Kopf wieder bemerkbar. Der Nomade musste sein Bruder sein, Janosch, von dem Tatandra immer gesprochen hatte. Er streckte ihm eine Hand entgegen. Janosch schlug nur zögerlich ein.

"Trägst du eine Narbe am Hals?“, wollte Janosch wissen.

Lumarc nickte. Tatandra bestätigte dies ebenfalls mit einem Nicken.

"Und das magische Ideal“, sagte sie wissend. "Es ist Chrischka."

Mittlerweile hatte sich beinahe die ganze Sippe um die Gäste versammelt. Als der Name des vermissten Sohnes gefallen war, ging ein Raunen durch die Menge. Einige Personen bahnten sich einen Weg durch die Masse. Roschka, Chrischkas Vater, Batiska, der verrückte Alte und die Kräuterheilerin. Sie bauten sich vor dem Mann in dem schwarzen Umhang auf und begutachteten ihn argwöhnisch. Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht des Vaters.

"Willkommen zurück in der Familie“, sagte er freudig, zog seinen Sohn zu sich und umarmte ihn glücklich.

Lumarc ließ mit sich geschehen. Auch dieses Gesicht berührte ihn nicht. Obwohl er glaubte, es dann und wann in seinen wirren Träumen gesehen zu haben, erkannte er ihn nicht wirklich. Er konnte es nur erahnen. Auch einige der anderen Gesichter sind in seinen Träumen erschienen und wenn er intensiver darüber nachdachte, was ihm einen stärkeren Druck zwischen den Schläfen bereitete, dann konnte er sich auch an das Gesicht seines Bruders erinnern. Auch ihn hatte er in seinen Träumen gesehen. Er musste das Gesicht verziehen, als der Druck so stark wurde, dass es ihm Tränen in die Augen trieb, die im kalten Wind augenblicklich zu Eis wurden und versuchte nicht mehr an seine Träume und seine Vergangenheit zu denken.

Ein alter Mann mit wirr unter der wollenen Mütze hervor spitzelnden weißem Haar stellte sich vor ihn hin.

"Hast du gefunden, was du gesucht hast?“, fragte Batiska und betrachtete ihn eingehend. "Die Ursache deiner bösen Träume? Hast du sie gefunden?"

Lumarc sah ihn fragend an.

"Du hattest keine Zeit zum suchen. Ich weiß“, gab er etwas enttäuscht von sich. "Aber ich denke, du weißt jetzt, wonach du suchen sollst und was du zu tun hast." Er grinste ihn schelmisch an, wand sich um und bahnte sich einen Weg zurück.

Lumarc sah ihm hinterher und fand Tatandras Blick, als er sich umdrehte. Sie lächelte höflich und wandte sich an Mireen.

"Ich könnte jetzt eine Tasse heiße Brühe gebrauchen“, sagte sie, nahm die Pferde bei den Zügeln und führte sie hinter sich her, als Mireen sie mit einer gastfreundlichen Geste in ihr Zelt einlud. "Kommst du, Lumarc?“, rief Tatandra, als dieser stehengeblieben war, als gehöre er nicht dazu.

Tatsächlich fühlte er sich so. Aus unerklärlichen Gründen fühlte er sich zu ihnen hingezogen und dennoch war ihm alles fremd. Wenn er intensiver darüber nachdachte, keimte der Druck in seinem Kopf wieder auf. Er nickte und folgte dem Mädchen.


Janosch besaß mittlerweile ein eigenes Zelt, in dem seine kleine Familie wohnte - Mireen präsentierte stolz ihren kleinen Sohn, den sie nach dem vermissten Bruder benannt hatten - und einen eigenen Wildbüffel, der während der Wanderschaft das Gepäck auf seinem Rücken trug.

"Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Chrischka noch am Leben ist“, sagte Janosch und reichte ihm eine Tasse mit dampfender Flüssigkeit. "Ich dachte, sie bringen dich um, wie den anderen Kerl, den wir da oben gefunden haben."

"Was für ein anderer Kerl?“, fragte Lumarc. Sein fragender Blick ging von Janosch zu Tatandra und wieder zurück.

Janosch berichtete von der schrecklich zugerichteten Leiche, mit den zerschmettertem Gesicht und der gelben Flüssigkeit, die über seinem Kopf ausgeschüttet worden war. Als er die Verletzungen und die gelbe Flüssigkeit beschrieb, war Lumarc aufgesprungen und aus dem Zelt gelaufen. Tatandra folgte ihm augenblicklich.

Sie fand ihn, nur wenige Meter vom Zelt entfernt, in die Ferne blickend.

"Was ist mit dir?“, fragte sie besorgt. "Hast du wieder Schmerzen? Soll ich etwas Pulver anrühren?"

Lumarc schüttelte den Kopf. Ihm war bei dieser Schilderung so abrupt übel und unangenehm in der Magengegend geworden, dass er nicht anders konnte, als an die frische Luft zu eilen. Eine Vision hatte ihn befallen, wie das Grinsen des goldenen Gesichtes, an das er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Eine Vision, in der er leibhaftig diesen Mann zwischen den Felsen liegen sah. Er hatte ihn angestarrt und er war vor diesem Anblick erschaudert. Gleichzeitig wusste er aber auch, dass er dieses Bild öfter vor Augen hatte. Nicht nur zwischen den Felsen, auch im trockenen Wüstensand, inmitten einer blühenden Wiese, im glitzernden Schnee, in dunklen Gassen, vor einer schillernden Metallfassade und in düsteren Kellern. Er selbst hatte sie derart zugerichtet. Mit Hilfe seines Speeres, der jedem seiner Gedanken gehorchte. Er selbst war es gewesen, der sie vernichtet hatte. Aber aus welchem Grund?

Er wandte sich um und sah ihr direkt in die Augen.

"Ich habe sie getötet“, sagte er. Kopfschmerzen begannen ihn wieder zu quälen.

"Wen hast du getötet?“, wollte sie daraufhin wissen. "Die Männer von der Todeshorde, oben auf dem Hügel?"

"Nein. All die anderen." Er verzog sein Gesicht. Ein greller Blitz beißenden Schmerzes jagte durch seinen Kopf. "Ich brauche wieder etwas von dem Pulver." Er rieb seine Schläfen. Es wollte nicht aufhören.

"Du wirst langsam süchtig danach. Ich habe dich gewarnt. Es ist nicht gut, wenn du zu viel davon bekommst."

"Immer wenn ich versuche, an etwas zu denken, woran ich nicht denken sollte, bekomme ich starke Kopfschmerzen“, vertraute er sich ihr endlich nach langer Zeit an.

Tatandra nickte. Sie hatte längst begriffen.

"Du solltest trotzdem zum Kräuterheiler der Sippe gehen“, sagte sie und berührte ihn sanft am Arm. Sie zitterte, was zweifelsohne an der Kälte lag.

"Die alte Raiska“, fiel ihm plötzlich ein. Tatandra hatte niemals ihren Namen in Verbindung mit der Heilerin genannt. Es war ihm selbst eingefallen. Er freute sich darüber, dass er selbst darauf gekommen war und musste im nächsten Moment bereits wieder sein Gesicht vor Schmerzen verziehen. Er hasste diese Kopfschmerzen mittlerweile. Sie hinderten ihn daran, wieder zu sich selbst zurückzufinden.

"Gib mir von dem Pulver“, verlangte er mit gequälter Stimme.

Tatandra nickte, legte fröstelnd ihre Arme um ihren Körper und ging in das Zelt zurück. Lumarc blieb draußen stehen. Obwohl er seinen Umhang nicht trug, fror er nicht. Der kalte Wind schlug ihm eiskalte Luft ins Gesicht, aber er fror nicht. Er spürte die Kälte. Tief in seinem Inneren fühlte er, wie seine Hände und sein Gesicht eiskalt wurden. Doch er fror nicht. Instinktiv begab er sich wieder in das Zelt zurück. Er fragte sich, warum ihm die Hitze in Lantiagomingo schwer zu schaffen gemacht hatte, aber die Kälte ihm nichts anhaben konnte.

Tatandra kam ihm sogleich mit einem Becher entgegen. Er trank ihn in einem Zug aus, ohne sich von dem Inhalt zu vergewissern. Er hatte auf ihrer Reise zur Sommersteppe so oft den Becher von ihr genommen, dass er nicht mehr kontrollierte, ob das Wasser tatsächlich mit Pulver vermischt war. Mireen bot ihm ein Felllager an. Er nahm es gerne an.

Als er in Felle eingewickelt, an die Zeltdecke starrte, überkam ihm erneut eine Vision. Ein goldenes Gesicht grinste ihn an. Es lachte ihn aus. Es überschüttete ihn mit breitem Hohn. Die gelben Schlitzaugen fraßen sich schmerzhaft in seine Haut. Feuer breitete sich über seinem Körper aus. Doch all dies machte ihm nichts aus. Und dennoch wusste er, dass ihn panische Angst befallen hatte, als er die Augen zum ersten Mal blutige Tränen weinen sah. Als die kalten Schlitzaugen diesmal erneut blutrote Tränen vergossen, hatte er dafür nur ein mildtätiges Grinsen übrig. Er sah sich selbst gellend schreien und im Fieberwahn aufbäumen. Er sah den alten Mann mit dem wirren weißen Haar über ihn beugen und eine Schriftrolle ausbreiten und er sah ihn ein Stück Kohle auf seinem Bauch verreiben...

Lumarc war plötzlich hellwach. Er setzte sich abrupt auf, sodass Tatandra, die an seiner Seite schlief, aus dem Schlaf schreckte.

"Batiska“, rief er lauter als sein Anstand ihm verhieß. "Er hatte sie gesehen. Er wusste, was sie tun." Er schlug die Felldecke zurück.

"Was? Wo?“, rief Tatandra müde und versuchte krampfhaft den Schlaf aus ihren Augen zu blinzeln.

"Die Todeshorde“, rief Lumarc. "Batiska wusste von ihnen. Er erzählte Geschichten von Wesen aus anderen Welten."

Klein Chrischka erwachte und begann zu quengeln. Seine Eltern brauchten etwas länger, um die Störung ihres Schlafes mitzubekommen.

"Wesen aus anderen Welten?" Sie sah ihn durch die Dunkelheit im Zelt an. Sie konnte nur seine Umrisse erkennen. "Wovon redest du eigentlich?"

Lumarc kletterte über das Mädchen, suchte seine Kleidung und zog sich hastig an. Den Druck in seinem Kopf versuchte er zu ignorieren. Ihm war es wieder eingefallen. Der verrückte Alte, der sich in den Dreck setzte und die Kinder mit Schauermärchen erschreckte. Ihm war es wieder eingefallen. Zwar kam diese Erinnerung mit einem stechenden Schmerz in seinem Kopf zurück. Aber sie war wieder da. Er warf das dünne Hemd über seinen Kopf und schlüpfte noch während er das Zelt verließ, in die Ärmel. Plötzlich besaß er keine Zeit mehr. Er musste diesen alten magischen Heiler sprechen. Und wenn es mitten in der Nacht war - was es auch war.


Der alte Mann saß trotz fortgeschrittener Stunde aufrecht und hellwach vor einem kleinen Feuer in Raiskas Zelt. Die Kräuterheilerin döste auf einem Winterfellbett, halb aufgerichtet, halb im Tiefschlaf versunken. Batiska hob den Kopf, als das Fell zurückgeschlagen wurde und ein Mann, gekleidet in fremdartigen, schimmernden Gewändern, eintrat. Er zog seine Stirn in Falten, nickte leicht und wies mit einem Blick auf einen mit weißem Fell überzogenen Schemel. Lumarc nahm Platz, wie er vor vielen Jahren vor der Kräuterheilerin Platz genommen hatte, um von ihr ein Mittel gegen seine bösen Träume zu erbitten.

"Du kennst sie“, kam Lumarc sogleich zur Sache.

Batiska nickte.

"Woher?"

"Als ich noch ein junger, argloser magischer Heiler war“, begann er. "Sah ich sie zum ersten Mal. Ich dachte an ein Zeichen der Macht und versuchte, mich in sie zu versetzen. Mir gelang es erst Jahre später, in einer Nacht ohne Sterne und Mond. In einer Nacht, in der der Steppenwind schlief. Die Zeichen standen gut für mich und ich bekam Kontakt zu ihnen. Doch was ich erfuhr, ihre Kälte, ihre Grausamkeit, ihre Unmenschlichkeit, machte mir Angst. Ich war ergriffen und bestürzt zugleich und ob ich es wollte oder nicht, ich war besessen davon, die Menschen vor ihnen zu warnen. Doch ich konnte nicht. Ich brachte keinen Ton über meine Lippen. Ich war nur in der Lage, Geschichten über sie zu erzählen. Jetzt, viele Jahrzehnte danach stehe ich nicht mehr unter ihrem Bann, aber meine Mitmenschen glauben mir nicht mehr."

Lumarc betrachtete ihn stumm.

"Was tun sie hier?“, fragte er.

"Das solltest du besser wissen."

"Ich kann mich nicht daran erinnern."

"Sie löschten deine Vergangenheit, damit du ein williger Diener wirst“, erklärte er.

"Ich träume von der Vergangenheit“, berichtete Lumarc.

"Sie konnten dir deine Erinnerung nehmen, aber nicht deine Träume“, gab Batiska von sich. "Deine Träume sind das Einzige, was dich noch mit deinem früheren Leben verbindet."

"Das goldene Lächeln. Es ist noch immer da."

"Aber es quält dich nicht mehr."

"Es ist mir gleichgültig“, sagte Lumarc gedankenverloren.

"Man kann mit einer Filzlaus leben, wenn man sich an sie gewöhnt hat“, entgegnete Batiska. "Doch dann und wann quält sie dich mit ihren Bissen. Dann, wenn du nicht mehr an sie denkst."

Lumarc betrachtete ihn stumm. Er versuchte, hinter den Sinn des Vergleiches mit einer Filzlaus zu kommen. Aus unerklärlichen Gründen kam ihm dies bekannt vor, doch er konnte sich nicht daran erinnern und wenn er es versuchte, gab es einen stechenden Schmerz zwischen seinen Schläfen.

"Warum darf ich mich nicht an mein früheres Leben erinnern?“, wollte er wissen und betrachtete den alten Mann. "Wenn ich es versuche, bekomme ich Kopfschmerzen."

"Ein Mann mit Erinnerungen ist kein gefügiger Diener“, antwortete Batiska wissend. "Sie bestrafen dich mit Kopfschmerzen für deine Versuche, damit du es bald aufgibst, an dein früheres Leben zu denken."

Lumarc erhob sich und blieb eine Weile stehen. Er vernahm das leise Säuseln des Steppenwindes. Dieses Geräusch war aus unerklärlichen Gründen ebenso vertraut für ihn, wie der typische Geruch nach vielerlei Kräuter und Tränken, Wurzeln und Knollen, getrockneten Gräsern und scharfen Gewürzen, im Inneren von Raiskas Zelt. Mit jedem Moment, den er länger auf der Sommersteppe verbrachte, verspürte er, dass er ein Steppennomade war. Doch etwas in ihm war auch dieser Andere, was auch immer er darstellen sollte.

Er setzte sich wieder.

"Glaubst du, ich könnte jemals wieder das Leben eines Steppennomaden führen?“, wollte er wissen.

"Das liegt ganz bei dir“, erwiderte Batiska. "Wie du dein Leben gestaltest, ist deine Sache. Du wurdest als Sohn eines Steppennomaden geboren und als solches erzogen. Für eine gewisse Zeit konntest du ein anderes Leben leben, wenn auch unfreiwillig. Es liegt nun bei dir, dich für das Eine oder das Andere zu entscheiden."

"Zu was würdest du mir raten?"

"Mein Rat wäre nicht gerecht“, gab der magische Heiler milde lächelnd von sich. "Ich bin mit jeder Faser meines Körpers ein Morkane, ein Steppennomade, der noch keinen Fuß außerhalb der Sommersteppe gesetzt hat. Ich konnte selbst den Versuchungen dieser Wesen, die versuchten, dir dein Leben als Nomade wegzunehmen, nur sehr schwer widerstehen. Als solches kann mein Rat nicht als Lösung deines Problems gelten. Aber weil mir selbst viel an dir liegt, gebe ich dir einen Rat." Er beugte sich leicht vor. "Lausche in dein Innerstes, verfolge deine Träume und spüre den Rhythmus deines Herzens und dann urteile über dein weiteres Leben. Du darfst aber darüber hinaus nicht dein eigentliches Problem vergessen. Auch wenn es dir mittlerweile gleichgültig ist, kann es lästig werden, wenn es niemals aufhören will." Er nickte und beugte sich wieder zurück.

"In mir schlägt das Herz eines Morkanen“, begann Lumarc etwas verärgert, dass ihm der Alte nicht helfen konnte oder wollte. "Und meine Träume sind die eines Steppennomaden, doch die Stimme in meinem Inneren ist die eines Kostfängers."

Batiska horchte auf und betrachtete den jungen Mann.

"Eines was?“, fragte er nach. "Was ist ein Kostfänger?"

Lumarc sah ihn nachdenklich an. Er wusste selbst nicht, was ein Kostfänger war und schüttelte daher gemächlich den Kopf. Als er versuchte darüber nachzudenken, erschienen vor seinem geistigen Auge nächtliche Szenen - Jagdszenen. Er jagte Menschen und erlegte sie mit seinem eisernen Speer. Er versuchte tiefer in dieser Erinnerung zu wühlen, doch mit dem Tod des Opfers starb auch die Szene. Langsam hob er den Kopf und blickte in verwelkte Augen, die Anteil an seinen Träumen gehabt hatten. Batiska blickte ins Leere und betrachtete Lumarcs Erinnerungen, die noch im Raum schwelgten wie Wasserdampf.

"Kostfänger“, sagte er leise. "Du bist ein Kostfänger gewesen. Aber warum musstest du dazu Menschen töten?" Er sah ihm mit frischen, aufgeweckten Augen ins Gesicht.

"Ich kann mich nicht daran erinnern."

Batiska senkte wieder den Kopf. Lumarcs Antwort schien ihn enttäuscht zu haben, oder er hatte etwas anderes erwartet. Er sank in sich zusammen und starrte vor sich ins Leere.

Lumarc versuchte in seinen Erinnerungen zu forschen, doch mit dem Tod des gejagten Menschen endete auch die Erinnerung an seine Tat. Er wusste nicht einmal, ob er es selbst gewesen war, der seinem Speer befohlen hatte, den Menschen zu töten. Dass er dabei gewesen war, wusste er genau. Woher sonst sollte er diese Erinnerungen haben.

Er erhob sich, betrachtete den Alten noch einmal kurz und als dieser keinerlei Reaktionen zeigte, wand er sich um und verließ das Zelt. Die Nacht schlug ihm bitterkalt ins Gesicht, als er das Fell zurückwarf und ins Freie trat. Er blieb vor dem Eingang stehen und atmete tief ein. Die frische Luft tat ihm gut. Sie säuberte seine Gedanken und reinigte sein Blut und die düsteren Erinnerungen von soeben waren wie ausgelöscht.

Zwischen den Zelten bewegte sich ein Schatten. Als Lumarc genauer hinsah, erkannte er Tatandra, die vor dem Eingang von Janoschs Zelt auf seine Rückkehr gewartet hatte. Als sie ihn entdeckte, kam sie vorsichtig näher.

"Was hat Batiska gesagt?“, erkundigte sie sich leise, das Flüstern des Steppenwindes kaum übertrumpfend.

"Warum willst du das wissen?“, fragte er barsch zurück.

Tatandra schluckte. Als Chrischka war er längst nicht so gefühllos und hart gewesen. Ihr kam es manchmal vor, als sei er jetzt nur noch eine willenlose Statue. Er hatte ihr vorher besser gefallen. Sie räusperte sich leise und trat etwas näher.

"Ich mache mir Sorgen um dich“, erwiderte sie. "Du bist mitten in der Nacht, wie von einem Blitz getroffen aus dem Bett gesprungen und hast etwas von Wesen aus anderen Welten gerufen. Ich dachte, es wäre etwas zu viel für dich gewesen."

Der leichte Wind zerrte an den dünnen Stoffen seiner Kleidung. Tatandra hatte sich in ein dickes Fell gehüllt und ihr Kopftuch verdeckte den größten Teil ihres Gesichtes. Ihre Hände steckten in dicken Fellhandschuhen. Lumarc trug nur seine dünnen Kleider und die dünn ledernen Stiefel. Die Kälte konnte ihm dennoch nichts anhaben. Er spürte zwar den eisigen Wind und die kalte Luft, doch er fror nicht. Nachdenklich betrachtete er das Mädchen und versuchte auf dieses Phänomen zu kommen.

"Geht es dir wieder besser?“, fragte sie besorgt. Sie war ihm nun so nahe gekommen, dass sie die kleinen dunklen Dampfwolken sehen konnte, die er beim Atmen ausstieß.

"Es geht mir gut“, sagte er schnell und wandte sich ab.

"Bedrückt dich etwas?"

Er gab keine Antwort.

"Kann ich dir irgendwie helfen?

Wieder schwieg er.

"Brauchst du wieder etwas Schmerzpulver?"

Er wirbelte herum und versetzte ihr einen Stoß, dass sie rückwärts stolperte und fiel. Erschrocken starrte sie die schwarze Silhouette an und blieb auf dem kalten Boden sitzen.

"Ich brauche niemanden, der sich Sorgen um mich macht“, fuhr er sie barsch an. "Lass mich endlich in Ruhe." In seiner Magengegend begann es dumpf zu schmerzen. Als hätte er etwas Unrechtes gegessen. Er kannte dieses Gefühl. Seit er sich erinnern konnte, verspürte er dann und wann ein merkwürdiges Ziehen und Drücken in seinem Bauch.

...seit er sich erinnern konnte...

Er ließ Tatandra einfach auf dem Boden sitzen und marschierte an ihr vorbei, in Richtung Janoschs Zelt. Eine weitere Gestalt stand zwischen den Zelten und schien ihn erwartet zu haben.

"Findest du nicht auch, dass du dich bei ihr entschuldigen solltest?“, sagte die Gestalt. Janosch selbst hatte sich in die Nacht begeben. Er versperrte seinem Bruder den Weg. "Was ist nur aus dir geworden? Früher hättest du dir eher eine Hand abgehakt, als eine Frau zu schlagen."

"Früher ist nicht jetzt“, gab Lumarc kalt von sich.

"Das sehe ich selbst“, bemerkte Janosch und betrachtete den Mann in der matt schimmernden Kleidung eingehend. "Die Zeit bringt Veränderungen. Doch von meinem Bruder Chrischka, den ich hoch verehrte und zu jeder Zeit mit meinem Leben beschützt hätte, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Das einzige, was du noch mit Chrischka gemein hast, ist das Gesicht." Damit wand er sich um und verschwand in seinem Zelt. Er befestigte die Enden des Eingangsfelles an einem Pflock im Boden. Ein unmissverständliches Zeichen.

Aus unerklärlichen Gründen, wusste Lumarc, was dies bedeutete. Janosch hatte ihm die Gastfreundschaft gekündigt. Er war in seinem Zelt nicht mehr willkommen. Lumarc wand sich um. Sein Blick fiel auf den dunklen Fleck, der noch immer vor Schreck auf dem Boden saß. Instinktiv setzte er sich in Bewegung und zog sie vom Boden hoch. Sie mussten den Rest der Nacht draußen verbringen.

"Tatandra!“, rief eine Männerstimme durch die Nacht.

Die beiden fuhren herum. Janosch war wieder aus dem Zelt gekommen.

"Du bist immer noch willkommen in meinem Zelt“, rief er etwas gedämpfter.

Das Mädchen wechselte Blicke von einem Bruder zum Anderen. Dann schüttelte sie den Kopf. "Nein, danke“, rief sie. „Ich bleibe hier draußen.“

"Du wirst dir den Tod holen, wenn du die Nacht draußen verbringst. Du bist keine Nomadin."

"Ich bleibe hier."

"Wie du willst“, rief er zurück. "Wenn du es dir anders überlegen solltest... ." Er wandte sich um und schlug das Fell wieder zurück. Diesmal band er die Enden nur auf einer Seite fest.

"Warum tust du das?“, wollte Lumarc wissen.

"Ich kann dich doch nicht allein lassen“, antwortete sie und versuchte ein mildes Lächeln.

"Ich bin nicht krank."

Tatandra schwieg dazu. Sie senkte den Blick und wand sich verlegen ab.

"Warum tust du das?“, wiederholte er. "Du bist nicht hier geboren. Eine Nacht draußen, würde für dich ... ."

"Weißt du denn genau, ob du hier geboren wurdest?“, fuhr sie ihm ins Wort. "Alle sagen, du wärst Chrischka. Aber weißt du es denn selbst? Du könntest ihm doch nur ähnlich sehen."

Lumarc starrte sie an. Für einen Moment dachte er darüber nach. Dann stach ein glühender Speer in seinen Kopf. Er zuckte zusammen und verzog das Gesicht.

"Ich bin es“, sagte er gequält. "Geh ins Zelt."

"Nein“, blieb sie beharrlich. "Du siehst auch nicht aus, als könntest du eine Nacht außerhalb des Zeltes überstehen." Sie deutete auf seine dünne Kleidung.

"Ich friere nicht“, antwortete er.

"Kein Zauber kann dich derart beschützen“, bemerkte sie und nahm ihr Fell ab.

"Ich brauche es nicht“, rief er erneut etwas verärgert und stieß sie von sich.

Tatandra blickte ihn für einige Herzschläge lang stumm an, dann wickelte sie sich wieder in das Fell, wand sich um und marschierte davon. Sie ging aber nicht in Janoschs Zelt zurück, sondern setzte sich in einen windgeschützten Platz, zog die Decke über den Kopf und wartete darauf, dass die Nacht verging und der Tag, der kaum wärmer sein würde, begann.

Lumarc sah ihr lange nach, auch als sie längst von der Dunkelheit vereinnahmt worden war. Irgendwie berührte sie ihn. In seinem Innersten, wusste er, dass sie nicht die Frau war, die er sich vielleicht als junger Bursche vorgestellt hatte. Doch aus unerklärlichen Gründen berührte sie ihn. Ihm war es plötzlich nicht gleichgültig, ob sie die Nacht überlebte, oder nicht. Er machte sich Sorgen um sie und setzte sich schließlich in Bewegung, um sie zu suchen.

"Warum tust du das?“, fragte er ein drittes Mal, als er sie zusammengekauert, neben einem aufgezogenem Wildbüffelfell entdeckte. "Du riskierst dein Leben nicht nur aus Trotz. Weswegen wirklich?"

Tatandra reagierte nicht. Es schien, als hätte die Kälte bereits ihren Tribut gefordert. Er beugte sich nieder und berührte sie vorsichtig. Endlich kam Bewegung in das Fellbündel. Ein Kopf kam zum Vorschein. Sie betrachtete ihn stumm.

Dann senkte sie den Blick.

"Wenn du mich nicht willst“, begann sie leise. "Dann bin ich verloren. Ich darf nicht wieder in mein Elternhaus zurück, weil ich dich unbedingt zur Sommersteppe bringen wollte. Ich gab mein Leben für dich auf. Stößt du mich zurück, kann ich genauso gut die Nacht hier draußen verbringen. Es wäre ein schnellerer Tod."

"Warum Tod?“, fragte er und betrachtete sie. "Ich verstehe nicht. Warum gabst du dein Leben für mich auf?"

"Für meinen Vater bin ich tot. Im selben Moment gestorben, als ich die Türschwelle übertrat. Ich verließ sein Haus, ohne sein Einverständnis. Ich kann nicht wieder zurück. Ich hatte gehofft, dass du dich wieder an dein Leben hier auf der Sommersteppe erinnern würdest, wenn du es nur erst einmal gesehen hast. Und ich hatte gehofft, dass du mich bei dir behalten würdest." Sie senkte traurig den Kopf. "Ich wünschte, die Worte meines Vater würden sich nicht bewahrheiten. Er sagte, eine Frau sollte nicht über ihr eigenes Schicksal bestimmen. Sie rennt damit nur in ihr Verderben. Offenbar trifft dies nun zu."

Lumarc setzte sich zu ihr auf den Boden. Er wusste nicht, wie er seine Ablehnung formulieren sollte, ohne sie zu verletzen. Ihre Worte hatten ihn berührt und sein Anstand sagte ihm, dass er sie allein schon deswegen nicht fortschicken durfte. Doch er schwieg und kauerte sich neben sie auf den kalten Boden.

"Ich kann es nicht gestatten, dass du erfrierst“, sagte er nach einer Weile, richtete sich etwas auf und zog das Fell von ihren Schultern. Aus unerklärlichen Gründen wusste er, wie er es legen musste, um sie beide vor der kalten Nachtluft und dem halb gefrorenen Boden zu schützen. Er nahm das Mädchen, schlang seine Beine um die ihren und hüllte sie beide in das Fell ein – so wie er es immer getan hatte, hoch oben auf einem Kamin, eingehüllt in eine Decke und nach angreifenden Horden Ausschau haltend. Diese Erinnerung kam ihm mit einem stechenden Schmerz und dennoch freute er sich darüber. Es bewies ihm, dass er doch ein Morkane war, ein Sommersteppennomade, der dafür geboren war, der Kälte zu trotzen und die meiste Zeit seines Lebens unter freiem Himmel zu verbringen. Er drückte das Mädchen an sich und spürte ihr fröstelndes Zittern. Sie war nicht geschaffen für ein Leben auf der Sommersteppe. Er musste dafür sorgen, dass sie nach Lantiagomingo, in den Kreis ihrer Familie zurückkehren durfte.


Ihr Zittern hörte bald auf und irgendwann bemerkte er, dass sie eingeschlafen war. Sie besaß einen zarten Körper. Ihm war dies vorher nicht aufgefallen. Die weiten Kleider und die dicken Felle verhüllten ihren Formen. Und plötzlich sehnte er sich danach, ihre Haut zu spüren.

Dieses grinsende Goldgesicht half ihm dabei, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Er nahm das Amulett ab und wartete auf das Grinsen. Es konnte ihm schon lange keine Angst mehr machen. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, wie ein alter Freund. Nur eines störte ihn. Die blutigen Tränen wurden immer mehr.


9.

Lumarc bemühte sich redlich, sich zu benehmen, wie es sich für einen Morkanen-Krieger gehörte. Doch etwas in seinem Inneren sträubte sich hartnäckig dagegen. Als säßen in seiner Brust zwei Seelen, die um die Herrschaft des uneinigen Körpers rangen. Er wusste selbst nicht, wer oder was er war. Er fühlte sich von beiden Seiten gleichermaßen ausgestoßen und unverstanden.

Seine Träume verrieten ihm von seinem einstigen Leben. Doch irgendwie kam er sich unbeholfen und hilflos vor, nur mit einem primitivem Holzspeer gegen ein Tier anzutreten, dessen Schultern die seinen überragten und dessen massiges Gewicht ihn zerquetschen könnte. Wenn die Anderen auf Jagd gingen, hielt er sich zusehends mehr zurück und begnügte sich lediglich auf das Zusehen - was zur Folge hatte, dass sie bald nichts mehr zu Essen hatten. Tatandra erhielt dann und wann von barmherzigen Sippenmitgliedern einen kleinen Anteil an der Beute, doch um Lumarc wollte sich niemand von ihnen sorgen. Er wäre verhungert, wenn ihm Tatandra nicht etwas ihrer spärlichen Almosen abgegeben hätte.

Lumarc wusste selbst, dass dies kein Zustand für die Ewigkeit sein konnte. Doch er wusste nicht, wie er dies hätte ändern können. Gedankenverloren stand er weitab vom Nomadendorf und starrte in die blasse untergehende Sonne. Ihre wärmenden Feuerstrahlen schienen niemals die Sommersteppe zu erreichen. Obwohl es in Lantiagomingo mehr als üppig von diesen heißen Strahlen gab, fühlte er sich hier auf der kalten Steppe wohler. Er überlegte, ob er zu dem großen Kamin gehen und sich den Männern in den schwarzen Mänteln anschließen sollte. Vielleicht gehörte er eher zu ihnen. Insgeheim wusste er jedoch genau, dass ihn auch dieses Leben nicht glücklich machen würde.

Er stellte über sich selbst überrascht fest, dass er sich nicht mehr um sich allein Sorgen machte. Zusehends mischte sich die Besorgnis über Tatandra in seine Gedanken. Er hatte für sie zu sorgen. Sie hatte ihn auf die Sommersteppe geführt und dafür ihr bisheriges Leben aufgegeben. Er machte sich Gedanken darüber, was sein Vater, sein Bruder und die ganze Sippe von ihm dachten. Er war nicht mehr derselbe - aber wer war er wirklich?

Steppennomade oder Kostfänger?

Er konnte sich diese Frage selbst nicht beantworten. Sein Innerstes rang mit sich selbst. Was war nur geschehen? Warum erging es nur ihm so? Warum mischte sich immer wieder dieses lächelnde Gesicht in die Bilder vor seinem geistigen Auge?


Eine zarte Hand berührte seine Schulter. Er zuckte erschrocken zusammen.

"Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte die Stimme einer bekannten jungen Frau. Schleier hatten sich vor seinen Augen gebildet. Er hatte längst gelernt, mit den immer wieder auftretenden Kopfschmerzen zu leben. Immer wenn er versuchte, sich an seine Vergangenheit zu erinnern, quälten sie ihn mit zermalmenden Klammern. Als die Stimme an sein Ohr drang, erschrak er nicht nur aus seinen Gedanken gerissen; die Kopfschmerzen hatten sich ebenso plötzlich unter die Schädeldecke gebohrt. Er verzog das Gesicht.

"Kopfschmerzen?“, erkannte sie sofort und hielt ihm eine Schüssel mit dampfenden Inhalt hin. "Janosch fragte mich, warum ich mir von der alten Raiska nicht etwas geben lasse, das dich wieder in Chrischka zurück verwandelt?" Sie beobachtete zufrieden, wie er die Schüssel entgegennahm und vorsichtig daran schlürfte.

"Und?“, wollte er zwischen zwei Schlucken wissen. Die heiße Kräutersuppe tat ihm gut. Irgendwie war er doch durch gefroren, obwohl er nicht so empfand. Vielleicht war die dünne Kleidung doch nicht das, was sie versprach.

"Ich war bei Raiska“, berichtete Tatandra und senkte kurz den Blick. "Sie sagte, dass dies nicht in ihrer Macht stünde. Aber sie gab mir eine Schüssel Kräutersuppe, mit den Worten, dies würde deine eingefrorenen Eingeweide etwas auftauen."

Lumarc sah hoch und betrachtete abwechselnd die Schale und die Frau. Die Suppe besaß einen dezenten herb bitteren Geschmack, der auf der Zunge brannte wie getrocknete Mung-Blätter, die in Zuckersud aufgekocht wurden. Lumarc sah sich plötzlich im Kreise junger Nomaden, in einem verräucherten Zelt um ein Feuer sitzen und bitter süßen Zuckersaft trinken. In benebelten Erinnerungsschwaden erkannte er die Gesichter von Janosch und einigen anderen jungen Morkanen-Kriegern. Sie waren oft zusammengesessen und hatten Mung-Sud getrunken. Vor allem, wenn die jungen Krieger einen Angriff der Kleeken oder der Mageerings erfolgreich abwehren konnten und sie selbst nicht sonderlich zu schaden gekommen waren. Sie feierten stolz die langen kalten Nächte durch und erwachten stets mit dröhnenden Köpfen.

Da war es wieder - das freche Grinsen in einem matt schimmernden, goldenem Gesicht. Es schob sich unbarmherzig vor seine Erinnerungen und grinste ihn breit und unverschämt an. Ein stechender Schmerz bohrte sich zwischen seine Schläfen und Lumarc ließ die Schale fallen. Vom scheppernden Klang des Aufpralls wurde er in die Wirklichkeit zurückgeholt und fand sich zusammen gekrümmt auf dem Boden wieder. Der Schmerz in seinem Kopf pulsierte im Takt seines Herzschlages. Er stöhnte und presste die Handflächen an die Schläfen.

Tatandra kniete sich augenblicklich zu ihm nieder und strich tröstend mit ihren dicken Fellhandschuhen über seine verkrampften Hände. Sie wusste, dass sie ihm nicht helfen, dass sie den Schmerz nicht abnehmen konnte. Das Pulver war längst aufgebraucht. Aber sie konnte ihm beistehen.

"Ich wünschte, es gäbe einen Trank, der mich zurück verwandeln kann“, keuchte Lumarc nach einer Weile. Als er den Kopf hob, standen Tränen in seinen Augen. Tränen des Schmerzes, oder Tränen der Verzweiflung? Lumarc wollte nicht darüber sprechen.

"Es liegt bei dir“, erwiderte Tatandra tröstend und wischte die salzigen Tropfen fort, bevor sie festfrieren konnten. "Fühle, wonach dein Herz höher schlägt und entscheide dich."

"Wenn ich versuche, mich zu entscheiden, oder wenn ich versuche, mich an mein Leben als Chrischka zu erinnern, trifft mich der Zorn des Unreinen oder dieses Grinsen löscht meine Gedanken und ich stehe vor einer vollkommenen Leere."

"Mendiato liebt es, seine Opfer zu quälen“, entgegnete sie milde lächelnd. "Die aufkommende Wut und Verzweiflung ist seine Macht. Aus ihr schöpft er seine Kraft."

"Dieser grässliche grinsende Kopf ist das geringere Problem“, keuchte Lumarc und rieb die Schläfen.

"Die Kopfschmerzen?“, erriet Tatandra richtig. "Vielleicht weiß die alte Raiska ein Mittel dagegen."

"Kräuter und magische Substanzen sind machtlos gegen die Überlegenheit dieser Magie. Sie hat selbst Batiska zu einem verrückten Geschichtenerzähler werden lassen."

"Ich hoffe nicht, dass du dich eines Tages zu ihm setzen und ähnliche verrückte Geschichten erzählen wirst“, schnaufte sie. "Auf keinen Fall will ich enden wie Raiska."

Lumarc musterte sie fragend. In seinem Inneren stieg eine wohlige Wärme auf. Der Mung-Sud schien seine Wirkung zu entfalten. Er suchte die Schale und stellte überrascht fest, dass kein Tropfen der Kräutersuppe übrig geblieben war, den er hätte verschütten können. In seiner Erinnerung schwelgend, hatte er mit dem trinkenden Chrischka die Schale geleert. Der Mung-Sud brodelte langsam aus seinem Magen hoch und erfasste seine Brust. In seinem Kopf begann es zu schwirren und die stechenden Schmerzen ließen langsam nach. Wenn er bis ans Ende seiner Tage im Mung-Rausch stehen müsse, vielleicht war diese Kräutersuppe das richtige Mittel gegen das Aufkeimen der unreinen Gedanken.

Doch irgend etwas anderes passierte mit ihm. Er sah das Gesicht der jungen Frau vor sich, umrahmt von einem nebligen Schleier. Ihr Gesicht erschien ihm auf einmal gar lieblich und reizend. Durch die aufsteigende Wärme stimuliert, dem netten Lächeln angeregt, begann sich in seiner Lendengegend etwas zu regen. Er streckte die Hand nach ihr aus und zog sie sanft an sich. Irgendwie schien der Mung-Rausch die Kontrolle über ihn zu übernehmen. Er fügte sich gänzlich der wohligen Woge, die über ihn schwappte, wie die Nacht über die Steppe. Wenn es ihn nur von seinen quälenden Gedanken befreite.

Ihre Lippen fanden sich irgendwie zu einem ersten zaghaften Kuss.

Schützend breitete er den feinen Stoff seines Umhangs auch über ihre Schultern aus. Sie wehrte sich dagegen.

"Mir ist dieser Umhang nicht geheuer“, sagte sie und zog ihn von ihren Schultern.

"Er wärmt dich besser, als jedes Fell."

"Es ist eine unangenehme Wärme. Auf eine sonderbare Weise kalt und unheimlich."

Lumarc betrachtete sie nachdenklich. Er hatte unter diesem Umhang niemals gefroren, aber auch niemals so geschwitzt, wie unter einem Wildbüffelfell, das die eigene Körperwärme speicherte und aufstaute, bis einem der Schweiß in Strömen lief. Vielleicht war es die Kleidung, die ihn nicht wieder zu einem Steppennomaden werden ließ. Er dachte kurz darüber nach, dann legte er den Umhang, das dünn seidene Hemd und die Hosen, sowie die dünn ledernen Stiefel ab und ließ sich von Tatandra in das Wildbüffelfell hüllen. Sofort befiel ihn die altgewohnte wollige Wärme, die ein solches Fell hervorrufen konnte. Tatandras Körperwärme und ihre zarte Haut gaben ihm einen weiteren Impuls und sie sanken auf den tiefgefrorenen Boden nieder. Ihre Hitze war es, die sie beide die Nacht unter freiem Himmel überleben ließ. Ihre Leidenschaft kochte auf, angefacht von zarten gegenseitigen Berührungen und der Wirkung von Raiskas Kräutersuppe.


Merkwürdigerweise fiel es ihm leichter, wieder Chrischka zu sein, sobald er wieder die Fellkleidung trug. Eine Last schien von ihm genommen zu sein. Und dennoch plagten ihn dann und wann heftige Kopfschmerzen, als er weitere Erinnerungen aus seiner Vergangenheit hervorzurufen versuchte. Mit tatkräftiger Unterstützung von Tatandra und ihren unermüdlichen Fürbitten bei Janosch und Roschka, erhielten die beiden wieder einen Lagerplatz in einem Zelt - in Roschkas Zelt. Doch noch immer beobachteten die Eltern misstrauisch ihren verloren geglaubten Sohn, den sie in Lumarc beinahe nicht wieder erkannten.

Lumarc versuchte nicht weiter über seine Bestimmung nachzudenken, sondern einfach dieselben Arbeiten zu tun, wie die anderen Nomaden. Er beherrschte noch immer den Umgang mit dem hölzernen Speer, obwohl er sich damit reichlich hilflos vorkam. Als sie eines Tages von Mageerings angegriffen wurden, hütete er sich jedoch davor, den eisernen Speer zu benutzen. Er hielt sich tapfer und ertappte sich immer wieder dabei, wie er die verschiedenen Verteidigungstechniken miteinander vermischte. Vermutlich hatte ihm dies das Leben gerettet.

Roschka besaß weniger Glück. Ein Speer traf ihn mitten in die Brust. Er erlag noch in der darauffolgenden Nacht der Verletzung.


Lange saß Lumarc, der sich mehr und mehr als Chrischka fühlte, fernab vom Dorf und starrte in den sternenlosen Nachthimmel. Ihm war kalt. Doch er dachte nicht daran, ins Zelt zurückzukehren. Irgendwie fühlte er sich für den Tod seines Vaters verantwortlich. Es war ihm unerträglich, an den Leichnam zu treten und seine Trauer laut werden zu lassen. Er schalt sich, keine Tränen über diesen Verlust vergeuden zu können. Nun, da er sich scheinbar selbst wiedergefunden hatte, musste eine ihm nahestehende Seele gehen. Und sie stand ihm nahe.

Vor seinem geistigen Auge erschienen Bilder aus der Vergangenheit. Sein Vater wies ihn in die Techniken der Wildbüffeljagd ein, zeigte ihm den Umgang mit dem hölzernen Speer und verbrachte mit ihm so manche Nacht draußen, hoch oben auf einem Kamin und erzählte ihm Geschichten, die er von seinem Großvater erzählt bekommen hatte. Geschichten von tapferen Nomaden-Kriegern, die ihre Familien und ihre Habseligkeiten gegen allerlei Übel verteidigten. Geschichten von wagemutigen jungen Kriegern, die auszogen, um Abenteuer zu erleben. Oder von wunderschönen Frauen, die mit ihrer Schönheit so manchen Mann betörten.

Lumarc ignorierte den allmählich ansteigenden Druck zwischen seinen Schläfen. Er ließ die Bilder auf sich einwirken. Erinnerungen waren alles, was ihm blieb. Er musste an Tatandra denken. Sie kümmerte sich rührend um ihn; las ihm jeden Wunsch und jeden Kummer beinahe von den Augen ab. Vielleicht sollte er mit ihr zusammen bleiben und sie zur Frau nehmen. - Hatte er dies nicht schon längst getan...?

Der Krieg zwischen Kleken und Mageerings, fiel ihm plötzlich ein. Ein Krieg, in den sie zwangsläufig hineingezogen wurden, da sich die Nomadenstämme der Sommersteppe zwischen den Fronten befanden. Warum mussten sie sich die Überfälle gefallen lassen? Es war nicht ihr Krieg.

Er erhob sich, vollendete seinen Gedanken und marschierte zum Dorf zurück. Im Zelt seines Vaters hörte er die wehklagende Stimme seiner Mutter. Sie trauerte um ihren Mann. Lumarc trauerte um seinen Vater; und je mehr er sich dieser Trauer bewusst wurde, desto mehr stieg Wut in ihm auf. Sie mussten sich dies nicht gefallen lassen. Er trat ins Zelt, sah sich kurz suchend um und entdeckte den eisernen Speer. Mit einem Holzspeer würde er nicht viel ausrichten können, wusste er. Aber mit dieser Waffe, die wirkungsvoller als alle Holzspeere sämtlicher Nomaden, würde er sich unbarmherzig an den Mageerings rächen.

"Was hast du vor?“, wollte Tatandra wissen und musterte ihn fragend.

"Ich muss etwas dagegen unternehmen“, entgegnete Chrischka. Er war Steppennomade. Mit jeder Faser seines Körpers. Mit jedem Atemzug seines Lebens. Er war Morkane. "Es muss Schluss sein damit. Wir können nicht untätig dabei zusehen, wie die Meinungsverschiedenheit zwischen Kleken und Mageerings auch uns bis auf die letzte Frau, das letzte Kind aufreibt."

"Das darfst du nicht!", rief Janosch aus einer dunklen Ecke heraus. Er erhob sich und trat näher. "Wenn du dich an den Mageering rächst, wird der Zorn über die Sommersteppe hereinbrechen. Kannst du dich noch an die Erzählungen der Alten erinnern? Wir dürfen uns nicht gegenseitig bekämpfen."

"Aber wir dürfen uns töten lassen“, hielt Chrischka dagegen und blickte ihn hart an. "Sie werden uns immer wieder überfallen und nicht eher ruhen, bis unsere Sippe vollends ausgerottet ist."

"Wenn das unsere Bestimmung ist... !?“, zuckte Janosch traurig mit den Schultern.

"Das ist keine Vorsehung“, widersprach Chrischka energisch. "Die Sommersteppe ist Vorsehung. Sollte sie unser Verderben wünschen, werde ich mich beugen. Doch dies... ." Er zeigte mit der Spitze des Speeres auf seinen toten Vater. "... ist die reine Gier von zwei Stämmen, die denken, mehr Anrechte zu besitzen als der andere. Und dies kann nicht geduldet werden. Wenn niemand etwas dagegen unternimmt, dann wird es bald keine Sommersteppennomaden mehr geben." Er wirbelte herum und verließ eiligst das Zelt.

Janosch warf sich schnell eine dicke Jacke über, griff nach seinem Speer und folgte ihm.

"Was willst du tun?“, fragte er, als er an der Seite seines Bruders angelangt war. "Einfach in ihr Dorf einmarschieren und den Nächstbesten töten?"

"Dann wäre ich nicht besser als sie." Chrischka blieb kurz stehen und dachte darüber nach. Er wollte Rache. Er wollte diesem sinnlosen Morden ein Ende bereiten. Doch wie konnte er dies, ohne selbst Schaden zu nehmen, ohne sein Vorhaben nicht bereits in den Ansätzen versiegen zu sehen und ohne den befürchteten Krieg der Steppennomaden untereinander heraufzubeschwören.

Tatandra befand sich ebenfalls an seiner Seite.

"Du bleibst hier!", befahl er. "Geh zu Batiska. Sag ihm, er soll die Geister anrufen und um Vergebung für uns bitten. Und bring mir den Umhang." Ihm war soeben eine Idee gekommen.

"Was hast du vor?“, wollte Janosch wissen.

"Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Vorsehung zu umgehen“, erwiderte Chrischka und hüllte sich in den unheimlichen schwarzen Umhang. Er zog die Kapuze tief ins Gesicht, klopfte zweimal mit dem eisernen Speer auf den Boden und nickte Tatandra zu. "Die Todeshorde wird Rache für Vaters Tod nehmen."

"Die Todeshorde?" Janosch betrachtete ihn mit gemischten Gefühlen. Zum einen wusste er mit diesem Begriff nichts anzufangen; zum Anderen, in welcher Verkleidung sich Chrischka auch immer in den Kampf wagte, er war immer noch ein Steppennomade.

"Du willst sie doch nicht etwa um Hilfe bitten“, versuchte Tatandra zu erraten. "Ich bezweifle, dass sie das tun werden."

"Ich brauche keine Hilfe."

"Du allein, gegen einen ganzen Stamm?“, rief Janosch skeptisch. Er schüttelte wissend den Kopf. "Sie werden dich töten."

"Niemand wird dafür nahe genug an mich herantreten können“, gab Chrischka selbstsicher von sich, wirbelte herum und marschierte zielstrebig in die Richtung, in der die Mageering-Krieger verschwunden waren.

"Ich komme mit“, rief Janosch, nahm seinen Speer und lief seinem Bruder hinterher.

"Nein! Ich muss allein gehen."

"Ich habe bereits einmal einen Bruder verloren“, sagte Janosch ernst. Er ließ sich nicht zurückschicken. "Ich möchte dies nicht noch einmal erleben."

Ihre Blicke trafen sich für einen langen Augenblick; dann nickte Chrischka. "Du wirst keinen Finger rühren. Du wirst unter keinen Umständen eingreifen."

"Wozu sollte ich sonst mitkommen?"

"Du darfst nicht kämpfen. Sonst könnte sich die Prophezeiung erfüllen."

"Wenn dein Leben in Gefahr sein sollte, wird mich niemand, selbst eine alte Geschichte nicht davon abhalten können, mein Speer gegen einen Steppennomaden zu richten“, gab Janosch ernst von sich.

"Mein Leben wird nicht in Gefahr sein“, wusste es der Lumarc in der schwarzen Kutte besser.



10.

Im Schutze der Nacht und des sternenlosen Himmels konnten sie bis an die Grenzen des Mageering-Lagers gelangen. Einige stark niedergebrannte Feuerstellen erhellten die Mitte des Zeltdorfes nur schwach. Die Krieger schienen zu schlafen. Lediglich eine Handvoll Wachen patrouillierten um die glimmenden Lichtkegel herum. Am Horizont erschien der erste blass violette Vorbote des nahenden Tages.

Chrischka marschierte zielstrebig und ohne Angst entdeckt zu werden, näher, richtete die Spitze seines Speeres auf ein Wildbüffelgatter und sprach den Befehl in Gedanken aus. Nur einen Herzschlag später schoss eine hellgelbe Feuerfontäne hervor, das notdürftige Gatter brannte lichterloh; die Wildbüffel schrien auf vor Angst, Schreck und Schmerz, trampelten die Umzäunung nieder und liefen in wilder Panik davon. Lumarc schwenkte seinen Zauberspeer herum und gab den nächsten Befehl. Bald gingen auch die zum Trocknen aufgehängten frisch gegerbten Felle, das salzgeräucherte Büffelfleisch und die leeren Transportkarren in Feuer auf.

Es dauerte erstaunlich lange, bis die Mageerings von dem Überfall bemerkten, aus ihren Zelten strömten, verwirrt hin und her liefen und die Massen von Kriegern suchten, die ihnen den Garaus machen wollten. Als ihnen jedoch nur ein einziger Mann gegenüber stand, in einem schwarzen Umhang gehüllt und einem Todesboten gleich die tiefschwarze Nacht in seinem Rücken, blieben sie verblüfft stehen und starrten ihn verwundert an. Nur wenige wagten es, ihre Waffe zu erheben und sich todesmutig auf die vermeintlich leichte Beute zu stürzen. Da sich Chrischka vorgenommen hatte, niemanden absichtlich zu töten, ließ er seinen verheerenden gelben Strahl vor den Angreifern in den Boden oder über deren Köpfe hinweg sausen. Einige ließen sich bereits durch dieses harmlose Manöver abschrecken. Sie warfen ihre Speere von sich, machten auf dem Absatz kehrt und wichen zurück oder rannten voller Angst davon. Ein paar liefen direkt in den Strahl und Chrischka konnte das Unheil nicht mehr rechtzeitig abwenden. Und nur knapp eine Handvoll mutiger Krieger wagten es trotz allem, stürmten mit einem wütenden Schrei vorwärts, sodass Lumarc nichts anderes übrig blieb, als sie mit einem gezielten Treffer niederzustrecken.


Und plötzlich eskalierte die Situation.

Angestachelt vom Tod ihrer Kameraden und Angehörigen, überwand eine Anzahl von Männer ihren Schrecken und ihre Angst, versammelten sich zu einer Horde und griffen mit wütenden Schreien an. Chrischka hatte nicht bemerkt, dass ihm außer seinem Bruder noch mehr Stammesangehörige gefolgt waren. Als ihn schließlich eine Überzahl von todesmutigen Mageering-Kriegern angriffen, fürchteten sie um sein Leben und griffen ein. Wie aus dem Nichts, als hätte die Nacht im Rücken des unheilvollen schwarzen Mannes wütende Steppennomaden ausgespien, sprangen sie aus ihrer Deckung und stellten sich den herannahenden Mageerings entgegen. Im Nu entbrannte ein blutiges Handgemenge, das dann und wann vom Schein eines grell gelben Blitzes erleuchtet und in flackerndes, Tod bringendes Licht getaucht wurde. Niemand vermochte diesen Streit mehr aufzuhalten.


Als der Morgen über die Steppe hereinbrach, war der Boden getränkt vom Blut gefallener Männer. Fassungslos, noch immer erfasst vom Rausch der Rache und dem Wahnsinn des Tötens standen sich die Überlebenden gegenüber und konnten ihre Augen nicht mehr abwenden vom Bild der maßlosen Zerstörung. Erfüllt von Trauer, mit Tränen in den Augen, sanken einige neben den leblosen Körpern ihrer Lieben auf die Knie und stimmten einen wehleidigen Klagelaut an. Die Morkanen sammelten sich um den unheilvollen schwarzen Mann und zogen mit ihm in die Morgendämmerung davon.

Im Dorf der Morkanen herrschte bereits helle Aufregung. Batiska saß inmitten einer aufgeregten Menge und starrte vor sich ins Leere. Vor ihm lag eine alte Schriftrolle, einige magische Steine und aus einem Tonkrug kräuselte sich seicht ein dünner schwarzgrauer Rauchfaden gen Himmel. Der alte magische Heiler war gänzlich in sich versunken und bemerkte daher auch nicht die Heimkehr der jungen Krieger. Hinter ihm hatte sich Samoska aufgebaut. Immer wieder sog er heißen Qualm in seine Lungen und stieß den Rauch in einem kurzen heftigen Stoß wieder aus, während er unaufhörlich den wunderlichen alten Mann zu seinen Füßen betrachtete. Tatandra saß neben dem Heiler. Aufmerksam beobachtete sie jede kleinste Bewegung und fuhr hoch, als die Krieger zurückkehrten. Sie sprang auf ihre Beine und lief ihnen entgegen.

"Batiska spricht mit den Geistern“, berichtete sie aufgeregt.

"Was sagen sie?“, wollte Janosch wissen.

Tatandra schüttelte unwissend den Kopf. "Seit Stunden sitzt Batiska so da und ... ."

"Der Fluch wird über uns kommen“, rief eine aufgebrachte Frauenstimme, als die Krieger mit dem schwarzen Mann in ihrer Mitte nahe genug herangetreten waren und unterbrach damit das junge Mädchen abrupt. "Die Sommersteppe ist dem Untergang geweiht."

Die mutigen Morkanen sahen sich betreten an. Erst jetzt kamen ihnen Zweifel an ihrer Tat. Die wütende Stimme einer alten Frau hatte an ihrem Gewissen gerüttelt.

"Das wird sich erst noch zeigen“, hielt Janosch entschieden dagegen. "Wir müssen abwarten und die Geister besänftigen. Das ist auf jeden Fall besser, als uns in einem Krieg, der uns nichts angeht, abschlachten zu lassen."

"Ein Dämon in unserer Mitte“, keifte die Frau und zeigte mit dem Finger auf Lumarc. "Der Dämon wird den Unwillen der Geister heraufbeschwören. Er berauscht unsere Sinne und raubt unsere Seelen."

"Das ist Chrischka“, rief Janosch ärgerlich. "Er ist mein Bruder und kein Dämon."

"Dein Bruder ist tot“, schaltete sich jemand ein. Janosch fuhr herum und erkannte in dem Mann den Gatten seiner Schwester. "Ein Dämon ist mit seinem Gesicht zurückgekehrt. Er hat uns alle getäuscht. Er wird uns alle verführen und seine schwarze Seele wird uns vernichten."

"Chrischka mag für euch gestorben sein“, kam es unter der schwarzen Kapuze hervor. "Doch Lumarc wurde für ihn wiedergeboren. Ich bin ein Abgesandter einer Todeshorde. In euren Augen vielleicht ein Dämon. Doch mit dem Herzen noch immer ein Morkane. Der Tod meines Vaters schmerzt mich mehr, als mich der Fluch der Geister je treffen könnte. Ich fürchte weder ihren Zorn, noch die Rache der Steppe. Unschuldiges Blut wurde vergossen für die Gier geblendeter Menschen. Ich kann das bei dem Leben meiner Familie nicht länger gestatten." Er stieß seinen Speer zweimal in den Boden und blieb reglos und stumm wie eine Säule stehen, als wartete er nur auf eine Reaktion.

Beim zweiten Klopfen des Speeres sprang plötzlich Batiska mit einem spitzen Schrei vom Boden auf. Er war schweißgebadet. Sein Atem ging heftig und sein Herz klopfte wild. Er fuchtelte wild mit den Armen durch die Luft, als wolle er in panischer Angst etwas fort wischen oder zurückstoßen. Sein Gesicht war verzerrt vor Schmerz und Entsetzen. Immer wieder stieß er spitze Schreie aus und sank schließlich wie ein Häufchen Elend in sich zusammen, nachdem der eherne Speer ein drittes Mal dumpf auf den Boden klopfte. Noch immer ging sein Atem heftig. Sein Brustkorb bewegte sich schnell auf und ab. Seine Augen waren weit geöffnet. Sein Gesicht bleich und durchscheinend. Seine Lippen blass und brüchig. Seine Finger krallten sich in den harten Boden, bis sie bluteten. Sein ganzer Körper zitterte.

Ein Raunen ging durch die Menge der Umstehenden. Ein paar waren vor Schreck zurückgewichen. Andere starrten den alten Heiler mit entsetzten Augen an. Das Schriftstück rollte sich von selbst unaufhaltsam, aber ganz langsam zusammen und erst, als es nur noch eine nichtssagende Rolle altes Pergament war, hatte sich Batiska beruhigt.

"Ich habe sie gesehen“, kam es leise über seine Lippen. "Die Wesen aus einer anderen Welt. Ich habe sie gesehen."

Die Umstehenden seufzten genervt und enttäuscht. Der Geist des alten Mannes schien noch immer verwirrt zu sein. Wie konnten sie nur darauf hoffen, dass ein Verrückter die Geister beschwören könnte. Leise schimpfend und murmelnd kehrten sie in ihre Zelte zurück. Orte, an denen sie sich vor dem Zorn der Geister und dem Fluch der Sommersteppe sicher glaubten.

Lumarc beugte sich nieder, schlug die Kapuze zurück und legte seine Hand auf die zitternde Schulter des alten Heilers. "Was hast du gesehen?“, wollte er wissen. "Erzähle es mir."

"Die Herren der Kostfänger“, stammelte Batiska noch immer verwirrt und mitgenommen. "Ich habe sie gesehen. Ihre Augen sind so unbarmherzig und grausam. So gierig und skrupellos, dass ihre Blicke schmerzen. Sie haben sich mit dem goldenen Gott der Qual verbündet. Sie befreiten ihn aus seiner starren Gestalt, um durch ihn ihre Jünger zu finden."

"Mendiato? Frei?“, rief Tatandra entsetzt.

"Sie haben auch mich gesehen“, fuhr der alte Morkane fort. "Und durch mich sahen sie dich." Er sah Chrischka voller Angst in die Augen. "Sie wollen dich zurückholen."

"Das darf niemals geschehen!" Janosch schnaufte erregt. Er verkraftete es nicht, den Bruder noch einmal zu verlieren. "Wir werden dich beschützen."

"Sie sind überall“, gab Lumarc wissend von sich. "Nichts könnte mich vor ihnen schützen. Auch nicht die liebende Hand eines Bruders." Er suchte den Kontakt zu Janoschs Blick. "Aber Vertrauen und Beistand könnten mich davor bewahren, für immer in ihrer Gewalt zu bleiben."

"Du willst dich ihnen stellen?" Ein Hauch von Traurigkeit huschte über sein Gesicht.

"Mein Herz und meine Träume gehören der Sommersteppe“, erwiderte Lumarc und erhob sich. Nach einem kurzen Blick über die schier endlose Ebene, die nur durch ein paar turmhohen Felsen Abwechslung erhielt, fuhr er fort. "Doch mein Kopf und meine Gedanken sind die eines Kostfängers. Ich muss mich diesem Schicksal stellen. Sonst werde ich bis ans Ende meiner Tage unerträgliche Qualen durchstehen müssen."

"Was ist mit Mendiato?“, wollte Tatandra wissen.

"So wie es aussieht, werde ich dabei auch auf die Filzlaus treffen“, bemerkte er und mühte sich ein Lächeln ab. "Bevor sie kommen, um mich zu holen und noch mehr Unheil anrichten, werde ich gehen."

"Aber warum?“, rief Janosch entsetzt. "Warum willst du wieder gehen?"

"Sieh mich an“, forderte Lumarc streng. "Bin ich noch der geliebte Bruder, den du einst auf dem Kamin zurücklassen musstest? Aus ihm wurde ein Bote des Todes und bevor dieses Leben nicht abgeschlossen wurde, kann es keinen wahren Chrischka geben."

"Ich befürchte nur, dass du diesmal nicht wieder zurückkehren wirst“, gestand Janosch.

"Was soll aus mir werden?“, wollte Tatandra wissen. "Ich kann nicht wieder zu meiner Familie zurück."

"Janosch wird für dich sorgen." Mit einem Nicken erklärte sich dieser einverstanden.

"Ich habe dich nicht hierher zurückgebracht, um dich nun wieder fortgehen zu sehen“, sagte sie traurig. "Ich gab für dich meine Familie auf."

"Du hast eine neue Familie gefunden“, beruhigte sie Janosch. "Ich werde für die Frau meines Bruders sorgen. Das verspreche ich."

Tatandra fand keine Argumente mehr, den geliebten Mann von seinem Vorhaben abzubringen. Traurig senkte sie den Blick. Als Lumarc ihr Kinn anhob, blickte er in tränen erfüllte Augen. Nach einem zarten Kuss, nahm er das Medaillon ab, welches ihn bislang vor dem lächelnden, goldenen Gesicht beschützt hatte und hängte es ihr um den Hals.

"Lumarc ist stark genug, um Mendiato widerstehen zu können“, sagte und küsste sie ein weiteres Mal. "Nun soll es dir helfen, deinen Schmerz zu überwinden und mich nicht zu vergessen."

"Ich werde Mendiato anbeten, dich mit grenzenloser Pein zu belegen, solltest du nicht wieder zurückkehren“, erwiderte sie etwas erbost.

"Der Tag, an dem du mich vergisst, wird mich mit größter Qual erfüllen." Damit küsste er sie ein letztes Mal, wandte sich um und ging ohne einen weiteren Gruß von dannen.

Tatandra fühlte, wie die Tränen an ihrer Wange festfroren. Sie wirbelte herum, rannte in Roschkas Zelt und ließ sich schluchzend in ihr Felllager fallen.


In der darauffolgenden Nacht fielen Schneeflocken vom Himmel, und als die Nomaden am nächsten Morgen ihre Zelte verließen, mussten sie erkennen, dass die Sommersteppe mit einem dicken Schneeteppich bedeckt war. Der lange prophezeite Fluch war über sie gekommen.



11.

Lumarc hatte weder für die Nacht noch für andere Erholungspausen Rast gemacht. Als Nomade war er zwar Wandern gewöhnt, doch ein stetiger Wille in seinem Inneren hatte ihn ständig vorwärtsgetrieben. Als er endlich am größten Kamin der Sommersteppe angelangt war, gestattete er sich eine kleine Verschnaufpause. Der Schnee rieselte inzwischen in derart dicken und schweren Flocken vom Himmel, dass er kaum zwei Meter weiter sehen konnte. Die letzte Stunde musste er durch kniehohen Schnee waten. Auch er wusste, was dies zu bedeuten hatte und an ihm lag die meiste Schuld für diesen Zustand. Er hatte die Morkanen zu einem rachelüsternen Kampf verleitet und ihm war das Eintreffen des alten Fluches zuzuschreiben.

Mit einem tiefen Seufzer erhob er sich wieder und begann den Kamin zu erklimmen. Die Geister waren erzürnt. Vielleicht steckte doch noch mehr von einem Morkanenkrieger in ihm, als er dachte. Mit einem schmerzhaften Zusammenzucken versuchte er, diese unreinen Gedanken aufzuwischen. Die Kopfschmerzen meldeten sich wieder und je intensiver er über die Sommersteppe und ihre alten Geschichten nachdachte, desto heftiger wurde das Klopfen zwischen seinen Schläfen. Daher versuchte er seinen Kopf freizumachen, an nichts zu denken, weder an das Vergangene, noch an das Bevorstehende, nicht an jetzt und nicht an morgen. Er überließ es einfach der Zeit, was geschah und geschehen sollte. Und nach einer Weile waren die lästigen Kopfschmerzen tatsächlich verschwunden.

Nach Stunden mühseliger Klettertour über vereiste Pfade, verschneite Felsen und zugewehte Spalten hatte er endlich den Gipfel erreicht. Obwohl er sich nicht sicher war, sich jemals genauer umgesehen zu haben, wusste er plötzlich, wo sich der Eingang befand. Für einen Moment fragte er sich, ob er diesen Schritt tatsächlich wagen sollte, doch dann stand er bereits in einem der alten Steinhütten, vor einer kahlen Wand, hielt die Spitze seines Speeres dagegen und erschrak kein bisschen, als sie knirschend zur Seite glitt. Nach der eisigen Welt, den kahlen Felshäusern und dem dichten Schneetreiben, empfing ihn in Inneren des Kamins eine Welt aus blankem Metall, das sein Gesicht trübe widerspiegelte. Er trat in den schmucklosen Korridor, wand sich zur Seite und entdeckte vier Gestalten in bodenlangen schwarzen Umhängen, deren Kapuzen tief in die Gesichter gezogen waren. Der Vorderste klopfte zweimal mit seinem Speer auf den Boden, was ein merkwürdig hohles Geräusch erzeugte. Lumarc erwiderte dieses Zeichen und setzte sich an den Schluss der Formation, um ihnen tiefer in den Kamin zu folgen. Er wusste, was ihn nun erwartete, obwohl er sich nicht sicher war, es tatsächlich jemals erlebt zu haben. Ihm kam alles vertraut und dennoch fremd vor. Als seine Begleiter irgendwann, nach einer langen Fahrt mit einem leise surrenden Lift, tief unter der Oberfläche der Sommersteppe zur Seite traten, wusste er genau, dass nun bald seine Gedanken gereinigt wurden.

Der Raum, in welchem er sich nun befand, erinnerte ihn an ein Erlebnis voller Angst und Verzweiflung. Das grelle, gelbe Licht, das ihn nun umfing, das von den blank polierten Wänden mehrfach zurückgeworfen wurde und ihn vehementer traf als er auszuhalten vermochte, erinnerte ihn an Pein, großen Schmerz und Vergessen. Er hörte Stimmen, seltsam hoch und dröhnend tief. Seine Ohren schmerzten. Sein Blut begann zu kochen und sich in flüssiges Feuer zu verwandeln. Sein Kopf pochte und hämmerte im Gleichklang seines eigenen Herzens Pein und Erniedrigung in ihm ein. Er ließ seinen Speer fallen, hielt sich die Ohren zu und knurrte vor Schmerz. Das gelbe Licht bohrte sich in seine Haut, riss sie in Fetzen und ließ sie an den verspiegelten Wänden verdampfen, bis er gellend vor Höllenqual schrie. Seine Schreie wurden immer lauter, je länger diese Prozedur andauerte. Er versuchte an nichts zu denken, um die Reinigung abzukürzen, doch je angestrengter er seine Gedanken beiseite schob, desto härter und unbarmherziger prasselte das grelle Licht auf ihn ein und desto lauter wurden die unheimlichen Stimmen. Und je mehr er zu gehorchen versuchte, desto heftiger rebellierte sein Gehirn gegen die Säuberungsaktion.

Er musste vergessen. Er musste sich selbst vergessen. Er musste sogar vergessen, dass er einmal Lumarc, ein Kostfänger war.

Als endlich das Licht erlosch und die Stimmen verstummten, blieb von dem einstigen Todesboten nur noch ein kleines wimmerndes Häufchen übrig, das von vier schwarz gekleideten Gestalten aufgehoben und davongetragen wurde.



12.

Der Schnee rieselte in unaufhörlicher Folge vom Himmel und begrub alles Leben unter einer weißen Decke, die selbst den kleinsten Laut erstickte. Den Nomaden war es kaum noch möglich, mit ihren großen Karren weiterzuziehen und andere Lagerplätze aufzusuchen. Die Wildbüffel fanden in dem hohen Schnee kein Gras mehr und verhungerten jämmerlich, wodurch auch sämtliche Nomadenstämme der Steppe große Not litten. Der Fluch der Sommersteppe erfüllte sein verheerendes Schicksal.

Vor Kälte zitternd, saß Tatandra im Joschkas Zelt und beobachtete seine Frau Mireen dabei, wie sie eben den letzten Brocken getrockneten Wildbüffeldung ins Feuer legte. Auf ihrem Gesicht stand ebenso die Sorge geschrieben, wie auf allen anderen. Das Kind in ihren Armen regte sich kurz, dann schlummerte es friedlich weiter. Die Zukunft ihres Kindes war ebenso gefährdet, wie ihre eigene. Ohne Wildbüffel gab es nichts zu essen, gab es keine wärmende Felle und wenn sie verhungerte und erfror, bedeutete es auch für Klein-Chrischka den Tod.

Tatandra seufzte, zog die Felldecke enger um sich und berührte das steinerne Medaillon um ihren Hals. Sie musste an Chrischka denken, der als Lumarc gegangen war und nun wer weiß wo sein konnte. Trauer erfüllte ihr Herz, als sie die Abschiedsszene in Erinnerung rief. So blühend hatte sie sich ihre gemeinsame Zukunft vorgestellt. Sie wollte ihm viele Kinder gebären, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen und ihm jederzeit stolz und entschlossen zur Seite stehen. Wie jäh wurden ihre Träume zerschlagen.

Eine Träne kullerte über ihre Wange. Sie sehnte sich nach seinen Berührungen. Sie sehnte sich nach seinem Duft und sie sehnte sich nach seinem Gewicht, das auf ihr lastete, wenn sie sich nächtens in ihrem Felllager vergnügt hatten.

Das Fell am Eingang des Zeltes wurde zurückgeschlagen und mit einer kräftigen Prise eiskaltem Wind und dicken Schneeflocken, trat auch Janosch herein, der von seiner Wache zurückgekommen war. Schnell zog er das mit Schnee und Eis verkrustete Fellhemd über den Kopf, entledigte sich der gefrorenen Stiefeln und den bis zu den Knien mit festgefrorenem Schnee bedeckten Hosen und setzte sich ans Feuer, wo ihm Mireen eine Tasse mit heißer, dampfender Suppe überreichte.

"Bei dem Schneetreiben da draußen, kann man keine Handbreit weit sehen“, schnaufte er und wärmte seine Hände an der heißen Tasse.

"Was glaubst du, wie lange es noch andauert?“, wollte Tatandra wissen.

"Ich weiß es nicht“, gestand Janosch und bedankte sich bei seiner Frau mit einem freundlichen Lächeln. Sie hatte ihm ein trockenes, wollenes Hemd über die Schultern gelegt. "Es ist seit Wochen nichts mehr vorgefallen. Vielleicht beruhigt sich das Wetter irgendwann wieder."

"Bis dahin sind wir sicherlich erfroren“, gab Tatandra vor Kälte erschaudernd von sich. "Ich glaube nicht, dass sich der Zorn der Geister so bald legt." Sie sah hoch und in Janoschs gerötetes Gesicht. "Vielleicht besänftigt es sie etwas, wenn Batiska zu ihnen spricht?“, schlug sie vor.

"Batiska hüllt sich in Schweigen, seit Chrischka fortgegangen ist“, bemerkte Janosch, während er das schlafende Kind in Mireens Armen sanft über die Wangen streichelte.

"Aber irgend etwas müssen wir doch tun können“, rief Tatandra verzweifelt. "Wir können doch nicht untätig herum sitzen und darauf warten, dass uns der Tod holt."

"Versuche doch du dein Glück“, gab er zurück. "Vielleicht spricht er zu dir."

Dies ließ sich Tatandra kein zweites Mal sagen. Sie schlug die Decke zurück, warf sich einen dicken Wollumhang über die Schultern und verließ das Zelt. Dichtes Schneetreiben empfing sie. Sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie brauchte mehr als fünf Mal länger, um zu Raiskas Zelt zu gelangen, als normal. Das Nomadendorf war tief eingeschneit.

Als sie den Lappen am Eingang zurückschlug, drang ihr sofort würziger Kräuterduft und feucht schwangere Hitze entgegen. Die alte Raiska saß an einem kleinen Feuer inmitten ihres Zeltes, thronte auf einem Hocker, der mit dem Winterfell eines Wildbüffels überzogen war und rührte bedächtig in einem Topf, aus dem es leise quallerte. Als ihr Gast eintrat, sah sie nur kurz hoch und widmete sich wieder ihren Gedanken.

"Sei willkommen in meinem Zelt“, sagte sie schließlich, als Tatandra sich zu ihr ans Feuer gekniet hatte. "Was führt dich zu mir?"

"Eigentlich wollte ich nicht zu dir, sondern zu Batiska“, gestand sie aufrichtig und sah sich flüchtig um. In einer dunklen Ecke des Zeltes lag ein größerer Fellhaufen, unter dem sie den alten magischen Heiler vermutete. "Ich fürchte um unser Leben. Daher wollte ich ihn bitten, die Geister um Wohlwollen zu ersuchen."

In den Fellhaufen kam Bewegung. Ein wirrer, grauer Kopf tauchte unter mehreren Lagen verschiedener Decken auf und betrachtete die Besucherin mit stechenden Augen.

"Es ist eine schlechte Zeit, mit den Geistern zu reden“, antwortete Raiska für ihn. "Sie sind erzürnt und wollen nicht zuhören."

"Wir haben uns doch nur gewehrt“, versuchte sie die Tat der jungen Krieger zu rechtfertigen. "Wir haben doch nur gezeigt, dass wir endlich in Ruhe gelassen werden wollten."

"Ihr habt Rache geübt“, wusste es der alte Mann besser. "Rache für den Tod enger Freunde und Bekannte."

"Wer kann einem das verübeln?“, rief Tatandra wütend. "Wie hättest du reagiert, wenn dein eigener Vater umgekommen wäre? Ich hätte dem Mörder sein eigenes Schwert mitten ins Herz gestoßen." Sie schnaufte, als sie bemerkte, dass sie einen heiligen Mann beschimpfte und wand verlegen und erregt ihr Gesicht ab. "Dafür, dass man seinem Schmerz Ausdruck verleiht, kann man doch nicht verurteilt werden“, fuhr sie leiser fort, jedoch ohne eine der beiden alten Leute anzublicken. "Es ist in all den Jahren der Streitigkeiten zwischen den Kleken und den Mageerings zu viel Blut geflossen. Es muss endlich ein Ende haben. Chrischkas Tat war nur ein Anfang." Endlich suchte sie wieder den Blick des alten Mannes und widerstand ihm mühelos, als er sie mit ernstem Gesicht musterte.

Dann schlug er die Decken zurück und setzte sich auf.

"Chrischka war schon immer ein mutiger junger Mann gewesen“, begann er, während er eine dicke Wolljacke aus dem Durcheinander seiner Decken herausfischte. "Ein entschlossener Krieger, den so schnell niemand bezwingen konnte. Einzig dem goldenen Dämon gelang es, ihn ein wenig zu schwächen. Tief in seinem Herzen schlug noch immer der Kampfgeist eines Morkanen, auch als ihn die merkwürdigen Wesen gefangen genommen und ihn zu einen der ihren gemacht hatten. Keine Verkleidung kann die Geister der Sommersteppe täuschen. Sie blicken einem tief in die Seele und erkennen den wahren Menschen. Erschüttert über das, was sie in Chrischka und in diejenigen, die ihm folgten, sahen, verhängten sie die gerechte Strafe über die Steppe."

"Vielleicht war dies die einzige Möglichkeit, diesen unsinnigen Krieg zu beenden“, gab Tatandra zu bedenken. "Sie haben nun zumindest gemerkt, dass wir uns nicht mehr untätig abschlachten lassen."

Batiska schnaufte, hievte sich mühselig auf die Beine und kam näher geschlurft. Mit einem Stöhnen ließ er sich neben Raiska am Feuer nieder, streckte für einen Moment seine Hände der flackernden Hitze entgegen und versank kurz in grüblerischen Gedanken.

"Tatsache ist jedenfalls, dass wir Morkanen ein Nomadenvolk der Sommersteppe sind“, begann er schließlich, noch immer in Gedanken versunken. "Wenn sich die jungen Männer beim Angriff der Mageerings so gewehrt hätten, wie sie deren Dorf im Nachhinein hinterrücks überfallen hatten, so wäre der Sachverhalt anders."

"Chrischka hatte versucht wieder das Leben eines Steppennomaden zu leben“, rief das Mädchen entrüstet. "Er wollte die vergangenen Jahre vergessen und einfach wieder Chrischka sein. Erst der Tod seines Vaters veranlasste ihn dazu ... ." Sie verstummte.

"Grausame Rache zu nehmen“, vollendete Batiska den Satz. "Im Grunde freue ich mich ebenfalls über diesen Schlag. Vielleicht hätte es tatsächlich für Ruhe gesorgt. Doch die Geister sind anderer Meinung."

"Kann man sie nicht umstimmen?“, fragte Tatandra beinahe bettelnd.

"Das verlangt ein Opfer“, wusste der magische Heiler. "Keiner von uns, wird dies aufbringen können."

"Wenn nicht bald etwas geschieht, werden wir alle Opfer sein."

Batiska betrachtete sie eingehend, dann nickte er schließlich.

"Ich kann es versuchen“, schnaufte er müde. "Aber wer wird das Opfer bringen?"

"Ich“, antwortete Tatandra zu allem entschlossen. "Ich habe nichts mehr zu verlieren."

Er betrachtete sie erneut und las in ihren Augen ihren nicht mehr zu ändernden Entschluss. Sie hatte für Chrischka ihre Familie aufgegeben, und nun besaß sie nicht einmal mehr ihren Mann. Er nickte, schlug die Beine über Kreuz und nahm vom der Feuerstelle einige erkaltete Kohlestückchen, die er in seinen Händen zerrieb und so eine schwarze Fläche vor seinen Füßen bildete. Mit dem kleinen Finger seiner rechten Hand malte er fremdartige Zeichen hinein, schloss dabei die Augen und vollführte den Rest der magischen Hieroglyphen blind. Dann versank er in tiefe Konzentration.

Tatandra beobachtete ihn aufmerksam. Ihr war auf einmal kalt und sie rückte näher zum Feuer. Die alte Raiska hatte längst aufgehört in ihrem Topf zu rühren, nahm eine Schale, füllte etwas des duftenden Inhaltes hinein und überreichte sie dem Mädchen.

"Dies wird dein Feuer erhalten“, sagte sie, als Tatandra es an die Lippen legte und den bitter süßen Geschmack über ihre Zunge rinnen ließ.

"Mein Feuer brennt lodernder denn je“, gab sie selbstbewusst zurück, nachdem sie die Schale leergetrunken hatte. Die Wärme des Trankes war ihr wichtiger gewesen, als die vermeintliche Wirkung.

"In dir brennt das Feuer der Sehnsucht, nicht der Leidenschaft“, wusste Raiska. "Unerfüllte Liebe ist der Vorbote der Einsamkeit. Ich spreche aus eigener Erfahrung." Nickend ließ sie ihre Zahnstümpfe erkennen und schielte aus den Augenwinkeln nach Batiska.

"Auch wenn sich unter all den jungen Männern tatsächlich einer finden würde, der mich in sein Zelt holt, ich würde es nicht gestatten. Mein Herz gehört Chrischka."

"Dein Herz gehört einem Mann, von dem du nicht weißt, wer er überhaupt ist. Viele halten ihn für einen Dämon. Sollte er dir jemals wieder begegnen, denke ich, wird er dich töten."

"Ich habe ihn einmal wiedergefunden und ich werde ihn ein weiteres Mal wiederfinden. Er konnte mich damals nicht töten, obwohl die Spitze seines Speeres bereits auf meiner Brust lag, er wird es auch dann nicht können."

"Unterschätze die Kraft des Bösen nicht“, ermahnte Raiska mit erhobenem Zeigefinger. "Sie ist tückisch und hat stets eine Überraschung parat."

Batiska seufzte laut und richtete seinen Körper gerader. Auf seinem Gesicht stand Anstrengung und Leid geschrieben. Seine Hände verkrallten sich zu Fäusten. Er versteifte sich und begann zu zittern.

"Sie sprechen zu ihm“, wusste die Alte und hielt dabei die Hand vor ihre Lippen, aus Angst, sie könne die Geister mit ihrer Stimme erschrecken.

Tatandra beobachtete ihn ehrfürchtig. Ihre Hände wurden kalt. Sie versteckte sie unter ihrer Wolldecke. Wenn der magische Heiler aus dem Reich der Geister zurückkehrte, würde er eine Bedingung an sie stellen und sie würde sie erfüllen müssen.


Ein seltsames Gefühl stieg aus ihrer Magengegend höher und erreichte bald ihren Kopf. Ein prickelndes Kribbeln machte sich breit. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie blinzelte und suchte den Blick der alten Frau, die ihr scheinbar einen magischen Trank unter falschen Angaben verabreicht hatte. Zufrieden lächelnd beobachtete die Alte, wie Tatandra immer mehr von der Wirkung des Trankes vereinnahmt wurde und sich bald in einer trüben Welt aus dichten Nebelschwaden wiederfand. Wut schlug bald in Hilflosigkeit über. Dann erschrak sie, als sich ein grinsendes goldenes Gesicht aus dem Nebel heraus formte und sich ihr bedächtig näherte. Sie kannte das Antlitz des unbarmherzigen Gottes der Qual. Und sie hatte erfahren müssen, dass die unheimlichen fremden Wesen ihn aus seiner starren Gestalt befreiten. Unsagbare Pein würde über die Welt der Sterblichen kommen. Schmerzen und blutige Tränen würden fortan ihre Körper ausfüllen. Sie versuchte die Augen vor diesem Anblick zu verschließen, doch Mendiato drang durch ihre Lider und quälte sie weiterhin mit seinem hämischen Grinsen. Neben dem Gesicht tauchten plötzlich mehrere schwarz vermummte Gestalten auf, die ihre silbernen Speere viermal, je zwei Mal kurz hintereinander, auf den Boden pochen ließen und sie dann in Wachstellung weit von ihren Körpern hielten. Boten der Todeshorde, wusste Tatandra und begriff augenblicklich. Da sie Chrischkas Amulett trug, konnte es nicht Mendiato persönlich sein, der vor ihrem Auge erschien, um sie mit seinem Anblick zu quälen. Es waren die Geister, die zu ihr sprachen und sie auf diesem Wege über die Geschehnisse informierten. Sie sah plötzlich eine goldene Statue, eine ähnliche wie sie Chrischka gezeigt hatte. Eine Silhouette löste sich aus der Statue und schwebte wie ein hauchdünner goldener Schleier an der Reihe der Todesboten entlang, bis sie beim Letzten stehenblieb und ihn mit seinem quälenden Grinsen anblickte. Da erkannte Tatandra die Botschaft und wusste nun um das Opfer, das sie bringen musste

Dann versanken die Bilder wieder in einem trüben Nebel und sie befand sich allein in einer feucht heißen Umgebung.

Zögerlich öffnete sie die Augen. Nahe vor ihrem Gesicht befand sich das von Raiska. Besorgnis schlug schnell in Erleichterung um, als Tatandra sich leicht bewegte.

"Geht es dir gut, Kleines?“, fragte die Alte, während sie ein getränktes Tuch auf die fieberheiße Stirn des Mädchens legte.

Scharf würziger Duft biss in ihre Nase. Tatandra musste niesen. Ihr Kopf dröhnte und Übelkeit stieg ihren Hals empor. Sie brachte kein Wort über ihre Lippen. Neugierig sah sie sich nach Batiska um und entdecke ihn zusammengesunken am Feuer sitzen.

"Die Geister waren wohlgesinnt und haben dein Angebot angenommen“, berichtete die alte Frau. "Jetzt liegt es an dir."

Tatandra erhob sich, schluckte die Übelkeit hinunter und rieb ihre juckende Nase.

"Ich weiß nicht, ob ich es wirklich kann“, sagte sie erschöpft. Ihr Körper schien zu glühen. Eiskalter Schweiß rann ihr in Bächen den Rücken hinunter.

"Du hast dich angeboten“, erinnerte Raiska. "Du darfst nun nicht mehr zurückschrecken." Sie nahm das Tuch, tauchte es ein weiteres Mal in eine Schüssel mit trüber, dampfender Flüssigkeit und drückte es wieder auf die Stirn des Mädchens. Frischer beißender Geruch stieg in ihre Nase und reizte ihre Lunge derart, dass es schmerzte. Das Atmen fiel immer schwerer und als Tatandra ihre Hand mit dem getränkten Tuch fort wischte, schüttelte Raiska wissend den Kopf. "Es reinigt deinen Körper“, erklärte sie besänftigend.

"Es ist unangenehm“, jammerte Tatandra und wich zurück, als die Alte das Tuch erneut auf die Stirn pressen wollte.

"Beinahe alle Pflichten sind unangenehm“, gab Raiska wissend von sich und warf das Tuch in die Schale mit der beißenden Flüssigkeit. Dann wandte sie sich um und fingerte etwas aus einer Tasche, die aus dem Winterfell eines Wildbüffels gefertigt worden war. Das dick samtig weiche Winterfell war ihr das Liebste und beinahe all ihre Habseligkeiten wurden damit verkleidet oder gefertigt. Sie brachte ein weiteres Tuch zum Vorschein, in das sie das getränkte Tuch einwickelte, bevor sie es Tatandra überreichte. "Für den Fall, dass dir doch noch danach sein sollte."

Tatandra behielt ihre Bemerkung für sich, nahm aber das kleine Päckchen an und suchte den alten Mann, der noch immer zusammengesunken dasaß.

"Er wird für eine Weile nicht sprechen können“, erklärte die Kräuterheilerin. "Es hat ihn sehr mitgenommen. Er ist nun mal kein junger Bursche mehr." Sie seufzte leicht, bedachte den alten Mann mit einem fürsorglichen Blick und wand sich wieder an das Mädchen. "Du musst nun gehen."

"Was ist, wenn ich versage?“, erkundigte sich Tatandra, während sie ihre Wolldecke über die Schultern legte.

"Dann werden wir wohl alle Opfer werden“, gab Raiska zurück. "Durch wessen Hand spielt dabei keine Rolle mehr." Sie erhob sich ebenfalls, strich dem Mädchen sanft über die Wange und lächelte gütig. "Und nun geh."

"Bete für mich, alte Raiska“, bat Tatandra. "Ich werde jede Hilfe brauchen."

Mit einem zustimmenden Nicken, schob sie das Mädchen zum Ausgang und sah ihr noch eine Weile hinterher. Längst war sie verschwunden und der herein gerieselte Schnee geschmolzen, als Batiska endlich wieder zu sich kam und sich stöhnend aufrappelte.


13.

Als Tatandra das Zelt der alten Kräuterheilerin verließ, musste sie erkennen, dass es aufgehört hatte zu schneien. Schneeberge hatten sich bis zu einem Meter neben den einfachen Lederhütten aufgetürmt. Die Sonne glänzte hell vom Himmel und ließ die ganze Sommersteppe in einem gleißenden Strahlen und Glitzern erleuchten. Geblendet von soviel Helligkeit, die Augen zu engen Schlitzen zusammen gezwickt, bahnte sie sich einen Weg zurück zu Janoschs Zelt. Dieser sprang auch sogleich auf die Beine, als der Lappen am Eingang zurückgeworfen wurde und jemand eintrat.

"Was haben sie gesagt?“, wollte er sogleich wissen. Tatandra war viele Stunden fort gewesen. Ihr selbst kam es allerdings wie ein paar Minuten vor.

"Ich muss gehen“, sagte sie kurz angebunden und raffte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen.

"Wohin?“, fragte er verwirrt. Er war sich nicht sicher, ob er sie aufhalten, oder einfach ihren Weg gehen lassen sollte.

"Zum Kamin“, erklärte sie, während sie weitere Decken und dicke Kleidungsstücke in einen Sack stopfte. "Ich muss zur Todeshorde."

"Willst du Chrischka befreien?"

"Nein." Sie sah hoch und betrachtete ihn für einen Augenblick. "Ich muss ihn töten."

"Was?" Janosch hatte so laut gerufen, dass sein Sohn erwachte und nun vor Schreck schrie. "Warum?" Er fand keine Worte mehr. Seine Lippen öffneten und schlossen sich wieder, ohne dass auch nur ein Ton über sie kam. Hilflos warf er die Arme in die Luft und wusste nicht, wie er reagieren sollte.

"Die Geister verlangen es“, erklärte sie. "Mendiato wird sich seines Körpers bemächtigen, damit er wieder uneingeschränkt über die Lebenden herrschen kann. Und das muss ich verhindern."

"Aber ist es dazu wirklich nötig, Chrischka zu töten?“, wollte er wissen, noch immer fassungslos.

"Es gibt keine andere Möglichkeit. Chrischka starb bereits vor vielen Jahren, auf der Spitze des Kamins. Lumarc ist nur eine leere, willenlose Hülle."

"Bist du dir sicher?“, fragte Janosch traurig.

"Die Geister haben es mir verraten." Sie senkte ebenfalls vor Trauer den Blick. "Ich wünschte, ich könnte ihn retten. Doch selbst die Geister sehen seine Zukunft nicht, sonst hätten sie es mir verraten."

Janosch musste sich wieder setzen. Mit einem kummervollen Blick beobachtete er Mireen, die das weinende Kind sanft in ihren Armen hin und her wiegte, bis es sich wieder beruhigte.

"Ich werde dich begleiten“, entschloss er sich kurzerhand.

"Das wirst du nicht tun“, verbot es Tatandra. "Du wirst vielleicht nicht wieder zurückkehren. Denk an deine Familie. Deine Mutter verlor bereits den Mann und einen Sohn. Soll sie auch noch einen weiteren Sohn verlieren und ein Kind seinen Vater?"

"Ich könnte keinen Augenblick ruhig sitzenbleiben. Außerdem habe ich geschworen, dich zu beschützen."

"Mein Leben ist ohne Chrischka trostlos und düster. Ich wäre sicherlich bald vor Kummer eingegangen. So ist es besser."

"Ich kann dich nicht allein gehen lassen." Janosch hatte sich wieder erhoben und baute sich entschlossen vor seiner Schwägerin auf. "Wenn du meinen Bruder tötest, will ich dabei sein."

"Ich töte nicht Chrischka, ich töte Mendiato und dabei kannst du ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden. Willst du deinen Sohn wirklich zu einem Waisen machen?"

"Ich werde dich nicht allein gehen lassen." Janoschs Entschluss widerstand so energisch ihrem Protest wie ein massiver Felsen der rauschenden Brandung. Seine Augen funkelten entschlossen. Er war durch nichts davon abzubringen.

"Also gut“, schnaufte sie genervt und entschuldigte sich dafür bei Mireen mit einem Achselzucken. Dann warf sie ihren Sack über die Schultern und verließ das Zelt.



14.

Wackere Männer nutzten das günstige Wetter aus, um die Weideflächen vom Schnee zu befreien, sodass die ziemlich dezimierte und vor Hunger brüllende Wildbüffelherde die spärlichen Grashalme abäsen konnte. Tatandra beobachtete sie eine Weile, bis sich jemand an ihre Seite gesellte.

Sie wand sich kurz um, nickte Janosch zu und blickte in die Ferne, wo der höchste Kamin der Sommersteppe nur noch als kaum sichtbarer Stumpen zu sehen war. Eine anstrengende Reise durch hüfthohen Schnee stand ihnen bevor. Wenigstens schienen ihnen die Geister ein klein wenig wohlgesonnen zu sein und ließen Schneesturm und Eiswind einschlafen. Die Sonne verschwand zeitweise hinter dunklen Wolken, sodass ihnen die Helligkeit nicht allzu sehr zu schaffen machte. Dennoch sanken sie nach vier Stunden anstrengendem Marsch durch den weichen Schnee erschöpft in die knisternden Kristalldaunen und beobachtete ihren eigenen Atem, der als kleine weiße Wölkchen gen Himmel zog.

Sie mussten noch eine Nacht in der totenstillen Landschaft verbringen, dann standen sie am späten Nachmittag des darauffolgenden Tages vor dem Kamin. Erschöpft und zitternd vor unruhiger Erwartung, begannen sie schließlich, den Geröllfuß zu erklimmen und kletterten stetig höher, sodass sie entgegen der untergehenden Sonne an der Spitze ihres Zieles standen, während der rot leuchtende Feuerball allmählich hinter dem Horizont verschwand. Tatandra schritt vorsichtig über eine vermeintliche Plattform und blieb vor einem Abgrund stehen, wo sich vor ihren Füßen eine tief verschneite Terrassenlandschaft auftat. Janosch folgte ihr nur zögerlich. Erinnerungen an ein schreckliches Erlebnis vor einigen Jahren kehrten zu ihm zurück, als er seinen Blick nur mehr als flüchtig über die Gipfelplatte schweifen ließ.

"Es muss hier irgendwo einen Eingang geben“, sagte sie, als sie Janosch neben sich spürte. "Hätte es nicht unentwegt geschneit, könnten wir Chrischkas Fußspuren folgen." Sie sah sich um, doch die frische Neuschneedecke wies keinerlei Zerstörungen auf. Weder Fußspuren, noch andere Hinweise gab es, die sie hätten führen können.

"Chrischka ist vor vielen Wochen gegangen“, erinnerte Janosch. "Es wäre schon eine dreiste Laune der Geister, wenn wir jetzt noch auf seine Fußspuren stießen."

Sie schnaufte, sah sich flüchtig um und suchte sich ein geschütztes Plätzchen.

Die beiden konnten nur warten und darauf hoffen, dass ihnen die Götter einen Hinweis gaben. So legten sie eine große Felldecke über ihre Schultern und harrten geduldig auf ein Zeichen.

Als der Mond am höchsten Punkt am Himmel stand, schoben sich dunkle Wolken vor ihn und ein kalter Schneesturm fegte über die Steppe. Eng zusammengekauert und sich gewaltsam wach haltend, ließen sich die beiden nicht davon abhalten, weiterhin auf der Spitze des sturmumtobten Kamins auszuharren. Sie hofften auf die Götter, die ihnen eine Gelegenheit gaben, die Prophezeiung aufzulösen und wurden irgendwann belohnt.

Eine Gruppe von fünf dunkel gekleideten Gestalten tauchte aus heiterem Himmel und in perfekter Formation auf und schritt stillschweigend und ihre todbringenden Stäbe bei jedem vierten Schritt auf den Boden setzend an ihnen vorbei. Die Dunkelheit, der Schneesturm und das weiße Winterfell des Wildbüffels schützten die beiden Nomaden vor der Willkür der Todeshorde und ließen sie mit ihrer Umgebung verschmelzen. Doch kaum waren die Gestalten an dem vermeintlichen Schneehügel vorbeigegangen und in einem der Häuser verschwunden, bewegte er sich und zwei Menschen kamen zum Vorschein. Sie ließen Gepäck und wärmendes Fell zurück und folgten der Gruppe.

Als sich Tatandra kurz umdrehte, um sich zu vergewissern, dass Janosch ihr folgen konnte, stieg ihr der beißende Geruch von Raiskas Päckchen in die Nase, das sie unter ihrer Jacke trug. Diesmal jedoch erschien er ihr nicht unangenehm. Obwohl die Luft kalt war und die Atemwege vereiste, glaubte sie, allein der Duft sei für jene gewisse erfrischende Klarheit in ihrem Kopf verantwortlich, die sich kurz zuvor darin breitgemacht hatte. Die Götter und Raiskas Beistand waren bei ihr, erkannte sie und fand neue Entschlossenheit, ihr Vorhaben auch tatsächlich durchzuführen.

Das verlassene Haus, in das die Horde verschwunden war, war nicht mehr, als eine aus dem Fels gehauene Höhle, deren Wände in exakten geometrischen Formationen ausgearbeitet wurden. An der Rückseite der Höhle befand sich eine glatte Steinwand, in der keinerlei Türen, Fenster, Türklinken, Schlösser oder ähnliches befanden. Die Fußspuren führten jedoch geradewegs darauf zu. Die fünf Gestalten waren verschwunden, als wären sie wie Rauch durch eine Ritze im Mauerwerk entfleucht. Doch dann entdeckte sie ein kleines Loch im schneebedeckten Boden, etwas abseits der Fußspur, als hätte jemand einen dünnen Stock in den Schnee gedrückt. Kurzerhand nahm sie Janoschs Speer, drückte ihn in das Loch und hinter ihnen ertönte ein kaum wahrnehmbares Klick. Wenig später löste sich die Felswand in Nichts auf und offenbarte eine gleißende Welt aus blinkenden Lichtern und spiegelnden Oberflächen.

Zögerlich wagten sich die beiden in den fremdartigen Gang, blickten sich verwirrt und die Hand gegen die Helligkeit abschirmend an und folgten einigen kleinen Wasserpfützen auf dem Boden, die von kürzlich abgefallenem Schnee und Eiskrusten an den Schuhen herrührten. Mit Blicken stimmten sie sich gegenseitig zu, dass sie sich nun in der Welt der Götter befanden. Nur Tatandra wusste, dass die hier lebenden Götter, welche in ihrem Land Todeshorde genannt wurde, einem derart bösen Geist wie Mendiato dienten und manch grausige Taten anrichten konnten.

Der Korridor führte geradewegs zu einer quadratischen Säule, in deren Mitte sich zwei spiegelnde Türen befanden. Als Tatandra ihre Handfläche auf eine kleine, blank polierte Platte an der rechten Seite legte, eigentlich nur aus Neugierde, lösten sich die beiden Türen auf und boten den Anblick auf eine kleine Kammer, mit ebensolchen Spiegelwänden und Wandpaneelen aus poliertem Metall. Mutig trat sie ein und lächelte Janosch zu, als dieser ebenfalls eintrat. Er war ein Krieger und daher tapfer. Das kaum wahrnehmbare Zittern seiner Finger, die seinen Speer krampfhaft umschlangen, war jedoch nicht nur auf die Kälte zurückzuführen.

Fürwahr schien der Innenraum des Kamins nicht beheizt zu sein. Im Korridor und der kleinen Kabine war es so kalt wie draußen im Schneegestöber. Als sich die Türen wieder formierten und ein zartes Beben durch die kleine Kabine ging, bemerkten sie jedoch, wie es immer wärmer wurde und die kleinen Atemwölkchen bald nicht mehr zu sehen waren.

Die Türen lösten sich wieder auf und entließen die beiden in einen großen Raum, mit weitläufigen Spiegelflächen, poliertem Stahlboden und matt leuchtenden gelben Sonnen hoch oben an der Decke. Tatandra und Janosch blickten sich aufmerksam um, konnten jedoch nichts entdecken, was ihre Aufmerksamkeit erregt hätte oder einen Hinweis auf Chrischka geben konnte. Das Innere des Kamins schien wie ausgestorben zu sein. Kein einziger schwarz ummantelter Todesbote ließ sich sehen und auch kein goldener Gott, dessen Lächeln Qualen verursachte, tauchte auf.

Doch von irgendwo her drangen Stimmen auf sie ein. Stimmen, die von der Tiefe der Sommersteppe zu kommen schienen und die von den glatten Wänden immer und immer wieder hin und her geworfen wurden, bis sie sich zu einem einzigen brummenden Rauschen vermischten.

Tatandra zog ihre Jacke enger um sich, bewegte sich bedächtig auf eine der Spiegelflächen zu und streckte vorsichtig ihre Finger danach aus. Beim näheren Betrachten erweckten die Spiegel den Eindruck, aus bestünden sie aus purem Eis. Als ihre Fingerspitzen jedoch so nahe gekommen waren, dass sie sie hätte berühren müssen, glitten sie durch sie hindurch, als wäre die Wand, in der ihr Spiegelbild so grässlich verzerrt wurde, dass sie sich nicht einmal selbst wiedererkennen konnte, reiner Nebel. Mutig streckte Tatandra ihre Hand aus, die nun bis zum Ellbogen verschwunden war, atmete tief ein und trat hindurch.

Auf der anderen Seite offenbarte sich ihr ein überwältigendes Bild. Eine Höhle gigantischen Ausmaßes, breitete sich vor ihr aus. Ihr Ende war, trotz der Lichter, die aus der Tiefe des Bodens kamen, nicht mehr zu erkennen. Glitzernde Säulen erstreckten sich bis in den hohen, dunklen, steinernen Himmel. Irgendwo in der Tiefe waberte und dümpelte etwas. Nebelschwaden zogen wie Wolken umher, senkten sich den winzigen Lichtern entgegen, stiegen bis an die Decke oder verschwanden in der schier unendlichen Dunkelheit. Warme Winde zogen an ihrem Gesicht vorbei, verwirbelten ihr feuchtes Haar und spielten mit ihren Kleidern.

Tatandra drehte sich um. Sie stand auf einer Art Balustrade, die um den Mantel der dicksten Säule herum gewunden war. Die Nebelwand erschien auf der anderen Seite als dunkle Steinwand, durch die nicht der geringste Lichtschein drang. Selbst als Janosch ebenfalls hindurch trat, begleitete ihn nur Dunkelheit und Finsternis .

Sie sah nach oben. Die Säule verschwand weit über ihrem Kopf in der steinernen Decke und bildete wohl außerhalb dieser Höhle jenen Kamin, den die Steppennomaden verehrten und fürchteten. Mit einem stummen Nicken folgten sie dem Weg der Balustrade, konnten jedoch keine Treppe oder anderen Abgang entdecken, der sie in die Tiefe der Höhle gebracht hätte. Das Stimmengewirr war lauter geworden, als sie durch die Spiegelwand getreten waren. Doch durch das gigantische Ausmaß der Höhle, konnten sie es nicht lokalisieren. Irgendwo weit unter ihnen, war der Ursprung der Stimmen. Viele unzählige Kehlen schienen klanglose Gebete vor sich hinzumurmeln. So viele, dass sich ihre Stimmen zu einem einzigen Gewirr vermischten.

Tatandra blieb stehen und brachte einen eben aufgekommenen Gedanken zu Ende. Dann wand sie sich um, nahm Janosch den Speer ab und klopfte damit zweimal dumpf auf den Boden der Balustrade. Noch ehe der Hall des zweiten Klopfen verklingen konnte, trennte sich ein Teil des Bodens vom übrigen, gerade jener, auf dem ihre Füße standen und senkte sich in die Tiefe. Mit einem Lächeln gab sie Janosch seine Waffe zurück und biss auf die Lippen, während sie der wogenden Dunkelheit unter ihnen immer näher kamen. Sie wurden geradewegs in das Herz des Bösen gebracht und das Mädchen wusste nicht mehr genau, ob es das Richtige tat.

Sie musste ihre Aufgabe erfüllen und ihr Versprechen einlösen. Diese Gedanken waren die Einzigen, die sie sich noch erlaubte, als sich die wabernde Dunkelheit allmählich offenbarte und sein wahres Gesicht zeigte. Unzählige, tausende über tausende, womöglich Millionen von Todeshorden standen dort unten, dicht an dicht und unverständliche Gebete vor sich hinmurmelnd. So viele, dass kaum ein Mensch dazu in der Lage war, sie je zu zählen. Immer näher kamen sie dem Unheil und immer mulmiger wurde es den beiden zumute. Aus dieser Unzahl von Gestalten einen einzigen herauszufinden, erschien ihnen so unmöglich, wie ein bestimmtes Sandkorn auf der weiten Ebene der Sommersteppe zu finden.

Auf einer weiteren Balustrade, die nur wenige Meter über den Köpfen der unheilvollen Gestalten schwebte, stoppte ihre Fahrt in die Tiefe und sie fanden sich auf einem weiteren Rundgang wieder. Lautlos, ohne auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen, bewegten sie sich um die Säule herum und versuchten, das Ende der Masse zu finden. Doch so weit ihr Auge reichte, gab es nur schwarze Kapuzen, silberne Speere, die in seinem seltsamen Licht leuchteten und klanglose Gesänge. Das Licht, das Tatandra von oben gesehen hatte, war von den Speeren gekommen und den winzigen Zwischenräumen, zwischen den einzelnen Gestalten. Der Boden schien zu leuchten. Er schien zu brennen und die ganze Masse von Wesen auf ihm zu einem einzigen Brei zu verschmelzen. Würde sich nicht die ganze Masse von Wesen auf ihm befinden, hätte er die Höhle vermutlich in einen einzigen Glutofen verwandelt.

Vermutlich die Ursache, warum die Sommersteppe plötzlich im Schnee versank.

Es war trotz allem warm. Schweißperlen rannen an ihrer Schläfe herunter. Sie leckte über die Lippen und schmeckte bitteres Gewürz, das sie irgendwie an den Geruch in Raiskas Hütte erinnerte. Ihr wurde beinahe schwindelig. Janosch fasste unter ihren Arm und deutete auf eine dicke Nebelwolke, die dicht über den Köpfen der Versammelten schwebte. Sie formierte sich immer wieder zu einer anderen Gestalt, mal spitz und hoch, wie eine Säule, dann wieder so breit und weitläufig, wie ein See. Sie war in ständiger Bewegung, stieß in alle Richtungen davon und fiel wieder in sich zusammen, wie ein missratener Gärkuchen. Es war keine gewöhnliche Nebelschwade, die sich einfach von seichten Winden davontragen ließ erkannten die beiden sofort. In diesem Nebel saß Leben. Sie bewegte sich aus eigener Kraft vorwärts und schien Spaß an der ständigen Verwandlung zu haben. Aus einer anderen Richtung näherte sich eine zweite Schwade, die ab und zu sogar so tief zwischen die dunklen Gestalten tauchte, dass sie gar nicht mehr zu sehen war. Eine Dritte schwebte einige Meter über ihnen und schien das ganze Geschehen zu überwachen. Weiter hinten spielten weitere kleinere und größere Nebel mit den Köpfen der Versammelten, ohne sie in ihrem Gesang zu stören.

Dann entdeckte Tatandra einen weiteren Nebel, der in einem seltsamen gelben oder goldfarbenen Licht glitzerte und durch die dichten Reihen der Todesboten strich und sie einhüllte, wie der gesättigte Rauch aus den Räucherkammern ihres Vaters.

"Mendiato“, floss es beinahe lautlos über ihre Lippen. Die Geister hatten sie nicht getäuscht. Mendiato war wieder erweckt worden und suchte sich nun eine geeignete Gestalt, um wieder über die Menschen regieren zu können. Ihr Herz begann zu rasen. In ihren Ohren dröhnte ihr eigener Pulsschlag. Ihre Hände wurden trotz der Hitze, in die sie mit eingebunden waren, klamm und starr und verkrampften sich zu einer festen Faust, bis die Knöchel weiß hervortraten. So viel Schreckliches hatte sie über den bösen Gott gehört. So viel Unheil und Pein hatte er über die Menschheit gebracht, dass sein Auferstehen einer dicken schwarzen Gewitterwolke gleichkam, die sich unbarmherzig und rachsüchtig über ihnen entladen würde.

Dann wusste sie plötzlich, was sie zu tun hatte. Die Geister hatten es ihr gesagt und sie würde sich daran halten. Es war die einzige Möglichkeit, dem Gott der Qual Einhalt zu gebieten und die Menschheit vor ihm zu bewahren. Sie wand sich um, berührte vorsichtig die Wand der Säule und fasste durch sie hindurch, so wie sie es weit über ihr getan hatte. Auf der anderen Seite führte eine kreisförmige, terrassenartige Treppe, die aus purem, noch kochendem Gold zu bestehen schien auf den Boden und führte sie auf die wabernde und wallende Oberfläche, von der die Hitze eines glühenden Ofens ausging. Vorsichtig betrat Tatandra den Boden, der den Eindruck erweckte, als würde sie bis zu den Hüften darin versinken und atmete erleichtert aus, als ihre Füße die Härte einer Steinplatte spürten. Sie war geblendet von dem Licht, das es ausstrahlte und glaubte an der Hitze, die von ihm ausging zu vergehen. Selbst in ihrer Heimat, an den heißesten und trockensten Sommertagen war es nicht so heiß, wie tief unter der Oberfläche in einer der kältesten Regionen dieser Welt.

Mit zu einem schmalen Spalt zusammengekniffenen Augen, bewegte sie sich auf einen dunklen Schatten zu. Sie zeigte sich kein wenig überrascht, als er sie ebenso bereitwillig aufnahm und hindurch ließ, wie die Spiegelwand oder die steinerne Außenhülle der Säule und fand sich inmitten der Todesboten wieder, die innig in sich versunken, von ihnen weder Notiz nahmen oder sich von ihnen in ihrem Gebet stören ließen. Mit geschlossenen Augen und monoton bewegenden Lippen ratterten sie ihre Gebete herunter und ließen sich weder von Berührungen, gedämpften Stimmen oder auch nur die einfache Anwesenheit aus ihrem Rhythmus bringen. Als stünden sie alle in Trance, in einem rauschumnebelten Zustand, aus dem sie nichts und niemand herauszureißen vermochte. Tatandra und Janosch schoben sich durch die engen Reihen von Todesboten, ohne auch nur von einem einzigen aufgehalten geschweige denn bemerkt zu werden.

Nebel schwebte dicht über ihrem Kopf hinweg. Tatandra duckte sich gerade noch rechtzeitig tiefer zwischen die zur Salzsäule erstarrten Männer und so verfehlte der Nebel das Mädchen nur knapp. Mit klopfendem Herzen sah sie es vorbeiziehen. Als der unheimliche Nebel weit genug entfernt war, reckte es ihren Hals, um nach der goldenen Wolke Ausschau zu halten. Unweit von ihr entfernt, strich der zu Nebel gewordene Gott durch die Menge und machte nur wenige Meter vor ihr kehrt, um eine andere Richtung einzuschlagen. Wie von Götterhand beschützt, war sie von Mendiatos Aufmerksamkeit verschont worden.

Erleichtert atmete Tatandra auf und blickte in die bemalte Fratze eines der Boten. Sein Gesicht war schwarz wie die Nacht. Seine Lippen wulstig wie Fettwürste. Obwohl die Kapuze tief in sein Gesicht gezogen war und sie nur einen kleinen Teil davon erkennen konnte, erschrak sie und wich zurück. Sie prallte dabei auf einen anderen, der von ihr ebenso wenig Notiz nahm, wie sein Nachbar, dem sie ungeschickt auf die Füße trat.

"Was ist hier eigentlich los?“, flüsterte Janoschs Stimme in ihr Ohr und besänftigte sie damit etwas. "Was sind das für Wesen? Sie sehen aus wie fürchterliche Dämonen. Wie Ausgeburten aus der qualvollsten Hölle."

"Du hast damit gar nicht so unrecht“, flüsterte sie zurück. Sie musste ihre Lippen nahe an sein Ohr legen, damit er sie überhaupt verstehen konnte. Das Gemurmel der vielen Kehlen sorgte für einen anständigen Geräuschpegel und ein leises Vibrieren, das sich über den Boden entlud und in ihre Glieder fuhr, um sie bis in die letzten Nervenenden zu kitzeln. Chrischkas Amulett um ihren Hals wurde plötzlich schwer und drückte auf ihre Brust. Sie war ihm sehr nahe.

Tatandra wand sich um. Sie hatten sich sehr weit von der Säule entfernt und befanden sich nun mitten in der Menge. Die goldene Wolke schwebte wie ein scheinheiliges Unheil durch die bewegungslosen Gestalten. Einzig zwei paar Augen beobachteten es dabei. Dann verharrte es für einen langen Moment und Tatandras Herz setzte einige Takte aus. Sie wusste genau, dass er Chrischka nun gefunden hatte. Die Götter hatten es ihr verraten. Er würde aus dieser Unzahl von verschiedensten Wesen einen einzigen herausfinden, den er für am geeignetsten hielt und dieser jener war Chrischka.

Tatandra schluckte trocken und beobachtete die Wolke.

Ein heller, gleißender Ton erklang und sämtliche Todesboten, ein jeder vom Anfang bis zum Ende der Höhle, welche beide in der Dunkelheit verschwanden, klopften zweimal auf den Boden. Tatandra wusste, dass sie es noch einmal wiederholen würden und rannte los, so schnell wie sie durch die dicht gedrängten Leiber eben vorwärts gelangen konnte.

Sie sah, wie sich die goldene Wolke zu einer Säule formierte, die bis zu dem in der Dunkelheit verschwindenden Höhlendecke zu reichen schien und in deren Sockel sie einen einzigen Menschen gefangen hielt. Sie sah, wie die Säule wieder in sich zusammenfiel und der Mensch in ihrer Mitte den goldfarbenen Nebel in sich aufsaugte, wie einen ausgetrockneten Schwamm. Noch während sie sich so schnell sie konnte durch die Massen schob, riss sie das Amulett von ihrem Hals und während der verhüllende Umhang wie durch einen Windstoß erfasst von dem Auserwählten abfiel, sein Körper in einem grellen goldenen Licht erstrahlte und sich sein Gesicht zu einer grässlichen, grinsenden Fratze formierte, betete sie, dass sie ihn erreichte, bevor mit dem zweiten Klopfzeichen das Ende der Suche und der Verwandlung bekundet wurde. Sie erreichte ihn im selben Moment, als sich die Gestalt bewegte und sein quälendes Lächeln, das nun zu neuem Leben erweckt worden war, in die Welt schickte. Unsagbarer Schmerz machte sich in Tatandra breit, als sie das Gesicht erkannte und ihr Herz zu zerspringen drohte. Doch sie zwang sich vorwärts.

Da ertönte das erste Klopfen und sie warf sich auf die Gestalt, presste das Medaillon auf sein Herz und vernahm mit dem zweiten Klopfen einen kreischenden, derart hohen Schrei, dass ihr Trommelfell zu bersten drohte. Im Nu war sie in einem dichten Nebel eingehüllt, der an ihr zerrte und zupfte, winzige Stückchen Fleisch aus ihrem Körper heraus riss und sie mit unerträglicher Pein folterte. Es gelang ihr, Raiskas Päckchen aus ihrer Tasche zu zerren, es zu entfalten und den Geruch zu entlassen. Der Nebel lichtete sich augenblicklich. Qualvolle Schreie und Stöhnen begleiteten die Ausbreitung des beißenden Geruches, der nun sämtliche Umstehenden zu reinigen schien. Sie nahm das Tuch und drückte es auf das Gesicht der goldenen Gestalt. Es wand sich und stieß gellende Schreie aus. Tatandra zuckte zusammen, als die Schreie tief in ihren Körper fuhren und eine Flutwelle von überwältigendem Schmerz verursachten. Sie ließ für einen Moment locker, ausreichend für Mendiato, um sich zu befreien, das Tuch von seinem Gesicht zu reißen und sich von ihr zu lösen.

Das nächste was Tatandra sah, als sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, war das goldene Lächeln, das ihr weitere Qualen verursachten. Sie schloss die Augen, doch das Lächeln fand einen Weg zu ihrem geistigen Auge. Noch immer hielt sie das Medaillon in der Hand und presste es nun auf ihre Augen. Jetzt erst verschwand Mendiato und mit ihm das grausame goldene Lächeln und auch die blutige Träne, die er ihr antun wollte, um sie zu quälen. Aber nun hörte sie sein Lachen.

Das Gemurmel war verstummt. Eine einzige Stimme hallte durch die Höhle. Sie verlor sich irgendwo und bereitete ihr dennoch großen Schmerz.

"Unwürdige!“, schrie die gellende Stimme Mendiatos. Die Nebelschwaden vereinigten sich zu einer einzigen dicken Wolke und schwebte wie eine schneeweiße Gewitterwolke über ihren Köpfen.

"Das Urteil ist verkündet“, antwortete Tatandra mit fester Stimme. "Das Urteil des Allmächtigen besitzt für alle Ewigkeit Wirkung. Niemand darf wagen, es anzufechten." Sie zitierte Verse aus dem Glaubensbekenntnis ihres Volkes. Das einzige, was ihr im Moment dazu einfiel. Sie wusste sich nicht anders vor ihm zu schützen.

"Einfältigkeit ist des Niederen Tod“, keuchte eine Stimme nahe an ihrem Ohr. "Wer dachte, mich in alle Ewigkeit in eine Statue zu verbannen, wird daran verderben."

Grell gelbes Licht flammte von irgendwo auf. Tatandra konnte es nicht sehen, da sie ihre Augen fest verschlossen hielt. Aber sie konnte es spüren. Es zerrte an ihr und versuchte, in ihren Körper einzudringen. Doch der Geruch des in ihrer Nähe liegenden Kräuterpäckchens, das noch immer stark und beißend von ihm ausging, verhinderte, dass sie von der Macht des gelben Lichtes übermannt wurde.

Dann gaben ihr die Götter einen zweiten Wink. Sie sah die goldene Statue mit dem Lächeln. Eine Statue, wie sie es Chrischka gezeigt hatte. Doch sein Gesicht war die des Steppennomaden. Eine weitere Gestalt tauchte hinter ihm auf. Ein Gesicht, das ihm ähnlich sah. Er warf sich von hinten auf ihn, schlang die Arme um seinen Hals und würgte ihn. Tatandra sprang auf ihre Beine, schnappte sich das getränkte Tuch und krallte sich an Mendiato fest, während sie das Tuch fest auf sein Gesicht presste. Dieser wehrte sich verbissen, schlug um sich und stieß seine ohrenbetäubenden, gellenden Schreie aus. Das grell gelbe Licht schmerzte in ihren Augen. Tatandra schloss sie. Grelle Stimmen vermischten sich mit bebenden, tiefen. Nur mit Mühe konnte sie sich an der um sich schlagenden Gestalt festzuhalten. Ihre Ohren schmerzten. Ihr Puls begann zu rasen. Im Takt ihres Herzschlages pulsierten zunehmend stärker werdende Kopfschmerzen zwischen ihren Schläfen. Der Gesang der Reinigung traf auch sie und sie begann, Verse aus ihrem Gebetbuch zu zitieren, nur um sich von den Stimmen und dem schmerzhaften Licht abzulenken.

Dann endlich wurde Mendiato ruhig und erschlaffte in ihren Händen. Ihre Muskeln waren zu verkrampft, als dass sie das Tuch von seinem Gesicht hätte nehmen können. Das Licht erlosch und einzig der leuchtende Boden erhellte die Höhle mit seinem trügerischen Schein. Sie vernahm Janoschs keuchenden Atem. Als er sie berührte, spürte sie das Zittern seiner Glieder.

"Es ist vorbei“, flüsterte seine Stimme nahe an ihrem Ohr.

Tatandra konnte es nicht glauben. Es war zu leicht gewesen, einen der gefürchtetsten Götter zu töten. Aber sie wusste auch, dass er mit keinem Speer, mit keiner Klinge und mit keiner Waffe zu töten gewesen wäre. Einzig Magie und Kräuterkunde hatten es bewirkt, dass Mendiato aus dem Dasein des Lebens verbannt wurde.

Sie sank schluchzend in die Arme jenes Mannes, dessen Bruder sie eben getötet hatte. Sie wusste aber auch, dass es keine andere Möglichkeit gegeben hatte.

Die Todesboten erwachten aus ihrer Trance und blickten sich verwirrt an. Die Kraft, die sie in ihrem Bann gehalten hatte, war von ihnen gewichen und ihre Gedanken und Erinnerungen gehörten wieder ihnen. Sie ließen die silbernen Speere fallen, legten die Umhänge ab und warfen sie auf den heißen Boden.

"Was ist das hier eigentlich?“, fragte Janosch einen der Umstehenden. Doch dieser antwortete nur mit einem Achselzucken und einem Kopfschütteln. Keiner konnte ihm eine Antwort geben.

"Sie kamen von einer anderen Welt“, berichtete Tatandra und wischte ihre Tränen fort. "Sie kamen, um uns untertan zu machen. Sie benutzten unsere eigenen fürchterlichsten Gräuel, um uns einzuschüchtern und setzten unsere eigenen verheerendsten Waffen gegen uns ein. Vergessen, Angst und Schmerz." Die Götter hatten es sie gelehrt.

Traurig blickte sie das Medaillon an und legte es sich wieder um den Hals. Wenn ihr schon kein Glück vorbestimmt war, wollte sie wenigstens eine Erinnerung zurückbehalten. Sie hatte den Mann getötet, nach dem ihr Herz schrie. Sie hatte jenem Mann das Leben genommen, nach dem sich ihr Körper sehnte.

Als sie das Tuch von seinem Gesicht nehmen wollte, hielt Janosch sie zurück.

"Nein“, sagte er. "Niemand soll sein Gesicht sehen. Niemand soll es noch im Tode lächelnd sehen."

Sie nickte, schluckte tapfer eine Träne hinunter und folgte ihm zur Säule, um zu ihrer Familie, den Sommersteppennomaden zurückzukehren.



15.

Der Schnee taute rasch. Die heiße Felsplatte tief unter der Sommersteppe, die durch einen weit unterhalb der Oberfläche liegenden Vulkan ihre Wärme erhielt, gab der Steppe wieder ihr ursprüngliches Aussehen. Doch es dauerte noch viele Tage und Woche, ehe die Sommersteppe wieder das wurde, was sie einmal war. Denn binnen weniger Tage verwandelte sich die weiße Landschaft in einen Sumpf, wo Mensch und Tier knietief im Morast versanken. An Weiterreise war nicht zu denken. Die Karren der Morkanen blieben im Matsch stecken. Und selbst die kräftigen Zugtiere, die gezähmten Wildbüffel, vermochten die schwer beladenen Wägen nicht über den aufgeweichten Boden zu zerren. Die Morkanen wurden somit weiterhin an ihrer Gewohnheit gehindert, mit ihren Wägen und Zelten über die Sommersteppe zu wandern.

Aus dem morastigen Boden wurde nach einiger Zeit eine tief zerfurchte Oberfläche, die die Geschehnisse noch lange vor Augen halten sollte. Durch Tauwasser entstanden Tümpel, kleine Seen, Bachläufe und Flüsse. An deren Ufern entwickelte sich neuartige Flora. Weitläufige Flächen wurden von Gräsern und Kräutern überwuchert, die der immer noch kalten Witterung auf der Sommersteppe mühelos trotzten. Das Gesicht der Sommersteppe hatte sich binnen weniger Monate verändert. Wo vorher Ödland und klirrende Kälte herrschte, überwältigte nun eine Blütenpracht und das Schwirren von Insekten. Kleine Sträucher und Bäume trieben aus dem fruchtbar gewordenen Boden. Die vorher durch die Schneemassen ausgehungerten Wildbüffelherden fanden nun genügend Nahrung, um sich ihre Fettreserven wieder anzufressen und bald rannten und sprangen sie wie eh und je satt und ausgelassen über die Ebene. Den Nomaden boten sich wieder genügend Tiere, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen – mehr noch. Durch das Übermaß an nahrhaften Gräsern, vermehrten sich die wilden Herden so vehement, dass selbst die kriegerischen Stämme, die Mageerings und die Kleken ihre Kämpfe um Landstriche und Wildbüffelherden einstellten und zu friedlichen Völkern wurden.

Die Bewohner der Sommersteppe dankten den Göttern für dieses Geschenk. Es wurden Feierlichkeiten abgehalten, Opfergaben zu Füßen der zahlreichen Kamine abgelegt und Dankgebete ausgesprochen. Die seit je her mittels Kälte und Hunger gedrückte Stimmung auf der Sommersteppe hatte sich in Fröhlichkeit, Ausgelassenheit und Freude verwandelt. Ein vor einiger Zeit auf der Sommersteppe verweilter Besucher hätte nun Land und Leute nicht mehr wieder erkannt.

In all der Freude über die neuen Gegebenheiten befand sich jedoch eine Person, die offenbar keinen Gefallen am neuen Gesicht der Sommersteppe finden konnte. In Trübsinn versunken und sich von allen absondernd saß Tatandra vor dem Zelt ihres Schwagers und blickte vor sich ins Leere. Für sie bedeuteten die duftenden Blumen, die saftigen Kräuter und die fett gefressenen Wildbüffel nicht das Ende ihres Leides. Für sie bedeutete es den Anfang.

Noch ein Jahr danach trauerte sie um Chrischkas Tod und wünschte sich beinahe von Tag zu Tag sehnsüchtiger, die Zeit zurückdrehen und den jungen Nomadenkrieger retten zu können. Ihm gebührte ihr Herz. Es war somit mit ihm gestorben.

Nichts und niemand konnte sie aus dieser Trauer befreien. Sie war gefangen, wie unter einem unsichtbaren Netz. Kein Kinderlachen – nicht einmal das des kleinen Chrischkas, der seinem Onkel in vielem so täuschend ähnelte – kein noch so fröhlicher Gesang, kein noch so sorgfältig zubereiteter Kräutertrunk oder die aufrichtig gemeinten Riten und Sprüche von Batiska, der wieder sein Handwerk als magischer Heiler ausübte, vermochten sie von ihrem Kummer befreien. Es schien fest an ihr zu haften und sie einfach nicht loslassen zu wollen.

Chrischkas wegen hatte sie ihre Heimat verlassen. Seinetwegen hatte sie mit ihrer Familie gebrochen und sich entschlossen, auf der Sommersteppe ein neues Leben zu beginnen. Und nun war ihr nicht mehr geblieben als Erinnerungen und ein magisches Ideal.

Sie war eine Fremde unter all den Nomaden. Die Sitten und Gebräuche waren ihr fremd. Obwohl ein jeder wusste, wer sie war und was sie getan hatte – was sie für die Bewohner der Sommersteppe und der Sommersteppe selbst getan hatte – wollte niemand ernsthaft mit ihr zu tun haben. Die einzigen, die sie bei sich aufgenommen hatten, wie ein Familienmitglied und für sie sorgten, als sei sie eine von ihnen, waren Janosch und seine Frau.

Janosch hätte vieles gegeben, um die junge Frau wieder zum Lachen und zum Leben zu bringen. Doch mehr als ein flüchtiges, dankbares Lächeln vermochte er nicht hervorzuzaubern. Er hatte versucht, sie mit anderen stattlichen, jungen Kriegern zu verkuppeln, doch es scheiterte ein jedes mal an ihrer Melancholie und nicht vorhandenen Bereitschaft, sich wieder dem Leben und der Liebe zu öffnen. Der Schmerz saß noch zu tief in ihr. Ihr Herz war gebrochen und die Wunden wollten einfach nicht zuheilen.

Mit einem Becher dampfend heißem Kräutertee trat er vor sein Zelt und setzte sich neben Tatandra auf einen Holzblock. Das was seine Frau vor wenigen Augenblicken gesagt hatte, hatte eine tiefe Furche in ihm hinterlassen und ein Drang befiel ihm, ihr das Gegenteil zu beweisen. Mireen bezeichnete Tatandra als die Traurigkeit in Person und würde vermutlich den nächsten Winter nicht mehr erleben. Es hatte Janosch einen Stich versetzt und ihm die Augen dafür geöffnet, wie sehr verletzt sein Schützling in Wirklichkeit war. Nicht und niemand würde diese Wunde zum heilen bringen können, außer Chrischka – doch der verweilte nun bei den Göttern und war auch durch Gebete nicht wieder zurückzubringen.

Er seufzte tief, bevor er ihr den Becher anbot. „Willst du nicht lieber wieder zurückgehen? In deine Welt?“, fragte er vorsichtig. „Hier erinnert dich zu viel an die Vergangenheit. Das ist nicht gut für dich. Das wird dich eines Tages auffressen.“

Tatandra nahm den Becher an und schüttelte den Kopf. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Tee und hielt ihn dann in ihren Händen, als lechzte sie nach der Wärme des wohltuenden Trunkes. „Auch wenn ich es wollte, ich könnte nicht“, sagte sie leise. „Ich habe alles gegeben, mein bisheriges Leben aufs Spiel gesetzt und verloren. Es ist der Preis dafür, dass euer Leid ein Ende hat.“

„Unsinn“, wischte Janosch die Erklärung mit einer energischen Handbewegung fort. „Wenn die Götter gewollt hätten, dass du für uns leidest, hätten sie dir das gesagt. Das Leid hast du dir selbst auferlegt. Ich denke nicht, dass es im Sinne Chrischkas ist, für das Ende deines Lebens in Selbstmitleid zu versinken.“ Er rückte sich bequemer zurecht. „Einige fragen sich, ob du wohl noch den nächsten Sommer erlebst“, fuhr er fast schon ermahnend fort. „Chrischka war ein lustiger Kerl, der das Leben liebte. Daran solltest du denken und diese Erinnerung wahren.“

Tatandra sah hoch und blickte in die besorgten Augen ihres Schwagers.

„Ich habe geschworen für dich zu sorgen“, sagte er fürsorglich. „Und ich meinte damit, solange bis ich alt und grau bin, oder bis du ein neues Leben und eine neue Liebe gefunden hast. Es reicht, wenn einer von uns gehen musste Er war mein Bruder und niemand sonst, außer uns beiden kann nachvollziehen, wie sehr uns dieser Verlust schmerzt. Das Schicksal wollte es leider so. Es hat sich Chrischka ausgesucht und es hat ihn sich genommen – unbarmherzig und ungeachtet der Menschen, die ihn lieben. Lass uns seine Erinnerung im Herzen aufbewahren und seine Art der Lebensfreude aufleben.“

Tatandras Hand glitt hin zu dem Medaillon, das Batiska vor langer Zeit für Chrischka gemacht hatte, um ihn vor den Qualen des goldenen Gesichtes zu schützen. Sie betrachtete es kurz und strich dabei liebevoll mit den Fingerspitzen über die eingravierten Schriftzeichen.

„Ich wünschte...“, begann sie und musste einen dicken Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken.

Joschka berührte das magische Ideal ebenfalls, strich ebenso sanft über die Zeichen und seufzte leise. „Ich wünschte genauso wie du, dass er aus dem Reich der Götter zu uns zurückkehrt“, sagte er heißer. „Ich vermisse ihn.“

Eine Träne quoll aus dem Auge des Mädchens hervor, rann langsam über die Wange und tropfte schließlich auf das Medaillon – das einzige, was ihr von dem Nomadenkrieger geblieben war.

Als die Träne das magische Ideal benetzt hatte, glaubte Tatandra, dass es sich für einen Moment wärmer, weicher und behaglicher anfühlte. So als wolle es in ihrer schier grenzenlosen Trauer Trost und Geborgenheit spenden. Größere Betrübnis denn je brach auf einmal aus ihr heraus. Das erste Mal seit Chrischkas Tod konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Als sich schließlich ein wahrer Sturzbach über sie ergoss, nahm Janosch sie fest in den Arm und hielt sie solange die Tränenflut andauerte.

Plötzlich wurden Stimmen laut und Aufregung keimte im Nomadendorf auf. Frauen und Kinder liefen kreischend an ihnen vorüber. Männer hatten sich ihre Lanzen geschnappt und waren ihnen gefolgt.

Janosch blickte ihnen verwundert hinterher. Er dachte zunächst an einen weiteren Angriff der bis vor kurzem noch verfeindeten Steppenvölker. Erinnerungen an die schreckliche Zeiten, wo Furcht und Tod ihr ständiger Begleiter war, erhoben sich aus der Versenkung der Vergangenheit. Erinnerungen an die schwarzen Gestalten – die Todeshorden – die ganze Völker ausgerottet und junge Männer wie Chrischka zu ihren willenlosen Sklaven gemacht hatten.

Er blickte in die Richtung, aus der offenbar der Angriff kam. Zahlreiche Dorfbewohner hatten sich vor der Silhouette des größten Kamins der Sommersteppe versammelt und waren dort stehen geblieben, als erwarteten sie geduldig das Eintreffen der Angreifer. Doch anstatt ihre Lanzen zur Abwehr anzuheben, ließen die Männer ihre Waffen sinken. Einige der Speere fielen sogar zu Boden. Die Menge, die den Blick zu den mutmaßlichen Ankömmlingen mittels einer dichten Reihe Neugieriger versperrte, teilte sich bereitwillig und durch sie schritt eine einzelne Gestalt hindurch. Je näher sie kam, desto mehr keimte in Janosch ein vager Gedanke auf. Die Gestalt vermittelte in ihrer Statur und in ihrer Art sich zu bewegen etwas vertrautes, etwas was er schon so viele male gesehen hatte. Sie erinnerte ihn an etwas, was er vor einiger Zeit verloren, dann vermeintlich wiedergefunden und vor fast zwölf Monaten für immer verloren hatte – Chrischka.

Er zog Tatandra auf die Füße. Diese versteifte sich augenblicklich, als sie den direkt auf sie zukommenden Mann sah und schluckte schnell ihre Tränen hinunter. Sie war nicht fähig, auch nur eine Bewegung zu machen. Sie war nicht fähig zu atmen, geschweige denn auch nur einen Ton von sich zu geben.

Chrischka – eindeutig Chrischka – so lebendig, frisch und wohlbehalten wie nie zuvor, stand er nun vor ihnen.

„Ich bin Chrischka“, sagte der aus dem Reich der Toten Zurückgekehrte. „Ich bin ein Geschenk der Götter an euch. Ihr sollt nicht länger in Trauer verweilen und Tränen der Verzweiflung vergießen.“ Damit streckte er ihnen eine geschlossene Hand entgegen. Als er sie öffnete, entdeckten die beiden eine gläserne Perle in Form eines Tropfen.

Tatandra blickte kurz das magische Ideal an, dann flog sie dem Heimgekehrten auch schon entgegen. Ein einziger Tropfen ihrer Tränen war ausreichend gewesen, die Götter zu erweichen, ihnen ihren Wunsch zu erfüllen.


Impressum

Texte: Ashan Delon (c) 2013
Bildmaterialien: Beglib www.morguefile.com
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2013

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