"Verdammt!", zischte Janos und duckte sich tief hinter den Felsen, hinter welchem er Deckung gesucht hatte. "Verdammt!", wiederholte er einige weitere Male, überprüfte das Magazin seines Gewehrs und nahm einen tiefen Atemzug, als müsse er für das, was er nun vorhatte, erst einmal einen gewaltigen Schub Mut holen. Er fluchte abermals, als noch bevor er aus seiner Deckung springen und auch nur einen Schuss abgeben konnte, ein grellroter Blitz knapp über seinen Kopf hinwegjagte und ihn dazu veranlasste, sein Vorhaben aufzugeben, ehe er es überhaupt ausführen konnte.
"Der Mistkerl steht oben auf dem Berg!", rief eine Stimme in seiner unmittelbaren Nähe. Tiane, eine gute Kameradin, auf die er sich bislang stets hatte verlassen können, hatte das gerufen. "Der Mistkerl macht uns von da oben fertig." Sie deutete mit dem Finger auf die Kuppe eines steilwandigen Berges, zu dessen Füssen sie sich verdingt hatten.
"Holt ihn endlich von da oben runter!", schrie Dugg, der Anführer der Truppe einem anderen Kämpfer zu, der einige Meter abseits, hinter großen Felsen versteckt und mit einer gewaltstarken Kanone bewaffnet, stand und dem ebenso der Angstschweiß auf der Stirn perlte. "Holt dieses Aas da runter!"
"Geht nicht!", schrie Komunus zurück. "Von meiner Position aus, treffe ich ihn nicht. Da müsste ich meine Deckung verlassen und dann schießt mich der Kerl über den Haufen."
Diesmal fluchte Dugg ungehemmt vor sich hin. Er blickte nach oben. Die Falken, oder auch Thermiko-Gleiter genannt, geflügelte Kämpfer seines Trupps hatten den einzelnen Mann an der Klippe entdeckt und begannen ihn mit den ihnen zur Verfügung stehenden Waffen anzugreifen. Doch der Mann an der Klippe war schneller als jeder Blitz. Er schoss die übergroßen Flugdrachen wie Vögel vom Himmel, hielt nebenbei noch die Kämpfer am Boden in Schach und erschoss auch zielsicher jeden, der versuchte, die Klippe empor zu klettern. Von seiner Position aus, besaß er den besten Überblick, so als hätte er schon Tage oder Wochen vorher das Terrain erkundet und die beste Position ermittelt, um die Kämpfer auf ihrem Rückzug noch den Garaus machen zu können.
Dugg musste sich blitzschnell hinter einen Felsen ducken, als ein grellroter Blitz über ihm hinwegzischte und geradewegs die Stelle in Kiesel, Schlacke und Staub verarbeitete, an der noch einen Augenblick vorher sein Kopf gewesen war. Er fluchte laut und hemmungslos vor sich hin, wohl wissend, dass ihn die anderen dafür nicht tadeln würden. Fluchen war bei seinem Volk nicht gern gesehen, aber hin und wieder duldete man es. Es kam nur auf die Situation an. Und dies war eine solche Situation. Sie waren auf dem Rückzug, hatten sich sicher gewähnt. Hatten geglaubt, dass ihnen niemand gefolgt war und sie leicht verwundet und stark dezimiert, aber lebend wieder in ihrem Dorf ankommen würden. Doch das Auftauchen des einzelnen Schützen, hoch oben auf dem Berg hatte ihre Lage schnell ins Gegenteil wechseln lassen. Dugg schalt sich, so töricht gewesen zu sein. Ihre große Anzahl, von der sie gehofft hatten, dass sie ihnen bei ihrem Anschlag von Nutzen sein würde, war ihnen offenbar zum Verhängnis geworden. Die Anzahl hatte Spuren hinterlassen, die nicht zu retuschieren gewesen war. Zu viele Füße, die den Boden zerwühlt hatten, zu viele Körper, die Äste und Blätter geknickt hatten, zu viele Personen, die es nicht gewohnt waren, so lautlos wie eine Schlange durchs Unterholz zu kriechen. Er hätte es vorher wissen müssen, dass sie damit nicht durchkommen würden. Er hätte einen anderen Plan entsinnen müssen. Doch jetzt brauchte er erst einmal dringend einen Plan, um noch so viel wie möglich von seinen Leuten zu retten.
Der Schütze auf der Klippe erledigte treffsicher einen nach dem anderen. Geflügelte Drachenflieger stürzten brennend und schreiend vom Himmel. Überall entstanden Feuerherde, Bäume stürzten von Lasergefecht getroffen um, Verletzte schrieen vor Schmerzen und Todesangst. Er musste sich schnellstens etwas einfallen lassen.
"Krails schleicht sich hintenrum an ihn ran", rief ihm Tiane zu. "Wenn das einer kann, dann Krails."
"Auf der anderen Seite des Berges müssen noch mehr von den Aasgeiern sein", mutmaßte Janos und deutete in beide Richtungen um den Berg, der vor ihnen aufragte wie ein Zeichen des Himmels. "Die, die uns vorher schon den Garaus zu machen versuchten. Ich bezweifle, dass Krails soweit kommt."
"Im Moment bleibt uns keine andere Möglichkeit. Solange der Kerl da oben auf uns schießt, sitzen wir hier wie Fliegen in der Falle."
"Ich hoffe inständig, dass Krails es schafft", stieß Tiane aus, als ein grellroter Blitz sie nur um Haaresbreite verfehlte.
* * *
Seine Konzentration war aufs Höchste gespannt. Er sah seine Gegner nicht als Personen oder denkende Wesen. Er sah seine Gegner als Zielscheibe, als hätte sein Bewusstsein Kreise auf ihren Körpern gemalt, in dessen Mitte er hineintreffen musste. Vor seinem Auge befanden sich keine Menschen mehr, die sich hinter Felsen, Büschen oder Bäumen verschanzten oder in primitiven ledernen Drachen durch die Lüfte schwebten. Vor seinem Auge erschienen rotgeränderte Zielscheiben, die aufschrieen, sobald er ins Schwarze traf. Er wusste, dass er beinahe jedes mal treffen würde, dafür war er ausgebildet worden. Er wusste, dass er nicht eher aufhören durfte, ehe sämtliche Zielscheiben mit einem hässlichen Brandloch gekennzeichnet waren. Er wusste, dass er tot war, wenn er auch nur einen von diesen beweglichen Zielen laufen ließ.
Das war auch schließlich sein Auftrag gewesen. Eliminierung der Terroristen, kurz und bündig, wie immer. Er war ein Meister seines Faches, ein Virtuose im Nahkampf und ein Scharfschütze, wie ihn noch keiner gesehen hatte. Er verstand es, seine Gedanken komplett zu verbannen, seine Gefühle gänzlich auszuschalten und seinen Verstand auf einer einzigen Bahn laufen zu lassen, nämlich die, seinen Auftrag auszuführen – mit Erfolg auszuführen. Er war der Beste, die Geheimwaffe, der Trumpf, das Ass im Ärmel. Immer wenn seine Vorgesetzten eine lästige Auseinandersetzung endgültig beendet haben wollten, wenn es eine knifflige Situation auszuschalten gab oder unangenehme Kontrahenten zum Schweigen gebracht werden mussten, wurde er gerufen. Er hatte bislang jeden seiner Aufträge mit Erfolg ausgeführt. Bislang war ihm noch keines seiner Ziele entwischt. Bislang hatte er seine Auftraggeber und seine Vorgesetzten noch kein einziges Mal enttäuscht. Und das würde er auch jetzt nicht – nicht solange selbst die gefühlsärmsten Männer vor seinem Namen ehrfürchtig innehielten. Nicht solange er Tui'jin hieß.
Bei diesem Gedanken lächelte er kalt. Als er sah, mit wem er es tatsächlich zu tun hatte, hätte er am Liebsten seinem Auftraggeber ins Gesicht gespuckt. Die Bezeichnung Terroristen spottete ihrer selbst. Das waren einfache Bauern, Dilettanten mit einfachsten, primitiven Waffen, Äxte, Speere, Klingen und Projektilgeschosse, teilweise aus Schrott zusammen geschustert, alt, verrostet und in ihrer Zielsicherheit ungenau und zitternd. Aber ihm gefiel, wie die Horde wie wilder Berserker in den Stützpunkt einfiel und alles niedermachten, was sich ihnen in den Weg stellte. Ihm gefiel, wie sie entschlossen und mutig ihre Ziel verfolgten, den Stützpunkt zu vernichten, auch wenn sie dabei nicht weit kamen und letztendlich den Kürzeren zogen und wieder abziehen mussten. Ihm gefiel, wie sie wütend über ihren Misserfolg schimpften und zeterten, ihren Frust an Türen, Kisten und Wänden ausließen. Allein diesen Kampfgeist auszutreiben und ein für allemal zu vernichten, dass war ihm das unwürdige Gefecht mit den Bauern wert gewesen.
Und wenn alles vorbei war, wenn er dieses Bauernpack erledigt hatte, würde er sich eine Flasche seines Lieblingsgetränkes gönnen – Arronen-Nektar – und mit dem süß-blumigen Geschmack auf der Zunge auf eine weitere gelungene Arbeit anstoßen.
Er bemerkte, dass die primitiven Flugdrachen sich etwas zurückgezogen hatten und gleichzeitig registrierte er auch das kaum wahrnehmbare Zittern seiner Nackenhaare. Jemand versuchte sich unbemerkt näher zu schleichen. Sein Instinkt war geschärft genug, dass es selbst im größten Kampflärm und Getümmel noch die leisesten Geräusche heraus erkannte und ihn rechtzeitig warnte. Er ließ sich weder von dem kalten Schauer in seinem Nacken, noch von der sich immer näher kriechenden Person, die sich bäuchlings von links hinten, im Schutz kleinerer Felsen und Buschwerk heranpirschte aus seiner gewohnten Ruhe bringen. Als wäre nichts geschehen schickte er tödliche rote Blitze in die Mitte von immer neu auftauchenden Zielscheiben und brandmarkte sie mit einem hässlichen Loch. Mit einem milden Lächeln, das Kälte und Gleichgültigkeit erkennen ließ, wenn es jemand unter der Maske hätte sehen können, registrierte er das Näherkommen der Person. Zielsicher schoss er beinahe gleichzeitig drei Falken vom Himmel, streifte einen Gegner tödlich am Hals, dass dessen Blut deutlich herausspritzte, schoss einem anderen das linke Bein ab, trennte von einem weiteren den Arm von der Schulter, tötete noch einen, indem er dessen Gehirn auf der Rinde des Baumes verteilte, vor dem er gekauert war und bog sich dann wie ein Schilfgras zur Seite, das von einer plötzlichen Windböe erfasst zur Seite geschleudert worden war. Nur knapp über seinem Rücken hinweg, sirrte eine Axt und hätte seine Wirbelsäule vermutlich in zwei Stücke getrennt, wenn er nicht blitzschnell reagiert hätte. Noch in der Ausweichbewegung, streckte er sein Bein aus und fegte den Angreifer von den Beinen. Sein knielanger Mantel wirbelte herum und verdeckte für einen Moment die Sicht auf den Angreifer, doch für den Besten unter der Elite, stellte das kein Problem dar. Noch ehe sich der Angreifer wieder auf die Beine rappeln konnte, hatte Tui'jin ihm die Axt aus der Hand getreten. Die Waffe schlidderte über den leicht unebenen, felsigen Boden und blieb schließlich an einem knapp Handbreiten Spalt hängen. Der Mann, Mitte vierzig oder ein wenig älter, kräftig und muskulös gebaut, mit bereits leicht ergrautem Haupthaar und einigen Narben auf der rechten Wange, stieß ein wütendes Brüllen aus und sprang auf die Beine. Ohne lange über Strategien nachzudenken ging er mit bloßen Fäusten auf den Scharfschützen los. Er schien in seiner Rage nicht zu bemerken, dass sein Gegner noch seine Waffe in der Hand hielt. Doch Tui'jin dachte nicht daran, sie zu benutzen. Er hatte stets Wert darauf gelegt, das Verhältnis wenigstens annähernd ausgleichend zu schaffen. Wenn er den Mann erschoss, würde das ihm erstens nur wenig Spaß bereiten und zweitens besaß sein Gegner damit nicht die geringste Chance ihn herauszufordern. Und genau darauf war er aus.
Tui'jin lechzte es nach Herausforderungen. Je waghalsiger und gefährlicher, desto besser. Je aussichtsloser und schwieriger eine Aufgabe zu lösen war, desto eher überkam ihn der gewisse Kick. Jeder konnte einen unbewaffneten Mann mit einer Pistole erschießen. Doch nur wenige verstanden sich darauf, einen Gegner nur mit den Füßen zu töten – während man die Waffe ungenutzt in den Händen hält.
Mit einem hoch in die Luft gestrecktem Bein wirbelte Tui'jin herum und ließ den Mann direkt in seine Stiefelsohle laufen. Der Aufprall schleuderte ihn rücklings und er taumelte einige Schritte rückwärts. Noch bevor er sich gänzlich fangen konnte, setzte Tui'jin nach, wechselte das Standbein, fuhr herum und schleuderte ihm die Ferse an die Schläfe. Sein Gegner vollführte eine wenig galante Pirouette, stolperte geradewegs über die Spalte in der die Axt gerutscht war und plumpste wie ein nasser Sack auf den Boden. Er rappelte sich jedoch schnell wieder auf, schüttelte kurz den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, dann schnappte er sich schnell die Axt und ging abermals mit einem wütenden Gebrüll auf den Schützen los. Unbeeindruckt der Waffe und der Entschlossenheit, mit der sein Gegner ihn attackierte, duckte sich Tui'jin seitlich unter dem Schwung der Axt hinweg, drehte sich noch in der Ausweichbewegung und trat dem Mann ein weiteres Mal die Beine unter dem Körper weg. Wieder verdeckte sein schwingender Mantel die Sicht auf seinen Gegner und er schwor sich, künftig eine kurze Jacke oder gar einen Overall zu tragen. Sonst hatte es ihn nicht sonderlich gestört, wenn er für den Bruchteil einer Sekunde den Blickkontakt zu seinem Gegner verlor. Für gewöhnlich stellte das für ihn keinen Nachteil dar. Auch diesmal nicht. Es ärgerte ihn nur plötzlich. Er fand selbst keinen Grund dafür. Es ärgerte ihn lediglich und er entschied, bei künftigen Einsätzen keinen langen Mantel mehr zu tragen.
Sein Gegner knurrte wie ein tollwütiger Köter, sprang abermals auf die Beine, die Axt wild über seinen Kopf schwingend und stürzte sich ein weiteres Mal auf den Scharfschützen. Tui'jin drehte sich um, trat ihm kräftig in den Bauch, sodass dessen Oberkörper plötzlich jeglichen Halt beraubt nach unten sackte. Beinahe zeitgleich zog Tui'jin sein Bein zurück und traf dabei mit seinem Knie das Kinn des Mannes und schleuderte den Kopf wieder nach oben. Kurz entschlossen entschied er sich gegen seine vorherige Entscheidung doch die Hände zu gebrauchen und die einmalige Gelegenheit nicht ungenutzt verrinnen zu lassen, und schmetterte dem Mann die Rechte mitsamt Laserwaffe ins Gesicht. Sein Gegner taumelte rückwärts, stolperte ein weiteres Mal über den Spalt und plumpste ungeschickt auf seinen Hintern. Tui'jin setzte sofort hinterher, ehe sein Opfer zum Nachdenken kam, wirbelte um seine Achse und schmetterte ihm den harten Absatz des Stiefels an den Kopf. Der Kopf des Mannes flog herum. Es gab einen dumpfen Knacks, dann fiel der Körper mit einem unnatürlich verrenkten Kopf auf den Felsboden und blieb reglos liegen.
Mit einem für ihn gewohnten kalten Lächeln, bedachte er einen ganzen Herzschlag lang sein Werk, dann drehte er sich wieder um und begann wieder, auf die Zielscheiben zu schießen, die gerade mal eine ganze halbe Minute Zeit gehabt hatten, sich in Sicherheit zu bringen. Zu seiner Freude musste er feststellen, dass sie die Zeit weitgehend ungenutzt hatten verrinnen lassen. Die meisten seiner Ziele befanden sich noch an derselben Stelle. Nur wenige waren so umsichtig und klug gewesen und hatten sich aus dem Staub gemacht, oder zumindest einen so großen Abstand zwischen sich und dem Berg gebracht, dass sie Tui'jin als sinnlos bezeichnete und sich lieber den Tölpeln widmete, die noch immer hinter ihren Büschen und Felsen kauerten. Er würde ihnen keine zweite Chance bieten.
Plötzlich krachte es ohrenbetäubend. Dann bebte der Boden unter seinen Füßen und nur ein Wimpernzucken später hatte sich der Boden unter seinen Füßen in Luft aufgelöst. Er fiel unaufhaltsam in die Tiefe.
* * *
"Verdammt!", fluchte Dugg zum wiederholten Male, sprang aus seiner Deckung und entriss Komunus die Kanone.
"He!", entrüstete sich der Kanonier. "Du kannst damit doch gar nicht umgehen. Du bist dafür nicht ausgebildet."
"Das werde ich gerade noch hinkriegen", gab Dugg schnell zurück, richtete die Kanone in aller Eile ein und riss schließlich am Auslöser, als hinge sein Leben an dieser Bewegung. Der Detonationsknall zerschmetterte ihm beinahe das Trommelfell und als die mit Sprengstoff gefüllte Bleikugel in das Bergmassiv prallte und zerplatzte wie eine überreife Frucht, warf er sich blitzschnell auf den Boden, den Kopf unter seinen Armen verborgen. Die Sprengladung explodierte in tausend kleine Explosionen, zerriss das Gestein, gegen das es geprallt war, sprengte einen Krater heraus, in das man leicht drei der Flugdrachen hätte parken können und ließ die Splitter und Wolken aus Staub über einen Umkreis von mehreren hundert Metern niedergehen. Es dauerte nur einen weiteren Moment, noch ehe die letzten Splitter und Gesteinsbrocken den Boden erreichen konnten, da brach der Berg krachend und polternd in sich zusammen und mit ihm der Schütze, der auf seiner Spitze gestanden war.
Als der leichte Wind die Staubwolken etwas zerstreut hatte und das Poltern und Krachen verstummt war, hob Dugg vorsichtig seinen Kopf und blinzelte in die Richtung, in der sich vor wenigen Augenblicken noch ein steiler Abhang in den Himmel erhoben hatte. Jetzt war die Hälfte des Berges abgerutscht und anstelle der steilen Wand war dort nur noch ein übergroßer Geröllhaufen, jede Menge Staub, Steine, Kiesel und durch die Sprengungen in feinste Partikel gemahlener Sand. Er richtete sich vorsichtig auf, klopfte den Staub aus seinen Hosen und seinen Jackenärmeln, jedoch ohne den Blick von den sich schwerfällig niedersetzenden Staubwolken zu lassen. Der Beschuss von dem Scharfschützen hatte aufgehört. Er war offenbar allein gewesen, denn hinter dem nun halb in sich zusammengestürzten Berg tauchten keine weiteren Schützen auf. Neben ihm formierte sich Tiane aus dem sich allmählich lichtenden Staubwolken. Sie blutete an einer Wunde an der Stirn, keine Schutzverletzung. Vielleicht hatte sie sich bei der Detonation verletzt, als sie blitzschnell in Deckung gehen musste oder ein heran geschleudertes Trümmerteil hatte sie getroffen. Dugg schüttelte schnell seine Gedanken von sich und machte sich daran, den Geröllhaufen zu besteigen.
"Was machst du da?", erkundigte sich Tiane neugierig.
"Ich will mich vergewissern, dass dieser Hund tot ist", zischte Dugg zurück und räumte einige Felsbrocken zur Seite. "Außerdem interessiert es mich stark, wer das war. Er hat hier auf uns gewartet. Wir sind ihm direkt vor die Flinte gelaufen. Also wusste er, dass wir hier vorbeikommen würden. Ich wüsste gerne, woher er das wissen konnte. Vielleicht finden wir etwas in seinen Taschen, was uns weiterhilft."
Tiane kam ebenfalls heran und begann nun ebenso Steine wegzuräumen und nach der Leiche des Scharfschützen zu suchen. Die erste Leiche, die sie fanden, war die von Krails. Wenig später entdeckten sie Krails Streitaxt, aber vom Scharfschützen keine Spur. Fast erlagen sie schon der Vermutung, dass der Schütze sich noch rechtzeitig in Sicherheit hatte bringen können, doch da schrie plötzlich Janos auf.
"He, hierher!", brüllte er über den Trümmerhaufen hinweg. "Hier ist er." Er warf einige Steine beiseite und beugte sich nieder. Tiane, Dugg und Komunus eilten schnell zu der Stelle, an der Janos den Schützen gefunden hatte und blieben stehen, als sie ihn sahen. Sein ganzer Körper war eine einzige blutende Masse. Eine Maske verdeckte sein Gesicht, doch darunter quoll Blut hervor. Seine Gliedmaßen hingen verrenkt zwischen den Gesteinsbrocken und an manchen Stellen stach sogar der gebrochene Knochen durch die Haut.
"Verdammt!", zischte Janos und zuckte zurück. "Der Kerl lebt noch." Erst jetzt bemerkten die anderen die kaum wahrnehmbaren Bewegungen des Brustkorbes und traten ebenfalls einen Schritt zurück, als befürchteten sie, dass er jeden Moment aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte und sie erneut unter Beschuss hielt. Janos zog seine Waffe und wollte dem Schützen schon den Garaus machen, doch Tiane hielt ihn zurück.
"Nein, warte! Vielleicht können wir etwas von ihm erfahren."
"Der lebt doch keine zwei Stunden mehr", wusste Janos und beäugte ihn eindringlich mit einer angehobenen Augenbraue. "Der muss doch keinen einzigen ganzen Knochen mehr im Leib besitzen."
"Ein Versuch ist es wert."
"Glaubst du, dass er aus Dankbarkeit, weil wir ihn fast umgebracht und dann wieder gesund gepflegt haben, zu einem Sympathisant wird?"
"Ich weiß nicht. Aber mir ist da gerade etwas eingefallen."
"Was denn?", wollte Dugg wissen.
"Etwas, das uns Schwierigkeiten einhandelt?", erkundigte sich Komunus vorsichtig.
"Etwas, das uns vielleicht einen Bruder einbringt", antwortete Tiane. Sie drehte sich um und ließ ihren Blick suchend über das Schlachtfeld schweifen. Mehrere Leute kümmerten sich um die Verletzten und Toten und schafften sie auf Karren und Bahren. Sie winkte einen mit einer Bahre zu sich und wenig später trugen sie den im Koma liegenden Schützen mit den anderen Verletzten heimwärts.
* * *
Schmerz stach so heftig durch die wohlige dunkle Decke, dass er zusammenzuckte, wenn er es in seiner momentanen Lage hätte tun können. Er spürte seinen Körper nicht. Er besaß keinerlei Kontakt mit seinen Gliedmaßen, aber er wusste, dass sein ganzer Körper erfüllt war von gleißendem Schmerz. Er wusste auch nicht, wer oder was ihn in diese Lage gebracht hatte. Er konnte nicht einmal sagen, ob er sich im Normalzustand befand oder ob etwas geschehen war, dass ihn in diese dunkle Welt ohne Gefühle und Licht verbannt hatte. Es hätte ebenso gut auch schon immer so gewesen sein können; dass er sich noch nie in einer anderen Welt aufgehalten hatte. Als er jedoch kurz darüber nachdachte, wollte ihm auch keine Alternative zu dieser Welt einfallen. Er besaß keinerlei Ahnung, ob er je etwas anderes getan hatte, als ohne jeglichen Kontakt zu einem anderen Etwas wie ihm zu sein. Er lag einfach nur so da – oder stand er? Oder saß er? Er vermochte auch dies nicht zu sagen. Sein Bewusstsein schwebte einfach in einem Raum, in dem es keine Fenster, Türen oder sonstige Öffnungen gab. Nichts und niemand schien zu ihm durchdringen zu können. Und ihm war es offenbar ebenfalls nicht möglich, die Hülle zu durchbrechen, die ihn umgab. Er wusste nicht, ob die Hülle ihn vor etwas schützen sollte, oder ob sie das was hinter der Hülle war vor ihm schützte. Er wusste nicht einmal, ob es tatsächlich eine Hülle war, die sich über sein Bewusstsein gestülpt hatte. Er wusste nicht, ob sie wirklich existierte. Er war einfach ein Bewusstsein, dass irgendwo schwebte.
Irgendwann, er konnte nicht sagen, ob nach einer Ewigkeit oder nach wenigen Atemzügen, tauchte eine neue Empfindung auf. Er fühlte etwas schwer auf ihm lasten, was wiederum für ihn bedeutete, dass er seinen Körper wieder fühlen konnte. Er freute sich, dass er einen Körper besaß, als ihn diese Erkenntnis einleuchtete. Er freute sich, dass er nicht nur aus leeren Gedanken bestand, sondern ein Wesen, das man berührten konnte. Er wusste nur nicht, ob er das als Gut oder Schlecht einstufen sollte.
Eine weitere Ewigkeit später – oder war es wieder nach weiteren Atemzügen? – er bemerkte, dass er in einem großen Raum auf einem harten Untergrund lag. Die Atemluft war rauchgeschwängert und heiß. Das Etwas, das schwer auf ihm lastete, war eine Decke aus Tierfellen. Er fühlte das weiche Fell und einige abgewetzte Stellen unter seinen Fingerspitzen. Der harte Untergrund bestand aus einem Gestell aus Holz, nur annähernd gepolstert mit Fellen und Stoffen. Der Raum, in dem er lag, war dunkel gehalten. Irgendwo knisterte ein Feuer, vermutlich der Grund, warum die Luft voller Rauch war und tauchte den Raum in flackerndes Licht, das trügerische, schnell umherhuschende Schatten an die Wände zauberte. Die Wände wirkten nicht nur wegen des unregelmäßigen Lichtes, weit entfernt und vollkommen unförmig, so als befand er sich in einem sehr großen Raum, die stark einer Höhle nachempfunden war. Er versuchte seinen Kopf zu drehen, doch sein Körper wollte sich dem Willen des Bewusstsein, das in ihm wohnte, noch nicht so recht beugen. Seine Augen waren schwer und fielen ihm immer wieder zu. Er konnte kaum seine Finger bewegen. Und das schwere Fell schien ihm die Atemluft abdrücken zu wollen. Außerdem fühlte er sich darunter unbehaglich und schwitzte.
Ein Geräusch in seiner unmittelbaren Nähe alarmierte einen inneren Reflex und er fuhr hoch. Doch beinahe im selben Moment kehrte der Schmerz mit seiner ganzen Wucht zurück und ließ ihn mit einem gellenden Schrei zurückfallen, noch ehe er sich gänzlich aufgerichtet hatte.
"Lorax!", rief eine sanfte Frauenstimme besorgt. "Lorax, lass das. Bleib lieber liegen. Du bist noch nicht soweit."
Er spürte eine kühle Hand auf der offenbar nackten Haut seiner Brust. Sie fühlte sich angenehm an, bei all der Hitze, die ihn umgab. Er schloss für einen Moment die Augen, nicht nur, um die Schmerzen besser bewältigen zu können. Seine Augenlider schienen mit jedem Atemzug, mit jedem pochenden Gleisen des gierig an ihm nagenden Schmerzes, schwerer zu werden. Er zwang sich zu ruhiger und gleichmäßiger Atmung; und wusste gleichzeitig nicht, ob er das richtige tat und warum er das tat.
"Ich gebe dir etwas für die Schmerzen", sagte die Frauenstimme und legte ihm wenige Augenblicke später etwas Kühles an die Lippen.
Er weigerte sich zunächst, doch die Frau blieb beharrlich. "Ich werde es auch nicht weitererzählen", sagte sie. "Aber bevor du bei jeder Bewegung vor lauter Schmerzen nur noch schreien kannst, ist es vor allem für meine Ohren und Nerven besser, wenn wir die Schmerzen vorerst noch betäuben. Was meinst du?" Sie schob einen Finger in seine Backe zwischen die Zähne und zwang ihn damit, den Mund zu öffnen. "Und ich hatte schon gehofft, du hättest deinen verdammten Sturschädel endlich verloren." Vorsichtig flößte sie ihm die würzig schmeckende Flüssigkeit ein und zeigte sich erst zufrieden, als er wenigstens die Hälfte davon geschluckt hatte.
Er schluckte den Rest bereitwillig hinunter, als er bemerkte, dass die ersten Tropfen, die er widerwillig schlucken musste, bereits ihre Wirkung zeigten und den tosenden Schmerz in ihm bekämpften. Er war gleichzeitig fasziniert und empört über die Frau, von der er in dem flackernden Halbdunkel nur wage Umrisse erkennen konnte. Ihre Hände konnten sanft und bestimmend zugleich sein. Ihre Stimme ließ Wärme und Besorgnis, aber auch Wut und Enttäuschung erkennen. Er schätzte sie auf höchstens zwanzig Jahre, ihre Stimme verriet aber auch, dass sie bereits viel durchgemacht hatte.
Als der Schmerz weitgehend besiegt war, wagte er sich an eine weitere Eroberung seiner Körperfunktionen und bewegte seine Lippen. Es kam jedoch nicht viel mehr hervor, als ein heißeres Krächzen.
"Wo du bist?", wiederholte die Frau, als wolle sie eine Bestätigung für das was sie geglaubt hatte, verstanden zu haben. Sie wartete jedoch keine Reaktion ab. "Wo sollst du schon sein? Zu hause. Kennst du das nicht mehr?"
Er überlegte lange, kam jedoch zu keinem Schluss. Nichts, was er hier sehen konnte, erinnerte ihn an etwas, Nichts davon kam ihm bekannt vor. Nichts, von dem was er bislang vernommen hatte, brachte sein offenbar verloren gegangenes Erinnerungsvermögen zurück. Weder die dunkle, verräucherte Halle, das harte, einfache Bett noch die Stimme und die Konturen der Frau, die ihn offenbar gesund gepflegt hatte.
"Was ist geschehen?", wollte er als nächstes wissen. Seine Stimme war immer noch ein mühevoll hervorgestoßenes Krächzen, er besaß sie aber bereits etwas besser unter Kontrolle.
Die Frau blickte ihn schweigend durch die Halbdüsternis an. Erst nach einigen nutzlos verstrichenen Sekunden, atmete sie tief ein und wappnete sich so für ihre Antwort.
"Du hattest einen Unfall", erklärte sie ausweichend. "Erinnerst du dich nicht mehr daran, Lorax?"
Ein weiteres Mal forschte er tief in seinem Inneren nach Fragmenten seiner Erinnerung, fand jedoch nicht einmal ein winziges Quäntchen. Er versuchte sich die Sekunden oder Minuten vor seinem Unfall vorzustellen, doch nicht einmal der Hauch einer Idee keimte in ihm auf. Daher schüttelte er ganz langsam den Kopf.
"Ich kann mich an nichts erinnern. Nicht an dich und nicht einmal an meinen eigenen Namen."
Die junge Frau seufzte hörbar und machte es sich auf der niederen Bettkante bequemer.
"Weißt du", begann sie zögerlich. "Es war eigentlich kein Unfall, oder vielleicht doch... Wir sollten das besprechen, wenn es dir wieder besser geht." Sie sprang auf die Füße, als flüchtete sie vor der richtigen Antwort auf seine Frage.
"Ich will wissen, was passiert ist", sagte er eindringlicher.
Die Frau hielt kurz inne. "Wir sollten das auf ein andermal verschieben. Ich weiß schon jetzt, wie das wieder ausgeht. Immer wenn du nicht ganz bei bester Verfassung bist..."
"Sag mir, was passiert ist!", fuhr er sie genervt und zornig an.
Sie drehte sich um und betrachtete ihn nachdenklich durch die verrauchte Düsternis. Dann setzte sie sich wieder und musterte ihre Hände, als könne sie davon die Antwort ablesen.
"Du bist mit den Männern auf der Jagd gewesen", begann sie schließlich, mit kaum überhörbarer Trauer. "Berg-Arapachos jagen. Der Treibjagd ist ein großer Bock entkommen, du wolltest ihn aber unbedingt haben. Der Bock lief in die Klüften, du hinterher. Die anderen sagten, du sollst ihn laufen lassen, ihr würdet ihn das nächste Mal fangen. Aber du hast nicht auf sie gehört und den Bock immer weiter verfolgt. Dann passierte es. Eine ganze Klüftenwand brach unter euch weg und stürzte mit euch in die Tiefe. Du hattest wahnsinniges Glück, dass du in eine Spalte gefallen bist und dich daher die ganz großen Brocken nicht zerschmettert haben. Trotzdem war beinahe jeder deiner Knochen zertrümmert. Die anderen sagten, du hättest keine Chance und ich solle dich sterben lassen. Aber ich konnte dich nicht einfach so sterben lassen. Du bist immerhin mein Bruder und der einzige, den ich noch habe."
Seine Augen weiteten sich. "Ich bin dein Bruder?" Er konnte sich nicht daran erinnern, eine Schwester gehabt zu haben. Er konnte sich an überhaupt nichts mehr erinnern.
"Mein großer Bruder", nickte sie. "Aber manchmal zweifle ich daran. Du benimmst dich oft wie ein törichtes Kleinkind." Sie verstummte plötzlich, als hätte sie noch jede Menge auf den Lippen gehabt, aber es auf einmal für besser erachtet, es nicht laut auszusprechen.
Das schmerzstillende Medikament hatte indessen seine vollständige Wirkung in ihm ausgebreitet und er fühlte sich nun wie auf weichen Wolken gebettet. Es war ein ihm vollkommen unangenehmes Gefühl. Er glaubte zu schwanken, auf einem wackeligen Untergrund zu liegen. Fast befiel ihn sogar der Verdacht, dass sich mehr als schmerzstillende Substanzen in dem Getränk befanden, doch als das Schwindelgefühl nach einer Weile wieder verschwand, ließ er diesen Verdacht fallen.
"Ich kann mich nicht daran erinnern", sagte er ruhig, legte den Kopf bequem auf das Kissen, das im Grunde nicht mehr war, als ein paar Lagen zusammengelegte Stoffe, und blickte über sich in die Nebelschwaden, die sich an der fernen Decke kräuselten. "Was ist das hier eigentlich?", wollte er wissen.
"Unser Zuhause", erklärte sie unschuldig und blickte sich um.
"Ich meine, was ist das hier für eine Art Gebäude?"
"Gebäude?" Die Frau blickte ihn einen Moment stumm an. "Das ist kein Gebäude. Das ist unsere Wohnhöhle. Du hast dort hinten selbst eine Nische aus dem Stein herausgeschlagen, um einen Bereich nur für dich zu haben."
Er reckte den Kopf, um die angedeutete Nische zu finden. Doch viel mehr als ein dunkles Loch, konnte er nicht erkennen. "Warum liege ich jetzt hier und nicht in meiner Nische?", erkundigte er sich interessiert.
"Ich sagte dir damals schon, dass ich sie nie betreten werde. Ich habe Angst da drin. Ich habe Angst, dass mir jeden Moment die Decke auf den Kopf fällt."
"Das könnte hier auch passieren."
"Ganz bestimmt nicht. Das hier erbauten unsere Großväter und zuletzt unser Vater. Die wussten, wie eine Wohnhöhle auszuschlagen war. Dir sind während deiner Arbeit immer wieder Brocken auf den Kopf gefallen. Aber du wolltest dir nie etwas sagen lassen." Sie erhob sich und schickte sich an, den Becher mit einer würzigen Flüssigkeit neu zu befüllen. Ihre Rede war am Schluss energisch, beinahe anklagend geworden. Sie musste einige Male tief durchatmen, ehe sie sich ihm wieder mit ruhiger, gefasster Stimme widmen konnte.
"Ich muss ein ziemlicher Sturkopf gewesen sein", schlussfolgerte er und legte seinen Kopf in die Ausgangslage zurück. Sein Kopf begann wieder zu dröhnen. Er glaubte dies aber eher als eine Folge der rußigen und verbrauchten Luft im Inneren der Wohnhöhle und nicht von seinen schweren Verletzungen.
"Sturkopf ist noch untertrieben", bemerkte sie leicht sarkastisch. "Du hast stets versucht, alle von deinen Vorstellungen zu überzeugen. Sie mussten sie akzeptieren, ob sie wollten oder nicht. Und meistens..." Sie verstummte erneut abrupt.
"...hatten die anderen Recht", beendete er den Satz. "Lorax, sagtest du, wäre mein Name. Wie ist der deine?"
"Tiane." Sie hielt ihm den Becher an die Lippen. Er drehte den Kopf leicht zur Seite. Sie seufzte genervt. "Nun stell' dich nicht so an. Die Wirkung hält länger an, wenn man sie in mehreren kleinen Dosen verabreicht."
"Was ist das?"
"Kräutertee mit Isamirii."
"Was ist Isamirii?"
Sie schnaufte. "Eine Pflanze, deren Blüten fein zermahlen und in Sud gekocht, schmerzstillend wirken."
"Kennst du dich damit aus?"
"Mit was?"
"Mit der Wirkung von Kräutern und Pflanzen."
"Willst du etwa schon wieder damit anfangen, mir ständig zu sagen, wie ich was zu tun habe?" Sie stellte den Becher einfach auf den Boden, wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab und verschwand ohne ein weiteres Wort im Rauch.
"Entschuldige. Ich wollte dich nicht kränken."
Sie kehrte augenblicklich zurück und baute sich vor seinem Lager auf. "Du entschuldigst dich?" Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, so als müsse sie das eben erlebte erst noch verdauen. "Vielleicht sollte ich dich noch mal die Klüften hinunter werfen. Vielleicht verschwindet dann deine Besserwisserei."
"War ich so schlimm?"
Tiane schnaufte abermals und setzte sich wieder auf die Bettkante. "Die anderen sagten, ich solle dich sterben lassen. Du hast schon so viel Unglück über uns und über mich gebracht, dass mir nichts besseres passieren könnte, als dass du stirbst. Ich brachte es aber einfach nicht übers Herz. In unseren Adern fließt dasselbe Blut. Daher ist es meine Pflicht als Schwester, mein möglichstes zu tun, um dein Leben zu retten." Sie senkte den Blick und betrachtete kurz ihre im Schoss gefalteten Hände. "Ich hatte gehofft, dass dir das eine Lehre sein würde und dass du in Zukunft etwas umsichtiger und vernünftiger bist, falls du es überlebst. Ich hatte gehofft, dass du dann mehr Rücksicht auf mich und auf andere nimmst und wir nicht mehr als Ausgegliederte leben müssen."
"Warum müssen wir als Ausgegliederte leben?", erkundigte er sich neugierig.
"Wir sind nicht direkt Ausgegliederte", wich sie aus. "Es ist nur so... dass du... dass ich..." Sie seufzte tief. "Ich denke, das ist genug für heute. Das sollten wir uns für später aufheben." Sie erhob sich und wollte wieder im Rauch verschwinden.
"Ich würde es gerne wissen."
Sie drehte sich um und war nur noch als dunkle Silhouette zu erkennen. "Vielleicht ist es besser, wenn du es nicht weißt."
"Ich kann nur etwas vermeiden, wenn ich weiß, was ich vermeiden soll."
Tiane schnaufte hörbar. "Ich glaube, ich frage einen der Männer, ob er dich zu den Klüften schleppt und dich dort runterwirft."
"Warum? Was ist denn? Warum sind wir Ausgegliederte?"
"Ich sollte noch Schlafpulver in deinen Trank geben, damit ich mir dein Geschwätz nicht mehr anhören muss."
"Tiane!" Seine Stimme war auch für ihn überraschend kräftig und herrisch. Er fragte sich, ob Unbeherrschtheit und Jähzorn, die sich in diesem Moment ungewollt in den Vordergrund gedrängt hatten, der Grund dafür darstellten, warum niemand außer seiner Schwester mit ihm zusammen sein wollte. Er musste vor dem Unfall wirklich kein angenehmer Zeitgenosse gewesen sein. Daher räusperte er sich beinahe verlegen und wiederholte ihren Namen, nun wesentlich leiser und ohne den deutlichen Widerhall von Herrschsucht. "Tiane. Bitte! Ich will es wissen."
"Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Das letzte was ich möchte, ist, dass du von Schuldgefühlen getrieben einen verhängnisvollen Fehler machst."
"Wegen was sollte ich Schuldgefühle haben?"
"Ich will es dir nicht sagen", kam es aus dem Rauch zurück. "Ich will nicht diejenige sein, auf die du wütend sein wirst. Du findest es sicherlich irgendwann selbst heraus."
"Weswegen?" Er drohte wieder jene herrische Stimmlage anzunehmen, welche er vorher mühevoll unterdrückt hatte.
"Ich sag's dir nicht."
"Wenn du es mir nicht verrätst, werde ich dir vermutlich genau deswegen wütend sein."
"Es ist sicherlich ganz gut so, dass du dich nicht mehr daran erinnerst. Dann bist du gezwungen, es selbst herauszufinden und dir Gedanken darüber zu machen."
"Bin ich schuld am Tod von jemandem?", versuchte er zu erraten. Das Klirren eines tönernen Geschirrs, das auf dem Boden aufschepperte, gab ihm die Bestätigung für die Richtigkeit seiner Vermutung. Das daraufhin folgende Schweigen unterstrich seinen spontanen Einfall nur noch. Er fragte sich, ob dieser Geistesblitz ein winziges Fragment aus seiner Vergangenheit war, das unerwartet zu ihm zurückkehrte. Dabei stellte er fest, dass er nichts dabei empfand, als er sich den Tod eines Bekannten, Verwandten oder sogar eines nahen Freundes vorstellte und erschauderte über sich selbst. Dabei stellte er ebenfalls fest, dass er sich an keinen einzigen Bekannten, Verwandten oder überhaupt jemanden erinnern konnte. Er wusste nicht, wer seine Freunde waren, ob er Feinde besaß, oder wer noch zu seiner Familie gehörte. Außer Tiane kannte er niemanden, und auch an sie erinnerte er sich nicht. Sein Leben hatte buchstäblich erst vor einigen Minuten begonnen, als er aus seiner tiefen Ohnmacht erwacht war.
Tiane kehrte zurück und blieb so nahe vor ihm stehen, dass er ihre Umrisse, aber immer noch nicht ihr Gesicht erkennen konnte.
"Es war seine eigene Entscheidung", begann sie traurig. "Er hätte es auch lassen können."
"Dein Freund? Dein Gatte?"
"Torvik? Erinnerst du dich an ihn?" Als ihr Schweigen antwortete, sanken ihre Schultern ein Stückchen tiefer. "Wir wollten im Frühjahr heiraten", fuhr sie mit einem schwachen Aufwallen von erträumten aber nun verlorenem Glück fort. "Er war dein bester und einziger Freund. Er war der Einzige, der an dir festgehalten hat. Er sagte, jemand muss ständig auf dich aufpassen und dich vor dem Schlimmsten bewahren. Er wollte dich zurückholen, notfalls mit Gewalt. Aber er kam zu spät und wurde von der Gerölllawine mitgerissen."
Er, der sich der einfachheithalber ebenfalls Lorax nannte, obwohl ihm dieser Name überhaupt nichts sagte, verspürte selbst bei dieser Geschichte keinerlei Gefühle. Keine Reue, keine Trauer, keine einzige Empfindung. Zwei Gedanken huschten dabei durch sein Bewusstsein. Die eine: War er wirklich so kalt gewesen, dass ihn selbst der Tod eines nahen Freundes nicht berühren konnte? War ihm – Lorax – der Freund wirklich so nahe gewesen, dass ihn sein Verlust eventuell betrüben konnte? Fühlte er – Lorax – sich persönlich für den Tod eines der einzigen beiden Menschen verantwortlich, die sich je um ihn – Lorax – gesorgt hatten? Der andere: Wenn er keinerlei Empfindung hervorbringen konnte, war er wirklich derjenige, für den Tiane ihn hielt? Könnte es nicht sein, dass noch ein Dritter auf den Klüften gewesen war? Aber diesen Gedanken schob er schnell wieder beiseite. Seine Schwester musste wissen, wie er aussah. Sie würde ihren Bruder sicherlich nicht mit einem anderen verwechseln. Aber was war, wenn ihr genau das gelegen kam und sie die Situation kurzerhand ausnutzte. Was war, wenn sich tatsächlich ein Dritter auf den Klüften befunden hatte? Wenn der richtige Lorax tot war? Und sie ihn – den Gedächtnislosen – als ihres Bruders statt annahm? Er – Lorax – schob diesen letzten Gedanken aber auch wieder beiseite. Dieser Dritte würde sicherlich von irgend jemandem vermisst werden. Sie konnte sich nicht einfach jemanden aussuchen und ihm erzählen, er sei ihr Bruder. Früher oder später würde er seiner richtigen Familie über den Weg laufen und die würden sich an ihn erinnern. Und dann war Tiane diejenige, die sich Verantwortungslosigkeit und Schuldgefühle vorwerfen lassen musste.
"Ist es hier immer so dunkel?", erkundigte er sich, als er sämtliche Gedanken genügend weit beiseite geschoben hatte.
"In der Nacht schon", antwortete sie. "Du erinnerst dich auch an ihn nicht mehr", sagte sie mehr enttäuscht, als feststellend.
"Nichts von dem, was du erzählt hast, ruft irgend etwas in mir hervor."
Sie nickte. "Es war vermutlich ein Wink des Himmels, der dir ein neues Leben ermöglichte."
"Aber dafür hätte kein einziger Mensch sein Leben geben müssen", gab er gefühlvoll zurück. "Auch wenn ich es im Moment nicht persönlich nachvollziehen kann, bedauere ich den Vorfall. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Aber dann wäre ich sicherlich noch der von allen ausgegliederte Sturschädel."
Tiane seufzte. Ein Seufzen, das Bestätigung und Widerspruch gleichzeitig hätte sein können. Sie war klug genug, nichts darauf zu erwidern. Was hätte das auch schon ändern können?
„Du solltest etwas schlafen“, riet sie und stand auf. „Ich lass den Becher neben dem Bett stehen, falls die Schmerzen wieder stärker werden.“
„Danke“, entgegnete Lorax.
Tiane holte Luft, als wollte sie noch etwas sagen, besann sich jedoch eines anderen und verzog sich wieder in den nicht mehr sichtbaren Teil der Wohnhöhle. Für einen Moment war das Klappern von Geschirr und das Knistern des Feuers die einzigen Geräusche, die die Höhle erfüllten. Lorax versank in Gedanken, versuchte Erinnerungen aus der Tiefe seiner körperlichen Hülle hervorzukramen, jedoch ohne Erfolg. Er wusste nicht, woher es kam, aber ein unbestimmtes Gefühl machte sich in ihm breit, so als stimmte etwas nicht; so als lauerte irgendwo ein drohendes Unheil und wartete nur auf die günstigste Gelegenheit, ihn endgültig zu vernichten. Seine Nackenhaare stellen sich auf. Er wusste, das war ein Zeichen für irgend etwas, er wusste nur nicht mehr wofür.
Als er den Kopf drehen wollte, um nach Tiane zu sehen, fuhr ihm ein greller Blitz in den Schädel. Blindlings angelte er nach dem Becher, bekam ihn nach einigem Suchen zu fassen und trank ihn schließlich leer. Er besaß plötzlich auch Durst, ein Zeichen dafür, dass er sich zu lange in einem heißen, trockenen Raum befand – aber woher wusste er das?
Lorax schloss die Augen, als das Schwindelgefühl wieder einsetzte und auch sein Bewusstsein ins Wanken brachte. Gedanken, die er vorher so fest in seinem Bewusstsein verankert glaubte, hatten sich plötzlich in Rauch aufgelöst und waren mit den Dunstschwaden in der Höhle von dannen geschwebt. Bilder, die sich wage aus dem Nebel herauskristallisiert hatten, wurden von der weißen Pracht wieder vereinnahmt und verschluckt. Alles, was er geglaubt hatte, sich mühsam wieder zusammengearbeitet zu haben, war in die Unendlichkeit abgetaucht. Er stand wieder am Anfang seiner Erinnerung und brachte nur noch mit Mühe seinen eigenen Namen zusammen – Lorax.
* * *
Als er wieder erwachte, war es hell in der Höhle und er konnte endlich die Ausmaße der Behausung ausmachen. Die Höhle war wie eine Kuppel aus dem Stein herausgemeißelt worden und besaß einen Durchmesser von gut 10 Metern. Sein Bett lag in der Mitte des Raumes, abgeschirmt von dünnen Bretterwänden, über die Tücher, Felle oder Hausrat gehängt worden war. Der Rauch, der zuvor schwer in der Wohnhöhle gehangen war und ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte, war offenbar von der Morgensonne vertrieben worden. Die Luft war klar und frisch, so als hätte jemand kräftig durchgelüftet. Ein Gefühl, das ihm wesentlich angenehmer war. Irgendwie war ihm nach Reinlichkeit und Komfort, etwas, was an diesem Ort sicherlich nicht zu finden war. Er konnte Käfer und anderes Krabbelgetier ausmachen, das auf den Trennwänden herumkrabbelte. Insekten vollführten mit Staubpartikeln einen Reigen im Sonnenlicht.
Lorax hob seinen Kopf etwas an, um die Öffnung zu sehen, durch die das Licht und die frische Luft herein kam. Eine große, fast drei Meter auf drei Meter große Luke offenbarte den Blick auf ein weites grünes Tal, das tief unter seinen Füßen lag. Ein azurblauer Himmel mit kleinen, weißen Schäfchenwolken bildete nach oben hin den Abschluss am Firmament. Zu seiner Enttäuschung musste er feststellen, dass ihm auch dieses Bild keine Erinnerungen zurückbrachte.
„Guten Morgen, Lorax“, sagte die fröhliche Stimme von Tiane. Wenig später setzte sich eine junge Frau an seine Bettkante und lächelte ihn gut gelaunt an. „Gut geschlafen?“
In ihren schwarzen Haaren, die zu zwei dicken Zöpfen geflochten über ihre Brüste hingen, schimmerte das Tageslicht, als hätte sie es mit Sternenstaub bestäubt. Der braungebrannte Teint ihres schmalen Gesichtes verriet, dass sie sich viel an der frischer Luft und in der Sonne befand. Aus dem gebräunten Gesicht blickten sie munter und gut gelaunt zwei dunkelfarbene Augen an. Ihre Kleidung war eher schlicht und grob gewebt gehalten, zweckmäßig, langlebig und praktisch. Sie trug eine abgewetzte, bereits mit zahlreichen Flecken übersäte lederne Schürze über grob gewebte Leinenhosen und einem dunklen, aus demselben Leinenstoff gewirktem Hemd.
Lorax fragte sich in diesem Moment, ob er ihr in etwa ähnlich sah. Er wünschte sich in diesem Moment einen Spiegel, um seine Frage selbst beantworten zu können.
Er widerstand der Versuchung zurückzuzucken, als sie ihre Hand auf seine Stirn legte, um ein eventuell vorhandenes Fieber zu fühlen.
„Das ist gut“, sagte sie sichtlich zufrieden. „Das Fieber ist zurückgegangen.“
„Ich hatte Fieber?“ Lorax musste sie so fragwürdig angesehen haben, dass sie zu lachen begann.
„Es hätte mich gewundert, wenn du etwas davon mitbekommen hättest“, kicherte sie und beruhigte sich schnell wieder. Sie räusperte sich verlegen, als kam ihr ihre eigene Reaktion plötzlich unangenehm vor. „Es ist vielleicht ganz gut so. Dann können deine Knochen heilen, ohne dass du viel leiden musst.“
„Gestern hast du nichts von Fieber erzählt.“ Lorax freute sich, sich an ein gestern zu erinnern. Er konnte zwar nicht mehr jedes einzelne Wort nachvollziehen, doch er wusste noch, dass er mit seiner Schwester gesprochen und nicht ganz angenehme Dinge erfahren hatte.
„Gestern?“ Sie blickte ihn durchdringend an. „Gestern? Das war vor fast sechs Tagen, als du zu dir gekommen bist.“
„Und wie lange war ich davor bewusstlos?“
Tiane ließ ihren Blick kurz abschweifen. Hinter ihrer Stirn schien es emsig zu arbeiten. „Sieben, nein – acht Wochen“, sagte sie.
„Dann müssten eigentlich längst alle Brüche verheilt sein“, glaubte er zu wissen.
„Schon möglich. Das werden wir herausfinden, wenn du versuchst, aufzustehen.“ Sie erhob sich, wischte ihre Hände an der fleckigen Schürze ab und zog ihm die Felldecke vom Leib.
Lorax bemerkte erst jetzt, dass er außer einem Lendenschurz nichts am Leib trug. Dies schien seiner Schwester aber nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil. Sie lächelte ihn so unschuldig an, als sei dies das normalste der Welt.
„Nun komm schon“, forderte sie ihn auf. „Wenn du denkst, dass ich dich bis ans Ende deiner Tage fütterte und wasche, dann hast du dich gewaltig getäuscht.“ Sie nahm seine Hand und zerrte ihn daran in aufrecht sitzender Position. Das Blut sackte ihm aus dem Kopf und für einen Moment konnte er nur Sternchen und Blitzlichter sehen. Das lange Liegen hatte seinen Organismus gehörig durcheinander gebracht. Er musste sich erst wieder an die Veränderung gewöhnen. Lorax zwang sich zum ruhigen Durchatmen und wartete geduldig ab, bis sich die Sternchen und Blitzlichter im Nichts auflösten, dann erst hievte er seine schweren Beine vom Lager auf den Boden. Sein ganzer Körper war mit hellroten Narben übersät. Manche Stellen waren so groß wie eine Handfläche, manche so dünn und kaum sichtbar wie ein winziger Riss. Seine Muskel protestierten, als er sie zur Mitarbeit zwang. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, ehe er wieder vollkommen hergestellt war. Es würde ihn sehr viel Überwindung und noch viel mehr Schweiß kosten, wieder zur alten Form zurückzukehren. Lorax fragte sich in diesem Moment, was seine alte Form überhaupt war und warum ihm dieser Begriff so spontan in den Sinn gekommen war. Er konnte sich nach wie vor nicht an das Leben vor dem Unfall erinnern. Er hatte schon Mühe, das letzte Gespräch mit seiner Schwester im Gedächtnis zu behalten. War sein Gehirn aufgrund Sauerstoffmangel angegriffen?, fragte er sich spontan. Oder handelte es sich dabei um eine Folgereaktion auf den erlittenen Schock? Er vermochte keine Antworten auf seine Fragen zu finden. Vielleicht kamen sie irgendwann von selbst zu ihm – hoffte er zumindest.
„Stütz dich auf mich. Ich helfe dir nach draußen.“ Sie legte seinen Arm um ihre Schultern und stützte ihn zusätzlich an der Hüfte. Sie musste ihn mehr tragen, als schleppen. Lorax brachte kaum einen Fuß vor den anderen. Er bemerkte, wie seine Kräfte schnell nachließen, kämpfte sich aber verbissen Schritt und Schritt vorwärts. Erst als er draußen auf einer niederen Bank, die aus einem gespaltenen Baumstamm bestand, niedersank, schnaufte er einige Male tief durch. Er war geschafft, wie nach einer anstrengenden sportlichen Betätigung oder nach einer schweren körperlichen Arbeit. Sein Kreislauf rebellierte gewaltig. Er konnte kaum die strahlende Sonne und das Tal erkennen. Glitzernde Sternchen kreisten vor seinem geistigen Auge und wollten sich nur schwerlich durch Blinzeln vertreiben lassen.
„Es wird Zeit, dass du wieder auf die Beine kommst“, bemerkte Tiane und legte eine grob gewebte Decke über seine Schultern.
Lorax sah hoch. Die Frau hatte die Decke nicht wie jemand, der sich einfach um das Wohl seines Patienten kümmerte, sondern wie jemand, dem er wirklich etwas bedeutete, um seinen Körper drapiert. Noch vor diesem Moment hegte er gewisse Zweifel an der Richtigkeit der Geschichte, doch nun geriet sie wieder ins Wanken. Die junge Frau lächelte ihn so unschuldig und liebevoll an, dass es nicht viel gefehlt hätte und er hätte sie in seinen Arm genommen. Sie musste seine Schwester sein, sagte er sich immer wieder im Stillen. Woher sonst sollte sie ihn kennen und warum sonst, sollte sie sich die Mühe mit ihm machen.
Tiane richtete die Decke enger um ihn und setzte sich zu ihm auf die Bank.
„Der letzte Sturm hat den alten Mukumban-Baum umgerissen, auf den wir als Kinder immer geklettert waren“, berichtete sie und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf einen Baum, der sicherlich fünfzig Meter in den Himmel geragt hätte, läge er nicht umgeknickt auf einem Feld. Sein Wurzelballen ragte statt dessen viele Meter in den Himmel. Seine Wurzeln ragten nach allen Richtungen in die Luft, wie Ranken, die verzweifelt einen Rettungsanker suchten. Dort wo die Wurzeln im Boden nach Wasser und Nährstoffen gesucht hatten, gähnte jetzt ein großes Loch. Er konnte sich nicht daran erinnern, je auf einen Baum geklettert zu sein. Der Gedanke daran verursachte ihn keinerlei Reaktionen.
„Was für ein Sturm?“, erkundigte sich Lorax, um sich von seinen fehlenden Kindheitserinnerungen abzulenken und blickte sich suchen nach weiteren Indizien für einen Sturm um.
Tiane beugte sich etwas vor und blickte ihm ins Gesicht. „Du kennst die Stürme nicht mehr?“ Dann lehnte sie sich wieder zurück, als ihr wieder einfiel, dass ihr Bruder sein Gedächtnis verloren hatte und seufzte. „Die Stürme fegen in unregelmäßigen Abständen über das Land und reißen alles mit, was nicht fest verankert ist.“ Sie zeigte auf eine Waldlichtung, in die eine gewaltige Hand eine große Bresche geschlagen hatte.
„Ist das der Grund, warum wir in Höhlen leben?“
„Erraten.“ Sie seufzte abermals. Dann lehnte sie sich gegen die Felswand und ließ ihren Blick einige Augenblicke lang über das grüne Tal schweifen. „Es sind die letzten freundlichen Tage, bevor die Winterstürme beginnen. Und ich weiß nicht, wie wir beide diese Zeit überstehen sollen.“ Sie ließ ihre Schultern sinken und setzte eine betrübte Miene auf.
„Wie meinst du das?“
Tiane atmete tief ein und hielt für einen winzigen Moment die Luft an, bevor sie mit ihrer Antwort rausrückte. Offenbar war ihr nicht wohl dabei. „Durch deinen Unfall besaß ich nicht genügend Gelegenheiten Vorräte für die Winterzeit zu beschaffen. Du konntest nicht auf die Jagd gehen und mir blieb nicht die Zeit, die Ernte unserer Felder einzubringen. Ich fürchte, das was wir noch besitzen, reicht nicht über die Winterstürme hinweg.“
„Gab es niemanden, der dir hätte helfen können? Es wusste doch jeder, was geschah.“
„In der Zeit vor den Winterstürmen ist jeder damit beschäftigt, sich für die harten Monate zu wappnen.“
Lorax betrachtete seine Schwester von der Seite her, dann sackte er selbst in sich zusammen, als wäre er ebenfalls von der Verzweiflung ergriffen und versank für einen Moment in Gedanken. Auch wenn sie gekonnt hätten, er bezweifelte, dass sich auch nur einer von ihnen – die er bislang nur als die anderen kannte – für ihn – einen Versager – zu einem Akt der Nächstenliebe herabgelassen hätten. Doch weder Tiane noch er wollten dies laut aussprechen.
„Wie viel Zeit bleibt uns noch, Vorräte zu beschaffen?“, erkundigte er sich.
„Zwei höchstens drei Wochen. Die ersten Stürme sind bereits übers Land gefegt.“
„Das müsste eigentlich genügen, wenn wir uns ranhalten.“
Tiane schnaufte genervt.
„Was ist?“
„Ich hatte schon gehofft, du hättest deinen unverbesserlichen Optimismus in den Klüften verloren“, sagte sie. „Offenbar habe ich mich getäuscht.“
„Ich meinte es ernst.“
„Das sagst du immer.“
„Dann werde ich es dir beweisen.“ Er warf die Decke von sich und erhob sich. Er hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten, und sein Kreislauf begann wieder zu rebellieren. Kleine Sternchen bildeten sich vor seinen Augen, doch er ignorierte sie und konzentrierte sich auf einen imaginären Punkt, bis sie sich weitgehend wieder aufgelöst hatten.
„Hör auf damit, Lorax“, schimpfte Tiane und zerrte ihn am Arm zurück auf die Bank. „Du musst niemandem etwas beweisen. Am allerwenigsten mir. Dafür kenne ich dich zu gut. Es bringt uns mehr, wenn du versuchst, wieder zu Kräften zu kommen, anstatt einmal mehr deine Sprücheklopferei unter Beweis zu stellen.“
„Ich meinte es wirklich ernst“, beteuerte er aufrichtig. „Wir können zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Während ich arbeite, baue ich meine Kräfte wieder auf und ganz nebenbei bringt uns das auch Vorräte für die Winterstürme.“
„Lorax!“, rief sie flehend. „Ist einmal nicht genug?“
„Einmal ist genug“, stimmte er ihr zu. „Ich werde mich nicht in die Nähe der Klüften wagen.“
„Lorax!“ Tiane sah ihn böse an. „Das war nicht das, was ich meinte.“
„Ich weiß, was du gemeint hast. Meine Besserwisserei und mein Sturschädel sind schuld daran, dass du Unannehmlichkeiten hattest und womöglich noch Not leiden musst. Ich will versuchen, etwas davon wieder gut zu machen.“
Die junge Frau betrachtete ihn mit höchster Argwohn. Sie schien ihren Bruder besser zu kennen und war daher nicht gewillt, seinen Worten Glauben zu schenken.
„Wenn du umkippst oder von irgendwo abstürzt, werde ich die Letzte sein, die dich dann aufsammelt und wieder zusammen flickt." Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihn herausfordernd, fast beleidigt an.
„Einverstanden.“ Er legte die Decke wieder über seine Schultern, als ein kühler Lufthauch ein Frösteln in ihm hervorrief und ließ seinen Blick über das Tal schweifen. Ein idyllisches Örtchen, bemerkte er im Stillen, so ruhig und friedlich. Aber irgendwie aus einem Grund, den er nicht nennen konnte, glaubte er, dass das nicht stimmte. Vermutlich verursachten die bevorstehenden Winterstürme dieses Gefühl, sinnierte er weiter. Ein Gefühl, das er früher schon besaß, jedes Mal wenn sich die ersten Stürme ankündigten.
Er lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und lauschte mit seinen Gehörsinnen in die Natur hinaus. Das Rauschen des Windes, das Rascheln der Bäume und Gräser, das Zirpen und Surren der Insekten, die Gesänge der Vögel... Plötzlich und unerwartet, schoss ihm das Bildnis von einem übergroßen Vogel in die Gedankengänge. Ein Vogel, so groß und unbeweglich, fast starr, als bestünde er aus toter Materie, welche lediglich zum Gleiten, aber nicht zum Flügelschlagen geeignet war. Ein Vogel, dunkel und unheimlich, der sich drohend über seinem Kopf bewegte und sich jeden Moment mit seinen kräftigen Fängen auf ihn stürzen konnte. Von dem tödliche Gefahr ausging, aber vor dem er keinerlei Angst besaß – weil er in der Lage war, sich seiner zu erwehren.
Er öffnete die Augen, blickte er einen Moment vor sich ins Leere und richtete sich dann gerader. „Gibt es hier große Vögel?“, wollte er wissen. „Vögel, mit einer Spannweite von ungefähr zehn Metern?“
Tiane sah ihn erst fragend an, dann erhellte sich ihr Gesichtsausdruck. „Du erinnerst dich wieder an die Thermiko-Gleiter?“ Sie nahm seine Hand und hielt sie ganz fest. „Deine Erinnerung kommt zurück. Das ist wunderbar!“
Lorax drehte den Kopf und musterte sie argwöhnisch. „Ich dachte, du wärst ganz froh, dass ich mich an nichts mehr erinnere?“
Sie ließ seine Hand los und senkte verlegen den Kopf. „Ja...“, druckst sie herum. „Und nein. Ich weiß wirklich nicht, was ich mir lieber wünsche. Beides hat seine guten Seiten, aber auch seine schlechten.“ Sie sah wieder hoch und traf sich mit seinem Blick. „Du bist mein Bruder und es ist traurig, wenn wir keine gemeinsamen Erinnerungen mehr hätten. Andererseits musste ich mit dir schon so viel durchmachen, dass es auch gut wäre, wenn wir einfach noch mal von vorn beginnen könnten.“
„Wir müssen wohl das Schicksal bestimmen lassen“, entgegnete er und legte spontan den Arm um sie, um sie an seine Brust zu drücken. Er bemerkte, dass sich Tiane kurz zierte, sich aber dann bereitwillig umarmen ließ. „Das kam bei mir wohl nicht oft vor, was?“, erriet er.
„Ich hätte dich manchmal erwürgen können, so kalt und gefühllos bist du gewesen.“
„Bei dem Sturz ist offenbar eine Hülle gebrochen und einiges, was ich vorher nicht an die Oberfläche gelangen lassen wollte, quillt nun heraus. Ich weiß selbst nicht mehr, wer oder was oder wie ich bin. Ich muss meinen Gefühlen folgen und hoffen, dass ich damit nicht ganz so falsch liege.“
Er spürte, wie sie kurz erschauderte. Sie machte sich frei, erhob sich und blickte auf ihn nieder.
„Ich mache uns einen heißen Kräutertee.“ Damit verschwand sie im Höhleneingang und kam ein paar Minuten später mit zwei tönernen Bechern zurück. Sie überreichte ihm einen und setzte sich wieder auf die Bank. In eigene Gedanken versunken, nippte sie an ihrem Tee und starrte vor sich ins Leere.
„Ich hoffe“, begann sie nach einer Weile des Schweigens. „dass deine Gefühle nicht dieselben wie früher sind.“
„Du kannst mich ja warnen, falls dir was bekannt vorkommt.“ Er setzte den Tee an seine Lippen, nahm einen Schluck und betrachtete ihn, als wüsste er plötzlich nichts mehr damit anzufangen. „Apropos“, sagte er. „Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich das Gefühl, etwas anderes gewöhnt zu sein. Der Geschmack dieses Kräutertees kommt mir so fremd vor, so als trinke ich so etwas zum ersten Mal.“
Tiane fuhr wütend herum. Lorax zuckte wie erschrocken zusammen, aber nicht wegen ihrer heftigen Reaktion, sondern weil etwas von ihrem Tee auf die Decke schwappte und seine nackte Haut darunter verbrühte.
„Wage es nicht“, drohte sie mit funkelnden Augen und hob ihm mahnend den Zeigefinger unter die Nase. „Solltest du dich auch nur in die Nähe der Schänke wagen, oder dich gar wieder zu einem Besäufnis hinreißen lassen, fliegst du aus der Wohnhöhle raus. Ich habe wirklich keine Lust mehr, meinen volltrunkenen Bruder nach Hause zu schleppen und mir den Hohn und den Spott der anderen einzuhandeln. Ich mache das nicht mehr mit.“
„Ist ja schon gut“, versuchte Lorax sie zu besänftigen und strich die heiße Flüssigkeit von der Decke. „Ich sagte doch schon, das ist auch so ein Gefühl, das in mir hochsteigt, ohne dass ich es deuten kann. Und ich sagte dir, dass du mich warnen sollst. Außerdem ist ein schwerer Kopf das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann; und das Letzte was wir beide die nächsten zwei oder drei Wochen gebrauchen können.“ Er hielt inne und blickte für ein paar Herzschläge vor sich ins Leere. Dann sah er hoch und betrachtete Tiane nachdenklich. „Noch so ein Gefühl: Ich glaube nicht, dass ich Alkohol gemeint hatte.“
Tianes Entrüstung verflog rasch. „Was dann?“
Lorax zuckte ratlos mit den Schultern. Dabei rutschte die Decke über seinen Arm und ein kühler Lufthauch ließ ihn abermals frösteln. Er schob die Decke an ihren Platz zurück und legte den Becher an seine Lippen. Der bittere Duft der Kräuter stieg ihm in die Nase, aber das war nicht der Duft, den er instinktmäßig erwartet hatte – eher etwas blumiger, milder, wie der Saft von Früchten oder Blüten. Dann schüttelte er den Kopf und trank endlich den Tee. Solange er gewisse Eindrücke, Gefühle und Visionen nicht klar deuten konnte, musste er sich an das halten, was ihm geboten wurde. Und heißer Tee war im Moment genau das richtige.
Der Becher war halb leer, als er ihn absetzte und seinen Blick über das Tal schweifen ließ. Er war betrübt darüber, dass dieses Bild keine Emotionen in ihm hervorrief. Nicht die weite grüne Ebene, die sich tief unter seinen Füßen bis zum Horizont erstreckte. Nicht die hohen, kantigen Sandsteinberge, die sich rechts von ihm in den Himmel reckten. Nicht die alten, hohen Bäume, die schon ihre Wurzeln in den Boden gegraben hatten, als er noch gar nicht auf der Welt war. Und nicht der würzige Duft, der von nahen Blüten zu ihm herüber wehte.
Er drehte seinen Kopf und betrachtete die zerklüfteten Berge, deren hellbeiges fast weißes Gestein in der Sonne glitzerte, als bestünde es aus Tausenden von Diamanten. Er stellte sich vor, wie er als unbedarfter Heißsporn in den Klüften herum kletterte, nach Bergböcken suchte und sich das Tal von ganz weit oben betrachtete. Dann tauchte abermals eine Vision vor seinem geistigen Auge auf. Er sah sich selbst hoch oben auf einem steilenwandigen Felsmassiv stehen. Unter ihm wuselten zahlreiche Menschen, die schrieen und vor irgend etwas davonliefen. Und er glaubte sogar die großen Vögel am Himmel über ihm zu erkennen. Dann verblasste das Bild und er vermochte nicht einmal mehr zu sagen, ob er es selbst gewesen war, der oben auf dem Massiv gestanden hatte. Je mehr und angestrengter er über die Vision nachdachte, desto mehr verschwand sie im Nebel, so als hätte sie nie existiert. Nach einer Weile glaubte Lorax nicht einmal mehr daran, dass er überhaupt etwas gesehen hatte. Die Vision mit den Vögeln war viel glaubhafter und wirklicher gewesen, so als hätte sie auch tatsächlich stattgefunden. Vermutlich hatte sein Unterbewusstsein versucht, ihm seine letzten Sekunden vor dem Absturz mitzuteilen. Die Menschen, die unten gestanden hatten, musste versucht haben, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Vielleicht handelte es auch nur um eine Anekdote aus einer früheren Vergangenheit, oder er hatte es als einer der Menschen erlebt, die unten gestanden hatten und sich gewünscht, er könnte mit demjenigen tauschen, der oben stand.
Lorax schüttelte leicht den Kopf. Seine Gedanken begannen wild durcheinander zu schwirren. Es wollte ihm immer schwerer gelingen, klare Gedankengänge zu verfassen und seine momentane Lage logisch und sachlich darzulegen. Immer wieder huschten ihm die bereitgelegten Wörter davon und er wusste nicht einmal mehr, welche es gewesen waren. Er goss den Rest des Tees in sich hinein, lehnte seinen Kopf an die Wand zurück und schloss die Augen.
„Bist du müde?“, fragte Tiane besorgt. „Sollen wir wieder rein gehen?“
Er drehte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, wie als hätte er jeglichen Kontakt zu seinem Kopf verloren. So langsam und behäbig, als stünde er kurz vor dem Tiefschlaf.
„Wie schwer war ich verletzt?“, wollte er wissen, jedoch ohne die Augen zu öffnen. Seine Zunge war schwer und seine Worte quollen mühsam über seine Lippen.
„Die erste Zeit dachte ich, du schaffst es nicht“, berichtete sie. „Du hattest ständig hohes Fieber. Ich musste dich festbinden, damit du die Stützverbände und Schienen nicht beschädigst. Ich dachte, wenn du überlebst, wirst du sicherlich verkrüppelt sein. Doch dann geschah beinahe ein Wunder. Das Fieber verschwand von einem Tag auf den anderen und es ging stetig bergauf mit dir.“
„Hatte ich eine Kopfverletzung oder Sauerstoffmangel?“
Tiane zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Eine gewaltige Gehirnerschütterung sicherlich. Warum willst du das so genau wissen?“
Lorax öffnete die Augen, ließ seinen müden Kopf aber an der Wand angelehnt. „Ich kann die Visionen nicht festhalten. Wenn ich glaube, ein winziges Fragment meiner Erinnerung zurückzuerhalten, entwischt es mir, wie Sand, der durch die Finger rieselt. Das macht mich fast wahnsinnig.“
„Du solltest etwas mehr Geduld mit dir haben. Immerhin hast du fast acht Wochen durchgeschlafen. Heute ist dein erster Tag auf den Beinen. Wenn deine Erinnerungen zurückkommen, dann sicherlich nicht von einem Tag auf den anderen.“
Lorax seufzte, öffnete die Augen wieder und nickte behäbig in die Landschaft vor ihm. „Vermutlich hast du Recht. Ich werde mich in Geduld üben.“
Tiane erhob sich und musterte ihn kritisch. „Du solltest dich erst einmal darin üben, wieder rein zu gehen. Ich denke, es ist genug für heute.“ Sie streckte ihm ihre Hand hin, die er bereitwillig annahm und sich von ihr auf die Beine ziehen ließ.
Die frische Luft schien ihm etwas Kräfte vermittelt zu haben. Seine Knie hielten das Gewicht wesentlich besser aus und sein Kreislauf blieb annähernd konstant, zumindest bis er sich wieder auf sein Lager sinken ließ. Tiane deckte ihn vorsichtig mit der Felldecke zu und entfernte sich wortlos. Lorax lag noch eine Weile mit offenen Augen da und starrte an die Decke, ohne sie jedoch zu registrieren. Seine Gedanken schweiften ab, bevor er sie fassen konnte. Stark zerfetzte Erinnerungsfragmente schwirrten durch sein Bewusstsein, zusammenhanglos, wirr und mit Lücken, die so groß waren, dass sich ein ganzes Leben darin hätte verbergen können. Dann glitt er unhaltbar in einen Dämmerschlaf und träumte von einem steilwandigen Felsen, von dem er auf eine Schar schreiender Menschen hinunterblickte.
* * *
Dugg hielt schnaufend inne, aber nicht, weil er in einem schnellen Tempo den Hang hinaufgeklettert war, sondern weil ihn das bevorstehende Treffen mehr beschäftigte, als ihm lieb war. Es waren inzwischen einige Wochen vergangen, Wochen, die Dugg und die kleine in Höhlen lebende Gemeinschaft von über fünfhundert Männer, Frauen und Kindern, nahezu friedlich und ohne Störung erlebt hatten. Aus einem nicht erkennbaren Grund, waren sie schon seit über zehn Wochen nicht mehr in ihrem Frieden gestört worden und das machte ihn mehr als stutzig.
Dugg gehörte zu einer kleinen Minderheit, die massiv gegen die Invasion einer schier übermächtigen Immigrantengruppe ankämpfte, die ihnen systematisch Lebensraum und die Obrigkeit über ihren Planeten raubte. Die meisten Urbewohner von Logeyza hatten sich der Übermacht ergeben und sich der beeindruckenden, aus dem Himmel kommenden Zivilisation angeschlossen, damit ihre Ideale aufgegeben und ihre Kultur zerstört. Dugg und seine Anhänger waren nicht bereit, mit einer kalten Welt zu verschmelzen und nur noch eine Nummer auf einer schimmernden Plastikkarte zu sein. Sie wollten noch ihre Kinder und Kindeskinder im Einklang mit der Natur von Logeyza leben wissen und wollten sicherstellen, dass es auch bis in ferne Zukunft die Heimat aller Logeyzaner blieb.
Deswegen beschäftigte ihn das bevorstehende Treffen so, dass er die richtige Atmung beim Aufstieg vergaß und sich bald mit schmerzhaftem Seitenstechen auf einem Stein niederlassen musste. Er fragte sich, warum er nur bis auf den Gipfel des Hügels steigen musste, aber gleichzeitig wusste er die Antwort selbst. Es hätte keinen anderen Platz gegeben, um jenen Mann unterzubringen, der seit über zehn Wochen dort oben in einer Wohnhöhle untergebracht war.
Aus der Ferne hörte er das Hämmern einer Axt und lauschte interessiert. Die Wohnhöhle der Geschwister Tiane und Lorax musste sich in unmittelbarer Nähe befinden. Er nahm noch einige tiefe Atemzüge, dann machte er sich in Richtung des Hämmerns wieder auf den Weg.
Nur wenige Minuten später entdeckte er einen jungen Mann, der kraftvoll und voller Eifer einen Baumstamm mit seiner Axt bearbeitete. Unweit von ihm befand sich eine junge Frau, die die gespaltenen Hölzer an einer Felswand zu einer sauber geschlichteten Mauer stapelte.
Der Mann trug die traditionellen Gewänder der hiesigen Männerwelt, Beinkleider aus feingegerbtem Leder, ein Hemd aus grob gewebtem Linnen und eine Fellweste, die ihn vor dem oft kühlen und scharfen Wind ausreichend schützte. Dazu Stiefelwerk mit festen Sohlen, das ihm beinahe bis zu den Knien reichte. Sein Gesicht und seine Statur jedoch waren weitaus feiner und zartgliedriger geschnitten, als bei den typischen Logeyzaner seines Alters. Dugg wusste auch warum, verschluckte aber augenblicklich jeglichen Gedanken daran.
„Tiane, Lorax!“, rief er laut und machte damit auf sich aufmerksam. Der junge Mann ließ seine Axt sinken und drehte sich langsam herum. Auf seiner Stirn stand der Schweiß in dicken Tropfen. Sein Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Auch Tianes Gesicht, glänzte vor Anstrengung. Sie ließ jedoch sofort ein freudiges Lächeln erkennen, als sie ihren Besucher erkannte. Lorax beäugte den Mann kritisch, als sähe er ihn zum ersten Mal.
„Dugg! Schön, dass du zu uns gefunden hast.“ Sie legte den Stapel Brennholz auf die Mauer, wischte ihre Hände an ihrer Fellweste ab und kam dem Älteren mit ausgestreckten Armen entgegen. „Was gibt es Neues unten im Tal?“
„Das übliche“, entgegnete Dugg, drückte sie kurz an sich und drehte sich dann zu Lorax um. „Ich bin überrascht. Als wir dich hier hoch trugen, warst du nicht viel mehr, als ein Häuflein blutiger Masse.“
„Etwas mehr Anteilnahme hätte meiner Schwester und mir nicht geschadet“, gab Lorax spitz zurück. „Trotzdem danke ich dir, dass ihr nicht euren Empfindungen, sondern eurem Pflichtgefühl gefolgt seid.“
„Keiner von uns hätte ein gebrochenes Herz so ohne weiteres auf sein Gewissen laden können“, gab Dugg zurück und drückte Tiane ein weiteres Mal liebevoll an sich. Er hielt sie etwas von sich, beäugte sie kurz und schien zufrieden zu sein, mit dem, was er erkennen konnte. „Ich bin überrascht, Lorax so tatkräftig zu sehen. Was hast du mit ihm gemacht, Tiane?“
„Nicht viel“, entgegnete sie achselzuckend. „Manchmal schickt der Himmel deutliche Zeichen.“
„Wenn das so ist, hätten wir ihn schon viel früher die Klüften runterwerfen sollen“, bemerkte Dugg, warf Tiane einen verschmitzten Blick zu und widmete sich wieder dem jungen Mann, der seine Axt nun lässig auf die Schulter abgelegt hatte und den Besucher, der ihm so unbekannt vorkam, wie alles in seiner Umgebung, misstrauisch beobachtete. „Ich hoffe, du hast aus deinen Fehlern gelernt, Lorax. Wertvolles Blut wurde deinetwegen vergossen.“
Die dunklen Augen des Jüngeren glitzerten im Sonnenlicht, als er den für ihn Fremden ansah. Seine Stirn furchte sich, sodass zwischen den Brauen eine dicke Falte entstand. Seine Lippen pressten sich auf einander, während er den Mann anstarrte. Dann ließ er die Axt von seiner Schulter rutschen, wirbelte sie in der Fallbewegung herum und trieb sie geradewegs in den nächstbesten Baumstamm.
„Ich bin mir jedes einzelnen Tropfens bewusst“, antwortete er endlich. „Und ich würde das meinige opfern, wenn es das Geschehene ungeschehen machte.“
Dugg schüttelte den Kopf. „Es ist bereits zuviel Blut geflossen. Wenn das Geschehene dazu beiträgt, Frieden zu schaffen, sind gute Leute nicht umsonst gestorben.“
Tiane gesellte sich zu den beiden. “Reden wir nicht mehr darüber. Lorax versucht ein neues Leben zu beginnen. Stellen wir seinem aufrichtigen Vorhaben nicht alte Fehden vor.“ Sie betrachtete den älteren Mann freundlich. „Was führt dich zu uns, Dugg?“
„Heute Abend findet das alljährliche Bundus-Fest statt“, berichtete er. „Ich wollte mich erkundigen, ob du auch kommst ... äh, ob ihr beide kommt.“
Ein Strahlen huschte über Tianes Gesicht, während das von Lorax starr und unverändert blieb. Noch immer begutachteten seine dunklen Augen den Mann argwöhnisch. Hinter seiner Stirn arbeitete es jedoch fieberhaft. Er suchte beinahe verzweifelt nach Erinnerungen an diesen Mann. Seine Suche blieb allerdings erfolglos.
„Es wäre mir ... es wäre uns eine Freude.“ Sie nahm die Hand ihres Bruders und drückte sie kurz. „Aber ich denke, es wäre besser, wenn wir nicht daran teilnehmen.“
„Wir haben zu tun“, fügte Lorax mürrisch hinzu.
„Das Fest findet nach Sonnenuntergang statt. Niemand arbeitet bei Dunkelheit.“
„Wir verfügen über Kerzenlicht“, bemerkte Lorax, machte sich von Tiane frei und griff nach der Axt. „Außerdem gehen wir früh schlafen. Wir haben morgen einen anstrengenden Tag.“ Er zog sie aus dem Stamm und ließ das schwere Gerät zu Boden sinken.
Dugg wandte sich mit einem ernsten Gesicht an Tiane. „Das Bundus wäre eine Gelegenheit für dich, auf andere Gedanken zu kommen. Sämtliche junge Burschen werden anwesend sein.“
„Ich bin nicht daran interessiert – noch nicht. Ich bin noch nicht soweit.“ Sie warf Lorax einen tiefgründigen Blick zu und suchte wieder den von Dugg. „Es ist noch zu früh für mich, Torviks Tod zu verschmerzen. Ich kann dies noch nicht tun. Vielleicht nächstes Jahr.“
„Du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeit hier oben verkriechen. Wenn du heute Abend nicht versuchst, den Verlust zu überwinden, wirst du es nie tun.“
„Ich will...“ Eine Hand auf der ihren ließ sie verstummen.
„Wir werden kommen“, entschied Lorax und suchte den Kontakt zu Tianes Blick. „Durch meine Schuld wurde zuviel zerstört. Wir müssen bewahren, was noch zu retten ist.“
„Nächstes Jahr ist auch noch Gelegenheit dazu.“
„Wenn ich dich heute Abend nicht an eine neue Liebe bringen kann, wirst du als alte Jungfer enden.“
Tiane betrachtete ihn. Dann entspannten sich ihre Züge und ein warmherziges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Wie du meinst, Lorax.“
Dugg schien sichtlich erleichtert und erfreut über die plötzliche Wende. „Hervorragend“, stieß er freudig aus. „Ich denke, dass auch die anderen auf Lorax gespannt sind. Immerhin sah es für ihn vor einigen Wochen nicht besonders gut aus.“
„Meist sind es die Tölpel, die vom Schicksal bevorzugt werden“, sagte Lorax philosophisch und fragte sich beinahe gleichzeitig, ob er früher schon so geistreiche Bemerkungen von sich gegeben hatte.
Dugg betrachtete ihn kurz und ließ dann ein amüsiertes Lächeln erkennen. Er legte eine Hand freundschaftlich auf die Schulter das jüngeren und tätschelte sie kurz. Er hielt kurz die Luft an, als wollte er etwas sagen, sich aber dann eines anderen besann. Dann stieß er die Luft ungenutzt aus, nickte dem Jungen zu und tätschelte abermals kurz dessen Schulter. „Wir sehen uns heute Abend“, sagte er schließlich, nickte Tiane zu, drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
Lorax blieb eine Weile stehen und blickte ihm hinterher. Erst als die leisen Geräusche, das Knacken zerbrochener Äste oder das Zurückstreichen der Äste verstummt war, schwang er die Axt auf die Schulter und drehte sich zu seiner Schwester um. „Wir haben uns wohl noch nie richtig verstanden, was?“ bemerkte er beinahe melancholisch.
Tiane schüttelte den Kopf und senkte den Blick.
„Ist er Torviks Vater?“, wollte er wissen.
Sie räusperte, nahm einige Holzscheite auf und verharrte in ihrer Bewegung. Für einen Augenblick lang betrachtete sie die Last in ihren Armen, jedoch ohne jegliches Interesse daran. „Was geschehen ist, ist geschehen“, begann sie nachdenklich „Auch Dugg ist sich dessen bewusst, dass Torvik wusste, was er tat und die Risiken kannte. Ich hoffe für dich, dass du die entsprechende Erfahrung aus dieser Angelegenheit gezogen hast, welche dich lehrt, in Zukunft umsichtiger und vorausschauender zu sein.“
„Aus deinen Worten entnehme ich Gram, Trauer und Groll. Wenn ich nicht dein Bruder wäre, hättest du mir längst die Augen ausgekratzt. Habe ich Recht?“
Tiane sah hoch und traf geradewegs Lorax Blick. Für einen langen Moment hielten sie aneinander fest. Eine seltsame Spannung entstand zwischen ihnen. Dann trennte sich Tiane von ihm, ehe weitere Emotionen aufkochen konnten. „Unsere Eltern haben uns gelehrt, respektvoll auch gegenüber Solchen zu sein, denen wir eher die Augen auskratzen würden, als ihnen die Hand zu geben. Ich habe viel verloren. Ich muss mich an das klammern, was mir geblieben ist.“
„Auch wenn du es hasst?“
„Glaubst du, ich hätte den nächsten Winter ohne Hilfe überstanden?“
„Du hattest Zeit genug, dir einen neuen Mann zu suchen. Du hättest es nicht nötig gehabt, auf meine vollständige Genesung zu warten. Warum hast du es dennoch getan?“
„Wie ich schon sagte, du bist mein Bruder.“
„Auch wenn wir des gleichen Blutes sind... Ich kann mich zwar an keine einzige Einzelheit meines bisherigen Lebens erinnern, aber ich scheine dir und vielen anderen ständig und dauernd sehr weh getan zu haben. Auch wenn wir des gleichen Blutes sind, Hass kann selbst Brüder trennen und zu Feinden machen.“
„Ich hasse dich nicht“, widersprach Tiane und legte den Stapel Holz auf die aufgeschlichtete hölzerne Mauer. Dann blieb sie davor stehen, den Rücken ihrem Bruder zugewandt, und nahm einen tiefen Atemzug. „Ich bin nur wütend darüber, dass erst ein Unglück geschehen muss, ehe es besser werden konnte.“
„Für den Fall, dass ich wieder nahe dran bin, zu jenem unverbesserlichen Holzkopf zu werden, der ich einmal war, erteile ich dir hiermit die Erlaubnis, mir ordentlich den Hintern zu versohlen.“
Tiane musste unwillkürlich lächeln. Sie nahm einige weitere Scheite auf und trug sie zu dem Stapel. „Vielleicht solltest du dir heute Abend auch eine Frau suchen,“ sagte sie fürsorglich. „Ich werde nicht ewig in der Nähe deines Hintern sein.“
Zum ersten Mal hörte Tiane ihn lachen. Sie drehte sich um und musterte ihn überrascht. Lorax hatte aber bereits wieder begonnen, die Axt kraftvoll in den Baumstamm zu treiben, um Feuerholz für den bevorstehenden Winter zu schlagen. Auf seinem Gesicht stand jedoch noch deutlich die Heiterkeit zu lesen, ein Ausdruck, der sie mehr als sie zu zugeben wollte, beeindruckte. Sie konnte das innere Strahlen förmlich spüren, das durch diesen plötzlichen Ausbruch aus seinem Innersten hervorgetreten war. Ein Strahlen, das sie sofort und gänzlich einnahm. Tiane musste sich gewaltsam von seinem Anblick losreißen, ehe sich in ihrem Körper etwas regen konnte, das sich nicht regen durfte. Sie musste sich immer wieder vorsagen, dass er ihr Bruder war und mehr als geschwisterliche Liebe durfte sie ihm gegenüber nicht empfinden. Sie drehte sich wieder um und sortierte die abgelegten Scheite umständlich. Sie musste ihre Gedanken unbedingt wieder in die richtigen Bahnen lenken, sonst drohte ihr Vorhaben zu scheitern – und dies durfte es auf keinen Fall. Sonst waren sie alle des Todes.
* * *
Als Lorax und Tiane in die große Höhle eintraten, aus der schon von weitem laute Musik, eifrige Stimmen und ausgelassenes Gelächter ertönten, verstummten zahlreiche Stimmen in ihrer unmittelbaren Nähe. Dunst, Rauch und flackerndes Licht verschluckte alles, was weiter als einen Meter von ihnen entfernt war, aber die Gäste, die sich bereits im Inneren der Höhle befanden, konnten die beiden Gestalten, die in die Öffnung traten, sehr gut erkennen. Tiane war als erste eingetreten, kurz stehen geblieben und hatte Lorax an der Hand an ihre Seite gezogen.
„Nur Mut“, flüsterte sie ihm zu. „Es wird keiner wagen, dir den Kopf abzubeißen.“
„Vielleicht wäre das nicht die übelste Idee“, gab er ebenso leise zurück. „Irgendwie scheint es, hat keiner mit unserem Auftauchen gerechnet.“
„Die sind nur überrascht, dass du noch lebst.“
Lorax breitete die Arme aus, zum Zeichen, dass er vollständig genesen war. „Lebendig und zu allen Schandtaten bereit“, sagte er etwas lauter.
„Du versetzt sie noch in Panik“, ermahnte Tiane belustigt und stieß ihn sanft in die Seite. „Lass uns die Höhle des Löwen betreten.“
Bereitwillig ließ sich Lorax tiefer in die Festhöhle ziehen. Er versuchte aus den Gesichtern der anderen Gäste Emotionen, Reaktionen oder Erinnerungsfetzen zu erhaschen. Doch ein Jeder, aus dessen Gesicht er zu lesen gehofft hatte, starrte ihn nur ausdruckslos, erstaunt oder sprachlos an. Kein einziger brachte Empfindungen wie Wut, Trauer, Hass oder Freude auf, Empfindungen aus denen er deuten konnte, dass in ihren Köpfen Gedanken entstanden waren, Gedanken, die ihm, sein Überleben oder seinen Tod galten. Ihm war fast, als freute sich niemand, ihn zu sehen, als freute sich niemand, dass er den Absturz überlebt hatte. Aber genauso schien sich kein einziger darüber zu ärgern, dass er überhaupt auftauchte, wo er doch für den Tod eines angesehenen Mitgliedes verantwortlich war. Ihm war fast, als kannten sie ihn nicht, als sähen sie ihn zum ersten Mal, wie einen Fremden, den sie aber zu akzeptieren hatten.
„War ich oft auf solchen traditionellen Festen zugegen?“, wollte er von Tiane wissen.
„Warum?“, fragte sie zurück.
„Ich weiß nicht. Die Leute hier benehmen sich merkwürdig. Fast so, als sei ich für sie ein Fremder.“
„Vielleicht bist du für sie ein Geist“, flachste Tiane und stupste ihn abermals in die Seite. „Was erwartest du denn?“, fügte sie sofort an, als sie bemerkte, dass Lorax nicht zum Flachsen zumute war. „Du bist auf solchen Festlichkeiten noch nie gern gesehen gewesen. Meist gab es dann irgendeinen Zwischenfall.“
„Was für einen Zwischenfall?“, erkundigte er sich.
Tiane zuckte kurz mit den Schultern. „Prügeleien, oder du pöbelst volltrunken ehrbare Bürger an.“
„Was war ich nur für ein Ekel!“, stieß Lorax verächtlich über sich selbst aus.
Tiane musste ihre Augen anstrengen, um in der Halbdüsternis der Festhöhle sein Gesicht erkennen zu können. Als sie das amüsierte Strahlen seiner Augen bemerkte, verzerrte sich auch ihre Lippen zu einem Lächeln.
„Selbsterkenntnis ist der beste Weg zur Besserung“, bemerkte sie. „Komm! Holen wir uns einen Tee.“ Sie hakte sich bei ihm unter und zerrte ihn in den hinteren Teil der Höhle, wo mittels gespaltenen Baumstämmen, Leintüchern, Ästen, Zweigen und Blüten eine beeindruckende Buffet-Theke aufgebaut war. Sie blieb kurz stehen, um das Werk zu bestaunen. Dann legte sich von hinten eine Hand auf ihre Schultern.
„Schön, dass ihr gekommen seid. Einige von uns hatten schon Wetten abgeschlossen, ob ihr es tatsächlich wagt."
„Ob ich es tatsächlich wage, wolltest du sagen“, verbesserte Lorax wissend. „Wie stehen denn die Wetten? Wer hat gewonnen?“
Dugg sah ihm fest ins Gesicht. „Willst du dich bei ihm bedanken?“
Lorax riss sich etwas betreten von dessen Blick los. „Nein, das nicht. Ich hatte eher den Eindruck, es ist allen egal, ob ich komme oder nicht.“
„Solange du nicht wieder die Theke zerlegst...“ Dugg ließ nicht von ihm los.
„Ich werde mir Mühe geben“, entgegnete Lorax bestimmt, fing den Blick des Älteren ein und erwiderte ihn problemlos.
„Na dann!“, gab Dugg sichtlich erleichtert von sich. „dann wird es hoffentlich ein gelungenes Bundus-Fest. Amüsiert euch gut.“ Damit verabschiedete er sich von den beiden, tätschelte ihnen noch einmal auf die Schulter und verschwand schließlich in der allgemeinen Dunkelheit der Festhöhle.
„Tiane!“, wandte sich Lorax an die junge Frau. „Eine Frage: Was ist ein Bundus-Fest?“
Tiane starrte ihn fassungslos an. Dann räusperte sie sich, als ihr offenbar wieder einfiel, dass sich ihr Bruder an nichts erinnern konnte. „Bundus bedeutet, das Ende eines Jahres. Da wird ein erfolgreiches Jahr, ein einträgliches Jahr, ein glückliches Jahr gefeiert. Da wird gefeiert, dass wir alles zusammen sein können. Ein Fest der Freuden, sozusagen.“
„Ein Dankesfest, wie nach einer guten Ernte oder einem erfolgreichen Abschluss“, resümierte er weiter. „Oder einem grandiosen Sieg.“ Er blickte sich kurz um und überflog die feiernden Gäste, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden. Eine weitere Vision huschte durch ein lückenhaftes Erinnerungsvermögen. Viele Menschen, zusammengepfercht in einen mäßig großen Raum, Musik, der Duft von Alkoholischen Getränken und beißender Rauch in der Luft. „Eine Triumphfeier – eine Feier nach einem Triumph. Ich erinnere mich an etwas, aber das war irgendwie anders.“ Seine Vision zeigte grelle Beleuchtung, Menschen in glitzernden Roben in einem steril und wenig natürlich ausgestatteten Raum. Eine kalte Atmosphäre zwischen den Partygästen, kalt und gefühllos, dennoch heiter und ausgelassen, wie nach einem überragenden Triumph.
„Ich weiß nicht, was ihr Kerle immer getrieben habt“, gab Tiane achselzuckend von sich. „Den einen oder anderen Triumph werdet ihr sicherlich an einem geeigneten Plätzchen in ausreichend Gärbier ertränkt haben. Möchtest du auch einen Tee, oder gehst du gleich zu Härterem über?“ Der Ausdruck in ihrem Gesicht zeugte von genug Hohn und Herausforderung, um als Warnung verstanden zu werden.
„Tee“, entschied er und zeigte sich erleichtert, als sich Tianes Züge entspannten. Als seine Schwester zwischen den anderen Gästen verschwand, blickte er sich nochmals um. Er suchte verzweifelt nach einem Anhaltspunkt, in winziges Indiz, das seine Vision mit der Wirklichkeit verband. Doch die Menschen, die in seiner Vision erschienen waren, besaßen gänzlich andere Gesichter, eine gänzlich andere Art sich zu kleiden und eine gänzlich andere Art miteinander umzugehen. Aus einem nicht erklärbaren Grund fühlte er sich in dieser Vision anheimelnder, als in der Wirklichkeit.
Tiane schenkte zwei Krüge mit Tee ein, fasste kurz in ihre Tasche und brachte ein paar Krümel hervor, die sie sorgfältig in eines der Krüge rieseln ließ. Sie schwenkte den Inhalt der Tees kurz herum, damit sich die pulvrige Substanz schneller auflöste, drehte sich um und wäre beinahe mit jemandem zusammengeprallt. Als sie erschrocken hochsah, musste sie mit all ihren Kräften gegen die in ihre Wangen schießende Röte ankämpfen.
„Lorax!“, stieß sie überrascht aus. „Kommst du keine Sekunde mehr ohne mich aus?“
„Gibt es noch einen anderen Festsaal als diesen?“, wollte er wissen und nahm den Krug entgegen, den Tiane ihm hinhielt.
„Ich wüsste nicht“, gab sie achselzuckend zurück. Mit einer gewissen Erleichterung beobachtete sie, wie Lorax den Teebecher an seine Lippen setzte und die Hälfte des Inhaltes trank.
„Gab es irgendwann einmal einen feierlichen Anlass, den wir in Gesellschaft anderer an einem anderen Ort tätigten?“, erkundigte er sich, während er sich erneut umsah.
„Ich wüsste nicht“, antwortete sie. „Warum fragst du? Hattest du wieder eine Vision?“
„Ich denke schon. Aber irgend etwas stimmt nicht daran.“
„Was denn?“ Sie beobachtete ihn dabei, wie er den Becher gänzlich leerte. Dann sackten ihre Schultern von einer Last befreit herunter. Sie folgte dem suchenden Blick ihres Bruders. „Es ist wie immer. Es fehlt fast niemand. Gut“, fügte sie an, als ihr offenbar gerade eben erst etwas einfiel. „Die Höhle sah vor ein paar Jahren noch anders aus, Oben am Gipfel hatte sich ein Massiv gelöst und war abgegangen. Dabei stürzte ein Teil der Decke herunter, war aber mit viel mühevoller Arbeit wieder restauriert worden. Erinnerst du dich nicht mehr daran?“
Lorax schüttelte den Kopf. Seine Gedanken begannen im Kreis zu schwirren, sich zu vermischen und die wenigen Erinnerungsfetzen und die schwache Vision von einer anderen Partygesellschaft verging in einer leichten Prise wie eine zarte Rauchfahne. Die Bilder von vollkommen anders aussehenden Menschen lösten sich in Nichts auf. Die sterile Umgebung, in der die anderen Menschen standen und lachten, formierte sich allmählich zu den Höhlenwänden, die er real sehen konnte. Die kalte Atmosphäre der anderen Gesellschaft verwandelte sich in jene familiäre Zusammenkunft und in jene heiter, beschwingte Runde, wie er sie hier mehr als deutlich fühlen konnte. Fast hatte er schon den Kräutertee in Verdacht, dass er dafür verantwortlich war, dass sich seine Erinnerungen rasch wieder in Rauch auflösten. Doch kaum hatte sich der wage Verdacht zu einer Gestalt formiert, schob sie Lorax kopfschüttelnd wieder beiseite. Ein Tee konnte kaum der Auslöser für seinen Gedächtnisschwund sein. Vermutlich hatte er bei dem Sturz mehr Verletzungen davon getragen, als man zunächst dachte. Vermutlich würde er niemals wieder seine Erinnerung zurückerlangen. Vermutlich würde er niemals wieder jener Kotzbrocken werden, der er einmal war.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und drehte ihn rüde herum.
„He!“, spuckte ihm ein junger Mann, mit schiefen Zähnen, unfrisiertem Haar und fleckig und schadhaft aussehender Fellweste ins Gesicht. „Du hast wirklich Mut, hier aufzukreuzen, du Mörder.“
Lorax hob die Hände, zum Zeichen, dass er keinen Streit wollte. Tiane wollte etwas entgegnen, doch Lorax hieß sie an zu schweigen. „Warum vergessen wir das Ganze nicht einfach und fangen noch einmal von vorne an?“, versuchte er den Anderen zu besänftigen.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, keifte der Kerl aufgebracht. „Nie im Leben! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir dich zwischen all den Felsen verrecken lassen. Verschwinde! Du hast hier nichts verloren.“
„Das liegt wohl nicht in deiner Entscheidung.“
„Und ob.“ Der wütende Kerl, der nicht viel älter als Lorax zu sein schien, aber aufgrund schwerer Arbeit und harten Wetterbedingungen ein wesentlich verwitterteres Gesicht besaß, drehte sich schnell um, riss einen dicken Ast aus der Dekoration der Theke und ging damit auf Lorax los. Dieser wich erst zurück, duckte sich unter den Schlägen hinweg, doch als der Andere sich mit sprunghaft gesteigerter Wut und einem schrillen Urschrei auf ihn stürzte, machte Lorax einen kleinen Schritt seitlich, sodass er dem Angreifer nur noch die schmale Seite präsentierte, streckte sein Bein aus und trat dem Heranstürmenden kraftvoll die primitive Waffe aus den Händen. Dann wirbelte er herum, versetzte ihm einen Hieb mit dem Ellbogen ins Genick, was seinen Gegner vornüber kippen ließ. Bevor dieser jedoch mit dem Kinn auf dem Boden aufkommen konnte, war Lorax blitzschnell in die andere Richtung herumgefahren und schlug ihm das Knie ins Gesicht, sodass dieser zurückkatapultiert wurde und geradewegs auf der Theke landete. Benommen sank dieser schließlich am Rand entlang zu Boden und blieb bewegungsunfähig liegen.
Schweigen hüllte das Geschehen ein. Wie augenblicklich zu Stein erstarrt, standen die Umstehenden um Lorax und dem Bewusstlosen herum, in ihrer letzten Bewegung eingefroren, mit offenen Mündern, der letzte Wort noch auf den Lippen, den letzten Schluck noch im Gaumen, die Augen vor Entsetzen geweitet, bot das entstandene Bild geradewegs eine Vorlage für ein Gemälde.
Entsetzt über seine Tat ließ Lorax den Teebecher fallen. Das Scheppern riss einige der Umstehenden aus ihrer Lethargie und sie schnappten empört nach Luft. Dugg bahnte sich einen Weg zwischen die noch immer bewegungslosen Statuen und baute sich mit einem Kopfschütteln neben Lorax auf.
„Sagtest du nicht, du lässt die Theke diesmal in Ruhe?“, bemerkte er mit einem leichten Anflug von Hohn.
Lorax zuckte unschuldig mit den Achseln. „Sie steht doch noch. Oder?“
Als hätte die Theke nur auf dieses Stichwort gewartet, brach sie schließlich in sich zusammen und begrub den besiegten Logeyzaner mit den Köstlichkeiten aus den Küchen fleißiger Köche und Bäcker, die eigentlich für das Bundus-Fest gedacht waren.
„Ich denke, ich gehe besser“, sagte Lorax und blickte sich verlegen und nach Vergebung haschend um.
Ein schriller Pfiff vom Eingang her, ließ sämtliche Köpfe herumfahren. Nur Augenblicke später trennten sich Männer mit einem Kuss von ihren Frauen und rannten in Richtung des Pfiffes. Andere drückten ihren Nachbarinnen kurzerhand ihre Becher in die Hand und eilten hinterher. Die übriggebliebenen, meist Frauen und Kinder begaben sich schnellen Schrittes in die entgegen gesetzte Richtung, in der sich, wie Lorax erst jetzt sehen konnte, ein weiterer Eingang befand, tiefer in den Berg hinein. Die plötzlich aufgekommene Aufbruchstimmung zerstörte jeglichen Gedanken an Feiern. Lorax drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, wusste nicht Recht, was geschah.
„Komm schon!“, rief Tiane und zerrte ihn mit sich, in den hinteren Teil der Höhle.
„Was ist auf einmal los?“, wollte Lorax wissen und ließ sich erst willig mitziehen.
„Ein Sturm zieht rasch näher. Komm! Wir müssen uns in Sicherheit bringen.“
„Was machen die Männer da draußen?“ Er zeigte zum Höhlenausgang, wo die Nacht jegliche Bewegung in tiefe Schwärze hüllte.
„Sie versuchen, die Befestigungen aufzustellen, um möglichst viel zu retten.“
Lorax hielt an und machte sich von ihrem Griff frei. „Dann sollte ich vielleicht helfen. Die können sicherlich jede Hand gebrauchen.“
„Nein, solltest du nicht“, widersprach Tiane entschlossen.
„Warum nicht?“
„Weil dich niemand da draußen haben will, Junge“, antwortete ein vorbei eilender Mann, klopfte ihm auf den Rücken, winkte Tiane zu und verschwand ebenfalls im schwarzen Schlund des Ausganges.
Lorax sah ihm verwirrt hinterher.
„Warum will mich da draußen niemand haben? Wenn Gefahr droht, oder ich helfen kann, ist es doch egal, was ich getan habe oder was ich bin?“ Er suchte Tianes Blick und sah sie fordernd an.
„Ich erkläre es dir später. Komm jetzt!“
„Nein, jetzt.“ Lorax verschränkte die Arme vor der Brust und setzte eine trotzige Miene auf.
„Wenn du mitkommst, sage ich es dir. Aber ich habe keine Lust, dich wieder unter Trümmern auszugraben.“ Sie deutete auf die Decke der Höhle. „Hier ist es seit dem Abgang des Massives nicht mehr unbedingt sicher. Die Stürme in dieser Jahreszeit können sehr heftig werden. Also wenn du nicht willst, dass dir wieder Felsbrocken auf den Kopf fallen, dann komm endlich mit.“
Lorax schnaufte leicht säuerlich, ließ sich aber willig mitziehen.
Eine Unzahl von jammernden Frauen und heulenden Kindern hatte sich bereits in der fast stockdunklen Höhle versammelt. Wie eingeschüchterte Tiere kauerten sie sich aneinander, murmelten leise vor sich hin, oder ließen ihre Angst mit bedauernswertem Wehklagen laut werden.
Gleich nachdem Tiane ihren Bruder in eine Lücke nahe dem Eingang gezerrt hatte und sich an der Wand entlang niederließ, stieß er sie an.
„Was ist nun?“, forderte er so leise, dass es gerade noch Tiane hören konnte. „Warum will mich da niemand haben?“
„Weil meistens etwas passiert ist, wenn du deine Finger im Spiel hattest“, erklärte sie kaum wahrnehmbaren Flüsterton. „Die Schutzmaßnahmen gingen flotter und erfolgreicher vonstatten, wenn du nicht dabei warst. Es machte dir aber nie was aus, obwohl du immer großartig getönt hast, dich wie ein Feigling bei greinenden Kindern verstecken zu müssen.“
„Jetzt macht es mir was aus“, gestand er. „Wenn ich dabei helfen kann, dass die Kinder nicht mehr weinen, will ich das Meine tun.“
„Lass es sein – für dieses Mal. Ich bitte dich.“
Lorax sah sie scharf an. Es war sehr dunkel und er konnte ihr Gesicht nur schemenhaft sehen, doch er bemerkte die Besorgnis darin und ihre Angst davor, dass sich Vergangenes wiederholen konnte. Daher nickte er.
„Das nächste Mal werde ich mich nicht zurückhalten lassen“, sagte er bestimmt. „Das nächste Mal werde ich meinen Anteil beisteuern. Den Lorax, den es vor dem Unglück gegeben hat, gibt es nicht mehr.“
Ihre Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. Er spürte förmlich die Erleichterung in ihr. Einem Impuls folgend, zog er sie an sich und drückte sie an ihre Brust.
„Gemeinsam können wir einen anderen Lorax entstehen lassen – einer, der dir nicht ständig das Herz bricht und wegen dem du dir keine Sorgen mehr zu machen brauchst.“ Er fühlte ihr Zittern an seiner Brust und legte seine Arme liebevoll um sie. Der Drang, sie zu beschützen und ihre Ängste zu nehmen, war stärker, als die unzähligen Fragen, die noch in seinem Kopf schwirrten. Er verdrängte sie krampfhaft. Er sollte froh sein, noch am Leben zu sein und nicht ständig nach seinem Leben vor dem Unfall forschen. Er sollte endlich lernen, die Gegenwart als solches anzunehmen und keine Querverbindungen zu seinem vorherigen Leben zu erstellen. Er sollte endlich anfangen, ein anderer Mensch zu werden, jemand, auf den man stolz sein konnte und der ein vollwertiges und anerkanntes Mitglied dieser Gemeinschaft war. Doch auch mit diesem Entschluss, keimten neue Fragen auf. Die Gemeinschaft – was war sie? Wie viele Personen umfasste sie? Welche Rolle spielte sie auf diesem Planeten? Wie hieß der Planet, auf dem er sich derzeit befand? Warum dachte er überhaupt darüber nach, dass er sich auf einem Planeten befand? Woher war er sich sicher, dass es auch andere Planeten gab?
Lorax versuchte, diese Gedanken von sich zu schütteln. Vermutlich waren es genau diese Gedanken, die ihn zu einem auffälligen Außenseiter hatten werden lassen. Er musste endlich lernen, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, anstatt immer wieder in der Vergangenheit zu forschen.
Er schloss die Augen und lehnte seinen Kopf auf den von Tiane. Er mochte ihren Körper. Er mochte es, wenn sie ihn berührte. Er mochte es, wenn ihre Stimme wie Balsam in seinen Ohren säuselte. In ihm begann es zu prickeln, wenn sie ihn berührte. Seine sämtlichen Nervenstränge spannten sich an, wenn sie ihn mit ihren leuchtenden blauen Augen ansah. Er glaubte ein jedes Mal, in ihnen zu versinken, wie in einem tiefen Meer; und hatte sich schon einige Male dabei ertappt, wie er wie ein Fisch nach Luft schnappte. Wenn ihr Haar wie zufällig seine blanke Haut streifte, glaubte er von tausend Blitzen durchzuckten zu werden. Wenn ihr Duft seine Nase streifte, konnte er nicht anders, als einen tiefen Atemzug dieser köstlichen Prise zu nehmen. Dabei wusste er stets, dass er solche Gefühle nicht haben durfte. Sie war seine Schwester und er durfte keine Sehnsucht nach körperlichen Liebe mit ihr aufkommen lassen.
Ein Krachen ertönte von draußen und zerstreute seine Gedanken. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Einige der Schutzsuchenden schrieen leise auf, begannen lauter zu jammern oder kauerten sich enger zusammen. Kinder kreischten, heulten und krallten sich voller Angst an ihren Müttern fest. Irgendwo begann sogar jemand zu beten.
Lorax drückte Tiane fester an sich, als das Krachen stetig zunahm. Ihm kam der Lärm vor, als schleuderte der heftige Wind gewaltige Felsbrocken auf den Hügel, in dessen Inneren sie sich befanden. Dann und wann rieselte auch Staub, Kiesel und kleineres Gestein hernieder, was zur Folge hatte, dass das Jammern und Wehklagen etwas lauter wurde.
„Denkst du nicht, es wäre besser, ich würde nach draußen gehen und helfen?“, flüsterte er nahe an ihrem Ohr.
„Dafür ist es jetzt zu spät“, gab sie ebenso leise zurück. „Der Wind würde dich wegblasen, noch ehe du hinaustreten könntest.“
„Mein Gefühl sagt mir, dass ich nicht der Typ bin, der sich vor Verantwortung und Pflichten scheut“, raunte er leise in Tianes Ohr, als eine Frau, die fast auf Tuchfüllung neben ihnen saß, hochsah und ihn durch das Fastdunkel starr anblickte. „Ich kann nicht glaube, dass ich mich wirklich hier drinnen verkrochen habe, während alle anderen Männer draußen um ihr Leben und um ihr Hab und Gut kämpfen. Es juckt mich gewaltig, ebenfalls nach draußen zu rennen und irgend etwas festzuhalten.“
„Ich bezweifle, dass irgend etwas da sein wird, woran du dich festhalten kannst.“
Lorax schwieg einige Augenblicke lang. Dann war von ihm nur noch ein schwach wahrnehmbares Einatmen zu hören.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass das alles wahr sein soll“, sagte er nach einer kurzen schweigsamen Pause leise. Lautes Krachen ließ ihn zusammenzucken. „Mein Gefühl sagt mir, dass das nicht stimmt. Es sagt mir, dass ich anderes gewohnt bin. Woher stammen die Visionen? Woher kann ich derartiges, wie vorhin in der Festhöhle? Wer hat mir das beigebracht?“ Er lehnte seinen Kopf gegen die kalte Wand und starrte in die Dunkelheit. „Irgend etwas stimmt nicht.“
„Ich kenne auch nicht jede Sekunde deines vorherigen Lebens“, gestand Tiane. „Du hast dich oft tagelang, sogar Wochenlang irgendwo herumgetrieben, ohne dass ich oder jemand anderes wusste, wo du dich aufhältst. Du hast dich in der letzten Zeit sehr verändert, sodass ich dich kaum wiedererkannte. Ich weiß nicht warum. Wenn ich dich darauf ansprach, hast du sehr verstimmt reagiert.“
„Gibt es hier noch andere Völker als unseres?“, wollte er wissen.
„Die Ghomen in den Polarmeeren, Lyracs in den Hochebenen der Tanktren-Gebirgsketten und die Chilicis in den Savannen“, zählte Tiane auf.
„Lebt eine dieser Völker in der Nähe? Und besitzt sie eine andere Technologie als die unsere?“
„Die Tanktren-Völker sind uns am nächsten. Aber was meinst du mit Technologie?“
„Leben sie in Häusern, in einer sterilen Umgebung?“
„Keine Ahnung. Ich war noch nie dort.“
Lorax bemerkte, wie Tiane sich versteifte. Offenbar wusste sie mehr, als sie sagen wollte. Vielleicht, weil sie nicht wollte, dass er wieder in sein altes Leben zurückfand. Vielleicht verheimlichte sie ihm etwas, aus Angst, er könnte die Wahrheit erfahren – eine Wahrheit, die der Schlüssel für seine Veränderung war.
Er seufzte und musste abermals zusammenzucken, als ein lautes Krachen über ihren Köpfen ertönte. Staub, Sand, Kiesel und Gesteinsbrocken regneten auf ihn nieder und Wand und Boden bebten. Neben ihm begann eine Frau erbärmlich zu weinen. Er widerstand der Versuchung, tröstend seine Hand auf ihre Schulter zu legen.
„Sind die Stürme nur hier bei uns?“, erkundigte er sich leise.
„Nein, auf ganz Logeyzan.“
„Und wie lange halten sie für gewöhnlich an?“
„Das ist ganz verschieden. Von ein paar Minuten bis mehrere Stunden.“
„Kann man das nicht vorhersagen?“
„Wie meinst du das?“ Sie machte sich von ihm frei und fixierte ihn in der Dunkelheit.
„Wann und wo sie beginnen? Wie lange sie andauern und in welcher Intensität?“
„Das wissen nicht einmal die Naturfühler.“
„Was sind die Naturfühler?“
„Wo bist du eigentlich gewesen, Junge?“, fragte eine weibliche Stimme unweit von ihnen. „Vor ein paar Minuten erst aus einem Kokon geschlüpft?“
„So etwas ähnliches“, gab er halblaut zurück. „Ich bin die Klüften runtergestürzt, bekam etwas auf den Kopf und kann mich seitdem an nichts mehr erinnern.“
„Es wäre besser gewesen, du wärst dabei drauf gegangen“, sagte die Frau.
„Wir werden alle sterben“, kam es von weiter hinten aus der Dunkelheit. Einige nahmen dies zum Anlass, weitere Stoßgebete auszusenden, lauter zu jammern, oder endlich in das Geheul des Nachbarn mit einzufallen.
„Und erst Recht, wenn ein Mörder unter uns weilt“, stieß eine wütende, eindeutig männliche Stimme aus. „Wo bist du, du blutrünstiges Monster.“
Lorax hatte sich versteift, als er die Stimme wieder erkannte. Es war der junge Kerl von vorhin, der ihn bereits schon einmal angegriffen hatte. Er wollte sich nicht mit ihm schlagen. Er wollte nicht, dass es zu einer weiteren Katastrophe kam, daher verhielt er sich still.
„Beruhige dich, Janos“, rief eine weibliche Stimme aus dem Dunkel. „Das muss nicht jetzt ausdiskutiert werden.“
„Es könnte keine bessere Gelegenheit geben“, zischte der Kerl. „Jetzt kann er nicht mehr davonlaufen, und niemand wird ihn noch beschützen können.“
„Janos! Nicht hier und nicht jetzt.“
„Du hast nichts zu bestimmen. Deine Familie lebt noch. Aber ich musste meinen Vater und all meine Brüder in den Klüften lassen. Ich bringe ihn um, diesen Mistkerl, und wenn es das letzte ist, wozu ich noch imstande bin.“
Lorax suchte den Blick von Tiane, doch in der Dunkelheit konnte er nur schemenhaft ihre Umrisse sehen. Entsetzt über diese Neuerkenntnis, musste er gegen einen gewaltigen Adrenalinschub ankämpfen. Er spürte, wie die Röte in sein Gesicht schoss, wie das Blut schneller durch seine Adern raste und wie sein eigener Pulsschlag ohrenbetäubend laut in seinen Ohren rauschte.
„Wo bist du, du Mörder?“ Einige Leute protestierten laut, als sich dieser Janos offensichtlich einen Weg durch die Menge bahnte – auf der verzweifelten Suche nach Lorax, das Ziel seiner Rache. Ein paar wollten ihn aufhalten, doch Janos riss sich los und hartnäckig weiter. „Wo bist du? Zeig dich, du Feigling.“
Tiane erhob sich, gerade rechtzeitig und stellte sich dem wütenden Mann in den Weg.
„Janos! Das können wir besprechen, wenn der Sturm vorbei ist.“
„Solange will ich nicht mehr warten müssen. Du hast ihn lange genug gehütet und verhätschelt wie ein Kleinkind. Jetzt muss er endlich für seine Taten gerade stehen.“
„Sei vernünftig, Janos. Das bringt doch jetzt nichts.“
„Und ob.“ Er schob Tiane zur Seite. Sie fiel auf einige andere Passanten.
Lorax war aufgesprungen und hatte sich zur Seite geworfen. Er fiel zwischen zwei Leute, die erschrocken und protestierend aufschrieen und damit seinen Fluchtweg verrieten. Er wollte sich um keinen Preis mit dem Jungen schlagen. Er wollte nicht schon wieder die Kontrolle über seine Reaktionen verlieren und Janos womöglich sogar noch töten.
„Du Feigling, bleib hier!“, schrie Janos und setzte zur Verfolgung an.
Lorax sprang sofort wieder auf die Beine, rutschte auf dem sandigen Boden aus, fiel wieder hin, rappelte sich schnell wieder hoch, stieß dabei weitere Passanten um, stolperte über etwas, das sich eng zusammengekauert hatte und aufschrie, als er dagegen stieß und fiel abermals der Länge nach hin. Als er sich wieder aufrappeln wollte, wurde er niedergestoßen. Ein harter Gegenstand, wie von einem gebeugten Knie, bohrte sich dabei schmerzhaft in seinen Rücken. Er verkniff sich einen Laut, versuchte, sich zur Seite zu rollen und den Ballast abzuwerfen. Doch die Last auf seinem Rücken hatte längst seinen Nacken erreicht. Starke Arme legten sich um seinen Hals und versuchten, den Kopf in eine unnatürliche Lage zu drehen. Lorax machte die Drehung notgedrungen mit, wenn er sein Genick nicht unbedingt brechen lassen wollte. Dabei rempelten die Beiden weitere Schutzsuchenden um, die in der Nebenhöhle dicht gedrängt zusammengekauert saßen. Proteste und Schreie wurden laut, doch Janos ließ von seinem Opfer nicht ab. Er drückte seinen Arm fest auf Lorax Kehlkopf und riss und zerrte an dessen Kopf, als wollte er ihn abreißen. Lorax versuchte, ihn abzuschütteln, krallte seine Finger in das Fleisch des Armes, der ihm allmählich die Luft raubte, versuchte, auf seine Beine zu kommen, doch aufgrund der vielen Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten, gelang ihm das nicht. Die beiden Kämpfenden fielen immer wieder zwischen die Leiber. Kinder schrieen vor Schreck und Panik auf. Frauen und alte Männer protestierten lautstark, doch keinem wollte es gelingen, die beiden auseinander zu zerren.
Lorax kämpfte verzweifelt mit seiner Fassung. Janos hatte es geschafft, seinen Unterarmknochen auf seinem Kehlkopf zu platzieren, sodass er ihm allmählich immer mehr die Luft abdrückte und den Kehlkopf zu zerquetschen drohte. Stechende Schmerzen aus seinem Hals und seiner Lunge bestätigten dies. Er warf sich immer wieder herum, prallte dabei auf Leiber, die entsetzt zurückwichen, drehte und wendete sich, schlug mit Armen und Beinen nach hinten aus oder versuchte, den Arm um seinen Hals wegzuzerren. Er ließ sich zu Boden fallen, versuchte dabei auf dem Rücken aufzukommen, doch der hartnäckige Gegner auf seinem Rücken und die vielen Leute in der Höhle ließen sein Unterfangen jedes Mal zu einer Niederlage werden. Er bemühte sich, seinen Ellbogen in die Seite seines Gegners zu schmettern, doch der Kerl war zu zappelig und zu windig, um sich treffen zu lassen. Lorax warf sich rücklings in die Menge, wälzte sich über Leiber und Gegenstände, doch den Ballast auf seinem Rücken wurde er einfach nicht los.
Da warf er sich ein weiteres Mal zurück, rollte sich wie zu einer Rückwärtsrolle seitlich über seine Schulter ab, sodass er halb hinter seinem Peiniger aufkam. Wenn Janos seinen Griff nicht aufgeben wollte, war er gezwungen, der Bewegung annähernd zu folgen. Lorax bezweifelte aber, dass der Andere das körperliche Geschick dazu besaß und wurde belohnt, als sich die Klammer um seinen Hals etwas lockerte. Er riss den Arm von sich, fuhr herum, noch während er den Arm festhielt und nach unten drückte und konnte sich gerade noch zurückhalten, ihn mit einem Ruck über seiner rechten Schulter zu brechen. Es hätte nicht viel gefehlt, dass Lorax mit einer geschickten Bewegung das Kugelgelenk des Ellbogens in tausend Splitter zerbrochen hätte, sodass Janos seinen Arm niemals wieder hätte benutzen können. Aber er tat es nicht. Er wollte ihn nicht verletzen. Er wollte nicht wieder der Urheber für ein Unglück sein. Daher beließ er es dabei, Janos einfach ruckartig an sich zu ziehen, seinen Hinterkopf nach hinten schnalzen zu lassen und seinem Gegner einen heftigen Hieb auf die Nase zu verpassen. Dann erst gönnte er sich einen tiefen Atemzug, um seine schmerzende Lunge zu beruhigen. Er japste für einen Moment gierig nach Luft, doch dann erkämpfte er sich mühevoll seine Fassung und unterdrückte auch einen Hustenanfall.
Janos taumelte indessen zurück, stolperte über einen zusammengekauerten Leib und fiel rücklings über das Hindernis. Dabei riss er Lorax mit sich, an den er sich verzweifelt festgekrallt hatte. Beide Männer plumpsten ungeschickt zwischen weitere Passanten, die erschreckt aufkreischten und die Kämpfenden von sich stießen. Lorax versuchte, sich von Janos freizumachen, doch dieser war noch Verstandes genug gewesen, sich an ihn zu klammern. In der Dunkelheit hätten sich die beiden sehr leicht wieder verloren und aneinander vorbeischleichen können, ohne den jeweils anderen zu bemerken.
„Du entkommst mir nicht, du Feigling“, zischte Janos nahe an seinem Ohr. „Wenn ich mit dir fertig bin, werden dir auch alle Heiler dieser Welt nicht mehr helfen können.“
„Ich will mich nicht mit dir schlagen... Janos“, fügte er sogleich hinzu, als ihm der Name des Jungen wieder einfiel, der ihn so attackierte.
„Jetzt oder nie“, keifte Janos, hatte sich inzwischen wieder auf die Beine gerappelt und wollte sich ein weiteres Mal auf sein Opfer stürzen. Doch diesmal glitt er ihm aus den Händen und flutschte zwischen seinen Armen davon wie ein mit Öl eingeriebener Fisch. Seine Hände griffen ins Leere und suchten die Dunkelheit rings um ihn vergeblich ab. Als er schon zu einem wütenden Ruf ansetzen wollte, traf eine harte Faust geradewegs seinen linken Wangenknochen. Gleich darauf musste er einen Hieb gegen die Rippen einstecken und nur einen holprigen Herzschlag später, sank er von einem kräftigen Schlag auf den Hinterkopf getroffen und mit einem weithin hörbarem Grunzen zu Boden.
„Ich will mich nicht mit dir schlagen, Janos“, wiederholte Lorax eindringlicher. „Da draußen versuchen gute Männer das Leben ihrer Familien zu retten und wir prügeln uns hier um sinnlose Rachegelüste.“
„Hört auf damit“, hörte er Tiane streng sagen. „Sonst kommt noch jemand Unbeteiligter zu Schaden.“
„Feiges Memmengeschwätz“, zischte Janos und setzte zu einem Sprung an.
Lorax Nackenhaare sträubten sich. Sein Instinkt erkannte dies als Alarmzeichen. Er machte einen Schritt zur Seite, streckte seinen Fuß aus und traf geradewegs Janos am Kopf. Dieser prallte hart gegen das Hindernis, gab einen weiteren grunzenden Laut von sich und drohte entgegen seines Schwunges hintenüber zu kippen. Er ruderte verzweifelt mit den Händen, auf der sinnlosen Suche nach Halt. Da traf ihn ein zielsicherer Fuß in der Magengegend und ließ ihn zusammenklappen wie ein Klappmesser. Der Fuß schnellte aber sogleich wieder hoch, traf sein Kinn und katapultierte ihn wieder zurück in die Ausgangsposition, aus der sich Janos nicht wieder fangen konnte und ein weiteres Mal unkontrolliert zwischen die Schutzsuchenden fiel.
„Hört auf!“, rief Tiane. „Hört endlich auf damit. Das bringt doch nichts.“
Lorax hörte, wie sie sich einen Weg durch die Menge bahnte. Hin und wieder murrten einige protestierend auf, beschimpften die junge Frau oder jaulten lauter und stärker in ihrem seit langen Minuten andauerndem Wehklagen auf. Er hörte auch sein Blut laut in seinen Ohren rauschen. Er war aufgeregt. Er war überrumpelt worden. Er war vom Adrenalinrausch unvorsichtig geworden. Er war unkonzentriert. Alles Aspekte, die er eigentlich unter Kontrolle besitzen sollte. Er sollte stets die Ruhe selbst sein. Er sollte stets sämtliche Aspekte und Möglichkeiten im Voraus abschätzen und die Schritte und Taten seines Gegners vorausahnen. Und er sollte sich nicht von einem Bauernburschen in die Enge treiben lassen.
Er fragte sich, wie er solche Überlegungen anstellen konnte, wenn er doch auch nicht mehr war als ein Bauernbursch. Vielleicht hatte er in der Zeit vor seinem Unglück etwas getan, was ihn von seinem bisherigen Leben distanzierte. Vielleicht war er zu etwas anderem geworden, etwas, was seine Schwester Tiane mit skeptischen Augen und voller Trauer beobachtet hatte.
Tiane hatte inzwischen Janos erreicht und versuchte ihn daran zu hindern, sich erneut auf Lorax zu stürzen.
„Lass es, Janos“, herrschte sie ihn ungewöhnlich forsch an. „Lorax weiß, was er getan hat und er wünscht sich mehr als alles andere, dies rückgängig machen zu können.“
„Du hast mir nicht gesagt, dass dabei noch andere ums Leben gekommen sind“, warf Lorax seiner Schwester beinahe gekränkt vor.
„Du hast siebenundfünfzig gute Männer und Frauen auf dem Gewissen, elender Mörder“, keifte Janos voller Hass. „Fast ein jeder hier hat durch dich ein Familienmitglied verloren. Sag jetzt nur nicht, dass du nicht mehr weist, dass das halbe Dorf zusammengelaufen ist, um dich dazu zu bewegen, aus den Klüften herauszukommen. Jeder weiß, dass sie brüchig sind, doch die Großschnauze Lorax schert sich einen Dreck drum.“
„Siebenundfünfzig?“ Lorax machte vor Entsetzen einen Schritt rückwärts, stieß dabei über jemand am Boden Sitzenden, stolperte und landete unsanft auf seinem Hosenboden. Das Jemand war ein Kind, das nun kläglich zu weinen begann.
Jetzt wusste Lorax auch den Grund, warum ihn die Festgemeinschaft mit so teilnahmslosen Augen anblickte. Sie hatten versucht, ihn zu ignorieren, um ihre Trauer, Verzweiflung, Wut und ihre Rache unter Kontrolle zu halten. Hätten sie ihn als solches akzeptiert, wäre es sicherlich keine zwei Schritte in die Höhle gelangt, geschweige denn hätte sich von Lorax anpöbeln und schlagen lassen müssen.
Er sprang auf seine Beine, wirbelte herum, rutschte auf dem kiesigen Boden aus, rappelte sich wieder hoch und rannte in die Festhöhle, wo er geradewegs auf Dugg prallte.
„Heda!“, rief dieser überrascht und atemlos. Der Sturm hatte sein ergrautes Haar ordentlich zerzaust und ihm Schmutz und Dreck entgegen geschleudert. An der Stirn schien ihn etwas getroffen zu haben. Eine kleine, nicht mehr blutende Wunde war nachlässig abgewischt worden. Er hielt Lorax fest, als sich dieser an ihm vorbeischieben und davoneilen wollte. Lorax wehrte sich nur leidlich und gab sich rasch geschlagen, sodass er nun wie ein Häufchen Elend vor den Männern stand, die von ihrer Rettungsaktion zurückgekehrt waren. „Was ist denn los?“ Er sah an Lorax vorbei und bemerkte Janos und Tiane, die hinter Lorax her geeilt waren. Dann blickte er abwechselnd zwischen den beiden jungen Männern hin und her. „Jetzt ist nicht die Zeit für alte Fehden“, bestimmte er. „Der Sturm hat sich gelegt. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und das Bundus-Fest weiterfeiern.“ Er breitete die Arme aus.
„Nicht, wenn Mörder unter uns sind“, fauchte Janos.
Dugg ließ die Arme wieder sinken und starrte ihn mit festem Blick an. Dann stieß er eine Lunge voll verbrauchter Atemluft aus und ließ die Schultern herabsacken. „Hatten wir nicht ausgemacht, dass dieses Thema nicht zur Sprache gebracht wird?“, sagte er vorwurfsvoll. „Zumindest heute Abend nicht? Wir wollen den Bundus feiern, und Lorax hat als Mitglied unserer Gemeinschaft das Recht daran teilzuhaben, was auch immer er getan hat.“
„Er ist der Mörder meiner Brüder und meines Vaters“, ereiferte sich Janos voller blendendem Hass. Die blutende Nase, ebenso das Blutrinnsal, das aus seinem Mundwinkel quoll und die stark gerötete und geschwollene Wange schien ihn in keinster Weise zu stören. Lorax hingegen hatte nicht einmal einen Kratzer davongetragen. „Er hat so ziemlich jedem ein Familienmitglied genommen, sogar dir und sogar sich selbst. Ich bin nicht bereit, einen Solchen in meiner Nähe zu dulden.“
„Wohin soll er denn gehen, wenn nicht zu seiner Gemeinschaft? Wohin soll er sich denn wenden, wenn nicht zu jenen Menschen, die ihn aufgezogen und geliebt haben? Mit wem soll er denn sprechen, wenn nicht mit jenen Freunden und Bekannten, die ihn sonst mit offenen Armen empfangen hatten?“
„Komm mir jetzt nicht mit Naturfühler-Sprüchen“, zischte Janos wütend und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Niemand hat ihm gesagt, dass er in die Klüften gehen soll. Er hätte es eigentlich besser wissen sollen. Er hätte wissen sollen, dass die Klüften abgehen können.“
„Und wir hätten es auch besser wissen sollen“, setzte Dugg dagegen. „Wir hätten nicht am Fuß der Klüften stehen dürfen. Wir wussten auch, dass der ganze Berg brüchig ist. Wenn wir nur etwas vorausschauender gehandelt hätten, hätten wir uns nicht am Fuß der Klüften versammelt.“ Er bedachte Janos mit einem vorwurfsvollem Blick. „Aus diesem Grund tragen wir alle einen Teil dieser Schuld. Jeder der dabei den Tod gefunden hat, weiß das. Du solltest das auch akzeptieren.“
Janos schüttelte langsam den Kopf. „Nie und nimmer.“ Dann schob er sich an Dugg und Lorax vorbei, nicht ohne den ohnehin schon ziemlich betreten dreinblickenden jungen Mann mit der Schulter anzurempeln. Lorax ließ das über sich ergehen. Er hatte den Blick zu Boden gesenkt und schien es nicht mehr zu wagen, aufzusehen.
Tiane legte die Hand auf seinen Arm, doch er schüttelte sie ab.
„Warum hast du mir das nicht gesagt?“, fragte er leise.
„Als wir das Thema hatten, bist du nicht in der Verfassung gewesen, die ganze Wahrheit zu ertragen“, erklärte sie beschämt.
„Und später?“
„Ich...“, begann sie zögerlich. „Ich konnte es nicht. Ich wollte nicht, dass du dich von Schuldgefühlen geplagt, ins Unglück stürzt.“
„Denkst du nun, so ist es besser?“, warf er ihr scharf vor. Er hob seinen Kopf und fixierte sie mit stechenden, dunklen Augen. Fast so als wolle er sie mit seinem Blick erdolchen. „Denkst du, es ist besser, wenn mir das andere vor die Füße werfen und mich damit kompromittieren? Denkst du, das kann ich besser verkraften?“
„Nein... Ich ....“ Sie seufzte laut.
„Welches Familienmitglied war das, das ich mir genommen habe?“, wollte er mit deutlich nachdrücklichem Klang in seiner Stimme von ihr wissen.
„Ich denke, es ist genug für heute“, sagte sie schnell und wollte sich abwenden. Doch Loraxs Hand schnellte hervor, hielt sie am Arm fest und riss sie zu sich zurück.
„Wer?“ Die Härte seines Willens hatte sich deutlich in seinem Gesicht festgesetzt. Es sprach mehr als unmissverständlich aus, dass sie ihm seine Frage zu beantworten hatte. Seine dunklen Augen glitzerten vor Erregung. Seine Lippen hatten sich zu einem schmalen Spalt zusammengepresst. Eine kleine Zornesfalte zwischen seinen Augenbrauen erschien und bäumte sich widerspenstig auf.
„Wer?“, wiederholte er lauter, eindringlicher und herrischer und zerrte sie näher an sich heran.
„Lass sie in Ruhe, Lorax“, befahl Dugg ebenso energisch. „Ich hatte sie angewiesen, es dir nicht zu sagen, wie sehr du auch darauf pochst.“
Lorax drehte den Kopf und fixierte den älteren Mann mit festem Blick.
„Ich möchte es gerne wissen“, sagte er betont freundlich und beherrscht. In seinem Inneren kochte es aber noch und dies war am Klang seiner Stimme deutlich zu vernehmen.
„Deine Eltern, du Idiot“, tönte es vom Eingang der Festhöhle her.
Dugg fuhr herum und schien den jungen Heißsporn mit einem wütenden Blick töten zu wollen. Janos zuckte nur schadenfroh mit den Schultern, wirbelte beschwingt herum und rannte davon.
Lorax suchte kurz den Blick von Tiane, dann stieß er sie von sich, machte einige Schritte rückwärts, als er in deren errötendes Gesicht die Bestätigung für Janos Worte vernahm. Er sah, wie Tränen in ihre Augen stiegen, wie ihre Lippen ihre Farbe verloren und wie sie einige Male schlucken musste, um nicht die Fassung zu verlieren.
„Ich hielt dich bislang stets für eine liebende Schwester“, gab Lorax leise vor Wut von sich. „Ich hätte niemals gedacht, dass du es zulässt, dass ich vor allen anderen bloßgestellt werde.“
Dugg schaltete sich dazwischen und begab sich mit einem Schritt zwischen die Geschwister. „Gib ihr nicht die Schuld daran. Ich hatte es ihr geraten. Ein fetter Braten lässt sich leichter verdauen, wenn man ihn in kleinen Portionen verspeist. Leider gibt es auch Unverbesserliche, die glauben, dass es besser wäre, den Braten mit einem Mal in den Rachen zu stopfen.“ Er legte seine Hand freundschaftlich auf die Schulter des Jüngeren. „Es ist hart, mein Junge. Ich wollte es dir ersparen, dich an diesem gewaltigen Bissen zu verschlucken. Aber es ist nun nicht mehr zu ändern. Es ist geschehen, was geschehen ist und ich bezweifle, dass du in dem Moment, als du die Klüften bestiegen hast, an die möglichen Folgen dachtest. Unbekümmertheit ist die Tugend der Jugend. Ohne sie, wäre unsere Gesellschaft nicht das, was sie jetzt ist. Ich klage dich nicht der Folgen deiner Tat an, obwohl dir trotzdem gewaltig der Hosenboden stramm gezogen gehört. Aber wie gesagt, es ist nun mal geschehen und wir alle müssen damit leben.“
„Ich habe deinen Sohn getötet.“
„Er ist nicht durch deine Hand gestorben“, verbesserte Dugg und hielt ihm zur Untermalung seiner Rede die offene Hand unter das Kinn. Seine Lippe zitterte, als hätte er Schwierigkeiten, dies auszusprechen. „Er ist von einem herabfallenden Stein zerschmettert worden und nicht durch deine Hand. Diese Auslegung des Geschehenen lässt mich den Tod meines Sohnes besser verkraften.“
„Ich will nicht verleugnen, was ich getan habe“, widersprach Lorax. „Ich will auch keine Auslegungen dafür finden. Ich kann mich an nichts erinnern, auch nicht an meine Eltern.“ Er senkte traurig den Blick. Er wünschte sich in diesem Augenblick, dass die Nachricht über den Tod seiner Eltern Gefühle, wie Trauer und Schmerz in ihm aufkommen ließ. Er wünschte sich, dass er sich an sie erinnerte, dass er ihren Verlust vermisste, dass er sich an Passagen erinnern konnte, die er mit ihnen erlebt hatte. Doch nichts von all dem wollte in Erfüllung gehen. Seine Vergangenheit kehrte nur in schemenhaften Visionen zu ihm zurück. Visionen, die sich sogleich in Rauch auflösten und ein noch größeres Loch in ihm hinterließen, als es ohnehin schon war. Die Vision von den Leuten weit unter ihm, war Wirklichkeit gewesen. Es war vermutlich der letzte Moment in seiner Vergangenheit, bevor die Klüften unter ihm zusammenbrachen.
Er sank zu Boden und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
„Eine schwere Bürde lastet nun auf dir, Lorax“, sagte Dugg gütig. „Du bist Zeit deines Lebens ein starker junger Mann gewesen, hast dich von nichts von deinem Weg abbringen lassen. Du hast dich stets auf deine Gefühle verlassen. Vielleicht solltest du das wieder tun, nur diesmal mit etwas mehr Bedacht." Er strich über den Kopf des jungen Mannes und nickte dann Tiane zu. Dann beugte er sich nieder und zog Lorax wieder auf die Beine. „Jetzt sollten wir alle Sorgen mit einem guten Krug Wein hinunterspülen“, fuhr er gütig und mit einem verschmitztem Lächeln fort. „Heute ist Bundus. Heute ist das Fest aller Freuden. Wir sollten nicht Trübsal blasen. Trink einen Krug Wein mit mir, Lorax.“
Der zerknirschte Lorax wechselte einen flüchtigen Blick mit seiner Schwester, dann schüttelte er den Kopf. „Lieber Tee“, sagte er beinahe kleinlaut und hätte laut aufgejuchzt, als er Tianes aufhellendes Gesicht bemerkte, wenn er sich nicht gewaltsam zurückgehalten hätte.
„Wie du willst“, lachte Dugg, nahm ihn unter seinen Arm und ging mit ihm zur halb zusammengestürzten Theke. „Mal sehen, was noch übrig geblieben ist.“
Tiane kam dazu, goss heißes Tee in einen Becher, holte unbemerkt einige Krümel Kräuter aus ihrer Tasche und ließ sie ebenso geschickt in den Tee fallen. Während sie sich umdrehte und zu Lorax ging, schwenkte sie den Becher etwas, damit sich die Substanz besser auflöste. Dann hielt sie den Becher ihrem Bruder hin und sah ihn mit einem unschuldigen Lächeln an.
„Es tut mir leid“, sagte sie leise. „Ich hätte es dir gerne erspart.“
„Irgendwann musste er es erfahren“, sagte Dugg und klopfte dem Jüngeren dabei tröstend auf die Schulter. „Das Schicksal wollte es eben so. Müssen wir uns damit abfinden.“
„Ich weiß nicht, ob ich mich damit abfinden kann.“ Er nahm einen Schluck von dem Tee und musste ihn mühsam hinunterwürgen. Der bitter-herbe Geschmack des Kräutertees behagte ihm von mal zu mal weniger. Er wollte aber nicht wieder in die alte Gewohnheit hineinfallen und sich des Gärbiers oder des vollmundiges Weines annehmen. Er wollte nicht, dass er wieder zu jenem Säufer wurde, der er einmal war. Daher musste er notgedrungen den unangenehmen bitteren Nachgeschmack der Kräuter hinnehmen. Irgendwann – so hoffte er inständig – würde ihm dieser Geschmack zur Gewohnheit werden und es würde ihm nichts mehr ausmachen.
„Dir wird keine andere Wahl bleiben, Lorax. Du kannst das Geschehene nicht rückgängig machen.“ Er nahm einen großen Schluck aus seinem Weinbecher, den er sich in der Zwischenzeit besorgt hatte, ließ den aromatischen Duft des Weines auf der Zunge zergehen und lächelte dann zufrieden. „Tiane erzählte uns von deiner Wandlung. Wenn dir damit ernst ist, dann ist niemand umsonst gestorben.“
„Es hätte überhaupt niemand sterben müssen“, wusste Lorax. Er setzte den Becher an die Lippen, nahm ihn aber sogleich wieder ab. Ihm wurde bereits beim Einatmen des Duftes übel.
„Ich bezweifle, dass die Wandlung von alleine gekommen wäre. So hat der Tod vieler geliebter Frauen und Männer einen Sinn gehabt.“
Lorax schnaufte hörbar durch. Ihm gefiel dieser Gedanke nicht. Er wollte nicht akzeptieren, dass er den Tod von siebenundfünfzig Frauen und Männern hinnehmen musste, um ein neues Leben zu beginnen.
Er setzte den Becher erneut an, ließ ihn einen Augenblick lang dort und nahm ihn wieder weg. Er brachte es nicht fertig, auch nur einen weiteren Schluck davon zu trinken. Er ertappte sich schon dabei, nach Duggs Weinkrug zu liebäugeln, doch im gleichen Moment erinnerte er sich an Tianes Ausbruch, als sie befürchtete er würde zu seiner Trinkmanier zurückkehren. Schaudernd schüttelte er den Kopf und stellte den Teebecher auf die Theke, von der nur noch die rechte Hälfte stand.
„Ist dir nicht gut?“, erkundigte sich Tiane besorgt. „Du siehst so blass aus.“
„Gibt es etwas anderes zu trinken als Kräutertee?“ Er blickte sich suchend um, doch außer den Fässern mit Gärbier und Wein konnte er nichts anderes entdecken.
„Bier und Wein“, zählte Dugg auf und machte eine umfassende Handbewegung und bestätigte damit Lorax Feststellung nur noch.
„Ich glaube, ich muss an die frische Luft.“ Lorax wirbelte auf dem Absatz herum und rannte förmlich aus der Festhöhle hinaus. Draußen angekommen, stülpte sich bereits sein Magen um und er entleerte dessen Inhalt hinter dem nächsten Busch. Er spürte nicht viel später die Anwesenheit einer weiteren Person, doch solange sich sein Unterleib in wilden Krämpfen austobte, war er zu keiner Reaktion fähig.
Erst als er sich ein wenig beruhigt hatte, drehte er sich um und fand geradewegs Tianes von Sorgen geplagtes Gesicht.
„Was ist mit dir?“, wollte sie wissen. Ihr Gesicht besaß die Mimik einer Mutter, die sich um ihren Schützling sorgte und ihn prüfend ansah.
„Ich weiß es nicht“, gab Lorax kopfschüttelnd zurück. „Ich glaube, ich vertrage den Kräutertee nicht.“
„Das ist schlecht“, bemerkte sie.
„War das der Grund, warum ich dem Alkohol zusprach?“
Tiane zuckte mit den Achseln. „Vor dem Unglück besaßen wir kein sonderlich gutes Verhältnis und wechselten nur die allernotwenigsten Worte.“
Lorax wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Der schlechte Geschmack auf seiner Zunge bereitete ihm abermals Übelkeitsgefühle. Etwas in ihm sagte ihm, dass er derartiges nicht gewohnt war – weder schlechter Geschmack auf der Zunge, noch Übelkeit aufgrund für ihn unverträglicher Substanzen. Etwas sagte ihm, dass er damit noch nie Probleme gehabt hatte, dass er bislang alles essen und trinken konnte, ohne befürchten zu müssen, etwas darin nicht zu vertragen. Etwas anderes als den Tee hatte er nicht im Verdacht, denn jedes Mal wenn er Tee trank, wurde ihm so merkwürdig. Seine Gedanken entfleuchten. Er verlor die Orientierung. Er begann zu taumeln. Er verlor sich sogar in leere Tagträume und ein flaues Gefühl in seiner Magengegend breitete sich allmählich durch den ganzen Körper aus. Es musste einfach am Tee liegen.
Er sah hoch und entdeckte Tiane noch immer da stehen, wo sie vor wenigen Augenblicken gestanden war. Warum er auf die Idee kam, dass sie inzwischen gegangen war, vermochte er selbst nicht zu sagen. Bei dem Absturz musste er einen gehörigen Schlag auf den Kopf bekommen haben – anders konnte er sich diese ganzen Aussetzer nicht erklären.
„Weißt du“, begann er und nahm erst einmal einen tiefen Atemzug, ehe er seine Rede fortführte. „Ich sollte mich mit dir gut stellen. Immerhin bist du die einzige, die zu mir gehalten hat. Du bist die einzige, die mich aus dem Trümmerhaufen herausgezerrt und wieder aufgepäppelt hat. Und du bist die einzige, die an mich glaubt und an eine Zukunft mit mir.“
Tianes Augen wurden glasig. „Jetzt verstehst du, warum ich das tat.“
„Ich denke schon“, nickte er, streckte die Arme nach ihr aus und zog sie schließlich an seine Brust, als sie willig näher kam. „Wir sollten zusammenhalten. Wir haben nur noch uns.“ Er drückte sie an sich, schloss seine Arme fest um ihren Leib und musste wieder jene Gefühle in sich bemerken, die er eigentlich gar nicht haben durfte. Vielleicht sind das die Gefühle eines Bruders gegenüber seiner Schwester, sagte er sich. Er konnte sich nicht daran erinnern, seine Eltern geliebt zu haben, oder eine andere Frau. Er konnte sich an keine andere Liebe erinnern. Er konnte sich an überhaupt keine Liebe erinnern. Da war nichts in seinem Inneren. Er wusste nicht einmal, ob das Liebe war, das er gegenüber seiner Schwester empfand. Aber er wusste, dass er ihr nicht die Liebe entgegen bringen durfte, die er einer anderen Frau entgegen bringen durfte. Aber was war das für eine Liebe, fragte er sich. Konnte er die verschiedenen Nuancen überhaupt unterscheiden?
Er seufzte leise. Er musste wie ein Kleinkind alles von Anfang an lernen. Er war ein Kleinkind im Körper eines erwachsenen Mannes.
„Ich kann dir Saft aus Früchten pressen“, sagte sie sanftmütig.
Lorax musste unwillkürlich lächeln und fragte sich, ob er früher schon diese Art von Zuneigung seiner Schwester gegenüber hegte, oder ob das nur eine Auswirkung des Schlages war, den er beim Absturz erhalten hatte.
„Ist Dugg ein Naturfühler?“, wollte er wissen, als ihm das unvermittelt einfiel. Er war selbst erleichtert darüber, dass er das Thema wechseln und seine Gedanken auf andere Pfade bringen konnte. Ihm war es unangenehm gewesen, weiter über die Liebe nachzudenken, die immer mehr in ihm heranwuchs. „Was ist ein Naturfühler überhaupt? Ein Priester?“
Tiane machte sich etwas frei und blickte ihn von unten herauf an. Sie war ihm aber noch so nahe, dass er ihren heißen Atem in seinem Gesicht spüren konnte.
„Unsere Lehre ist der Natur verschrieben“, begann sie willens zu erklären. „Unser Denken ist der Natur gewidmet. Wir leben im Einklang mit der Natur. Ohne sie könnten wir nicht existieren. Die Natur ist die Mutter unserer Seelen, beherrscht unsere Schicksale, bringt uns Leben und Tod. Sie gibt uns Zeichen und sie spricht mit uns. Nicht alle verfügen über die Gabe, die Stimme der Natur zu hören. Dugg besitzt sie. Er kann ihren Worten lauschen und berichtet uns darüber, was sie sagte.“
„Gehören Stürme nicht auch zu den natürlichen Gegebenheiten? Warum warnt sie uns über Dugg nicht?“
„Die Stürme sind die Arme des Schicksals“, erklärte sie weiter. „Und das Schicksal kommt unverhofft. Man kann es nicht steuern und gar nicht erst voraussagen. Das ist auch nicht der Sinn der Lehre der Natur. Nach einem Sturm erwächst Neues, Frisches, ist Platz für Anderes. Ein Sturm ist wie ein Besen, der nutzloses, unbrauchbares und altes wegwischt.“
„Was ist, wenn der Sturm etwas Neues wegfegt? Oder einem Kind das Leben raubt?“
„Dann gibt ihm die Natur ein neues Leben. Wir sind Teil dieser Natur und wir sind nur Mittel zum Zweck. Wir räumen umgestürzte Bäume weg, schaufeln übergelaufene Flussbette frei, löschen vom Blitz entfachte Brände und sähen Samen und neue Pflanzen.“
„Darum leben wir auch in Höhlen“, begriff er. „Bäume für Häuser zu fällen, wäre ein Eingriff in die Natur.“
Tiane lächelte. „Wir sind friedliebend, wollen nur unser tägliches Brot ernten und im Einklang mit der Natur leben. Wir sind keine verbohrten Empörer. Wir geben alles, um die Natur zu erhalten.“
„Bedroht uns jemand?“, fragte er unvermittelt.
„Nein! Warum?“
„Ich hatte den Eindruck, du versuchst mich gerade von unserer Naturlehre zu überzeugen.“
„Das liegt wahrscheinlich daran, dass du dich früher wenig darum gekümmert hast. Es war dir vollkommen egal. Vater versuchte vergeblich, dir die Lehre nachdrücklich beizubringen, doch du hast ihm nicht einmal zugehört.“
„Vielleicht besitze ich erst jetzt die Muse dafür.“ Er reckte den Kopf, als eine leichte Prise den beißenden Geruch von frischem Rauch, verbrannter Erde und Asche zu ihm herüber wehte. Er blickte sich suchend um. „Es brennt irgendwo“, sagte er feststellend, schob Tiane etwas von sich weg und strengte seine Augen an, die Dunkelheit zu durchforsten. Doch außer den hell vom Nachthimmel herab leuchtenden Sternen gab es kein einziges Lichtpünktchen rings um ihn.
Tiane streckte ihre Nase ebenfalls in den Wind. „Du hast Recht. Es brennt irgendwo. Ich werde die Männer informieren.“
„Warte!“, hielt er sie zurück. „Das riecht nicht nach einem frisch entzündetem Feuer. Das riecht eher nach einem bereits erloschenem Brand.“ Er begab sich bereits in die Dunkelheit, schnüffelte der Brandspur hinterher und ließ Tiane mit ihrem Einwand einfach stehen.
Er folgte eine Weile der Brandspur, als plötzlich der Boden unter seinen Füßen verschwand und er in die Leere plumpste. Doch bereits nach einem knappen halben Meter kam er unsanft auf dem Boden auf. Die Dunkelheit hatte sämtliche Unebenheiten verschluckt. Nicht ein Schatten machte auf Löcher oder hervorstehende Hindernisse aufmerksam. Er wollte schon einen herzhaften Fluch ausstoßen, als er bemerkte, dass der Brandgeruch geradewegs von dem Loch kam, in das er gefallen war. Der Boden fühlte sich heiß an. Enorme Hitze hatte die Erde zu hart gewordener Schlacke geschmolzen. Er glaubte sogar Rauchschwaden aufsteigen zu sehen.
„Lorax!“, rief Tiane besorgt.
„Bleib stehen!“, rief er sogleich zurück, bevor sie ebenfalls in das Loch fallen konnte. „Was ist hier geschehen?“, wollte er wissen. „Schlug hier ein Blitz ein?“
„Schön möglich. Was ist da?“
„Ein sehr großes Loch. Ich bin gerade mitten hinein gefallen.“
„Hast du dich verletzt?“
„Ich bin kein Kleinkind mehr“, murrte er fast gekränkt zurück. Er tastete mit den Händen die Ränder entlang, versuchte ein Ausmaß der Größe des Loches zu erkunden und wünschte sich stumm fluchend etwas mehr Licht. Er hatte bislang keine andere Lichtquelle als Feuer in Form von Feuerstellen, Fackeln, Kerzen oder Glutstümpfe gesehen. Er bezweifelte, dass es hier andere Arten von Lichtquellen gab... Er sah hoch. Wie kam er darauf, dass es andere Arten von Lichtquellen gab?, fragte er sich plötzlich. Er drehte sich um in die Richtung, in der er Tiane vermutete und versuchte sich die Frage selbst zu beantworten. Seit er aus seiner tiefen Ohnmacht erwacht war, hatte er eigentlich wenig gesehen. Gerade mal ihre Wohnhöhle, die Felder und den umgrenzenden Wald und die Festhöhle mit seinen Festgästen. Er hatte sich nie darum gekümmert, ob es noch etwas anderes gab. Dann schüttelte er schnell den Kopf. Vermutlich waren es genau die Gedanken, die ihn von seiner Schwester und seiner Familie entzweit hatten.
Er tastete sich beinahe auf allen Vieren an das andere Ende des Loches und wollte den Rand erklimmen, als es von irgendwo weit vor ihm laut krachte. Er zuckte zusammen und lauschte. Er konnte Wasserrauschen vernehmen. Vielleicht war vor ihm ein Wasserlauf.
„Der Damm!“, hörte er Tiane entsetzt sagen.
Lorax begriff sofort. „Lauf zurück und hole die Männer.“ Er kletterte schneller aus dem Loch.
„Und du?“
„Ich geh voran. Nun lauf schon!“ Er setzte sich in Bewegung, aus der das Krachen gekommen war und blieb nach einigen Minuten wie angewurzelt stehen, als sich seine Nackenhaare sträubten. Ein Alarmzeichen, wusste er. Nur einige Fingerbreite vor ihm begann die Wasserlinie. Vorsichtig watete er tiefer in das Wasser. Der Flusslauf musste bereits über die Ufer getreten sein, denn der Untergrund blieb lange Zeit unverändert von unzähligen Füßen glatt getreten. Dann verschwand abermals der Boden unter seinen Füßen und Lorax plumpste so unbeholfen, wie er in das Loch gefallen war, ins Wasser. Aber das hatte er erwartet. Noch während er eintauchte, hielt er die Luft an, stieß sich von der Ufermauer ab und kam wieder an die Oberfläche. Dann hangelte er sich an der Mauer entlang zum Damm und legte seine flache Hand an den hölzernen Damm. Die Balken zitterten vor Anspannung und standen kurz davor, zu bersten. Er kletterte aus dem Wasser und suchte die Umgebung nach Brettern, Stangen oder Balken ab, mit denen er den Damm abstützen konnte. Kein leichtes Unterfangen, da er kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Er musste sich wie ein Blinder durch die Dunkelheit tasten. Doch er fand, wonach er suchte.
* * *
„Janos hat etwas zu dick aufgetragen“, beschwerte sich eine Stimme. Die von Komunus, der sich hinter einem großen Krug Gärbier verschanzt hatte. „Wir sollten ihn doch nur einschüchtern. Das wäre beinahe nach hinten los gegangen.“
„Finde ich nicht. Unser Ziel war es, Schuldgefühle in ihm zu erzeugen, ihn mental an uns zu fesseln. Das ist uns glaube ich gelungen.“
„Er hätte Janos auch umbringen können.“
„Jeder von uns hätte jederzeit eingreifen können, um schlimmeres zu verhindern.“
„Hast du nicht gesehen, wie er Janos beinahe mühelos über die Theke geschickt hat. Wir sollten in Zukunft vorsichtiger sein.“
„Tiane hat ihn gut genug manipuliert. Ich wusste, dass er dafür empfänglich sein wird.“
„Irgendwann wird er uns auf die Schliche kommen.“
„Damit hast du allerdings Recht. Der Adacuz-Wurz verliert nach einiger Zeit seine Wirkung und der Körper stößt ihn ab. Ich denke, viel Zeit bleibt uns nicht mehr.“
Tiane kam atemlos in die Festhöhle zurück. Einige ihrer Kameraden saßen eng beieinander und schienen etwas wichtiges zu bereden.
„Ach, Tiane. Gut, dass du kommst. Wie geht es ihm? Ist ihm bereits übel?“
„Ich denke schon“, schnaufte sie und blickte erst etwas verwirrt in der Runde um. Als sie erneut Atem holen wollte, um ihr Anliegen vorzutragen, kam ihr Dugg zuvor.
„Ich kann die Wirkung noch etwas verstärken, indem ich die Zusammensetzung etwas verändere. Das verschafft uns noch einige Wochen, vier höchstens fünf, dann muss unser Projekt abgeschlossen sein.“ Er wandte sich wieder an die junge Frau. „Was denkst du? Wie lange werden wir noch brauchen, um ihn komplett umgedreht zu haben?“
„Ich schätze mal ungefähr noch einen Augenblick. Dann ist es nicht mehr nötig. Der Damm bricht.“
Die Männer sprangen wie von einer spitzen Nadel gestochen hoch und eilten zum Ausgang.
„Wo ist er?“, erkundigte sich Dugg im vorbeigehen.
„Unten am Damm.“
„Wo?“ Dugg blieb stehen und starrte die Frau entsetzt an. „Du hast das zugelassen? Die Okkupanten hatten heute versucht, den Damm zu sprengen. Wenn er sieht, wie es dort aussieht, wird er Bescheid wissen.“
„Es ist stockdunkel. Verzichtet auf Fackeln und er wird nicht einmal die Hand vor Augen sehen“, schlug Tiane vor. „Außerdem könnt ihr ihn doch so beschäftigen, dass ihm keine Zeit dafür bleibt, sich umzusehen.“
Dugg schüttelte fassungslos den Kopf und rannte endlich hinter den anderen Männern und Frauen her, die zum Fluss geeilt waren, um mitzuhelfen, den Damm abzustützen.
Lorax hatte indessen einige Stämme, die offenbar zur Ausbesserung des Dammes zurechtgelegt worden waren, gefunden und sprang damit zurück ins Wasser, den Baumstamm unter den Arm geklemmt. Er kämpfte gegen den Wasserstrahl und die Strömung an, die aus dem bereits leck geschlagenen Damm entströmte und versuchte, ein Ende des Stammes im Boden zu verankern. Die starke Strömung und der dicke Strahl, der aus der Dammwand quoll, vereitelten seinen Versuch. Es trieb ihn immer wieder Flussabwärts, doch er kämpfte tapfer dagegen an und schaffte es schließlich, einen Widerstand für den Stamm zu finden und verkeilte das andere Ende dann an der Dammwand. Dann schwamm er zurück ans Ufer, entledigte sich seiner Kleider – die Fellweste hatte sich voller Wasser gesogen und seine Bewegungsfreiheit unter Wasser stark eingeschränkt. Außerdem war es warm genug – bis er nur noch den kurzen Lendenschurz trug, suchte blindlings nach einem weiteren Stamm und sprang wieder ins Wasser. Als er wieder auftauchte, sah er am Ufer flackernde Lichter und vernahm die Schreie und Rufe der Anderen. Wenig später tauchte neben ihm eine andere halbnackte Gestalt auf. Er konnte so in etwas die Konturen von Dugg ausmachen und gestattete es ihm, ihm dabei zu helfen, eine richtige Stelle für den Stützbalken zu finden.
„Halt ihn fest, Junge. Ich werde runtergehen und ihn verkeilen“, rief ihm Dugg zu.
„Nein, ich geh runter“, entschied Lorax, holte tief Luft und tauchte unter, noch ehe der Ältere etwas dagegen unternehmen konnte. Er spürte ein Rütteln an dem Balken, wie Lorax ihn tief am Boden in Position rückte, der Balken dann im tiefen Schlamm wegrutschte und schließlich wieder zurück gedrückt wurde. Für Duggs Geschmack blieb Lorax einen Moment zu lange unter Wasser. Für einen Moment dachte er, dass Lorax die Luft ausgegangen und ertrunken war. So atmete er mehr als erleichtert auf, als neben ihm endlich der Kopf des Tauchers auftauchte.
„Der ganze Boden ist voller Schlick. Es wird schwer sein, geeignete Stellen zum verkeilen zu finden“, keuchte Lorax atemlos und blickte sich um. Hinter ihm schwammen weitere Männer heran und brachten Stützbalken mit sich. Er schnappte sich einen davon, brachte ihn mit Dugg in Position und tauchte wieder unter, noch ehe der Ältere etwas sagen konnte.
Die Stützbalken erzitterten, als ein weiterer Balken aus dem Damm den Wassermassen auf der anderen Seite nachgab und brach und der entweichende Wasserstrahl sich verdoppelt hatte. Einige Männer schrieen Warnungen. Fackeln erloschen, als sie einfach weggeworfen wurden und die Träger ebenfalls ins Wasser sprangen, um den Helfern zur Hand zu gehen, den Damm schneller abzustützen. Am Ufer zurückgelassene Frauen und Kinder kreischten voller Angst auf, als das Krachen durch die Nacht hallte. Es wurde fieberhaft daran gearbeitet, den Damm zu retten.
Neben Dugg tauchte Lorax aus dem Wasser und hielt sich an dessen Schulter fest, während er sich das Wasser aus den Haaren schüttelte.
„Ich habe ein ungutes Gefühl“, schrie er gegen die allgemeine Aufruhr an. „Das Wasser fühlt sich so merkwürdig an. Ich fürchte, er wird brechen, was auch immer wir versuchen.“
„Was meinst du, mit: Das Wasser fühlt sich so merkwürdig an?“, fragte Dugg zurück.
„Ich weiß es nicht. Es ist nur ein sehr merkwürdiges Gefühl.“ Ein Schwall Wasser schwappte ihm ins Gesicht, als mit einem lauten Krachen der nächste Balken brach und eine weitere Fontäne herausschoss und unterband damit für kurze Zeit jede weitere Erklärung.
„Wir sollten besser machen, dass wir hier wegkommen“, rief Lorax, als er etwas Abstand zwischen sich und dem Strahl gebracht hatte.
„Wir können den Damm nicht einfach aufgeben. Wenn er bricht, wird er tiefer unten im Tal die Wohnhöhlen überschwemmen.“
„Das ist schlecht“, bemerkte Lorax gelassen und sah sich flüchtig um. „Wenn wir die unteren Balken heraustrennen, fließt das Wasser kontrollierbarer ab. Das Wasser wird zwar steigen, aber nicht so schnell.“
„Wie willst du das machen?“
„Hast du mir eine Axt?“
„Eine Axt hierher!“, brüllte Dugg zum Ufer und wenig später schwamm jemand mit dem geforderten Werkzeug zu ihnen. Lorax schnappte sie aus den Händen des Mannes, holte einige Male tief Luft und tauchte wieder unter. Dugg wandte sich indessen an den Mann, der ihnen die Axt gebracht hatte. „Janos!“, rief er und klammerte sich mit einer Hand an einem Stützbalken und mit der anderen an Janos fest. „Warne die Leute flussabwärts, damit sie ihre Wohnhöhlen verlassen. Wir werden das Wasser ablassen.“
Janos nickte und schwamm eilends davon.
Dugg zählte die Sekunden, die Lorax unter Wasser verbrachte. Er hatte noch nie jemanden solange untertauchen gesehen. Als Lorax Kopf wieder auftauchte, war er eben bei zweihundert angekommen, und er hatte erst angefangen, nachdem Janos verschwunden war.
„Wie sieht es aus?“, wollte der Ältere wissen.
„Nicht so gut“, keuchte Lorax, japste nach Luft wie ein Fisch an Land und versuchte so schnell wie möglich seinen Kreislauf wieder voller Sauerstoff zu pumpen. „Die Balken sind morsch. Wenn ich die falsche Stelle treffe, bricht das ganze Ding zusammen wie ein Kartenhaus.“
„Wie ein was?“
„Für eine Befestigung bleibt aber keine Zeit mehr. Ich muss es riskieren.“
„Was musst du riskieren?“
„Sorg dafür, dass keiner mehr im Wasser ist, wenn es soweit ist.“
„Was soweit ist?“ Dugg hätte dem energischen jungen Mann gerne einen Schlag verpasst, damit er endlich auf seine Fragen einging. Doch ehe er seine Hand aus dem Wasser hatte, war Lorax wieder untergetaucht.
Lorax musste sich blind durch das Wasser arbeiten. Es war unter der Oberfläche noch dunkler als darüber, obwohl er auch dort kaum weiter als bis zu seiner Nasenspitze sehen konnte. Er hangelte sich an dem Stützbalken, den er und Dugg zuletzt angebracht hatten nach unten, stieß sich dicht am Boden, wo die Strömung beinahe nicht mehr existierte und schwamm zur Deichwand. Das Holz war dicht mit Algen, Wasserpflanzen und allerlei Getier überwuchert. Es musste schon einige Jahrzehnte dort im Wasser stehen. Vermutlich war der Damm lang vor Duggs Geburt errichtet worden, womöglich lange vor der Geburt dessen Urgroßvaters. Er fand kaum die Spalten zwischen den einzelnen Balken, musste mit den Fingern Moos und Algen abkratzen, um die Spalten zu finden. Als er endlich fündig wurde und eine größere Lücke zwischen den einzelnen Balken gefunden hatte, trieb er die Axt in den Spalt und drückte mit aller Kraft, die er aufwenden konnte, die Axt zur Seite, sodass bald ein großer Keil heraussprang. Wäre das Wasser kalt gewesen, hätte er nicht so lange unter Wasser bleiben können, geschweige denn solche Arbeiten ausführen. Die Kälte hätte seine Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt und ihn scheitern lassen, noch ehe er diesen Plan hatte ausklügeln können.
Er schaffte es, binnen kurzer Zeit einige handbreite Keile aus der Wand zu schlagen, als er bemerkte, dass sich an der Strömung und der Temperatur des Wassers, das ihn umgab, etwas geändert hatte. Das ausströmende Wasser verursachte auch unter Wasser ein solches Getöse, dass er sich kaum nach den Geräuschen richten konnte. Er bemerkte, wie die Temperatur rasch abnahm, einige Keile beinahe von selbst aus der Lücke heraussprangen, dann machte er, dass er wegkam. Er ließ die Axt einfach fallen und arbeitete sich so schnell er konnte, an die Oberfläche. Doch ehe er sie erreichen konnte, hatte ihn etwas von hinten erwischt und katapultierte ihn wie ein ausgespuckter Kern weit von sich.
* * *
„Oh, nein. Lorax!“, rief Tiane entsetzt, als sie mit ansehen musste, wie der Damm beinahe in Zeitlupentempo in sich zusammenbrach. Als hätte jemand seine schützende Hand über den Damm gehalten, verzweifelt versucht, noch zu retten, was zu retten war, und die einzelnen Balken kontrolliert und nacheinander zum bersten gebracht. Das Wasser schoss nicht wie bei einem Deichbruch mit einem Schwall und einer riesigen Flutwelle den Fluss abwärts, sondern enttäuschte den sensationssüchtigen Zuschauer fast mit einer beinahe langweiligen Woge, die kaum die Hüften der Umstehenden erreichte. Lorax Plan war aufgegangen. Der Deich war langsam und zuerst unter der Oberfläche gebrochen, sodass das Wasser erst abfließen konnte, ehe der Damm endgültig brach. Doch der Erfolg schien auch einen hohen Preis zu fordern. Lorax war nicht rechtzeitig zurückgekehrt. Er musste demnach mit den Wassermassen fortgespült worden sein.
„Komunus, nimm dir ein paar Männer und suche die Felsennadel nach Lorax ab“, befahl Dugg schnell. „Das Wasser fließt schnell genug, sodass es ihn leicht auf die Felsen werfen kann. Wenn der Junge so gut ist, wie ich hoffe, dann wird er sich von der Strömung aus der Kurve tragen lassen und auf den Felsen landen.“
Komunus nickte und rannte davon.
„Keine Angst, Tiane. Er wird es überleben“, tröstete er die junge Frau und legte den Arm um sie.
„Wieso bist du dir da so sicher?“
„Ein Gefühl. Außerdem hatte Lorax Recht. Das Wasser fühlte sich wirklich merkwürdig an, bevor der Damm brach. Ich glaube, mir ist da etwas eingefallen, was sich gut in unseren Plan fügen könnte.“
„Was denn?“, wollte Tiane wissen.
„Wir dachten, wir hätten nur einen Killer eingefangen. Doch er ist mehr. Er hat das richtige Gespür. Ich bilde ihn zum Naturfühler aus.“
Tiane starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Aber er ist doch kein Logeyzaner.“
„Das muss er auch nicht. Er braucht nur das richtige Gefühl dafür, und ich glaube, Lorax besitzt es.“
Tiane starrte ihn noch immer mit großen Augen an. Dugg zog sie an sich, tätschelte kurz ihre Schultern und nahm sie dann bei der Hand.
„Und jetzt suchen wir deinen Bruder“, sagte er verschmitzt und zog sie mit sich.
* * *
Lorax kämpfte verzweifelt gegen die reißende Strömung an. Es wirbelte ihn hin und her, warf in ihn die Tiefe des Flusses, um ihn wenig später wie ein unverdauliches Stück Speiserest wieder auszuspeien. Er hustete, schluckte Wasser und Luft, schlug sich heftig an Felsen, mitgeschwemmten Bäumen und Buschwerk an und musste immer wieder die drohende Ohnmacht niederkämpfen. Er wusste aber, dass er verloren war, wenn er das Bewusstsein verlor. Er wusste, dass er sich selbst aufgab, wenn er nicht gegen das Schwinden der Besinnung anföchte. Er musste wach bleiben, was auch immer das Wasser mit ihm vorhatte. Er musste stets die Oberhand besitzen und auf jede Reaktion des tosenden Wassers eine entsprechende Antwort besitzen. Eine Stromschnelle katapultierte ihn mehrere Meter hoch aus dem Wasser. Einen Augenblick lang fühlte er sich wie ein Vogel, dann klatschte er unsanft auf dem reißenden Wasser auf. Er unterdrückte jeglichen Ausbruchs des Schmerzes. Wenn der Absturz aus den Klüften nicht jeden seiner Knochen zu Sägemehl verarbeitet hatte, so würde es dieser Ritt auf dem wütenden Fluss erledigen. Er wusste, er war ein guter Taucher und würde mühelos mehrere Minuten unter Wasser verbringen können. Doch auch für ihn gab es irgendwann eine Grenze, die er nicht überschreiten durfte. Immer wieder wurde bis er die Grenzlinie getrieben, sah schon Sternchen vor seinen Augen und ...
Dann spürte er, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Im selben Moment erreichte ihn eine Vision von einer engen Kehre im Fluss. Eine hohe Felsenwand säumte die innere Uferlinie des Flusses, eine flache Felsplatte die andere, ehe auch sie sich in einer fast steilen Wand nach oben erging. Lorax arbeitete sich mühevoll in die richtige Position, ließ sich vom Wasser weit nach außen tragen und flog schließlich hoch in die Luft, als die in Jahrhunderten vom Wasser glattgeschliffene Uferwand als Rampe funktionierte und ihn aus dem Flussbett schleuderte. Wieder fühlte er sich als Vogel, doch er wusste, dass die Landung diesmal um ein vieles härter sein würde. Schnell dahinrasendes Wasser konnte auch die Oberfläche eines Felsen besitzen, doch es verwandelte sich rasch in watteweiches Fangmaterial, hatte sich seine Geschwindigkeit erst auf das richtige Tempo abgebremst. Felsen war zwar ähnlich hart, es verwandelte sich jedoch für ihn nicht in weiche Polster. Es blieb starr und fest und würde ihm vermutlich den letzten seiner heil gebliebenen Knochen zerschmettern. Er kugelte sich daher eng zusammen und wenig später prallte er härter auf, als er es sich ohnehin schon vorgestellt hatte. Sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Er hörte verdächtiges Knacken in seinem Inneren. Die Wucht seines Aufpralles und die Geschwindigkeit, mit der er aus dem Wasser geschleudert wurde, ließen ihn noch eine Weile auf den relativ glatten Felsen wie ein Springball auf und ab springen und kugeln, dann prallte er beinahe unvermindert gegen die steile Felswand und Dunkelheit umfing ihn prompt – wenn es nicht ohnedies schon Nacht gewesen wäre.
* * *
„Man glaubt es nicht“, entfleuchte Komunus ehrfürchtig. „Der Kerl hat tausend Leben.“ Er erhob sich und winkte mit seiner Fackel einige Male hin und her, worauf sich weit über ihm eine Lichterkette in Bewegung setzte. Es dauerte nicht lange, bis ihn die Prozession erreicht hatte und sich unterhalb der Lichterkette fast ein Dutzend Männer und Frauen formierten.
„Hast du ihn gefunden?“, hörte er die Stimme von Tiane über dem wütenden Tosen des Flusses. Seit des Dammbruches hatte sich der Fluß wieder weitgehend beruhigt, doch hier in der Felsennadel, wo es gefährliche Stromschnellen und tödliche Strömungen gab, wütete das Wasser immer, als würde es ständig voller Haß aufgepeitscht. Die hohen Felsenwände verstärkten den Effekt mit ihrem Echo, sodass innerhalb der Felsennadel ständig ein ohrenbetäubender Lärm herrschte.
„Er ist tatsächlich hier“, konnte es Komunus immer noch nicht fassen. „Woher konntest du das wissen, Dugg?“
„Ein Gefühl“, erklärte er knapp, beugte sich zu der leblosen Gestalt hinunter und beleuchtete ihn mit seiner Fackel. Es war tatsächlich Lorax, am ganzen Körper verschrammt, bleich, mit blauen Lippen und vollkommen durchweicht, aber er lebte. Dennoch wagte er es nicht, ihn einfach so auf seine Arme zu nehmen und aus dem Felsmassiv zu tragen. Lorax hätte diverse Knochenbrüche davontragen können und die würde er damit verschlimmern oder ihn sogar töten, wenn er ihn nicht vorher eingehend untersuchte und die Brüche analysierte.
Zu seiner Erleichterung stellte Dugg keine lebensbedrohlichen Knochenbrüche fest. Der linke Unterarmknochen war zerschmettert, sowie einige Rippen. Tiefe Schürfwunden und Schnitte bedeckten den ganzen Körper und ein besonders tiefe und bedenkliche hatte den rechten Oberschenkel des jungen Mannes beinahe bis zum Knochen hinunter geteilt. Aber alles Verletzungen, die mit den nötigen Maßnahmen und der entsprechenden Pflege leicht wieder in Ordnung gebracht werden konnten. Das Genick schien nichts abgekommen zu haben, aber Dugg bezweifelte nicht, dass Lorax eine mehr oder minder schwere Gehirnerschütterung davon getragen hatte. Vorsichtig hieß er seine Begleiter an, den Bewusstlosen auf eine Bahre zu betten und zu seiner Wohnhöhle zurückzubringen.
* * *
Als Lorax aus seiner tiefen Besinnungslosigkeit erwachte, wusste er zunächst nicht, wo er sich befand. Vor ihm saß ein älterer Mann mit ergrautem Haar, wirrem weißen Vollbart, fleckiger Fellweste und kleinen lustigen Augen, tief über Lorax Beine gebeugt und schien sich mit irgend etwas dort zu beschäftigen. Er fühlte ein dumpfes Zupfen an seinem rechten Bein, konnte aber den Ort nicht so recht lokalisieren. Als er sich leicht bewegte, zuckte der Mann zurück und blickte ihm geradewegs ins Gesicht.
„Guten Morgen, Lorax“, grüßte der Mann freundlich. „Ich hatte gehofft, du würdest noch eine Weile weiterschlafen. Dann wäre ich mit meiner Arbeit fertig gewesen.“
Lorax hob leicht den Kopf und blickte an sich herunter. Sein linker Arm war dick bandagiert. An seinem halb nacktem Körper klebten überall glibberige Salbenverbände, unter denen es entsetzlich juckte und eine hässliche, dicke Narbe, umrändelt von einem deutlich sichtbarem schwarzen Garn bedeckte beinahe den ganzen Oberschenkel seines rechtes Beines.
„Was ist geschehen?“, formten seine Lippen fast lautlos.
„Ich geb’s nicht gerne zu, aber du hattest Recht. Dein Plan funktionierte. Nur du hättest dich etwas rechtzeitiger in Sicherheit bringen können. Dann müßte ich dich jetzt nicht zusammenflicken. Halt still, ich will die Fäden ziehen.“
Etwas verwirrt blickte sich Lorax um. Er befand sich in einer Art Höhle. Helles Licht fiel von einer aus dem Stein geschlagenen Öffnung ins Innere und diente offenbar als einzige Lichtquelle tagsüber. Er selbst befand sich auf einer hölzernen Pritsche, die mit Fell, Leder und weich geschlagenem Stroh zu einem bequemen Lager gemacht worden war.
„Wo bin ich?“, wollte er wissen.
„Müssen wir schon wieder von vorn anfangen?“, seufzte der Mann und hob seine Augenbrauen, ohne jedoch von seiner Arbeit zu lassen. „Du bist bei dir zu hause. In der Wohnhöhle deiner Schwester und der deinen.“
„Tiane“, fiel ihm der Name seiner Schwester spontan wieder ein und einzelne Erinnerungsfetzen kehrten zusammenhanglos zu ihm zurück. „Der Damm“, kam es ihm. „Es hat funktioniert?“
„Bis auf den Umstand, dass dich das beinahe das Leben gekostet hätte.“ Dugg legte die dünne kantige Zange beiseite, nahm einen tiefen Atemzug und suchte den direkten Blickkontakt mit seinem Patienten. „Ich muss mich bei dir entschuldigen“, begann er mit einem wirklich ernstem Ausdruck im Gesicht. „Wenn ich es früher schon bemerkt hätte, hätte ich dir vermutlich vieles ersparen können. Dann wäre es gar nicht erst zu dieser Katastrophe gekommen.“
„Zu welcher Katastrophe? Was hättest du mir ersparen können? Und was hättest du bemerken sollen?“ Lorax fixierte ihn scharf. Sein Kopf schmerzte und ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit.
„Kurz bevor der Damm brach, sagtest du, das Wasser fühle sich merkwürdig an. Das war ein Zeichen der Natur und du hast es erkannt. Ich denke, du besitzt die Talente eines Naturfühlers. Das würde zumindest dein Verhalten erklären: diese Wankelmütigkeit, diese Rastlosigkeit, diese Gereiztheit, dieses Verlangen, ständig etwas und jemand herausfordern zu müssen. Das alles waren Eingaben der Natur, die du nicht zu deuten wusstest. Uns allen wäre viel Leid und Schmerz erspart geblieben, wenn ich das nur früher bemerkt hätte.“
„Ich? Ein Naturfühler?“ Er versuchte sich aufzurichten, doch Dugg hielt ihn zurück.
„Wenn du möchtest, bringe ich dir bei, die Zeichen und Visionen richtig zu deuten und umzusetzen“, erklärte er sich bereit.
„Ich, ich... „ Lorax sank wieder zurück und starrte fassungslos an die Decke, wo dichte Rauchschwaden in vielen Jahren dicke Schichten aus Ruß und Staub abgelagert hatten. „Ich weiß nicht. Tiane sagte...“
„Dass es dich nicht interessiert hätte. Ich weiß“, nickte Dugg. „Wie beinahe jeden jungen Heißsporn. Aber alle kommen früher oder später dahinter, dass sie nur überleben können, wenn sie sich mit der Natur arrangieren und lernen, sie zu respektieren. Ich verlange auch nicht von dir, dass du irgendwelche Lebensgewohnheiten aufgibst. Ich möchte dir nur helfen, nicht wahnsinnig zu werden. Was du mit deinem Talent letzten Endes machst, ist deine Sache.“
„Ich habe Visionen“, gestand Lorax.
„Ich weiß. Tiane berichtete mir davon.
„Ich dachte, es wären Erinnerungsfetzen aus meiner Vergangenheit.“
„Kann genauso gut sein“, nickte Dugg wissend. „Die Zeichen der Natur fallen einem Naturfühler für gewöhnlich spontan und unerwartet zu. Man kann aber auch lernen, sie gezielt zu suchen und für bestimmte Zwecke zu nutzen. Wenn du willst, bringe ich dir das alles bei, du musst es aber ernsthaft wollen.“
Lorax überlegte kurz, dann nickte er. „Ich will es“, sagte er ohne jeglichen Zweifel, an seiner raschen Entscheidung. „So weiterleben wie bisher möchte ich auf keinen Fall. Ich will diese Visionen endlich unter Kontrolle bekommen.“
„Das wirst du“, versicherte ihm Dugg und nahm seine Zange wieder zur Hand. „Keine drei Wochen und du kannst mit der Natur eine innige Zwiesprache halten und ihr all das vorwerfen, was dir widerfahren ist.“
Lorax riß überrascht die Augen auf. „Nur drei Wochen? Denkst du, ich schaff das in dieser kurzen Zeit?“
„Ich sagte, keine drei Wochen“, lachte Dugg und begann kichernd an einem Faden zu zupfen. „Du bist ein kluges Kerlchen, Lorax. Ich wette, du hast es in nicht einmal zwei Wochen kapiert. Es ist ganz einfach, wenn man weiß wie. Außerdem entwickelt jeder Naturfühler seine eigene persönliche Art und Weise.“
„Ich – ein Naturfühler, ich kann das nicht glauben“, entfleuchte es Lorax Lippen begeistert und fassungslos zugleich.
„Ich hätte das eigentlich schon längst bemerken müssen. Offenbar sah ich nicht genau hin. Viele deiner Angewohnheiten sind typische Merkmale.“
„Welche denn zum Beispiel?“, erkundigte sich Lorax interessiert.
„Dein Zuspruch zum Gärbier – früher“, fügte er schnell hinzu. „Der Alkohol ist in gewisser Weise ein Verstärker. Er wirkt wie eine Droge. Die Wahrnehmungen, die man unter Alkoholeinfluß hat, erscheinen einem wirklicher, realer. Ich weiß nicht, was dir da so alles durch den Kopf ging, aber da du ständig in der Schänke anzutreffen warst, nehme ich an, dass du nach diesen Wahrnehmungen süchtig geworden bist. Alkohol ist aber auch gefährlich. Wie er eine Wahrnehmung verstärken kann, kann er sie auch verfälschen. Man muss ein Kenner sein, um den Unterschied zu merken. Dann die Angewohnheit, dass du im entscheidenden Moment – wenn Geschicklichkeit und Konzentration gefordert wurde – dass du dann plötzlich lustlos oder tolpatschig wurdest oder total aggressiv reagiertest. Dabei haben dich Zeichen der Natur verwirrt und aus dem Konzept gebracht. Man muss seine Konzentration absolut beherrschen, um nicht durch urplötzlich erscheinende Zeichen oder Visionen durcheinander gebracht zu werden.“
„Ich kann meine Konzentration beherrschen“, entgegnete Lorax entschieden.
„Das glaubst du“, wusste es Dugg besser. „Was war denn mit den Klüften? Erstens hättest du gar nicht erst dort raufklettern dürfen und zweitens hättest du bestimmte Stellen nicht betreten dürfen. Wenn du dich auf die Zeichen der Natur konzentriert hättest, hättest du deinen Bock geschnappt und niemand hätte sterben müssen. Ich weiß nicht, was in dir dort droben genau vorging, aber ich schätze mal, dass du plötzlich vollkommen desorientiert und verwirrt gewesen bist.“
„Ich weiß nicht mehr, was geschehen ist.“ Er schloß für einen Moment die Augen und suchte in seinen Erinnerungen Visionen, die Klüften, Felsen und Jagdinstinkt beinhalteten. Er musste seine Suche jedoch ergebnislos abschließen. Da war nichts mehr, keine einzige Vision wollte zu ihm zurückkehren. Aber er wusste, dass er eine solche Vision gehabt hatte. Er wusste, dass er etwas gesehen hatte, er wusste nur nicht mehr, wohin sie sich verflüchtigt hatte.
„Vielleicht ist das auch gut so. Glaube mir, der Lorax von heute ist mir wesentlich lieber.“ Dugg zog vorsichtig den Faden aus der Wunde, mit der er den klaffenden Schnitt genäht hatte. Dann begutachtete er seine Arbeit und nickte zufrieden. Während er frische Salbenverbände auftrug, sprach er weiter. „Nichts geschieht ohne Sinn. Ich denke, dein Unfall hatte den Zweck, dich auf den richtigen Pfad zu bringen. Du bist heute wesentlich besonnener, wesentlich ruhiger und vor allem wesentlich aufnahmefähiger, was Kritiken und Ratschläge betrifft. Vielleicht musstest du erst dazu fähig sein, um sich lautlosen Stimmen, wie die der Natur widmen zu können. Ich bezweifle, dass du früher die Ruhe gefunden hättest, dich einen Moment hinzusetzen und auf das Rauschen des Windes zu hören.“ Er sah hoch und suchte Lorax Blick. „Es ist für dich sicherlich nicht einfach zu verstehen, aber ich denke, dass es besser ist, wenn du deine Vergangenheit sterben läßt, wie den alten Lorax. Laß sie unter den Felsen begraben. Du magst früher zwar um ein vieles wagemutiger und entschlossener gewesen sein, doch wenn der Kopf nicht mitmacht, hat der größte Mut keinen Sinn.“
„Ich verstehe es. Es ist schwer, aber ich verstehe es. Ich fühle Verachtung gegenüber meinem früheren Leben. Ich kann es nicht glauben, je so gleichgültig, kalt und rücksichtslos gewesen zu sein.“
Über Duggs Gesicht huschte ein undefinierbarer Ausdruck, den Lorax nicht zu deuten wusste. Er hoffte, dass er nach den drei oder auch nur zwei Wochen in der Lage war, diese Gefühlsregungen zu erkennen und demzufolge zu reagieren.
„Dann vergiß es einfach“, riet ihm Dugg. „Suche nicht nach Erinnerungen. Sie werden dich nur verwirren oder gar verärgern. Lebe in dem Jetzt und Heute. Die Natur schenkte dir einen neuen Anfang. Nutze dies entsprechend.“
„Ich werde mir Mühe geben“, erwiderte Lorax schmunzelnd und musste feststellen, dass er das flaue Gefühl im Magen einfach vergessen hatte. Es hatte sich wie einige seiner Visionen einfach in Luft aufgelöst und war vom Wind in alle Richtungen davongeblasen worden. „Wann beginnen wir mit dem Unterricht?“, war er plötzlich begierig darauf, seine bisher ungeahnten Fähigkeiten endlich zu beherrschen.
„Jetzt sofort, wenn du möchtest. Denn die Natur ist nicht nur draußen im Wald, sondern auch hier drinnen. Als erste Lektion würde ich vorschlagen, dass du auf die Geräusche hörst. Schließe die Augen, lausche auf das was du hörst und versuche dir vorzustellen, was das sein könnte. Male dir aus, was gerade passieren könnte und lasse dabei die Geräusche voll und ganz in dich einfließen. Konzentriere dich auf jedes einzelne Geräusch, was auch immer geschieht. Fixiere deine Sinne darauf, so als seien deine Ohren die einzelnen Sinnesorgane, die in der Lage sind, deine Umgebung wahrzunehmen.“
Lorax schloß die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche. Das erste, was er hörte, war sein eigener Herzschlag. Er vernahm das Pochen lautstark in seinen Ohren, sowie das Rauschen des Blutes, wie es durch seine Adern gepumpt wurde. Er konzentrierte sich auf jeden einzelnen Schlag, als gäbe es nichts anderes mehr als das Bumbern in seiner Brust. Mit jedem Schlag sank seine Wahrnehmung mehr sich ihn hinein. Mit jedem Schlag vergaß er mehr und mehr seine Umgebung, was um ihn herum passierte, wo er sich befand. Für ihn gab es nur noch seinen eigenen Herzschlag. Es gelang ihm tatsächlich seine Sinne so zu sensibilisieren, dass sein Gehör wie ein feiner Fühler wirkte. Er konnte den Muskel förmlich sehen, wie er sich rhythmisch zusammenzog und mehrere Liter kostbaren Lebenssaftes durch seine Adern pumpte. Er war überrascht, dass ihm das wirklich gelang. Er hätte das von sich selbst nicht erwartet.
Insgeheim lächelnd konzentrierte sich Lorax auf etwas anderes und suchte sich spontan die Atmung von Dugg aus. Sein Herzschlag verstummte allmählich und die gleichmäßigen Atemzüge wurden immer lauter, bis er glaubte in einer dünnen Röhre zu stehen, durch die ein schneller Wind pfiff. Zuerst einige Sekunden lang in die eine Richtung, dann ebenso lang in die andere. Er glitt in dieses Geräusch, bis er die Lungenbläschen erkennen konnte, die sich voller Sauerstoff sogen und ihn beim nächsten Atemzug in die Blutbahn abgaben. Er hörte das kaum wahrnehmbare Rasseln irgendwo in den Lungenflügeln und wollte der Ursache eben auf den Grund gehen, als sich ein anderes Geräusch in sein Bewusstsein drängte. Es waren Schritte und die Geräusche, die ein Mensch verursachte, wenn er ging. Das leise Rascheln von Stoff, der bei jeder Bewegung aneinanderrieb. Das dumpfe Klopfen der Sohlen auf dem Boden. Ein Gesicht kristallisierte sich aus den Geräuschen heraus. Es war das von Tiane, seiner Schwester. Aber sie stand nicht, wie er vermutete, in der Öffnung zu ihrer Wohnhöhle, sondern hinter einem Felsen, der gerade noch ihren Kopf verdeckte. Ihr Gesicht war vor Entsetzen geweitet. Ihre Augen weit aufgerissen. Sie blutete aus zahlreichen kleinen Wunden. Sie schrie, aber nicht aus Panik, sondern sie schrie jemandem etwas zu. In ihren Augen war zu lesen, dass sie nicht unmittelbar dem Tode gegenüber stand, sondern nur einige Schritte davon entfernt. Sie schrie gegen einen Lärm an, den Lorax nicht ausmachen konnte und deutete mit dem Zeigefinger geradewegs auf ihn. Dann verwandelte sich ihr Gesicht in mehrere weise Kreise, in deren Mitte sich ein dicker roter Punkt befand. Als plötzlich ein Blitz in den Punkt einschlug und ihn zum explodierte brachte, und Funken und Feuer den roten Punkt gierig auffraßen und von ihm nichts mehr übrigließen, schrie Lorax gellend auf.
„Beruhige dich, Lorax!“, besänftigte ihn Dugg und drückte ihn mit sanfter Gewalt auf dessen Lager zurück. „Was ist denn?“
Lorax schlug die Augen auf. Er atmete heftig. Sein Kreislauf lief auf Hochtouren. Unweit vor ihm stand Tiane in der Öffnung zu ihrer Wohnhöhle. Sie starrte ihn erschrocken an. In ihrer Hand hielt sie eine Schüssel mit Obst, die ihr allmählich aus den Händen glitt. Als die erste Frucht zu Boden polterte, erinnerte sie sich ihrer Last und stellte sie rasch auf den nächst besten Tisch ab.
„Was ist denn?“, wiederholte Dugg eindringlicher. „Hattest du eine Vision?“
Lorax schnaufte. Es wollte ihm nicht so recht gelingen, das eben erlebte zu verarbeiten. Er wusste nicht, was die weißen Kreise und deren roter Mittelpunkt wirklich bedeuteten, aber er wusste, dass sie den Tod brachten. Und da sich Tianes Gesicht in jenen roten Mittelpunkt verwandelt hatte, der schließlich in Feuer und Rauch aufgegangen war, so glaubte Lorax, sollte sich Tiane in Feuer und Rauch verwandeln. Jemand trachtete ihr nach dem Leben, oder hatte ihr nach dem Leben getrachtet. Er sah hoch und starrte seine Schwester entsetzt an.
„Eine Vision“, plapperte Lorax nach, ohne jedoch die Bedeutung richtig zu kennen. Dann senkte er den Blick, atmete einige Male tief durch, bis sich sein gesamter Organismus wieder einigermaßen normalisiert hatte und suchte dann den von Dugg. „Ich weiß nicht, ob es eine Vision war. Sie war so wirklich – so erschreckend wirklich.“
„Was hast du denn gesehen?“
„Jemand tötete Tiane mit einem Blitz.“ Er war sich sicher, dass der Blitz nicht eines natürlichen Ursprung entstammte, wie zum Beispiel bei einem der Stürme, wenn sich die elektrischen Spannungen zwischen den einzelnen Wolkenschichten oder zwischen Himmel und Bodenoberfläche entluden. Er war sich sicher, dass ein intelligentes Wesen hinter dem Blitz stand und ihn aussandte.
„Hast du diesen Jemand auch gesehen?“ erkundigte sich Dugg vorsichtig.
Lorax versuchte sich an Einzelheiten zu erinnern, doch er musste den Kopf schütteln. Er sah nicht, wer den Blitz aussandte. Er zuckte einfach ins Bild, mitten in den roten Mittelpunkt, als stammte er – Lorax stutzte – als stammte er von ihm selbst.
Hatte er Tiane nach dem Leben getrachtet? War er ihr vor seinem Unfall so fremd geworden, dass er es in Erwägung zog, sie zu töten? War sie ihm so verhasst geworden, dass er sich veranlasst sah, seine eigene Schwester umzubringen?
Kalter Schweiß trieb aus seinen Poren, als er sich die verwirrenden Gefühle dabei vorstellte. Er konnte Tiane nicht töten. Sie war seine Schwester, hatte ihm selbstlos das Leben gerettet, obwohl er ihren Verlobten und über fünfzig weitere unschuldige Männer und Frauen in den Tod gerissen hatte. Wie niederträchtig und gefühlskalt musste er vor seinem Unfall gewesen sein, dass er sogar seine einzige Schwester töten konnte?
„Beruhige dich wieder. Niemand will Tiane töten.“
„Ich wollte es“, brach es aus Lorax hervor und musste dafür in den Gesichtern der beiden Entsetzen erkennen. Tiane taumelte einige Schritte zurück und Duggs Gesichtsfarbe war augenblicklich verblichen. „Ich wollte es tun. Aber ich weiß nicht, warum. Es muss etwas aus meiner Vergangenheit sein. Da Tiane noch lebt, habe ich es offenbar nicht getan, oder war daran gehindert worden. Ich weiß es nicht. Aber ich war nahe dran, es zu tun.“ Er gönnte sich eine schweigsame Pause von mehreren Atemzügen, dann schloss er die Augen wieder und starrte in die selbst gewählte Dunkelheit. „Wenn ich könnte, würde ich die Vergangenheit ebenso sterben lassen, wie den alten Lorax“, fuhr er fort, ohne jedoch seine Lider zu öffnen. „Aber offensichtlich ist das nicht möglich. Vielleicht muss ich mich erst mit meinem alten Leben auseinandersetzen und es irgendwie abschließen, ehe ich ein neues Leben beginnen kann.“ Er konzentrierte sich auf das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, das vom Höhleneingang bis zu ihnen ins Innere der Höhle drang. Er konnte bald die einzelnen Blätter sehen, wie sie im Wind flatterten. Er konnte das Geäst sehen, das mit jeder Böe hin und her wogte. Er konnte die mächtigen Stämme sehen, wie sie sich im Wind bogen und ächzten. Er sah Blätter, die vom Wind abgerissen wurden und ließ sich von einem der Blätter forttragen. Es flatterte hoch in die Lüfte, ritt auf den Luftschichten und trieb immer weiter von ihm weg. Dann verwandelte sich das Blatt in einen riesigen unnatürlich aussehenden Vogel mit ungewöhnlich steifen Flügeln. Der Riesenvogel schwebte lautlos und beinahe majestätisch am Himmel entlang – ehe er unvermittelt von einem Blitz getroffen wurde und in einem Feuerball explodierte.
Lorax fuhr hoch, schwer atmend und Schweiß überströmt. Er fand sich allein. Dugg und Tiane waren verschwunden. Panik befiel ihn plötzlich, wie ein Schwall Wasser, den man über ihm ausgekippt hatte. Er wollte aufstehen und sie suchen, doch seine Beine gaben nach. Sein rechtes Bein überflutete ihn mit einer gigantischen Welle aus Schmerz, die ihn gellend aufschreien ließ.
* * *
Dugg und Tiane begaben sich nach draußen, als sie glaubten, Lorax sei vor Erschöpfung eingeschlafen. Als er sich lange nicht mehr rührte und seine Atemzüge lange Zeit gleichmäßig und tief waren, sahen sie ihre Vermutung bestätigt und ließen ihn allein.
„Wir müssen äußerst vorsichtig sein“, begann Dugg leise, als befürchtete er, dass ihn jemand belauschen könnte. Er blickte sich einige Male misstrauisch nach allen Seiten um, ehe er weiter sprach. „Ich befürchte, dass der Junge sehr sensibel auf besondere Sinneswahrnehmungen reagiert und dass er in spiritueller Hinsicht ausgebildet wurde. Das würde die noch offen stehenden Fragen erklären, warum er uns auf unserem Rückzug abpassen konnte, obwohl wir unterirdische Gänge nutzten und warum er in so kurzer Zeit so viele Leute töten konnte.“
„Ich dachte, dazu sei jeder ausgebildete Scharfschütze fähig.“
„Er wusste genau, wo wer stand. Auch der beste Scharfschütze scheitert an der besten Deckung. Er hat es nicht zugelassen, dass wir uns hinter den großen Felsen in Deckung bringen konnten. Er hat uns ins Geröllfeld und dem dahinter liegenden Wald getrieben, uns dort festgenagelt und erlegt wie Jagdvieh. Auch ohne entsprechende Waffenkraft sind Bäume und Gebüsch keine sonderlich gute Deckung, aber ein guter Sichtschutz. Kein gewöhnlicher Schütze hätte es gewagt, Energie und Munition zu verschwenden, indem er wahllos in die Büsche feuerte – ohne zu wissen, wo und ob sich jemand dahinter befand. Dass er allein war, spricht ebenfalls für seine Fähigkeiten. Man traute ihm zu, dass er uns allein stellte und vernichtete.“
„Eine richtig gefährliche Killermaschine“, begriff Tiane und verzog ihr Gesicht. „Er ist auch in Nahkampftechnik bestens ausgebildet. Janos kann bis heute nicht den Mund richtig aufmachen.“
„Wir haben uns da einen ganz besonderen Fisch geangelt. Jetzt müssen wir nur zusehen, dass wir ihn richtig anrichten und servieren.“
„Ich frage mich nur, wenn er so eine skrupellose Killermaschine war, warum er sich so von uns manipulieren lässt. So etwas müsste doch tief in ihm verankert sein.“
„Ich vermute, dass dies anerzogen und antrainiert ist. Seiner vollkommenen Erinnerungen beraubt, bleiben nur seine ureigensten Gefühle, Empfindungen und Eigenheiten übrig. Er ist jetzt so, wie er wäre, wenn er nicht das wäre, was er gewesen ist.“ Er seufzte wenig hoffnungsvoll. „Wir müssen mit äußerster Vorsicht vorgehen. Mir wird es schon fast zu gefährlich mit dem Naturfühler. Aber ich kann jetzt nicht mehr zurück. Ich kann nur versuchen, ihn kontrolliert in die entsprechende Richtung zu lenken. Ich muss immer damit rechnen, dass er selbst seine Vergangenheit findet. Der Adacuz lähmt das Erinnerungsvermögen nur, kann aber jederzeit mit genug Willensstärke durchbrochen werden. Wenn er da dahinter kommt, ist es um uns geschehen.“
Ein Schrei tönte aus der Höhle. Kurz danach schepperte etwas zu Boden. Dugg und Tiane sahen sich erschrocken an, dann wirbelten sie herum und rannten in die Wohnhöhle zurück. Lorax lag neben seinem Lager auf dem Boden, zitternd und schweißnass. Die Schüssel, mit der Dugg die Wunde gesäubert hatte, lag zerbrochen auf dem Boden. Das Wasser bildete eine Pfütze, in der nun Lorax lag. Dugg hob ihn vorsichtig auf und bettete ihn zurück in das Bett aus Fell und Stroh.
„Die Wunde an deinem Bein ist zwar gut verheilt, das heißt aber nicht, dass du schon zu tanzen beginnen sollst“, schimpfte er mit wenig Nachdruck. „Dass ihr jungen Leute immer so ungeduldig seid.“ Er nahm das Tuch, mit dem er die Wunde gesäubert hatte, schüttelte es kurz aus und wischte damit über das erhitzte Gesicht seines Patienten. „Wo wolltest du denn hin?“
„Euch suchen“, gestand Lorax erschöpft.
„Vorerst solltest du nur Erholung suchen“, riet Dugg gütig. Er nahm einen Beutel aus seiner Tasche, entnahm ihm eine Brise getrocknete Kräuter, ließ sie in einen Tonbecher rieseln und goss es mit Wasser auf. Dann schwenkte er den Krug etwas und hielt ihm Lorax hin.
„Das schenkt dir etwas Schlaf; und wenn du erwachst, kannst du an deinen ersten Ausflug denken.“ Er hielt ihm den Becher an die Lippen und beobachtete erleichtert, wie Lorax willig die Kräuter trank. Er war froh, dass der junge Mann noch keine Skepsis gegenüber den Getränken entwickelt hatte, die man ihm gab. Der Kräutertee, den Tiane ihm stets zu trinken gab, war mit Adacuz-Extrakten versetzt, die sein Erinnerungsvermögen blockierten und ihm seine Vergangenheit raubten.
„Denkst du wirklich, ich bin als Naturfühler geeignet?“, wollte Lorax wissen und musste bereits gegen die eintretende Wirkung ankämpfen.
„Du bist sensibel gegenüber den Stimmen der Natur. Ich bringe dir bei, sie auch zu verstehen. Wir machen morgen weiter. Jetzt ruhe dich etwas aus.“ Er nickte ihm zu und erhob sich. Noch bevor er sich umdrehte und mit Tiane die Wohnhöhle wieder verließ, bemerkte er, dass Lorax eingeschlafen war. Konsois-Sprossen wirkten schnell, wusste er und besaßen zudem noch die Nebenwirkung, einem einen traumlosen Schlaf zu schenken. Lächelnd ging er hinter Tiane her und setzte sich mit ihr auf die Bank vor dem Eingang, um den Sonnenuntergang zu beobachten.
* * *
Als Dugg am nächsten Morgen zur Wohnhöhle der Geschwister kam, war Lorax bereits auf den Beinen. Er saß geradewegs an jener Stelle, an der Dugg am Abend zuvor gesessen hatte und fragte sich, ob der Junge das wissen konnte; ob er sich absichtlich auf diese Stelle gesetzt hatte. Doch dann schüttelte er den Kopf und setzte sich grußlos neben ihn. Es gab hier nur eine einzige Bank, die zum verweilen einladen konnte.
Er hatte schon von weitem bemerkt, dass Lorax starr vor sich ins Leere sah und offenbar an der ersten Lektion arbeitete. Erst als sich sein Schüler bewegte und sein Atem heftiger ging, räusperte er sich und machte damit auf sich aufmerksam.
Lorax Blick wurde schnell klarer. „Ich weiß nicht genau, ob es das ist, was du gemeint hast“, begann er. „Aber wenn ich mich auf die Geräusche des Waldes konzentriere, dann kann ich mich nur auf ein einziges konzentrieren. Alles anderes rückt außerhalb meines Wahrnehmungsfeldes. Aber ich weiß, dass es da ist.“
„Das ist gut“, nickte Dugg zufrieden. „Wenn du weißt, dass da etwas ist, kannst du dich jederzeit von einem Geräusch distanzieren und deine Aufmerksamkeit etwas anderem widmen.“
„Woher weiß ich, was wichtig ist und was nicht.“
„Dafür bekommst du noch ein Gespür“, versicherte ihm der Ältere und zeigte mit dem ausgestreckten Finger Richtung Horizont. Doch ehe er etwas sagen konnte, kam ihm Lorax zuvor.
„Tiane benimmt sich so merkwürdig“, sagte er nachdenklich. „Sonst ist sie die ganze Zeit um mich und hört gar nicht auf zu reden. Doch seit heute morgen bekomme ich sie kaum noch zu Gesicht und wenn, dann verhält sie sich äußerst wortkarg und zieht eine Miene, als hätte ich sie dazu gezwungen Sauerwein zu trinken.“
Dugg musste unwillkürlich schmunzeln. „Tiane ist erschrocken über die überraschende Wandlung. Gestern, nachdem du schliefst, saßen wir noch lange zusammen und sie schüttete ihr mir Herz aus.“ Dugg erinnerte sich an das Gespräch und musste sich ein vielsagendes Glitzern in den Augen mühselig verkneifen. Es ging weithin nicht um Herzensangelegenheiten, sondern um das Ausklügeln einer neuer Strategie.
„Sie macht sich Vorwürfe“, berichtete Dugg weiter. „Dass es ihr ebenfalls nicht aufgefallen war. Niemandem war es aufgefallen, selbst deinem Vater nicht, der zwar keine Naturfühlerfähigkeiten besitzt, aber sehr oft mit mir zusammen war und sich daher eigentlich etwas auskennen sollte. Alle sahen dich als rastlosen Heißsporn, der ständig neue Herausforderungen suchte und dabei meistens auf die Nase fiel. Auch ich, muss ich gestehen. Niemand kam auf die Idee, dass du sensibel gegenüber den Zeichen der Natur sein könntest. Eigentlich ist es eine Schande“, stieß Dugg schließlich aus und blickte kurz verlegen zu Boden. „Ich habe mir immer jemanden gewünscht, mit dem ich meine Empfindungen teilen konnte, der mich verstand, der ebenso die Natur erfühlen konnte wie ich. Ich wünschte mir, dass es jemanden gäbe, dem ich das vermitteln konnte, was ich fühlte. Dabei bist du die ganze Zeit vor meiner Nase gewesen. Und ich habe es nicht gesehen.“
„Hätte ich vor meinem Unfall in der Lage oder Verfassung sein können, Tiane zu töten?“, wollte Lorax unverhofft wissen.
Dugg zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich muss zugeben, dass ich mich stets weit von dir entfernt hatte und nur das nötigste mit dir zu tun haben wollte. Ich bekam die Geschichten mit dir nur am Rande mit.“
„Ich hatte heute Nacht zum ersten Mal keine Träume“, berichtete Lorax beinahe traurig.
„Das lag am Konsois“, wusste Dugg. „Ich hätte dich vielleicht warnen sollen.“
„Das war die erholsamste Nacht seit langem“, offenbarte Lorax plötzlich gewandelt. Ein gewisser Glanz lag in seinen Augen. Er schien glücklich über den Umstand zu sein, nicht geträumt zu haben. „Die Träume plagten mich. Es waren Vision – aus meiner Vergangenheit – von der Natur – ich weiß es nicht. Aber sie ließen mich nicht schlafen und ich erwachte am morgen, so erschöpft und matt wie ich am Abend zuvor schlafen gegangen bin.“ Er drehte sich zu Dugg. „Dieses – Konsois – ist es ratsam, das öfter zu nehmen, nur bis ich das alles im Griff habe?“ Er machte eine weit ausholende Handbewegung, mit der er die Natur draußen vor seiner Wohnhöhle einschloss.
„Damit muss man vorsichtig sein. Erstens macht es süchtig, wenn man zuviel davon erwischt und zweitens kann es deine Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigen. Du hast gerade erst angefangen, deine besonderen Fähigkeiten zu entdecken und zu beherrschen. Da ist es nicht ratsam, einen Hemmer zu dir zu nehmen.“ Er legte seinen Arm über die Schultern des Jüngeren. „Als ich noch sehr klein war, plagten mich fast jede Nacht unheimliche Alpträume. Ich bin fast wahnsinnig geworden und meine Eltern wussten sich keinen Rat mehr. Ich wusste allerdings bereits um meine Sensibilität gegenüber den Zeichen der Natur und ahnte, dass es etwas damit zu tun haben musste. Ich ging zu einem Naturfühler und erzählte ihm das. Er lachte mich zuerst aus und sagte mir, dass gehöre zu meiner Bestimmung. Und als ich schon enttäuscht wieder abziehen wollte, sagte er mir, ich solle die Alpträume doch einfach verbannen. Erst wusste ich nichts damit anzufangen, doch als ich in der nächsten Nacht wieder in einem Alptraum gefangen war, stellte ich mir vor – im Traum wohlgemerkt – ich fange den Alptraum mit einem Netz ein und werfe es weit hinaus in den Fluss, auf dass die Strömung es weit forttrage. Es dauerte noch ein paar Nächte lang, bis ich es endlich beherrschte und auf einmal konnte ich wieder ruhig schlafen.“ Er tippte an Lorax Stirn. „Die Lösung liegt in dir selbst drin. Wenn dir die Visionen unangenehm sind, dann verbanne sie aus deinem Kopf. Wirf sie in einen Sack und versenke ihn in einem Loch, oder fange sie mit einem Netz ein und wirf es in den Fluss. Schiebe von dir, was du nicht haben willst und konzentriere dich auf etwas anderes, angenehmeres, etwas, was dich erholsam und ruhig schlafen lässt. Irgendwann wirst du so gut darin sein, dass dir das ganze nicht mehr auffällt. Du wirst glauben, die bösen Visionen und Alpträume hätten von selbst aufgehört.“
Ein leiser resignierter Seufzer entfleuchte Lorax.
„Du schaffst das“, versicherte ihm Dugg und zog ihn sanft an sich. „Du musst nur an dich glauben – und vor allem an dein neues Leben.“
„Das will ich ja, aber das ist nicht ganz einfach.“
„Wir haben gerade erst angefangen“, sprach Dugg dem Jungen Mut zu. „Ich bin sicher, in drei Wochen lachst du über deine Sorgen von heute.“
„In zwei“, verbesserte Lorax mit einem leichten Schmunzeln im Gesicht.
Dugg brach in heiteres Gelächter aus, in das Lorax zunächst nur zögerlich einfiel, sich aber dann auch das von allen Zwängen befreiende Vergnügen gönnte. Doch als Tiane zwischen den Bäumen auftauchte, verstummte er abrupt und starrte sie ausdruckslos an. Die junge Frau senkte sofort den Blick und eilte an den beiden Männern vorbei in die Wohnhöhle, ohne ihnen einen Gruß zu erwidern, so als müsse sie vor den beiden flüchten.
„Ich bin mir nicht sicher, ob sie wütend oder beschämt wegen mir ist“, gab Lorax seufzend von sich. „Ich würde sie so gerne wieder lächeln sehen.“
„Das wird sie mit Sicherheit wieder tun“, wusste Dugg. „Wenn sie merkt, dass mit dir nun alles gut wird, wird sie auch bald wieder lächeln. Sie ist genauso beschämt wie ich. Wir hätten es früher merken können.“ Er drückte den Jungen kurz und deutete abermals Richtung Horizont. „Siehst du den Schwarm Vögel dort? Versuche einen von ihnen zu erreichen und dich von ihm forttragen zu lassen.“
Lorax strengte seine Augen an. „Ich sehe kaum mehr als schwarze Punkte.“
„Die Natur wird dich dem Vogel näher bringen. Konzentriere dich und folge seinem Flug.“
Lorax suchte sich einen der winzigen schwarzen Punkte aus und folgte ihm zunächst nur mit den Augen. Er bemerkte beinahe nicht, wie sich seine Wahrnehmung veränderte und er den Vogel immer deutlicher sehen konnte. Immer näher kam er ihm, bis er ihm schließlich so nahe war, dass er glaubte, dessen Schwanzfedern berühren zu können. Der Vogel flog hoch oben, beinahe in den Wolken. Unter ihm breitete sich die Landschaft aus: Hügel, blühende Wiesen, grüne Wälder, im Sonnenlicht glitzernde Flüsse und Seen, Tiere die sich zwischen den Bäumen versteckten oder über die Wiesen sprangen, auf der Suche nach Nahrung, Insekten, die von Blüte zu Blüte flogen und den süßen Nektar aus den prallgefüllten Kelchen leckten. Lorax verschmolz beinahe mit dem Vogel. Er konnte ihn längst nicht mehr sehen: er war der Vogel. Er fühlte die kräftigen Flügelschläge, spürte den Wind an seinem Schnabel entlang rauschen und ein schier unbeschreibliches Gefühl der Freiheit beseelte ihn, als er rings um sich nichts anderes erblickte, als freien Raum. Selbst der Schwarm, in dessen Mitte sich der Vogel aufhielt, rückte für ihn in weite Ferne. Lorax sah nach oben und entdeckte die Wolken so nahe, wie er sie noch nie erlebt hatte. Dann blickte er nach unten und entdeckte tief unter sich die Welt so klein, als hätte sie sich in Miniaturen verwandelt.
Da fing sein Blick etwas ein, was sich in seine Wahrnehmung hineinbrannte wie ein glühendes Stück Kohle, das man auf ein Stück Papier gelegt hatte. Etwas, was sich nicht in die Landschaft eingliedern ließ. Etwas, was sich sogar sehr störend auf die Umgebung auswirkte, in dessen Mitte es sich befand. Geometrische Formen aller Größen und Farben hatten sich dort aneinander gefügt und eine Fläche bedeckt, die bei nächster Nähe betrachtet, gigantisch groß und unübersehbar sein musste. Es musste sich um eine Ansiedlung handeln, vermutete Lorax und sank mit dem Vogel tiefer. Sein Interesse war geweckt: Er wollte sich diese Ansiedlung näher betrachten. Quadratische schwarze Felder standen dicht an dicht. Lediglich dünne graue Fugen trennten sie voneinander. Je tiefer Lorax sank, desto besser konnte er die einzelnen Gebäude ausmachen. Die Leute hier schienen nicht in Höhlen zu wohnen, sondern hatten sich massive Häuser gebaut, die dem Sturm offenbar besser trotzen, als die Wohnhöhlen, in denen sein Volk lebte. Er konnte keinerlei Zerstörungen ausmachen. Ganz im Gegenteil. Die Gebäude glänzten weiß und silbrig im Sonnenlicht. Die dünnen, grauen Fugen, die Straßen darstellten, waren ohne jegliche Löcher oder sonstigen Beschädigungen. Eine Unmenge von Leuten wimmelten zwischen den einzelnen Gebäuden herum und gingen betriebsam den verschiedensten Beschäftigungen nach. Es gab Fahrzeuge, die sich aus eigener Kraft fortbewegten und sogar ein kleines Stück über dem Boden schweben konnten. Weiter hinten, etwas abseits der Ansiedlung befanden sich große, schwarze, quadratische Flächen, auf denen unförmige Dinger standen, die sogar noch höher in den Himmel hinauf schweben konnten und die Luft zum zittern brachten. Lorax erschrak, als dicht an ihm eines dieser Dinger vorbei dröhnte und beschloss diesen Ort zu verlassen. Er wusste nicht, um was für einen Ort es sich dabei handelte, doch er konnte förmlich fühlen, dass es sich um keinen freundlichen Ort handelte. Er strahlte soviel Hektik, Unruhe, Lärm und Trubel aus, dass er sich sogleich unwohl fühlte.
Während der Vogel in einem weiten Bogen kehrt machte, entdeckte Lorax auch einen abgetrennten Abschnitt der Ansiedlung. Ein Abschnitt, der mit einem hohen Zaun umgeben war und in dessen Inneren sich zahlreiche, kleinere Objekte befanden. Objekte, wie diese fliegenden Dinger, die ihm Angst machten aber doch irgendwie vertraut vorkamen. Er flog näher, um sich diese kleineren Objekte anzusehen und je näher er ihnen kam, desto unbehaglicher wurde ihm. Diese merkwürdige Vertrautheit, die er gegenüber den Objekten gespürt hatte, hatte ihn neugierig und kühn werden lassen, doch je näher er ihnen kam, desto stärker wurde er von einem eiskalten Hauch erfasst. Er fühlte die Kälte, die von den Objekten abging. Er fühlte die verheerende Macht, die diese Objekte ausüben konnten und er fühlte den Tod, die sie über andere Lebewesen bringen konnten.
Beinahe abrupt und in panischer Flucht wandte er sich von den Objekten ab und flog wieder in den hellblauen Himmel. Mit dem Vogel machte er sich auf den Rückweg in Richtung der Hügel, hinter denen sich die Wohnhöhlen seines Volkes befand und in deren Nähe er die Kälte des unwirtlichen Ortes abschütteln konnte. Er überflog felsige Erhebungen auf denen Tiere weideten, deren Hörner sich in engen Windungen vom Kopf abspreizten. Ohne je eines zu Gesicht bekommen zu haben, wusste Lorax, dass es sich hierbei um Berg-Arapachos handelte und setzte zu einem leichten Sinkflug an. Er wollte sich diese Tiere genauer ansehen, als sein Augenmerk einen halb eingestürzten Hang entdeckte, dessen Anblick ihn sogleich fesselte. Die Hälfte eines ganzen, felsigen Hügels war eingestürzt und in einer Gesteinslawine gen Tal gegangen. Große Felsbrocken, so groß wie ein ausgewachsener Mann, bis hin zu kleinstem Geröll hatte eine dicke Schicht auf dem Boden des Hügels gebildet. Der abgebrochene Hang selbst sah so verwundet, so verletzt, so offen aus, dass Lorax von einem merkwürdigen, anteilnehmenden Gefühl befallen wurde. So als hätten sie beide irgend etwas gemeinsam, als sei ihnen beiden zugleich etwas angetan worden, das ihr künftiges Dasein für immer verändert hatte. Lorax erkannte sofort, dass es sich hierbei um die Klüften handelte, die er mit seiner unvorsichtigen Tat zum Absturz gebracht und über siebenundfünfzig guten Menschen das Leben genommen hatte.
Der Vogel überflog den abgestürzten Felsenhügel einige Male und setzte dann zur Landung an. Sobald er einen Fuß auf den Steinkopf des Hügels gesetzt hatte, spürte Lorax einen kalten Hauch in seinem Nacken und er fuhr herum. Hinter ihm hatte sich ein Mann mit einer über seinem Kopf erhobenen Axt aufgebaut; bereit, die scharfe Schneide seiner Waffe in den Körper seines Opfers zu bohren. Lorax Wahrnehmung verschwamm augenblicklich, als sich der Überraschungsmoment in Schreck verwandelte. Dann konnte er tief unter sich Leute erkennen, die sich hinter Büschen, Baumstämmen, Felsbrocken und Gesträuch versteckten. Sie schrieen vor Angst – vor Todesangst – und verschanzten sich tief hinter ihren Verstecken. Doch den wenigsten verhalf ihre Deckung zum Überleben. Er konnte Tote und Verwundete sehen, Menschen mit weit aufgerissenen Augen und Mündern. Er konnte Pfützen aus Blut sehen, frisch und noch warm in der Sonne schimmernd. Dann schob sich Tianes Gesicht in seine Wahrnehmung. Sie öffnete den Mund und schrie etwas. Sie rief jemandem etwas zu und beinahe zeitgleich verwandelte sich ihr Gesicht in ein rotes und weißes kreisförmiges Gebilde, dass vor seinen Augen in tausend Fetzen zersprang.
Lorax schrak aus seiner Trance und blickte sich verwirrt um. Er saß allein auf der Bank. Dugg war bereits gegangen. Doch gerade jetzt hätte er jemanden gebraucht, mit dem er über seine Wahrnehmungen sprechen konnte. Sein Atem ging heftig und er zwang sich zur Ruhe. Was auch immer er gesehen und gefühlt hatte, er konnte es nicht richtig deuten. Er wusste nicht, ob es Realität oder Fiktion war. Er wusste nicht, ob ein Teil seiner Vergangenheit zurückgekehrt war, oder ob ihn irgendwelche Geister der Natur weiter für seine Tat quälen wollten. Der unheimliche Ort mit den todbringenden Objekten in dem abgezäunten Bereich hatte so wirklich gewirkt, so als bestünde er tatsächlich.
Dann erhob er sich spontan und wollte sich schon auf dem Weg machen, um persönlich nach dem Ort zu suchen. Doch er hielt inne, da ihm im gleichen Moment die Unmöglichkeit seines Vorhabens einleuchtete. Er würde mehrere Tage unterwegs sein und in seiner momentanen Verfassung käme er sicherlich nicht weit.
Da hörte er ein Geräusch aus der Wohnhöhle und begab sich nach drinnen. Tiane stand an der Feuerstelle und rührte in einem großen Kessel. Obwohl sich Lorax mit keiner Äußerung bemerkbar gemacht hatte, schien sie zu wissen, dass er in ihrem Rücken stand.
„Ich koche gerade für dich den Saft von Holderbeeren aus“, sagte sie emotionslos.
„Ich wusste es selbst nicht“, begann Lorax, brachte sich mit wenigen Schritten neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Es wäre sicherlich einiges nicht geschehen, wenn mein Talent früher erkannt wäre – wenn ich es früher erkannt hätte."
Tiane hielt mit dem Rühren inne und starrte gedankenverloren vor sich hin. „Wir haben uns alle etwas vorzuwerfen“, bemerkte sie leise. „Dugg sagt, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn man selbst nichts von den Fähigkeiten bemerkt. Also trägst du dieselbe Schuld, wie alle anderen.“ Sie rührte einige Male in dem Kessel herum, damit der Fruchtsaft nicht am Boden des Kessels anbrannte und hielt wieder inne. Nach einem Augenblick schwerlastigen Schweigens sah sie hoch und suchte seinen Blick. Tränen standen in ihren Augen. „Ich wünschte nur, Vater hätte es noch erlebt. Es hätte ihn unendlich stolz gemacht.“
„Vater“, wiederholte Lorax passiv, als wüsste er mit diesem Begriff nichts anzufangen. „Ich wünschte, ich könnte mich noch an ihn erinnern. Doch da ist nichts, kein einziger Impuls.“ Er suchte ihren Blick. „Waren wir uns vor dem Unfall so feindselig gestimmt, dass ich ihn aus meinen Gedanken und sogar meinen Träumen verbannt hatte?“
„Das ist gut möglich“, entgegnete sie und rührte abermals den Saft um. „Ihr konntet keine Minute zusammensein, ohne euch gleich zu streiten. Du hast immer gewartet, bis Vater fort war, damit du nach Hause kommen konntest – wenn du nach Hause gekommen bist.“
„Vater“, sagte er ein weiteres Mal passiv, diesmal jedoch in sich gekehrt. „War das ein großer, muskulöser Mann, Anfang Fünfzig, mit leicht ergrautem Haar und Narben auf der rechten Gesichtshälfte?“
Tiane glitt der Löffel aus der Hand. Sie musste sich Gewalt antun, ihn nicht anzustarren.
„Ich hatte eine Vision“, gestand Lorax, wandte sich um und setzte sich auf einen Sitzblock in der Nähe der Feuerstelle. „Wenn es nicht symbolisch für etwas stand – etwa für unseren Streit – dann glaube ich, dass er ebenfalls in die Klüften geklettert ist und mit mir oben auf dem Gipfel stand. Er hielt eine Axt in der Hand und wollte mich damit erschlagen.“ Er suchte Tianes Blick und klammerte sich für einen Moment daran fest. „Vielleicht war das der Auslöser gewesen“, versuchte er Klarheit zu finden. „Vielleicht war unser Hass so groß gewesen, dass wir bereit waren, einander zu töten. Vielleicht haben wir dabei lockere Felsschichten losgetreten. Vielleicht...“
„Vater stand bei mir“, unterbrach sie ihn vorsichtig. „Und wurde unter den Gesteinsmaßen begraben.“
„Und wenn ich diese Visionen habe, dann sehe ich immer wieder dich, wie ich beabsichtige dich zu töten.“
Tiane senkte ihren Blick, nahm eine Schöpfkelle in die Hand, schöpfte etwas von dem Saft aus dem Kessel in einen Tonbecher und überreichte ihn Lorax. „Ich denke, es ist besser, wenn du nicht mehr über deine Vergangenheit nachdenkst. Ich habe viel zu viel Angst davor, dass dann der alte Lorax wieder zum Vorschein kommt und alles wieder so ist, wie es vorher war. Ich will das nicht. Ich bin glücklich darüber, wie es jetzt ist.“
„Ich im Grunde auch“, gestand er beinahe reumütig, nahm den Becher entgegen und roch daran. Der Saft war noch heiß und daher nicht genießbar. „Auch wenn ich nicht weiß, was vorher geschehen ist.“ Er zuckte zurück, als er glaubte, denselben bitteren Geruch ausgemacht zu haben, den er auch bei dem Kräutertee geschmeckt hatte und der ihm mittlerweile Übelkeit erzeugte.
„Es muss noch mit Wasser verdünnt werden“, erklärte sie. Ganz langsam tauchte um ihre Mundwinkel ein verklärtes Lächeln auf. Ihre Augen bekamen einen sehnsüchtigen Glanz. „Als Kinder bettelten wir Mutter solange an, bis sie uns endlich einen Becher unverdünnten Saft gab. Er war so süß und wir haben ihn ganz langsam getrunken.“
Lorax musste lächeln, umfasste den heißen Becher mit beiden Händen und hielt ihn vorsichtig an die Lippen, um einen winzigen Schluck der heißen Flüssigkeit zu kosten. Der Saft war tatsächlich zuckersüß und in dieser Form als Durstlöscher denkbar ungeeignet. Aber für zwei kleine Kinder als Naschwerk gerade richtig.
„Ich werde ihn auch ganz langsam trinken“, sagte er mit einem Anflug von Melancholie und schenkte ihr ein ehrlich gemeintes Lächeln. Doch dann wurde er wieder ernst. „Ich kann die Toten nicht erwecken, aber ich kann helfen, die Lebenden zu schützen. Wenn ich soweit bin mit meinen Naturfühlerfähigkeiten, dann werde ich mich voll und ganz diesem Dienst widmen. Ich habe einiges wieder gut zu machen. All das, was durch mein Zutun geschehen ist, kann ich nicht wettmachen, aber hoffentlich einen Großteil davon.“
„Dugg ist deswegen guter Hoffnung. Er sagt, du lernst schnell und besäßest ein gutes Talent.“
„Ich bin selbst überrascht, wie einfach manche Dinge sind“, gestand er und nippte ein zweites Mal vorsichtig an dem Becher. Bei dem zweiten Schluck machte sich neben der klebrigen Süße auch ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Bitter bemerkbar. „Hast du da irgendwelche Kräuter mitgekocht?“, wollte er unverhofft wissen.
Tiane blickte ihn erst fragend an, dann nickte sie. „Muss ich, um den Geschmack hervorzuheben. Warum?“
„Offenbar dieselben Kräuter, die sich auch im Kräutertee befinden. Könntest du beim nächsten Mal die Kräuter weglassen, die den herben Beigeschmack verursachen?“
„Welchen herben Beigeschmack?“ Tiane nahm ihm den Becher aus der Hand, kostete vorsichtig und ließ den Geschmack auf der Zunge zergehen. „Das kann nur das Bleikraut sein“, sagte sie nach einer Weile. „Das sorgt für die Bekömmlichkeit. Aber wenn du möchtest, werde ich das nächste Mal etwas sparsamer damit umgehen. Außerdem wird der Geschmack wesentlich abgemildert, wenn der Saft erst mit Wasser verdünnt ist.“
Lorax nahm den Becher wieder entgegen. „Bis dahin werde ich ihn ganz langsam und in kleinen, kostbaren Schlücken genießen – in der Hoffnung, dass ein klein wenig von meinen Kindheitserinnerungen zurückkehrt.“ Er nahm einen weiteren Schluck und ließ ihn auf der Zunge zergehen. Die Süße umschmeichelte seine Zunge und liebkoste seine Geschmacksnerven. Dieses Aroma gefiel ihm wesentlich besser, als das des herben Tees. Aber es traf immer noch nicht das, was er glaubte gewöhnt zu sein. Er wollte aber nicht weiter nachfragen. Wenn er selten zu hause war, um die Küche seiner Mutter zu genießen, würde er sicherlich anderswo gegessen und getrunken haben. Solange er nicht wusste, wo dieses anderswo war, verhielt er sich zurückhaltend. Zudem wollte er Tiane nicht verärgern. Er hatte sie gerade erst wieder dazu gebracht, sich ihm gegenüber etwas zu öffnen und ihm nicht mehr mit einem missmutigem Gesicht zu begegnen.
Er dachte kurz über das nach, was er in seiner Übung gesehen hatte und war sich plötzlich nicht mehr so sicher, dass er es überhaupt gesehen hatte. Es konnte ebenso gut möglich sein, dass ihm sein Verstand einen Streich spielte und etwas suggerierte, was nicht sein konnte. Die Siedlung mit den seltsamen Gebäuden und dem eingezäunten Bereich.
„Was befindet sich hinter den Felsenhügeln?“, wollte er unverhofft wissen. „Gibt es da andere Ort? Andere Menschen?“
Tiane zuckte unwissend mit den Schultern und rührte den Beerensaft um. „Ich weiß es nicht. Ich war noch nie dort.“
„War überhaupt schon jemand von uns dort? Ich meine von unserem Dorf?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe mich nie darum gekümmert. Warum willst du das wissen?“ Sie legte den Rührstab beiseite und nahm den Kessel von der Feuerstelle, um ihn auf den Tisch zu stellen und den Saft in große Krüge zu verteilen.
„In meiner Vision sah ich seltsame Häuser und merkwürdig anzusehende Objekte, die sich in den Himmel erheben konnten.“
„Meinst du die Thermiko-Gleiter?“, wollte sie beinahe beiläufig wissen. „Die gibt es in beinahe jedem Dorf. Das ist manchmal die einzige Möglichkeit, um weite Strecken zu überwinden. Du bist früher oft mit ihnen geflogen.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sehen nicht wie große Vögel aus, sondern eher wie unförmige, dick aufgedunsene Fische. Sie strahlten eine tödliche Kälte aus, die mir Angst machte. Hast so etwas derartiges schon mal gesehen?“
Tiane schüttelte den Kopf. „Nein, noch nie.“
„Oder davon gehört?“
Wieder schüttelte Tiane den Kopf. Dabei beäugte sie ihn so skeptisch, dass sich Lorax jede weitere Frage verkniff.
„Vielleicht solltest du dich hinlegen und etwas ausruhen“, bemerkte Tiane gutmütig und deutete auf sein Lager. „Es war sicherlich noch etwas zu viel für dich.“
Lorax erhob sich tatsächlich, begab sich zu seinem Lager und setzte sich. Er legte sich jedoch nicht hin, sondern hielt den Becher mit dem unverdünnten Holderbeeren-Saft wie einen kostbaren Schatz in seinen beiden Händen und starrte in die dunkelrote Flüssigkeit, als wolle er aus ihr sein Schicksal deuten.
„Wirklichkeit und Vision auseinander zu halten ist offenbar schwieriger als ich dachte.“
„Du lernst es“, versicherte ihm Tiane zuversichtlich. „Du hast ja gerade erst angefangen, deine Fertigkeiten zu schulen.“
„Du hast vermutlich recht“, gab Lorax seufzend von sich, trank einen weiteren Schluck und stellte dabei fest, dass ihm dieser Schluck wesentlich besser mundete. Er schien sich an den süßlichen, leicht herben Geschmack gewöhnt zu haben. Er trank einen weiteren Schluck und noch einen. Dann umklammerte er den Becher wieder nachdenklich. „Vermutlich ist das auch nur ein Ergebnis meiner erweiterten Wahrnehmungsfähigkeit gewesen“, mutmaßte er. „Aber ich würde zu gerne wissen, wie ich auf diese merkwürdige Siedlung komme.“
„Niemand kennt jeden Fleck dieser Welt“, sagte seine Schwester und füllte den Saft weiter in die Krüge um. Dampf entwich den Krügen und kräuselte sich schemenhaft gen Decke. „Ich weiß nicht, wo du dich früher herumgetrieben hast. Vielleicht gibt es tatsächlich Orte, wie du sie gesehen hast und du hast sie auch besucht. Aber ich bezweifle, dass aufgedunsene Fische in den Himmel fliegen können.“ Sie zwinkerte ihm schelmisch zu.
„Es wäre für alle das Beste, wenn ich erst lerne mit meinen Fähigkeiten umzugehen, ehe ich versuche, diese Irrungen zu deuten“, wusste er und nahm noch einen Schluck. Er fühlte sich wesentlich besser. Der Druck der neuesten Vision wich allmählich von ihm und löste sich in angenehmen weißen Rauch auf, ähnlich wie die Dampfschwaden, die den Krügen entwich. Gedankenverloren beobachtete er einige von ihnen, dann riss er sich los, gönnte sich noch einen Schluck des süßen Saftes und stellte den Becher auf einen niederen Tisch neben seinem Lager. „Gibt es eigentlich etwas, wobei ich dir helfen könnte?“, erkundigte er sich aufrichtig.
Tiane schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie. „Leg dich hin und schlafe noch ein wenig. Ich wecke dich zum Abendessen. Das bringt uns beiden mehr, als wenn du dich übernimmst. Trinkst du deinen Becher noch aus? Wenn nicht, schütte ich ihn zurück. Wenn der Sirup erkaltet ist, wird er so glibberig hart und schmeckt scheußlich.“
„Ich trinke den Saft noch. Er schmeckt bei jedem Schluck besser.“ Er nahm den Becher wieder zur Hand und nahm weitere Schlücke zu sich. Er fühlte die Wärme in sich aufsteigen. Eine Wärme, die ihm sämtliche Last zu nehmen schien. Die Vision von vorhin wirkte längst nicht mehr so beängstigend wie noch vor ein paar Minuten. Er ertappte sich auch dabei, wie er nicht mehr alle Details in seine Erinnerung rufen konnte. Vermutlich war es doch nur ein Hirngespinst seines gestörten Unterbewusstseins, mutmaßte er und leerte den Becher mit einigen wenigen Zügen. Der Saft hatte sich mittlerweile soweit abgekühlt, dass er noch heiß, aber angenehm trinkbar war. Wenn seine Schwester wieder frischen Holderbeeren-Saft aufbrühte, dann würde er sie erneut um einen Becher unverdünnten Saft anbetteln – so wie sie es als Kinder getan hatten.
* * *
Distriktverwalter Mornt Gekorj blickte hoch, als sich die Türe öffnete und Barrt Lekku eintrat. Lekku war sozusagen seine rechte Hand, Laufbursche, Adjutant, Pressesprecher und Vertretung in einem. Er besaß absolutes Vertrauen in den untersetzten, ständig gehetzt wirkenden Mann. So wischte sich Lekku erst einmal den Schweiß von der Stirn, ehe er seinem Vorgesetzten Bericht erstattete.
„Und?“, fragte Gekorj ungeduldig, als Lekku sich ungewöhnlich lang Zeit ließ. „Haben sie schon eine Spur von ihm gefunden?“
Mit einem Kopfschütteln setzte sich der dickliche, weißgesichtige Storianer auf einen freien Stuhl gegenüber des Schreibtisches. „Die speziell für ihn eingerichteten Honorarkonten wurden noch nicht angerührt. Ich ließ sie einfrieren. So ist er gezwungen, sich mit uns in Verbindung zu setzen, falls er an das Geld will.“
Der Distriktverwalter schob das Schriftstück von sich, das er studiert hatte, bevor Barrt Lekku gekommen war. „Er kann doch nicht einfach so spurlos verschwinden. Niemand verschwindet, ohne ein Zeichen zu hinterlassen.“ Er erhob sich und ging einige Male im Zimmer auf und ab. Dann blieb er stehen und blickte starr aus dem Fenster. Am Horizont erhoben sich felsige Hügel, die ihm den direkten Blick zu den Ureinwohnern von Logeyza versperrten. Als er auf diesen vermeintlich unbewohnten, naturbelassenen Planeten versetzt worden war, um sich seiner Bodenschätze zu bemächtigen und aus dem fruchtbaren Land, wertvolles und ergiebiges Ackerbauland zu machen, hatte ihn niemand davon in Kenntnis gesetzt, dass er erhebliche Schwierigkeiten mit den hier ansässigen Bewohnern haben würde. Sie verwüsteten die angelegten Plantagen, boykottierten in aller Heimlichkeiten die Gerätschaften, mit denen Waldflächen gerodet oder Sumpfland trocken gelegt werden sollte, jagten Wohnanlagen, Lagerhallen, Fördertürme und alles andere in die Luft, was seine Leute in mühevoller Arbeit errichtet hatten. Was auch immer Gekorj unternahm, er wurde den primitiven Bewohnern, die sich selbst Naturfühlende nannten und die in Höhlen und unterirdischen Bauten lebten, nicht Herr. Unter diesen Umständen konnte er das ihm auferlegte Soll nicht erfüllen. Ihm wurden Abwehrjäger, Laserkanonen und im Nahkampf erprobte Leute zur Verfügung gestellt, doch die Naturfühlende zeigten sich stets schlau und gewitzt genug, um rechtzeitig zu entkommen, oder sich den Übergriffen zu entziehen. Selbst harte Attacken und radikale Vernichtungsaktionen der sichtbaren Wohnbereiche der Einwohner, konnte sie nicht in die Knie zwingen. Aus diesem Grund drückte man ihm eines Tages einen Mann aufs Auge, der mit den Einwohnern kurzen Prozess machen sollte. Tui’jin, ein äußerst merkwürdiger Bursche, mit dunklen, stechenden Augen, versteinertem, schmal, geschnittenem Gesicht und einer Körperhaltung, die einer Raubkatze kurz vor dem Sprung nahe kam. Der junge Mann, den er zunächst für einen unreifen Grünschnabel gehalten hatte, stellte bald seine herausragende Fertigkeit als Scharfschütze unter Beweis. Gleich beim ersten Einsatz tötete er so viele Naturfühlende, welche kurz zuvor eine Energieverteilstation zerstört hatten, wie Gekorjs Leute in ihren sämtlichen Einsätzen nicht. Tui’jin hatte sie zurückgetrieben, in dem felsigen Terrain des Hügelgebirges in einem Tal festgenagelt und dabei über hundert Abschüsse erzielt. Noch bevor Gekorjs Männer die Übrigen einsammeln konnten, waren diese auf mysteriöse Weise verschwunden. Nur deren toten Kameraden blieben zurück. Der Scharfschütze teilte ihm in der allgemeinen Verwirrung noch mit, dass er einer Spur nachgehen wolle, verschwand daraufhin und tauchte nie wieder auf.
Gekorj schalt sich, dem jungen Schießtalent keinen Geleitschutz mitgegeben zu haben. Denn später am Tag, als Suchtrupps den Scharfschützen suchten, fanden sie den Geröllhaufen eines niedergegangenen Berghanges und in dessen Umfeld mehrere Blutspuren und sogar größere Blutlachen, als hätte dort ein Massaker stattgefunden. Gekorj vermutete, dass Tui’jin auf die Einwohner traf und versuchte hatte, sie im Alleingang zu erlegen, und dabei selbst getötet, gefangenen genommen oder verschleppt worden war. Die Tatsache, dass noch niemand eine Lösegeldforderung oder eine andere Bedingung für die Freilassung des Schützen gefordert hatte, ließ auf dessen Tod schließen. Aber Gekorj glaubte persönlich nicht daran. Er war fest davon überzeugt, dass Tui’jin noch am Leben war – vermutlich in Gefangenschaft, unter harter Folter und unter Drogen gesetzt, oder was auch immer. Aber er war noch am Leben.
Das musste er auch, denn wenn er den Tod des Scharfschützen berichten musste, würde das auch seinen Kopf kosten.
Gedankenverloren blickte er abermals zu den felsigen Hügeln. Er sollte diese verwahrloste Brut einfach dem Erdboden gleichmachen, doch er wusste auch, dass er das nicht tun konnte. Er brauchte billige Arbeitskräfte, die auf seinen Feldern schufteten, in den Mienen schwitzten und ihm die Taschen füllten und für einen florierenden Export sorgten.
Ein einzelnes Exemplar der schwarzen Kräher schwebte majestätisch vom Himmel herab und schraubte sich gemächlich mit den Abwinden tiefer, bis er knapp über den Wohnbauten in der Nähe des Verwaltungskomplexes schwebte. Gekorj verfolgte seinen Flug und wunderte sich einen Moment darüber, dass der Kräher allein war. Diese Vogelart zeigte sich sonst nur in großen Schwärmen zu Hunderten oder Tausenden, die in beinahe perfekter Formation den Tageshimmel bedecken konnten. Neugierig geworden begab er sich ans Fenster, öffnete es und spähte in alle Richtungen, doch der zugehörige Schwarm war weit und breit nicht zu sehen. Vermutlich handelte es sich hierbei um ein krankes oder verletztes Tier, war sein nächster Gedanke, doch der Vogel hielt dem Wind mit weit gespreiztem Spann stand, sodass er seinen Gedanken sogleich wieder fallen ließ. Und als er mit kräftigen Flügelschlägen Richtung Hügelgebirge davon flatterte, ordnete Gekorj seine Gedanken flink und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.
„Ich habe die Gegend um den niedergegangenen Hang noch einmal untersuchen lassen“, sagte Lekku, als er sich der Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten wieder sicher war. „Es ist gut möglich, dass Tui’jin sich dort aufhielt, als der Hang abrutschte. Es wurden einige Blutspuren gefunden, die von ihm stammen könnten. Die genetische Analyse ist leider nicht eindeutig. Aber die zerstörten Bäume, Buschwerk und Felsen in der Umgebung deuten stark auf Laserbeschuss hin. Die Einwohner besitzen keine Laser. Tui’jin muss dort gewesen sein und den Schätzungen nach zur Folge vierzig bis sechzig weitere Opfer gefordert haben. Leider ist weder von den weiteren Opfern noch von Tui’jin eine Spur zu finden.“
„Eine andere Frage“, warf Gekorj auf. „Was könnten diese sogenannten Naturfühlende mit einem Scharfschützen anstellen, wenn sie ihn nicht gegen eine Forderung eintauschen wollen?“
„Ihn umdrehen“, wusste Lekku.
„Ich halte Tui’jin nicht für so instabil sich von primitiven Bauernburschen eine Gehirnwäsche verpassen zu lassen.“
„Die Arbeiter berichten von einer Naturreligion und dass sie mit der Natur in Einklang leben. Wenn dem so ist, wissen sie sicherlich auch die richtigen Kräuter, um jemanden sozusagen unter Drogen zu setzen.“
„Seit Tuj’jins Verschwinden sind jetzt beinahe vier Monate vergangen. Glauben sie wirklich, dass wir noch nichts von ihm erfahren hätten, wenn sie ihn umdrehen und gegen uns verwenden wollten?“ Gekorj rieb sich die juckenden Bartstoppeln am Kinn und blickte abermals zum Fenster hinaus. Der Kräher befand sich längst außer Sichtweite und am Horizont reckten sich unverändert die zackigen Gipfel des Hügelgebirges in die Höhe.
„Ich persönlich halte diesen Tui’jin für einen zähen Burschen. Er wird sich nicht so einfach umdrehen lassen.“
„Können sie sich noch an die Bemerkung von ihm erinnern?“, sagte der Distriktverwalter nachdenklich und starrte wie hypnotisiert auf den Horizont.
„Welche?“, wollte Lekku wissen und riss seinen Vorgesetzten damit aus seiner geistigen Abwesenheit.
Mornt Gekorj räusperte sich verlegen, wandte sich vom Fenster ab und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Als wir ihm die Sachlage erklärten, sagte er, dass jeder für seine Ideale kämpft. Für die Einen bedeutet Profitgier das wofür sie über Leichen gehen würden, für die Anderen ist das Leben das wichtigste Gut.“
„Das ist eine Textpassage aus einem Lyrikband eines bekannten Presporianischen Schreiberlings“, wusste Lekku. „Dw’ight Sow’ain, wenn ich mich nicht irre. Und wenn die Informationen stimmen, ein Landsmann von Tui’jin.“
„Ich bezweifle, dass er in diesem Moment aus purem Respekt vor seiner eigenen Kultur ein Gedicht zum Besten gab“, gab Gekorj kopfschüttelnd von sich. „Ich hatte eher den Eindruck, dass er es ernst meinte.“
„Tui’jin hat sicherlich die Einwohner eines halben Dorfes auf dem Gewissen. Ich denke nicht, dass sie ihn mit offenen Armen empfangen, falls er tatsächlich beabsichtigte, überzulaufen.“ Lekku wischte sich erneut über die schweißnasse Stirn und schüttelte dann seine Hand aus. „Ich vermute eher, dass er mit all den Toten zusammen bestattet oder in irgend einem Loch verscharrt wurde.“
Gekorj schüttelte den Kopf. „Ich bin fest davon überzeugt, dass er noch am Leben ist. Ich frage mich nur die ganze Zeit, warum er sich nicht meldet. Es sind doch jetzt schon fast vier Monate. Tui’jin gehört nicht zu jener Spezies zivilisierter Denkender, die sich mit dem primitiven Komfort der Wildnis zufrieden geben. Er ist Luxus gewöhnt und fordert dies auch.“ Er dachte an die Auseinandersetzungen mit dem jungen verwöhnten Schnösel, als dieser nach seiner Ankunft das Appartement, das für ihn zugedacht war, inspizierte und für ihn unwürdig deklarierte. Gekorj musste einige Umbauarbeiten genehmigen, um den hochgesteckten Ansprüchen des jungen Mannes gerecht werden zu können. „Sie halten ihn sicherlich unter Drogen oder irgendwo gefangen.“ Gekorj blickte abermals zum Fenster hinaus und musterte den zackigen Horizont. „Vielleicht sollten wir den Siedlungen hinter dem Hügelgebirge einen Besuch abstatten“, sagte er nachdenklich.
„Diese Siedlungen sind Höhlensiedlungen“, wusste Lekku. „und sie liegen weit verstreut.“
„Einige Kilometer landeinwärts gibt es eine sichtbare Siedlung an einem Damm. Das wäre ein lohnendes Ziel. Vielleicht könnten für ein Verhör auch ein paar Gefangene gemacht werden.“
„Ich werde das Nötige veranlassen“, entgegnete Lekku mit einem Nicken.
Gekorj betrachtete abermals den zackigen Horizont, als sein Adjutant das Büro verließ. Warum er so fest davon überzeugt war, dass Tui’jin noch unter den Lebenden weilte, vermochte er selbst nicht zu erklären. Es war eben nur so ein Gefühl – ein so starkes Gefühl, dass er nicht anders konnte, als daran zu glauben.
* * *
Es war bereits merklich kalt geworden, als Lorax und Tiane ins Tal hinabstiegen. Sie wollten Brennholz gegen Lebensmittel und andere Dinge eintauschen. Lorax zog den Kragen seiner dick gewirkten Jacke höher, als ihnen ein scharfer Wind entgegen blies, der ungehindert durch Felsen oder Blattwerk über eine Kuppe hinweg pfiff. Der grobe Stoff seiner Jacke konnte dem eisigen Wind nicht genug widerstehen, sodass es dem jungen Mann bald empfindlich kalt wurde. Er beschleunigte seine Schritte, um den Grad schnell hinter sich zu bringen und in windstillere Gefilde zu gelangen.
Seine Schwester schob den Schal vor ihr Gesicht und beschleunigte ebenfalls ihre Schritte. Sie machte sich mehr Gedanken um das bevorstehende Zusammentreffen mit den anderen Bewohnern des Dorfes, als um die Eiseskälte, die unaufhaltsam und immer stärker über das Land hereinbrach. Sie hoffte, dass Dugg die anderen ausreichend instruiert hatte, um es zu keinem peinlichen Zwischenfall kommen zu lassen. Noch hatten sie ihr Vorhaben nicht zu Ende gebracht, um die Auflösung des Verwirrspieles offenbaren zu können. Noch war Lorax nicht soweit, dass er die Wahrheit vertragen konnte. Er war noch zu wankelmütig und zu skeptisch. Zum Einen bedeuteten die Visionen aus seiner Vergangenheit einen großen Aspekt, den sie nicht eingeplant hatten. Diese Visionen stellten ein großes Risiko dar, dass er sich an sein ursprüngliches Leben erinnern könnte. Weder Dugg noch sonst jemand hätte es für möglich gehalten, dass ausgerechnet jener Scharfschütze, der ihnen im Alleingang endgültig den Garaus machen sollte, über Naturfühlerfähigkeiten verfügte. Dieses Phänomen fügte sich zwar ideal in ihre gesponnene Geschichte ein, barg aber ein nicht berechenbares Risiko. Ein Risiko, das sie mit all ihrer Kraft unter Kontrolle halten mussten.
Anderenfalls hätten sie nicht mehr viel Überlebenschancen, ihre einzige Hoffnung würde sich in Luft auflösen.
Tiane schob den Riemen ihres schweren Tragekorbes zurecht. Der Riemen bohrte sich schmerzhaft in ihren Schulterknochen, aber sie biss die Zähne zusammen und hielt durch. Früher, bevor sie die Rolle der Schwester übernahm, hatte sie sich um derartige Dinge beinahe überhaupt nicht gekümmert. Sie war eine Kämpferin und Arbeiten wie diese überließ die denjenigen, die das Kämpfen nicht verstanden oder nicht den Mut besaßen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie wusste selbst nicht mehr, seit wie vielen Jahren sie nicht mehr am Herd gestanden hatte. Sie konnte sich nicht mehr an die letzte von ihr selbst gekochte Mahlzeit erinnern, doch mit ihrer neuen Rolle, musste sie all diese Dinge wieder aus ihrer Erinnerung hervorkramen und die fleißige und besorgte Schwester spielen. Jede andere Rolle hätte den Mann, den sie aus dem Geröll ausgegraben hatten, stutzig gemacht.
Das Ziel ihres Vorhabens war, Lorax die Lehre und die Liebe ihres Volkes zur Natur nahe zu bringen. Er sollte die Nöte erkennen, die die Ankömmlinge aus dem Himmel für die Natur, das dort lebende Volk und des Planeten selbst antaten. Er sollte sich aus freien Stücken aktiv dafür einsetzen, den Raubbau zu stoppen und die Eindringlinge zu vertreiben. Noch hatten sie ihm die Übergriffe der Wesen aus dem Himmel als heftige Winterstürme verkauft. Doch es würde nicht mehr lange dauern, bis er auf den wirklichen Grund der Zerstörungen kam. Lorax besaß ein kluges Köpfchen und würde sich von den Ausreden nicht mehr länger in die Irre führen lassen. Zudem konnten sie ihm nicht mehr lange die Bewusstseinshemmenden Kräuter verabreichen. Sie mussten sie in absehbarer Zeit absetzen; und spätestens dann würde Lorax die Wahrheit über sich und das was mit ihm geschehen war, selbst erkennen.
„Ist dir der Korb zu schwer?“, wollte Lorax besorgt wissen.
Tiane schüttelte stumm den Kopf. Ihr Bruder trug knapp das dreifache an Gewicht. Sie hatte ihn noch nie so schuften sehen, wie die letzten Tage. Lediglich zwei Tage hatte er sich zur Erholung gegönnt. Dann war er nahezu wie ein Wahnsinniger an die Arbeit gegangen, hatte sich fast bis zur Erschöpfung getrieben und dabei Kräfte und Energien entwickelt, die Tiane beinahe schon erschraken. Sie wusste, ohne dass er ihr es erklärte, warum er dies tat. Er wollte unbedingt wieder wohlauf sein und seine Muskelkräfte und Vitalität zurückgewinnen. Sein Unterbewusstsein wusste, dass er es gewohnt war, sich zu bewegen und körperlich zu betätigen. Unbewusst folgte Lorax diesem Ruf, entsprechend den Gegebenheiten und Aktivitäten, die auf ihn einwirkten. Die Frau bezweifelte, dass er sich mit Holzhacken und Ackerumgraben beschäftigen würde, befände er sich in einer in der Vergangenheit gewohnten Umgebung.
„Es ist noch ein weites Stück bis ins Tal. Soll ich dir etwas abnehmen?“
Abermals schüttelte Tiane den Kopf. „Du trägst schon genug. Lass uns nur beeilen. Mir ist kalt.“
„Diese dicken Jacken sind für einen derartigen Wind nicht geeignet. Wir sollten etwas winddichtes drüberziehen, wie einen ledernen Mantel.“
„Du bräuchtest fünf von den Körben, den du gerade trägst, um ein entsprechendes Fell zu bekommen.“
„Vielleicht sollte ich auf Arapachos-Jagd gehen“, schlug er mit einem verschmitztem Grinsen vor.
„Vielleicht schlägst du dir dann deinen Schädel gleich richtig ein“, gab sie spitz zurück.
Lorax wurde ernst. „Möchtest du das denn?“
„Du liebe Güte nein!“, gab sie erschrocken zurück. „Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass ich die größten Ängste ausstehen würde, wenn du Arapachos jagen gingest.“
„Ich denke, dass ich aus meinen Fehlern gelernt habe. Wenn einer dieser Bergböcke einen brüchigen Hang hinaufklettert, werde ich es tunlichst unterlassen, ihm hinterher zu klettern.“
Tiane musste die Riemen auf ihrer Schulter etwas verschieben, damit das Gewicht ihrer Last auf eine andere Stelle ihrer Schulter drückte.
„Machen wir eine kurze Rast“, schlug Lorax vor und blieb an einer windgeschützten Stelle, geradewegs hinter einen dichten Buschreihe stehen. Er setzte seinen voll beladenen Tragekorb ab und schlüpfte aus den Riemen. „Außerdem muss ich nicht allein gehen“, griff er das Thema wieder auf und half seiner Schwester aus den Riemen heraus. „Ich kann Dugg bitten, mich zu begleiten, damit er mich rechtzeitig davon abhalten kann, Dummheiten zu begehen.“ Er lehnte sich an seinen Korb und blickte Tiane zuversichtlich an. „Ich habe meine Fähigkeiten viel besser im Griff und weiß heute, worauf ich achten muss. Ich denke nicht, dass ich dieselben Fehler begehe, wie damals.“
Das Mädchen seufzte und senkte den Blick. „Ich weiß“, sagte sie traurig. „Es war nur ein so gewaltiger Schock für mich. Der Unfall nahm mir fast meine ganze Familie. Ich hätte dich, als du noch im Koma lagst, mehrmals beinahe erwürgen können. Doch ich tat es nicht. Du bist mein Bruder und...“ Sie geriet ins Stocken.
„Und was?“, hakte er nach.
Sie hob den Kopf und suchte den Kontakt zu seinen Augen. Ihr begegneten interessierte dunkle Augen, die sie anblickten, als empfand er Zuneigung zu ihr.
„Es war gut, dass ich es nicht getan habe. Sonst hätte ich auch noch den Letzten verloren.“
„Vielleicht wäre dein Leben dann etwas einfacher gewesen“, mutmaßte Lorax etwas versonnen.
„Das glaube ich nicht“, entgegnete sie entschlossen. „Der Unfall hat mir meinen Bruder genommen und einen Mann geschenkt, der es wert ist, als Bruder bezeichnet zu werden.“
„Manchmal glaube ich, dass mir nichts besseres hätte geschehen können, als diesen Vorfall zu provozieren. Ohne ihn, wäre ich nicht das, was ich heute bin.“ Er senkte traurig den Blick. „Nur schade, dass dafür gute Menschen ihr Leben lassen mussten.“
„Sie starben nicht sinnlos. Die Schuld, die auf dir lastet, hilft dir bei dem Glaube an die Natur. Vielleicht sind es ihre Stimmen, die dich auf den rechten Pfad leiten.“
„Vermutlich“, nickte Lorax und sah wieder hoch. „Aber in erster Linie bist du es, die aus diesem zerschmetterten Leib einen ansehnlichen Mann gemacht hat.“ Ihre Blicke trafen sich. „Niemand sonst hätte die Liebe und die Wärme besessen, den von allen gehassten und verwünschten Mann wieder gesund zu pflegen.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie fest. „Das wollte ich dir schon immer mal sagen.“ Er hielt ihre Hand fest, führte sie zu seinen Lippen und küsste ihre Handinnenfläche zärtlich.
Tiane zuckte kurz zurück, konnte sich aber gerade noch davon abhalten, ihm ihre Hand zu entziehen.
„Du bist mein Bruder“, sagte sie heißer. Ihre Stimme geriet ins Stocken, als sie geradewegs von seinen dunklen Augen eingefangen wurde.
„Auch Geschwisterliebe hat seine Grenzen“, erwiderte er beinahe im Flüsterton. Seine Worte wurden fast von dem hinter dem Busch herrschenden seichten Wind davongetragen. Er zog Tiane näher an sich heran, legte einen Arm um ihren Körper und drückte sie an sich. Als sie ihren Kopf anhob, um ihm in die Augen sehen zu können, befanden sich ihre Gesichter sehr nahe. Wie von einer magischen Hand bewegt, näherten sie sich immer mehr. Schließlich berührten sich ihre Lippen vorsichtig. Aus dieser zaghaften Berührung wurde bald ein leidenschaftlicher Kuss. Sie umschlangen sich, wie Liebende, die sich lange Zeit nicht gesehen hatten. Doch plötzlich riss sich Tiane los, brachte einen angemessenen Abstand zwischen ihnen beiden und unterdrückte ihr in Wallung geratene Gefühlswelt.
„Wir sind Geschwister“, keuchte sie und wagte es nicht, ihren Blick zu heben und ihrem Bruder in die Augen zusehen.
„Wir sollten das nie vergessen, was auch immer geschieht“, sagte er ungerührt ihres plötzlichen Wandels. „Wir haben nur noch uns.“
Sie sah hoch und starrte ihn fragend an.
„Ich meinte damit, dass wir zusammenhalten und immer füreinander da sein sollten. In unseren Adern fließt das gleiche Blut. Der Bruder von damals gibt es nicht mehr. Ich möchte nichts mehr, als die Bezeichnung Bruder wert zu sein.“
Tiane schluckte einen dicken Kloß hinunter. „Du bist es“, stimmte sie ihm mit belegter Stimme zu. „Und du bist der Bruder, den ich mir immer gewünscht habe.“ Das stimmte sogar. Sie hatte nie einen Bruder besessen und sich schon als kleines Mädchen immer einen großen Bruder gewünscht, mit dem sie angeben konnte.
„Lass uns das, was eben geschehen ist, als Siegel ansehen“, schlug er vor. „Eine tiefere Bande als zwischen uns beiden wird es mit keinem anderen geben.“
Das Mädchen nickte nur.
„Dann sollten wir zusehen, dass wir dieses Holz ins Dorf bringen“, riet er und schlüpfte wieder in die Tragriemen des Korbes. Doch kaum hatte er das Gewicht auf seinen Rücken geladen, vernahm er seinen Namen, der vom Wind zu ihm getragen wurde. Er blickte sich um und entdeckte Dugg den Hang heraufkommen.
„Seid ihr auf dem Weg ins Dorf oder nach Hause?“, erkundigte sich der Naturfühler atemlos.
„Ins Dorf. Wir wollen das Holz eintauschen.“
„Hat das noch ein wenig Zeit?“
Lorax musterte ihn fragend. „Für was?“
„Ich bin auf etwas gestoßen, was auch für dich von Interesse sein könnte. Eine weitere Lektion – eine sehr gute Übung. Es befindet sich in der Nähe des Dammes.“
„Sobald wir das Holz im Dorf abgeliefert haben, stehe ich dir zur Verfügung“, sagte Lorax und half seiner Schwester, den schweren Korb auf ihren Rücken zu laden.
„Das ist eine Menge Brennholz, das ihr da geschlagen habt“, stellte Dugg bewundernd fest und begleitete die beiden auf ihren Weg ins Dorf.
Lorax nickte bestätigend „Der letzte Sturm hat viele Schäden angerichtet. Das viele Holz bietet uns eine Gelegenheit, unsere Vorräte aufzufüllen.“
„Die Winterstürme werden dieses Jahr heftig werden“, sagte Dugg ahnungsvoll. „Es ist gut, wenn man ausreichend versorgt ist.“
„Was ist es, was du mir zeigen willst?“, wollte Lorax neugierig wissen.
Dugg schüttelte den Kopf. „Du wirst es sehen, wenn wir da sind.“
Im Dorf angekommen, begaben sich die drei zu einem Händler, der ihr Brennholz gegen Lebensmittel, Decken und Stoffe eintauschte. Mit den Körben neu beladen folgten sie Dugg über den Damm hinweg zum anderen Ufer. Fleißige Hände hatten den Damm bereits soweit geflickt, dass sich dahinter wieder das Wasser staute und ein stark gezähmter Fluss talabwärts floss.
Der ältere Naturfühler hielt an einem Hang, unweit des Dammes an und breitete die Arme aus. Am Hang wuchsen wilde Büsche, die allerdings schon bessere Zeiten gesehen hatten. Irgend etwas schien ihnen nicht bekommen zu sein. Die Blätter hingen schlaff und welk an den Zweigen, manche schon braun und vertrocknet. Andere in einer ungesunden gelbgrünen Farbe. Einige von ihnen setzten sogar schon Schimmelsporen an oder zerbröckelten, wenn ein zarter Windhauch sie berührte. Weiter oben am Hang hatte jemand Pfosten in den Boden gerammt, von denen allerdings nur noch Stümpfe existierten. Reste von Stricken und verbranntem Leder flatterten im Wind. Der Hang muss früher einem Gerber als Trockenplatz gedient haben, jetzt war nicht mehr viel davon übrig geblieben.
Tiane stellte ihren Korb auf den Boden und blickte sich um. Sie wusste, was die Pfosten und das an ihnen zum Trocknen gespannte Leder zerstört hatte. Doch sie schwieg. Statt dessen nahm sie einen mit Beerensaft gefüllten Schlauch von ihrem Gürtel, öffnete den Verschluss und gönnte sich einen winzigen Schluck, bevor sie ihn an ihrem Bruder weiter reichte. Lorax hatte abermals den größten Teil der Last auf sich geladen. Der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen auf der Stirn. Er nahm den Schlauch an sich und trank in langen, vollen Zügen.
Als er den Schlauch zurückgab, war Dugg bereits einige Schritte den Hang hinauf geklettert.
„Beim letzten Sturm ist ein Blitz in ein Fass Gerbsäure eingeschlagen, das Ducon, der Ledermacher, vergessen hatte sicher zu verstauen. Die Säure sickerte in den Boden und vergiftete ihn. Siehst du die Zerstörung? Siehst du, was das Gift bewirkt? Die Natur leidet. Kannst du es fühlen?“
Lorax ging ebenfalls ein paar Schritte den Hang hoch und berührte vorsichtig eine der sterbenden Büsche. Die Äste zerfielen unter seinen Fingern zu Asche. Er konzentrierte sich auf das Leid dieses Busches, auf Schmerzen, auf Ängste, auf irgendwelche Nöte, die ein sterbendes Wesen haben müsste. Er stellte sich vor, wie der Busch reagieren würde, wenn er ein lebendes, empfindsames Wesen wäre: Die Panik, das langsame Dahinsiechen, der bevorstehende Tod. Er glaubte, etwas von diesem Gefühl tatsächlich wahrnehmen zu können. Er glaubte, den Schmerz empfinden zu können, den dieser Busch erlitt. Er glaubte sogar, den Schreck zu empfinden, den der Blitzeinschlag bei dieser Pflanze bewirkt hatte. Doch plötzlich stutzte er.
In seine Wahrnehmung fuhr ein Blitz so grell und tödlich, wie die unberechenbare elektrostatische Entladung der Wolken eben sein konnte. Doch mit diesem Blitz stimmte etwas nicht. Er war kalt, tödlich, unbarmherzig und irgendwie kein Teil der Natur. Blitze gehörten zur Natur. Sie entstanden, wenn sich die Wolkenschichten durch Reibung elektrostatisch aufluden und suchten am Boden einen Punkt, um diese Ladung zu neutralisieren. Doch dieser Blitz war etwas anderes. Er war voller Energie – aber Energie, die keinen Ausgleich suchte; die lediglich auf Zerstörung aus war und ihn an etwas erinnerte, das er bereits einmal gespürt hatte. Er vermochte es in diesem Moment jedoch nicht zu sagen, an was. Daher konzentrierte er sich auf diesen Blitz, die kurze, heftige, vernichtende Entladung, die eigentlich keine war. Er versuchte, den heftigen Einschlag in seiner Wahrnehmung zu rekonstruieren, doch je stärker er sich darauf konzentrierte, desto mehr entschlüpfte ihm dieser Sinneseindruck. Für einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Impuls glaubte er sogar, unförmige, weiße Gebilde gesehen zu haben, die über dem Hang in der Luft schwebten und grellrote Blitze ausstießen. Je verzweifelter er sich jedoch an diesen winzigen Impuls dieser Vision klammerte, desto nebliger wurde das Empfinden an ihn. Er löste sich mehr und mehr auf, entglitt ihm, rann unaufhaltsam durch die Finger seiner Wahrnehmung und verschwand schließlich.
Erschöpft sank Lorax neben dem sterbenden Busch ins feuchte Gras. Seine Stirn sank zu Boden, fühlte die Kühle und die Feuchtigkeit, die von ihm ausging. Schweiß tropfte ihm über die Nase in die Augen. Er zitterte am ganzen Körper vor Anstrengung, als hätte er eben einen ganzen Wald gerodet. Seine Finger bohrten sich in den weichen Boden, verkrampften sich, so als wollten sie ein kleines Stückchen Erde herausreißen. Er versteifte sich, zwang seinen vor Erschöpfung schlotternden Körper zum Gehorsam und zuckte zusammen, als er eine Berührung an der Schulter spürte.
„Alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte sich Tiane besorgt.
Nur langsam erhob sich Lorax, zog seine Finger vorsichtig aus der Erde und betrachtete sie, als wüsste er nichts mit ihnen anzufangen. Dann ließ er sie sinken und suchte den Blick von Dugg.
„Ich konnte es nicht festhalten“, gestand er über sich selbst enttäuscht. Seine Stimme klang heißer und belegt. „Ich glaubte, es zu spüren, den Blitz zu sehen, den Aufschrei zu hören, doch es verschwand wieder. Ich konnte es nicht halten.“
Dugg kam näher und ließ sich zu dem Jüngeren in die Hocke nieder. „Vermutlich hast du dich nicht auf dem richtigen Weg befunden“, sagte er besänftigend. „Wenn dir die Natur etwas sagen will, mag sie es nicht, wenn du Antworten auf andere Fragen suchst. Lass dich leiten, von dem was dir geboten wird. Nimm das, was du bekommst und versuche daraus deinen Nutzen zu ziehen.“
„Wie kann ich das?“, wollte Lorax begierig wissen.
Dugg senkte kurz seinen Blick, sammelte seine Sinne für die Antwort und hob schließlich wieder seinen Kopf. „Du bist sehr talentiert – vielleicht etwas zu sehr. Du bist ehrgeizig – für meinen Geschmack, etwas zu ehrgeizig. Wenn du etwas machst, dann nur mit dem Einsatz all dem was du zu bieten hast, wenn nicht sogar etwas mehr. Vielleicht ist es keine schlechte Idee, deine persönlichen Anforderungen etwas herunterzuschrauben. Wenn es heute nicht klappen will, dann versuche es morgen erneut. Die Natur ist auch nicht an einem Tag entstanden, sondern in einem Prozess über viele Millionen Jahre hinweg. Du bist jung, du hast Zeit genug, um ein hervorragender Naturfühler zu werden. Ich bin sogar davon überzeugt, dass du mich bei weitem übertreffen wirst. Also, mein Junge, habe etwas Geduld. Die Natur mag es zudem nicht, wenn man ihr etwas aufdrängt. Lausche, fühle, sehe und kombiniere.“ Bei dem letzten Satz hob er einen Zeigefinger in die Luft, so als wolle er noch speziell auf diesen wichtigen Satz hinweisen. „Und finde erst die Ruhe in dir“, fügte er noch an, als Lorax schon entmutigt die Schultern hängen ließ.
„Du hast Recht“, sagte der Jüngere. „Es wäre sicherlich besser, wenn wir mit der weiteren Ausbildung warten, bis die Winterstürme vorbei sind und wir keine Not mehr leiden müssen.“ Er straffte sich und sog seine Lungen voll Luft. Doch plötzlich hustete er sie stoßweise wieder aus, als hätte er sich an der frischen Luft verschluckt. Hustend und keuchend blickte er sich um. Ihm war, als hätte ihm etwas mit seinem eisigen Atem in den Nacken geblasen.
„Was ist mit dir?“, erkundigte sich Dugg besorgt, der dessen bleich gewordenes Gesicht bemerkt hatte und sah sich ebenfalls um.
„Ich weiß nicht“, antwortete Lorax verwirrt. Er richtete sich auf und ließ seinen Blick über das enge Tal wandern, in dessen Sohle der schmale Fluss im fahlen Sonnenlicht glitzerte. Am anderen Ufer gingen die anderen Dorfbewohner ihren gewohnten Beschäftigungen nach. Vom nahezu wieder instand gesetzten Damm drang polterndes Hämmern und Sägen zu ihm. Lorax horchte in sich und versuchte, die aufkommende Unruhe in sich zu lokalisieren. Ihm war, als floss sein Blut dickflüssiger durch die Adern. Er glaubte, die Luft, die er einatmete, war plötzlich schwer und ölig geworden.
Das war es!
Ölig – dasselbe Gefühl hatte ihn befallen, kurz bevor der Damm brach.
Irgend etwas schreckliches würde über sie hereinfallen.
Er fuhr herum und starrte Dugg wissend an. „Ich glaube, dass bald ein Sturm über uns hereinbricht.“
Dugg musterte ihn kritisch. „Bist du dir sicher?“
„Absolut“, nickte Lorax. „Es ist dasselbe Gefühl wie bei dem Damm.“ Er sah hoch und betrachtete den Himmel, konnte aber keinerlei Anzeichen für einen bevorstehenden Sturm erkennen. Die wenigen Wolken schwebten friedlich und gemächlich über das Firmament. Der Wind säuselte so schwach den Hang herunter, dass er selbst die am Damm angebrachten Fahnen nicht zum flattern bringen konnte. „Müssen für einen Sturm nicht dunkle Wolken und heftige Winde aufziehen?“, fragte er unschuldig.
„Das kommt noch“, gab Dugg wissend zurück, half Tiane dabei, ihren Korb aufzunehmen und leistete auch Lorax Hilfestellung beim Aufnehmen seine Last. „Seht ihr zu, dass ihr in der Versammlungshöhle Schutz findet. Ich warne die Anderen.“
Tiane nahm ihren Bruder bei der Hand und zerrte ihn mit sich. Während sie über den Damm zurückeilten, rief Dugg den Arbeitern eine Warnung zu, worauf diese ihr Werkzeug und alles, was sie in den Händen hielten fallen ließen und ebenfalls Schutz suchend, davon eilten. So schnell es ihnen ihre Last erlaubte, rannten sie mit einem immer größer werdenden Pulk aus Frauen, Kinder, jungen Männern, Alten und Tieren Richtung der Festhöhle, in der das Bundus-Fest gefeiert worden war. Lorax ließ sich willig mitziehen, und erst als sie atemlos und erschöpft angekommen waren, stellte er den schweren Korb neben Tiane auf den Boden und wollte wieder gehen.
„Nein! Lorax, bleib‘ hier!“ Seine Schwester blickte ihn flehentlich an.
„Ich kann hier nicht untätig herumsitzen. Ich muss helfen.“
„Tu das bitte nicht!“ Sie nahm seine Hand und zerrte ihn sanft aber bestimmt zurück. In ihren Augen stand deutlich die Angst geschrieben. „Ich wüsste nicht, was ich täte, wenn es dich erwischte. Ich habe doch nur noch dich. Unser Siegel. Bitte gehe nicht!“, flehte sie.
Lorax kämpfte mit sich. Einerseits wollte er unbedingt aktiv dabei mithelfen, dass der Sturm nicht das Hab und Gut der guten Leute in alle Windrichtungen zerstreut oder aus ihnen Kleinholz machte. Andererseits konnte er Tiane nicht einfach so zurücklassen. Im Falle seines Todes würde sie gänzlich allein sein – und das nun, wo sie sich beide so nahe gekommen waren – beinahe mehr als Geschwister sich nahe kamen.
Tianes Augen füllten sich mit Tränen. Etwas was ihm den Anstoß gab, nachzugeben und sich neben seine Schwester zu setzen. Er nahm sie in den Arm und drückte sie liebevoll an sich.
„Du hast Recht“, sagte er leise. „Wir haben nur noch uns. Das sollten wir in Ehren halten.“ Er legte eine Hand auf ihren Kopf und drückte ihn an seine Schulter.
Tiane spürte das Zittern seiner Glieder. In ihm arbeitete es. Gern wäre es draußen, hätte bei den Schutzmaßnahmen geholfen, doch genau dies musste sie verhindern. Denn dann hätte er gemerkt, dass sich die Männer nicht auf einen gewaltigen Sturm, sondern den Angriff der Eindringlinge vorbereiteten.
* * *
Es dauerte keine halbe Stunde, als plötzlich Schreie laut wurden und das Tosen und Brausen des Sturmes losging. Die Schutzsuchenden in der Festhöhle drückten sich eng im hintersten Winkel der Höhle zusammen, beteten leise vor sich hin, jammerten, weinten, wehklagten oder konnten vor Angst nur noch zittern. Lorax saß mitten unter ihnen und versuchte sich einzureden, dass es ihm zu verdanken war, dass so viele Schutz suchen und Maßnahmen ergreifen konnten, um den Sturm nicht zu einer Katastrophe werden zu lassen. Er versuchte sich einzureden, dass sein Platz an der Seite seiner Schwester war und nicht draußen, bei den Männern, die verzweifelt um ihr Hab und Gut kämpften. Er versuchte sich weiszumachen, dass er nur noch größeres Unglück über das Dorf, seiner Schwester und vielleicht ganz Logeyza bringen würde, wenn er sich den übrigen Männern anschließe. Er versuchte es aufrichtig, doch so richtig konnte er nicht daran glauben. Er war jung und kräftig. Er war, bis auf einige verletzte, kranke oder mutlose junge Männer, der einzige, der genug Unerschrockenheit besaß, sich den Gewalten der Natur zu stellen. Seine Kühnheit hatte er bei dem berstenden Damm bereits unter Beweis gestellt und er würde es jederzeit wieder tun – auch wenn das sein Leben kostete.
Aber genau das war es, was Tiane befürchtete. Sie hatte endlich den Bruder, den sie sich ihr ganzes Leben lang gewünscht hatte – den sich vermutlich das ganze Dorf gewünscht hatte und vielleicht sogar sein Vater.
Lorax lehnte sich zurück und versuchte, sich an seinen Vater zu erinnern, oder an seine Mutter. Er versuchte, sich und Tiane Beerensaft bettelnd am Rock ihrer Mutter vorzustellen oder wie sie in den Ästen des alten Mukumban-Baumes herumgeklettert waren. Doch nichts von diesen Erinnerungen wollte sich einstellen. Er konnte sich weder an das Gesicht seiner Mutter, noch an das seines Vaters erinnern, geschweige denn an die Farbe des Rockes seiner Mutter, oder an das kindliche Gesicht seiner Schwester – auch nicht, wenn er sie in diesem Moment anblickte. Selbst die Vorstellung dieser Erinnerungen rief keinerlei Gefühlsregung in ihm auf. Lediglich das seiner Schwester. Nur wenn er sich ausmalte, mit Tiane über blühende Felder gerannt und in duftendem Heu gesessen und träumerisch den Himmel betrachtet hatte, überkam ihn das wohlige Gefühl der Zuneigung und der Wärme. Lediglich dann spürte er, wie sein Herz einen Schlag schneller schlug und er sich danach sehnte, sie für immer in seinen Armen zu halten. Nur dann, wünschte er sich, sie würde nicht seine Schwester, sondern seine Geliebte sein.
Das Krachen nahm zu. Staub, losgelöste Gesteinsbrocken und Kiesel regneten von der Decke herab, worauf die Insassen noch enger zusammenrückten und noch lauter beteten und weinten. Mit jedem Krachen, mit jedem Knall und mit jedem Regen von der Decke nahm das unbestimmte Gefühl in Lorax Nacken zu. Es fror ihn schließlich förmlich und als er ein kurzes Schlottern nicht unterbinden konnte, hob Tiane den Kopf und versuchte in der Halbdüsternis einiger weniger Kerzen sein Gesicht zu erkennen.
„Ist was mit dir?“, fragte sie schließlich, als sie nichts ausmachen konnte.
„Irgend etwas stimmt hier nicht“, entgegnete Lorax und blickte nach oben. Die Decke der Höhle lag im Dunklen verborgen. Er vermochte nicht zu sagen, wie hoch die Höhle war und wie groß. Die Masse der Leute und das Halbdunkel täuschten sein Augenmaß. Daher schloss er die Augen und horchte nach dem Echo. Er strengte seine Sinne an und hoffte, dass sie ihn diesmal nicht verlassen würde. Er zwang seine Wahrnehmung dazu, die Grenzen des Echos auszuloten und die Wände zu lokalisieren, von denen sie zurückgeworfen wurden. Seine Sinne brachten Licht in das Dunkel und ließen ihn die Höhlenwände erkennen. Er vernahm das Krachen der einschlagenden Blitze und das Tosen des Windes. Er vernahm die Erschütterungen im Gestein, wenn ein Blitz in den Fels einschlug und er verfolgte die Schwingungen, wie sie sich wellenförmig wie eine Wasseroberfläche durch den Stein arbeiteten und dabei kleine Gesteinsbrocken loslösten. Und er entdeckte, dass die Schwingungen einen Riss erzeugten, der mit jeder Welle größer und länger wurde.
Mit einem Ruck schrak er aus seiner Trance. Er stieß Tiane von sich, sprang auf seine Beine und stolperte über etwas oder jemand, der sich genau vor ihm befand.
„Alles sofort raus!“, brüllte er laut. „Beeilt euch. Sofort raus! Die Decke stürzt gleich ein.“
Augenblicklich entstand helle Aufregung. Menschen stürzten übereinander, schrieen, kreischten, jammerten und stolperten so schnell sie konnten von ihren Plätzen. Es dauerte einen schier endlosen Augenblick, ehe sich alle an die Außenwand der Höhle gedrückt hatten, oder den Weg in die Vorhöhle schafften – keinen Augenblick zu spät, denn schon krachte die Kuppel der Höhle mit einem ohrenbetäubenden Knall zu Boden. Staub wurde aufgewirbelt. Leute schrieen vor Schreck, vor Schmerz, aus Todesangst, rannten – sofern sie in der Lage waren – von Panik getrieben in die Vorhöhle und konnten sich gerade noch davon abhalten, ins Freie zu laufen.
„Licht!“, rief jemand. „Wir brauchen Licht!“
In der Vorhöhle entzündeten mehrere Leute Fackeln und hielten sie in den hinteren Teil, dessen Decke halb eingestürzt war. Einige der Schutzsuchenden hatten es nicht rechtzeitig geschafft und waren unter den Steinen begraben worden, worauf sich sofort etliche, auch Kinder, dran machten, die Verschütteten mit bloßen Händen frei zu räumen. Lorax befand sich unter der sich spontan zusammenfindenden Rettungsmannschaft und schaffte eiligst Steine und Gesteinsbrocken beiseite. Einen kleinen Moment lang dachte er darüber nach, wie es für die anderen gewesen sein musste, als sie ihn und die fünfzig Leichen ausgegraben hatten, die er mit seinem Leichtsinn in den Tod gerissen hatte. Er verwarf diese Gedanken jedoch schnell wieder. Seiner Warnung war es zu verdanken, dass die meisten ungeschoren davon gekommen waren und nur eine Handvoll von den herabfallenden Steinen verletzt worden waren. Die Verschütteten konnten allesamt lebend geborgen werden. Ihre Verletzungen waren nicht lebensbedrohlich.
Als sich die Aufregung etwas gelegt hatte, nahm Tiane ihren Bruder etwas beiseite. „Du bist ein Naturfühler“, sagte sie ergriffen und legte ihre Arme um seinen Hals. „Du hast uns alle gerettet.“
„Allmählich glaube ich auch daran“, gab Lorax zurück und drückte sie an sich. Im selben Moment erschütterte ein lautes Krachen die Schutzhöhle, sodass sich viele vor Schreck auf den Boden fallen ließen, oder einfach zur Statue erstarrt waren. Der Boden bebte. Das große Tor am Eingang der Höhle klapperte laut in seinen Angeln und Schlössern und die Luft war plötzlich erfüllt von rußigem Rauch.
„An die Wände!“, forderte Lorax laut und schob Tiane auf die nächste Wand zu. „Wir sind hier nicht mehr sicher. Wir müssen hier raus.“
„Wenn wir jetzt rausgehen, sterben wir alle“, antwortete ihm eine ältere Frau. „Wir sind hier drin am sichersten, auch wenn uns die Decke auf den Kopf fallen sollte.“
„Das wird sie bald tun“, versicherte ihr Lorax. „Der Fels ist mit Rissen durchsetzt. Noch ein paar Einschläge mehr und der ganze Berg fällt uns auf den Kopf. Verteilt euch an den Wänden.“
„Woher kann der Kerl das wissen?“, meldete eine andere Stimme Bedenken an.
„Er weiß es“, versicherte ihm Tiane bestimmt. „Er ist Naturfühler.“
„Naturfühler? Er?“ Der Mann, der sich auf eine Krücke stützte, beäugt den jungen Logeyzaner höchst misstrauisch.
„Glaube mir, alter Mann, ich war selbst überrascht“, versuchte Lorax die Bedenken des Mannes zu zerstreuen.
Der Alte ließ sich jedoch nicht beirren. „Wie kann der Naturfühler sein, wenn er...“ Ein weiterer gewaltiger Schlag ließ ihn abrupt verstummen. Mit den Erschütterungen, die den Boden erzitterten und das Tor abermals laut in seinen Verankerungen rüttelten, regneten auch Gesteinsbrocken von der Decke und ein weiteres Mal kreischten die Schutzsuchenden vor Angst auf. Beinahe alle hatten sich jedoch auf Lorax Rat hin bereits an die Wände gedrückt, sodass diesmal niemand zu Schaden kam.
„Wenn das so weiter geht, werden wir hier kein Bundus-Fest mehr feiern können“, sagte Lorax flapsig und schob Tiane zu einem massiven, umgestürzten Tisch. „Weißt du, was ich mich die ganze Zeit frage? Wenn wir schon im Einklang mit der Natur leben, warum tut sie uns etwas derartiges wie die Stürme an? Sie zerstört damit alles, was wir erschaffen haben.“
„Eine Prüfung!“, musste Tiane gegen ein erneutes Krachen anbrüllen. „Die Natur ist unser Schöpfer, wir sind ihre Kinder. Wir müssen Demut üben und Achtung wahren.“
„Indem sie uns von sich nehmen lässt, was wir vom Leben brauchen, nur um es uns wieder wegzunehmen? Indem sie Wesen mit Fähigkeiten ausstatten, die es ihnen erlauben, mit der Natur zu sprechen, nur um von ihnen weissagen zu lassen, wann uns wieder eine Prüfung auferlegt wird? Ich halte das für sehr unwahrscheinlich.“
Der alte Mann mit der Krücke wollte etwas sagen, doch Tiane gebot ihm mit einer schnellen Handbewegung Schweigen, indem sie ihm die Stützkrücke scheinbar unabsichtlich, aber effektiv fortschlug. Lorax fing ihn bereitwillig auf, setzte ihn zu Tiane und gab ihm die Krücke zurück.
„Da muss es noch etwas anderes geben“, wusste Lorax und wandte sich um.
„Fängst du schon wieder an?“, rief ihm Tiane beinahe verzweifelt hinterher. „Willst du schon wieder allem auf den Grund gehen? Kannst du es nicht einfach bei dem belassen, wie es jetzt ist? Musst du es unbedingt wieder zerstören?“
Lorax drehte sich wieder um und ging vor seiner Schwester in die Hocke. Er blickte ihr kurz in die Augen, dann schenkte er ihr ein besänftigendes Lächeln. „Wenn ich die Zeichen der Natur richtig deuten soll, dann muss ich sie auch verstehen. Vielleicht war das der Grund, warum ich vorhin bei den Gerbfässern versagte – weil ich nicht verstand, was sie mir sagen wollte. Ich muss wissen, warum wir mit so heftigen Stürmen beschert werden. Wenn sie uns wirklich eine Prüfung auferlegen will, warum warnt sie uns dann erst? Das passt nicht zusammen.“ Er erhob sich und eilte in Richtung Ausgang.
„Lorax, nein!“, schrie ihm Tiane hinterher. Sie sprang auf die Beine, doch weit kam sie nicht. Ein Teil der Decke stürzte hernieder und zwang sie dazu, wieder in ihre Deckung zurückzuspringen. Als sich der Staub einigermaßen gelegt hatte, rief sie abermals nach Lorax, doch er war bereits verschwunden. „Verdammt!“, fluchte sie lauthals und sah sich hektisch um.
„Janos!“, brüllte sie beinahe verzweifelt. Sie wusste, dass sich Janos in der Festhöhle aufhielt und sich die ganze Zeit vor Lorax verbarg. Als sie seinen Namen rief, tauchte er aus einer Gruppe von älteren Männern auf. „Holt ihn zurück.“
Janos nickte gehorsam, winkte der Gruppe von älteren Männer zu, worauf diese ihre alten Decken und gebeugten Gestalten augenblicklich aufgaben und ihre wahre Identität zeigten. Fünf weitere Männer in bestem Alter und bei bester Kraft eilten hinter Janos her und verschwanden ebenfalls durch das Tor.
* * *
Lorax war auf orkanartigen Wind, peitschenden Regen und Blitzschlägen eingestellt, die einen Vorgeschmack auf einen eventuellen Untergang hätten bedeuten können. Was ihn allerdings gleich hinter dem Tor erwartete, ließ ihn erst einmal perplex verharren. Weiße, flügellose Objekte rasten über ihn hinweg, wie Kräher auf der Jagd nach windigen Insekten. Dabei sandten sie grellrote Blitze aus, die alles was sie trafen in ihre Bestandteile zerlegten. Die Geräusche, die sie dabei machten, ließ die Luft erzittern und den Boden beben. Kleinere Gruppen von Männern hatten sich zwischen Balken, Felsen, Karren und Bodensenken verschanzt und lieferten sich mit anderen Gruppen heiße Feuergefechte, wobei die Logeyzaner die Blitze der Gegenpartei mit schier unsichtbaren Geschossen antwortete. Lorax war so überrascht und überwältigt, dass er zunächst gar nicht mitbekam, wie eines der weißen Flugobjekte direkt auf ihn zuhielt und dabei den Boden mit seinen Blitzen in dampfende Schlacke verwandelte. Es war das eisige Kribbeln in seinem Nacken, das ihn in die Wirklichkeit zurückriss. Gerade noch im letzten Moment, sprang er zur Seite und kauerte sich in einer Nische zusammen, die Arme schützend über den Kopf haltend. Die Salve hatte das Tor getroffen und Teile der Höhle herausgefetzt. Lorax vermutete, dass dies drinnen eine weitere Lawine aus Staub und Kiesel niedergingen ließ, doch er fand sich im Moment außerstande, aufzuspringen und nach dem Rechten zusehen. Das weiße Flugobjekt kam in einer engen Kehre zurück und wiederholte seine Aktion. Währenddessen sprang Lorax aus der Nische, die ihm den sicheren Tod gebracht hätte, wäre er auch nur einen Augenblick länger dort geblieben und rannte geduckt zu einem umgestürzten, halb verkohlten Karren. Er sah sich hektisch um und hoffte, dass er nur träumte, dass er nur in einer Vision gefangen war und dass er aufzuwachen brauchte, um wieder in der friedlichen Realität zu landen. Doch so heftig er auch blinzelte und sich die Augen rieb, diese Misere wollte nicht verschwinden.
Aus der Richtung, in der der Damm lag, krachte es gewaltig. Kurz darauf ertönte lautes Wasserrauschen. Niemand brauchte Lorax darüber zu informieren, dass der Damm abermals gebrochen war und er glaubte nun zu wissen, wodurch der Damm das erste Mal so stark beschädigt worden war, dass er wenig später dem Druck des aufgestauten Wassers nachgab. Nicht Stürme, nicht heftige Blitzentladungen, sondern diese weißen Flugobjekte, die tödliche Blitze entsandten, waren der Grund dafür gewesen. Lorax fragte sich, ob er bereits die ganze Zeit getäuscht worden war. Und warum er getäuscht wurde. Offensichtlich verschwiegen sie ihm absichtlich die Wahrheit. Sollte er sich an etwas nicht erinnern? Aber an was?
Er sah sich ein weiteres Mal um und entdeckte in einer Gruppe, die mit gebogenen Gegenständen – mit Projektilwaffen schoss es Lorax in sein Bewusstsein – auf hinter Balkenhaufen für den Damm versteckten Männern in weißgrauen Uniformen schossen, Dugg, der ebenfalls die Mündung seiner Waffe auf die verschanzten Gegner richtete. Lorax versuchte sich alle möglichen Gründe für diesen Zwischenfall einfallen zu lassen, doch keine, die ihm auf die Schnelle einfielen, wollten ihn überzeugen. Die Gründe, warum Lorax im Unklaren gehalten worden war, mussten jedenfalls so triftig sein, dass sie ihn belogen und bei diesen Kämpfen, bei denen er aktive Mithilfe leisten konnte, ausgrenzten.
Von der anderen Seite drangen Schreie und Lorax fuhr herum. Männer in exakt gleichenden, weißgrauen Uniformen arbeiteten sich zwischen den auch mannhohen Felsen, die im ganzen Tal verstreut lagen, vorsichtig näher heran und trafen dabei auf verstreute Logeyzaner, die sich ihnen mutig und entschlossen entgegen stellten, aber aufgrund der Anzahl der Gegner und deren schnelleren und effektiveren Waffen schnell den Kürzeren zogen. Lorax Hand wanderte automatisch zu seiner Hüfte und stellte dort verblüfft fest, dass sich dort nur ein breiter Gürtel mit einem Holzfällermesser befand. Für einen Moment glaubte er, dort etwas anderes zu erwarten. Er musste die Gedanken daran jedoch schnell beiseite schieben, als sich die Uniformierten dem umgestürzten Karren näherten. Lorax kauerte sich tiefer in seine Deckung und hoffte, dass sie ihn übersahen, doch seine Deckung war nicht groß genug, um ihn gänzlich zu verbergen. Er machte sich so klein wie möglich und bereitete sich auf einen Nahkampf vor. Seine einzige Waffe war das Messer.
Eine Klinge gegen schnelle Lichtwaffen. Er besaß nur eine Chance, wenn er sie so nahe wie möglich herankommen ließ, um dann plötzlich und unerwartet aus seinem Versteck zu springen.
Die Gruppe bestand aus sieben Männern, die ihre Waffen gezückt und jederzeit bereit zu schießen an ihre Hüften pressten. Sie schlichen geduckt von Felsen zu Felsen, arbeiteten sich rasch näher an Duggs Gruppe heran, die die Bedrohung in ihrem Rücken noch nicht bemerkt hatten.
Lorax wünschte sich eine Möglichkeit, um Dugg warnen zu können, doch er wusste nicht wie. Er war zur Untätigkeit verdammt, bis sie ihm so nahe waren, dass er sie anfallen konnte. Doch da konnte es für Dugg bereits zu spät sein.
Plötzlich fiel ihm etwas ein und er schloss kurz die Augen, um seine Konzentration zu sammeln. Er zwang seine Wahrnehmung auf einen bestimmten Punkt, bis er es förmlich sehen konnte, als saß er direkt davor, wartete den günstigsten Augenblick ab und versetzte dem Punkt einen gedanklichen Stoß. Dasselbe hatte er schon mit Blättern, Regentropfen, Staubkörnchen und einem Vogel gemacht, welcher daraufhin laut kreischen davonflatterte. Er war sich nicht sicher, ob Dugg etwas spüren würde, aber da der Ältere ebenfalls ein Naturfühler war und daher Sensibilität gegenüber gewissen Regungen besaß, hoffte er, dass seine Idee nicht fehlschlug. Aus seiner Position war es Lorax leider nicht möglich, sich persönlich davon zu überzeugen, dass Dugg diesen kleinen Stoß bemerkte. Würde er es wagen, den Kopf herauszustrecken, würden ihn die Uniformierten entdecken und dann wäre er des Todes.
Er konnte daher nicht sehen, dass Dugg tatsächlich zusammenzuckte, sich in den Nacken fasste, wo ihn plötzlich ein kurzer, heftiger Schmerz gepeinigt hatte und sich umdrehte, in Erwartung, dort jemanden stehen zu sehen, der ihn mit etwas spitzem in den Nacken gestochen hatte. Dabei entdeckte er die Männer, die sich in seinem Rücken anschlichen, fuhr herum und eröffnete sofort das Feuer auf sie. Beinahe zeitgleich, nur einen Herzschlag später warf sich eine Gestalt aus der Deckung eines halb ausgebrannten Karrens auf die Männer und verwickelte sie rasch in einen Nahkampf, sodass deren Aufmerksamkeit jäh zerrissen wurde.
Lorax wusste, dass er nur eine Chance besaß, wenn er den Uniformierten die Waffen aus den Händen schlug. Da sie aber allesamt an Trageriemen um deren Körper geschlungen waren, musste er sich schnell eine andere Strategie ausdenken - nämlich die, die Gegner blitzschnell auszuschalten. Er hatte keine Ahnung, wie er das zustande bringen sollte, stellte jedoch rasch fest, dass sein Körper wusste, was zu tun war. Er blockte die Angriffe der Männer geschickt mit den Armen ab, während er seine eigene Behändigkeit ausnutzte, um schnell hintereinander ausgeführte Schläge an Kinn, Brustkorb, Kehlkopf, Schädel und Bauch zu verteilen. Mehrmals spürte er das Splittern von Knochen und vernahm das erstickte Gurgeln, als einer der Männer mit zertrümmertem Kehlkopf zurück taumelte, um nur einige Schritte später leblos in sich zusammenzusinken. Lorax machte sich keine Gedanken über das, was er anrichtete. Er musste selbst am Leben bleiben – das war er seiner Schwester schuldig.
Die Klinge seines Messers fraß sich in grausamer Gier durch Fleisch, Sehnen, Blutbahnen, Knochen und Eingeweide. Geschickt und wendig wie Sumpfgras bog er sich unter auf ihn abgefeuerte rote Blitze hindurch, wirbelte herum wie ein Tornado und hinterließ in nur wenigen Minuten ein furchtbares Gemetzel in der Gruppe der Uniformierten.
Dugg und seine Männer hatten nicht mehr viel zu tun gehabt und konnten sich daher bald wieder der ursprünglichen Front widmen. Der Ältere erkannte Lorax, nachdem dieser innegehalten hatte, als der Letzte seiner Opfer leblos zu Boden ging, fluchte leise vor sich hin und wollte seine Deckung verlassen, um zu seinem Schützling zu gehen. Doch das noch immer herrschende Feuergefecht von der Gegenseite ließ dies nicht zu. Er musste tatenlos mit ansehen, wie sich Lorax eines der Lasergewehre der Toten bemächtigte, fachmännisch die Anzeige der Energieladung überprüfte, sich flüchtig umsah und sich geduckt in die entgegen gesetzte Richtung davonschlich. Nur wenige Augenblicke später – zu spät, um Lorax in der allgemeinen Aufregung rasch wiederfinden zu können – tauchte Janos mit einigen der Männer auf, die den jungen Mann, den sie für ihre Zwecke umprogrammieren wollten, in Schach halten sollten.
Janos stolperte förmlich über die Leichen, hielt verdutzt inne und betrachtete sie fragend. Sein umherschweifender Blick entdeckte Dugg. Dieser deutete winkend in die Richtung, in die Lorax entschwunden war, worauf sich Janos und seine Freunde in Bewegung setzten.
* * *
Es gefiel Lorax nicht, einen Umweg nehmen zu müssen, um an Dugg heranzukommen. Die Schützen auf der anderen Seite des Flusses hatten so strategisch gute Plätze eingenommen, dass beinahe der gesamte gegenüberliegende Teil von ihnen in Schach gehalten werden konnte. Lorax musste äußerst vorsichtig vorgehen. Sein Plan war, die Gegner auf der anderen Seite mit einer Überraschung zu konfrontieren, sodass ihre Aufmerksamkeit für einen Moment abgelenkt war, damit Dugg und seine Männer bessere Stellungen suchen konnten.
Die letzten Meter bis zum Ufer musste Lorax bäuchlings vorwärts robben. Er hatte sich soweit Flussaufwärts gearbeitet, dass er sich beinahe außerhalb des Kampfgeschehens befand. Nur die fliegenden Objekte – Kampfjäger, kehrte dieses Wort wie mit einem Katapult an die Oberfläche seines Erinnerungsvermögen geschossen zurück – vereinnahmten mit ihren Kehren das Terrain, auf dem sich Lorax befand. Mit seiner dicken, erdfarbenen Wirkjacke, den ledernen Hosen und den dunkelbraunen, kniehohen Stiefeln passte er sich farblich nahezu perfekt seiner Umgebung an, sodass die Piloten in den Kampfjägern schon genau hinsehen mussten, um ihn zu entdecken. Lorax bezweifelte dies aber, dass sie während des Kampfgeschehens genug Zeit und Muse besaßen, von ihren Zielkontrollen zu blicken, um aus dem Fenster zu sehen und die Gegend zu betrachten. So musste er nur reglos verharren, wenn ein Kampfjäger über ihn hinwegdröhnte.
Er war unentdeckt geblieben, als er schließlich das Ufer erreichte und zurückblickte. Von seiner Position aus konnte er die Gegner hinter den Felsen, Häusern und in den Kratern der Einschusslöcher, die ihre Jäger für sie ausgehoben hatten, deutlich ausmachen. Er musterte die Gegend genau, in der sich die Männer in den weißgrauen Uniformen befanden. Er könnte mit seinem Blitzwerfer eines der Häuser in Brand setzen, hinter oder in denen sich etliche der Uniformierten verschanzt hatten, aber dadurch würde er seine eigene Position verraten. Die unsichtbaren Geschosse seiner eigenen Leuten wären jetzt von Vorteil, dachte er sich und sah sich um. Er war auf seinem Weg zum Ufer an mehreren Leichen vorbeigekommen. Eine von ihnen lag knapp drei Meter von ihm entfernt und hielt noch immer seine Waffe in der Hand. Ein gebogenes Etwas, mit zahlreichen Auswüchsen. Lorax hatte so etwas noch nie zuvor gesehen und wusste daher nichts über die Handhabung einer solchen Waffe, er nahm sie dennoch an sich, betrachtete sie kurz eingehend, dann zielte er mit der Mündung auf einen Mann, der sich hinter einem Felsen versteckt hielt, von dem Lorax aber, aufgrund seiner Position, Kopf und Brustbereich deutlich ausmachen konnte und drückte auf den gebogenen Hebel in der metallenen Schlaufe. Während er zielte, versuchte er seine Verunsicherung zu unterdrücken. Irgendwie war er der Meinung, mit jedem Schuss einen Treffer erzielen zu müssen, war sich aber nicht sicher, erfolgreich zu sein. Fast hätte er die Waffe schon wieder weggelegt, als er bemerkte, wie sich seine Wahrnehmung plötzlich und ohne dass er es bewusst praktizierte einengte und sich gänzlich auf sein Ziel konzentrierte. Der Mann verwandelte sich in ein kreisförmiges Gebilde mit einem rotem Zentrum. Er zielte in die Mitte des roten Zentrums und vernahm nur einen Augenblick später einen dumpfen, fast erstickten Aufschrei.
Zufrieden mit seiner Leistung widmete er sich einem neuen Ziel, und noch einem, und noch einem. Die Frage, wie er zu solch hervorragenden Schießkünsten kommen konnte, verdrängte er auf später. Vorerst erklärte er sie mit seinen Naturfühlerfähigkeiten.
Er erschrak beinahe, als sich vor seinem geistigen Auge ein Mann zunächst in ein kreisrundes Gebilde und dann plötzlich in Tianes Gesicht verwandelte. Sie schrie jemandem etwas zu, dann drückte Lorax ab, ohne es zu wollen. Tianes Gesicht verschwand nur einen Augenblick vorher, ehe die – Zielscheibe – in tausend Fetzen sprang.
Zielscheibe – Lorax senkte die Waffe, kehrte in die Wirklichkeit zurück und betrachtete das Teil in seiner Hand gedankenverloren. Er hatte in Tiane eine Zielscheibe gesehen. Aber warum? Sie war doch seine Schwester. Wie kam er dazu, sie töten zu wollen, als sei sie nichts weiter als ein lohnendes Ziel?
Es musste etwas mit den Stürmen, oder vielmehr mit den Angriffen der Kampfjäger zu tun haben, vor deren Anblick sie stets versucht hatte, ihn zu bewahren. Vielleicht war er die Ursache dafür, dass das Dorf angegriffen wurde, mutmaßte er. Seinem Vorleben zufolge, musste er Dinge getan haben, für die ihn die Dorfbewohner so hassten, dass sie ihn sogar auf den Bundus-Fest beschimpften, oder sich nicht mit ihm freuten, dass sich der missratene Sohn als Naturfühler entpuppte, oder gar nicht daran dachten sich für ihre Lebensrettung zu bedanken. Aber was hatte er getan?
Ein eiskalter Hauch traf seinen Nacken und ließ die kleinen Härchen erstarren. Sein Finger lag immer noch am Abzug. Er wirbelte herum – und musste all seine Kräfte mobilisieren, den Finger nicht zu krümmen. Es gelang ihm nicht, doch statt einem lauten Knall, gab es nur ein leises Klick.
Janos stand mit kreidebleichem Gesicht vor ihm, hatte schon sein letztes Sekündlein schlagen sehen. Als der Schlagbolzen leer durchging, sank er voller Erleichterung auf die Knie.
„Bist du wahnsinnig?“, schrie Lorax verhalten und senkte schnell die Stimme, als er bemerkte, dass seine durchgegangenen Emotionen ihn verraten könnten. Sein Pulsschlag ging heftig. Seine Lungen schrieen nach Luft. Er zitterte am ganzen Leib. Sein vom Adrenalin aufgeputschter Körper musste den Drogenschub erst einmal verarbeiten. Er brauchte einige tiefe Atemzüge lang, ehe er sich wieder unter Kontrolle bekam. „Tu das nie wieder!“, zischte er böse. „Wäre das Ding nicht leer gewesen, hätte ich dich jetzt glatt erschossen.“
„Puh!“ schnaufte Janos und ließ sich neben Lorax in das schlammige Ufer sinken. Er brauchte etwas länger, um den Schreck zu verarbeiten. „Was machst du hier draußen? Du solltest doch bei Tiane bleiben.“
„Wie lange hattet ihr geglaubt, das vor mir zu verheimlichen?“, gab Lorax unbeirrt zurück, legte die leergeschossene Bolzenwaffe zur Seite und nahm den Blitzwerfer zur Hand. Er überflog den Platz, an dem sich noch immer Duggs Gegner befanden, die er allerdings um einige reduziert hatte und schätzte die Zahl ab, die sich noch immer sicher hinter ihrer Deckung verschanzten.
„Was verheimlichen?“, fragte Janos nach. Dass Lorax eine dieser gefährlichen Lasergewehre in Händen hielt, gefiel ihm gar nicht. Liebend gern hätte er sie ihm abgenommen, doch er war sich noch immer schmerzlich bewusst, dass er gegen ihn keine Chance besaß. Er wusste, dass sich Dugg knapp fünfhundert Meter weiter unten befand. Von ihrer derzeitigen Position aus, konnte ihn Lorax jedoch nicht treffen. So wartete er erst einmal ab, was der andere damit beabsichtigte.
„Das klären wir später“, winkte Lorax ab und deutete mit einem Blick in Richtung der Uniformierten, die sich mit der Unterstützung der Kampfjäger ein gutes Stück näher heran gearbeitet hatten. „Die Kerle müssen wir erledigen, bevor sie Dugg erwischen. Kannst du damit umgehen?“, wollte er mit einem flüchtigen Blick auf die Waffe wissen, die er dem Toten abgenommen hatte.
Janos fasste unter seine Jacke und brachte seinen eigenen Revolver zum Vorschein, entsicherte ihn mit einer galanten Bewegung und überprüfte die Patronen im Magazin.
„Könntest du mir vielleicht verraten, wer die sind?“, wollte Lorax wissen und deutete auf die Gegner in den weißgrauen Uniformen.
„Wenn du es nicht weißt, ich verrate es dir nicht“, gab Janos zurück.
Lorax drehte den Kopf und fixierte ihn eingehend. „Warum? Habe ich etwas damit zu tun, dass die hier so ein Chaos anrichten?“
„In gewisser Weise“, ließ sich Janos zu einer sehr weitreichenden Antwort hinreißen.
Die Härchen in seinem Nacken sträubten sich, ein untrügliches Zeichen für Lorax, dass Gefahr im nahen war. Er blickte sich um und bemerkte den Kampfjäger, der geradewegs auf sie zukam. Die beiden Männer schienen nun offenbar entdeckt worden zu sein. Lorax stellte die Energieleistung seines Blitzwerfers auf maximale Leistung und zielte auf einen bestimmten Punkt am Rumpf des Jägers. Er brauchte drei exakte Treffer, ehe die backbordseitige Landedüse mit einem Kurzschluss in Rauch aufging. Der kleine Feuerstoß auf der Landedüse versetzte dem Jäger einen Stoß zur Seite, worauf dieser seinen wohlgezielten Schuss weit daneben ablieferte. Die Fehlfunktion schien aber weitaus mehr der Elektronik beschädigt zu haben, denn der Jäger begann zu trudeln und detonierte schließlich fünfhundert Meter weiter, kurz vor einem Hügel.
„Wie hast du das gemacht?“, wollte Janos sogleich beeindruckt wissen.
„Wie hast du das gemeint: in gewisser Weise?“, fragte er dagegen, während er die Gegend im Auge behielt. Seine Aktion war wohl bemerkt worden und die Männer auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses teilten nun ihre Feuerkraft in zwei Fronten auf. Janos und Lorax mussten sich schnellstens vom Ufer entfernen und sich eine sichere Deckung suchen. Wenigstens wurde Dugg nicht mehr von so vielen Schützen mit Salven eingedeckt, dachte Lorax und sandte nach einer weiteren Möglichkeit nach, den Invasoren beizukommen.
„Habe ich etwas gemacht, wofür man mir mit einer Axt den Schädel einschlagen könnte?“, wollte Lorax wissen, während er einen weiteren Kampfjäger ins Visier nahm.
„Wenn du das nicht weißt, werde ich es dir nicht verraten“, entgegnete Janos kurz angebunden. „Ich werde meinen Mund halten, das habe ich geschworen.“
„Also gut“, knurrte Lorax missmutig und schwor sich Dugg und Tiane auszuquetschen, sobald das hier überstanden war und nicht eher von ihnen abzulassen, ehe er die ganze Wahrheit kannte. „Dann verrate mir wenigstens, warum ihr mich weiter in dem Glauben lassen wolltet, dass es sich bei diesen Angriffen um heftige Stürme handelt. Warum sollte ich nichts davon wissen?“
„Ich sage es dir nicht“, blieb Janos hartnäckig.
Gleich nachdem auch der nächste Jäger eine Fehlfunktion in der backbordseitigen Landedüse verzeichnen musste und wenig später in einer Feuerwolke aufging, drehte Lorax die Mündung seiner Waffe zur Seite und zeigte damit geradewegs auf Janos Stirn.
„Sag’s mir!“, forderte er hart.
Janos erschrak leicht, konnte sich jedoch zusammenreißen und blieb reglos sitzen.
„Wenn du nicht wie die Jäger enden willst, dann rede!“ zischte Lorax, den Daumen auf dem Sensor, bereit wegen einer Antwort einen Menschen zu töten.
„Ich will es dir nicht sagen“, gestand Janos aufrichtig. „Ich will nicht, dass du dich erinnerst. Ich will nicht, dass alles wieder von vorn beginnt.“
„Was soll von vorn beginnen?“
„Wenn du es nicht weiß, ich verrate es dir nicht.“
Lorax verlor die Geduld und presste seinen Daumen auf den Sensor. Dabei verriss er allerdings absichtlich die Waffe, sodass der Blitz nur knapp an Janos Kopf vorbeizischte und einen Krater im Boden hinterließ.
„Warum will mir keiner sagen, was geschehen ist?“, schimpfte Lorax wütend. „Ich komme mir vor, wie ein kompletter Idiot. Niemand außer Dugg und Tiane will etwas mit mir zu tun haben. Warum nur?“
„Du wirst es sicherlich irgendwann erfahren“, erwiderte Janos und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. Lorax hatte ihm wirklich Angst gemacht, zumal er genau wusste, wozu der Scharfschütze fähig war. „Aber nicht jetzt.“ Er deutete auf die fliegenden Objekte. „Kannst du sie alle vom Himmel holen, wie du das mit den beiden gemacht hast?“
„Sicher!“ nickte Lorax, drückte den Kolben an die Schulter und suchte sich das nächste Opfer aus. Gleich zwei Jäger hatten abgedreht und widmeten sich dem einzelnen Schützen hinter der niederen Mauer. Einer von ihnen explodierte noch über dem Fluss, der andere konnte noch eine Wende vollführen, ehe es auch ihn erwischte. Bevor er die Kehre machte, konnte er noch eine Salve von grellroten Blitzen absetzen, die die Mauer, hinter der sich Janos und Lorax verschanzten in Fetzen riss. Die beiden Männer warfen sich flach auf den Boden, als ihnen die Gesteinsbrocken und der Staub nur so um die Ohren flogen.
Drei Jäger waren noch übrig geblieben.
Lorax erhob sich vorsichtig, allein schon wegen etwaiger Verletzungen, doch als ihn kein schmerzhafter Stich traf, hievte er sich auf alle Viere, blickte sich kurz um sich und stellte sich auf die Beine. Die Schützen von der anderen Seite des Ufers eröffneten sofort wieder das Feuer, als sie erkannten, dass der Schuss ihres Pilotenkollegens kein Blutopfer verlangt hatte. Der junge Mann in der dicken Staubbehafteten Wirkjacke überprüfte in aller Seelenruhe die Energieladung seines Blitzwerfers - Lasergewehr, erinnerte er sich plötzlich wieder –, sammelte kurz seine Konzentration und hob dann das Zielvisier vor sein Auge, um die übrigen Gegner zu erledigen. Kurz nachdem er den ersten in sein Visier genommen hatte, verwandelte er sich in eine Zielscheibe. Lorax traf auf Anhieb mitten ins Schwarze. Mit einem dumpfen Laut verschwand die rote Mitte und ein weiteres Gesicht nahm dessen Stelle ein – nur um ebenfalls zu einem roten Kreis zu werden und ebenfalls wieder mit ihm zu verschwinden. Lorax besaß plötzlich das Gefühl der Vertrautheit, als hätte er dies schon früher getan, als sei dies ebenso eine alltägliche Arbeit für ihn, wie das Feuerholzhacken oder die Feldarbeit. Er besaß plötzlich das Gefühl, dass all die Dinge, die er die letzten Wochen und Monate getan hatte, etwas Befremdliches waren. Sein Gefühl bestätigte in gewisser Weise die Erzählungen seiner Schwester. Vor dem Absturz in den Klüften hatte er sich wenig um Pflichten oder Arbeit gekümmert und sich überall und bei jedem wie selbstverständlich eingeladen. Ihm wäre früher niemals eingefallen, seinem Vater bei der Feldarbeit zu helfen, oder seiner Mutter Feuerholz für den Herd zu hacken. Statt dessen bediente er sich gefällig aus den Töpfen und Fässern der Vorratskammer und bemängelte es, wenn etwas mal nicht mehr vorrätig war.
In Lorax keimte so allmählich eine Vermutung auf, was er vor dem Unfall in den Klüften getan haben könnte. Die Bewohner des Dorfes mieden ihn, als sahen sie in ihm einen Verräter. Sie kreideten ihm nicht nur den Tod von über fünfzig Mitmenschen an, da musste noch mehr sein. Lorax vermutete anhand dem, was sein Gefühl ihm sagte, seine Träume ihm verrieten und aus dem was er hörte und erzählt bekam, dass er für die Gegenseite gearbeitet haben musste. Vielleicht war er ein Spion gewesen, die Dorfbewohner waren ihm irgendwann draufgekommen und hatten ihn davongejagt. Vermutlich in die Klüften, wo er schließlich abstürzte. Wieso sonst sollte jemand mit einer Axt auf ihn losgehen wollen?
Axt?
Lorax stutzte kurz. Er fragte sich für einen Augenblick lang, wie er darauf kam. Doch dann kehrte die Vision zu ihm zurück. Ein kräftig gebauter Mann mit Narben im Gesicht hatte sich von hinten an ihn heran geschlichen und seine Axt zum Schlag erhoben.
Seine Aufmerksamkeit bröckelte ein wenig und die Zielscheibe vor seinem geistigen Auge löste sich in breiigem Nebel auf. Er konzentrierte sich zu stark auf die Vision, sah sich leibhaftig am Rand einer hohen Klippe stehen und auf eine schreiende und wie aufgeschreckte Hühner durcheinander springende Menge von Menschen nieder. Er sah Thermiko-Gleiter am Himmel, die aber aufgrund eines lässigen Daumendrucks von ihm in Feuer aufgingen und abstürzten. Er sah Tiane hinter einem Felsen stehen und jemandem etwas zurufen. Dieser jemand war Dugg, der sich ebenfalls hinter einem großen Felsen verbarg. Lorax besonderes Wahrnehmungsvermögen ermöglichte es ihm, die Personen hinter den Felsen auszumachen, ohne sie jedoch sehen zu können. Er vermochte auch diejenigen zu finden, die sich hinter großen Büschen, Baumstämmen oder Hügeln verbargen. Die Feuerkraft seines speziell entwickelten Lasergewehre sorgte dafür, dass die Hindernisse nicht mehr länger Hindernisse waren und trug sie Feuerstoß für Feuerstoß ab, bis sie nicht mehr vorhanden waren und das Ziel dahinter bloßlegten. Er hatte seinen Opfern niemals viel Zeit gelassen, sich zwischen den einzelnen Salven zu erholen, die Flucht zu ergreifen oder auch sich zu ergeben. Für die schnelle Schussfolge hatte er mehrere Energiebatterien in einer bestimmten Reihe geschlossen, sodass immer eine voll funktionsfähig war, während die anderen genügen Zeit besaßen, ihre Leistung wieder aufzubauen. Er konnte einige der Energiezellen auch zusammenschalten, um die Leistung zu erhöhen und damit einen massiven Felsen in Kies zu verwandeln. Er fühlte die Kälte, die von ihm ausging, als er den Sensor betätigte und ein Leben mit einem rote Blitz auslöschte. Er fühlte die Gelassenheit, mit der er dessen Tod registrierte. Er fühlte die Genugtuung, die ihn jedes Mal erfüllt hatte, wenn er sein Ziel traf. Und er fühlte Ekel vor sich selbst und diesen Empfindungen. Was war er nur für ein Monster gewesen, seine eigenen Leute zu ermorden? Wie konnte er jemals daran denken, seine Eltern und auch seine Schwester mit kalt lächelndem Gleichmut in den Tod zu schicken? Er schauderte vor sich selbst.
„Vorsicht!“ trieb eine schrille Stimme einen tiefen Keil in seine Wahrnehmung. Kaum einen Atemzug später wurde er auch schon umgestoßen und landete im morastigen Ufer des Flusses. Einen Herzschlag später wurde eben jener Morast über ihn geworfen, als hätte jemand eine ganze Karrenladung davon über ihn ausgeschüttet. Lorax schützte seinen Kopf mit den Armen, doch die Wucht der Morastlawine war so stark, dass sie ihn herumwirbelte und er gegen einen harten Widerstand prallte. Seine Rippen wurden stark geprellt, doch seine Brustmuskulatur war durch die Arbeit so gestärkt worden, dass sie ihn vor einem Rippenbruch bewahrte. Er keuchte und hustete, wischte sich den Schlamm aus den Augen und blickte sich blinzelnd um. Unscharf konnte er mehrere hellfarbene Gestalten ausmachen, die sich unweit von ihm aufgebaut hatten. Mit einer einzigen Bewegung zog er das Messer aus seinem Gurt und sprang auf die Beine. Kaum hatte er die stehende Position erreicht, wurde er auch schon wieder umgeworfen und landete mitsamt dem Rammbock im kalten Flusswasser. Der menschliche Rammbock war darauf aus, ihn mit seinem Gewicht unter Wasser zu halten und zu ertränken. Er hatte jedoch nicht bedacht, dass Lorax Lungen hervorragend ausgebildet waren und er daher lange unter Wasser ausharren konnte.
Während er gegen das Gewicht ankämpfte, welches ihn unter Wasser festnagelte, erhielt Lorax eine weitere Vision. Er sah sich selbst, ohne Taucherausrüstung auf dem Grund eines tiefen Sees nach Gegenständen suchen, die zuvor jemand hineingeworfen hatte. Er sah sich selbst, wie er gefährlich nahe an die Grenzen seiner Belastbarkeit ging, er fühlte, wie seine Lungen brannten, sein Organismus gegen die Sauerstoffknappheit rebellierte. Er fühlte aber auch den Ehrgeiz, der ihn jedes Mal befiel, wenn er eine Aufgabe bestehen wollte. Er musste sie einfach bestehen und sogar mit Bravour absolvieren. Etwas anderes kam für ihn nicht in Frage.
Lorax verlangsamte seine Anstrengungen und ließ sie schließlich sterben. Reglos lag er auf dem Grund und wartete auf eine Reaktion seines Gegners, die prompt kam. Der Mann ließ von ihm ab, wandte sich nach getaner Arbeit ab und wollte zufrieden den Fluss verlassen, doch da hatte er die Rechnung ohne sein Opfer gemacht. Mit gezücktem Messer preschte dieser aus dem Wasser, sprang dem Mann in den Rücken und versenkte dabei die Klinge bis zum Schaft im Brustkorb seines Peinigers. Gurgelnd plumpste dieser in das morastige Ufer und war schon tot, als sich sein Kinn in den weichen Boden bohrte.
Keuchend stellte sich Lorax sofort wieder auf die Beine, bereit sich auf den nächsten Gegner zu werfen. Er schüttelte das Wasser aus seinen Haaren und ignorierte die Kälte, die der kalte Wind in seiner durchnässten Kleidung hinterließ. Neben ihm krachte etwas, er machte geistesgegenwärtig einen Satz zur Seite. Das Bild vor seinen Augen klarte sich allmählich, sodass er die fünf Männer in den hellen Uniformen entdecken konnte, die ihre Waffen auf ihn richteten. Unweit von ihnen lag Janos, reglos, mit blutüberströmten Gesicht und einem sich rasch ausbreitendem Blutfleck in der Bauchgegend. Im Hintergrund fochten mehrere Logeyzaner mit Uniformierten im Nahkampf. Unter ihnen konnte er auch Tiane ausmachen, die sich wahrhaft zu wehren wusste. Er musste seine Überraschung gewaltsam niederdrücken, als er die Entschlossenheit und die kämpferische Taktik bemerkte, mit der sich seine Schwester zur Wehr setzte, als müsste sie sich nicht zum ersten Mal auf diese Weise ihrer Haut erwehren. Dabei erkannte er, dass er sicherlich noch viel mehr zu erfahren hatte – sollte er die fünf Männer überleben, die mit schussbereiten Mündungen auf ihn zielten.
Obwohl er nur mit einem Messer bewaffnet war, besaß Lorax keinerlei Angst vor ihnen. Ihm war, als seit er schon mit schwierigeren Situationen fertig geworden. Die Sieben waren leicht zu überwältigen gewesen, da er sie hatte überrumpeln können. Die Fünf nun, stellten zwar eine ernsthaftere Situation dar, aber noch lange nicht aussichtslos.
„Unser Befehl lautet, alle zu eliminieren“, sagte eine leicht näselnde Stimme, die auch irgendwie gehetzt wirkte. Lorax kam die Art bekannt vor und suchte nach seinem offenbar wiederkehrenden Erinnerungsvermögen nach etwas vergleichbarem. Obwohl sich der Eigentümer der Stimme im Hintergrund hielt, identifizierte Lorax aus seinem Gedächtnis dazu einen kleinen, dicklichen, ständig schwitzenden Mann.
Als die fünf Soldaten ihre Waffen hoben, um den einzelnen Mann zu erschießen, entdeckte Lorax zwischen ihren Leibern eine kleinere, massivere Statur, die sich offenbar in deren Schutz gehalten hatte. Beinahe zeitgleich warf sich Lorax zur Seite, rollte über die Schulter ab, kam wieder auf die Füße und entdeckte im Augenwinkel eines dieser Waffen, die unsichtbare Geschosse abfeuern konnten. Er hoffte inständig, dass es sich dabei nicht um dieselbe Waffe handelte, die er leergeschossen hatte. In einem einzigen Reflex warf er sich abermals zur Seite, hechtete langgestreckt nach der handlichen Waffe und drückte das kleine gebogene Stückchen Metall in der Schlaufe mehrmals durch, während er um Haaresbreite von grellroten Feuersalven verfolgt wurde seinen eigenen Sturz so gut es eben ging abmildern musste. Drei seiner Gegner fielen getroffen zu Boden. Die anderen beiden hatten sich schnell genug fallen lassen oder besaßen das Glück verfehlt zu werden.
Nachdem nur noch ein leises Klick ertönte, sprang Lorax auf die Beine, hechtete mit einem Sprung auf den Soldaten, der sich ihm am nächsten befand und drückte dabei das Messer tief zwischen dessen Rippen. Dann rollte er sich blitzschnell von dem Sterbenden und musste bereits im nächsten Augenblick einen starken Hieb mit dem Gewehrkolben einstecken. Lorax folgte dem Schlag, ließ sich davon herumwirbeln und prallte dabei an die Beine seines Gegners. Schnell hatten sich die seinen um die seines Gegners gewickelt und ihn zu Fall gebracht. Dabei verlor der Mann sein Gewehr. Fluchend sprang er auf die Beine, fuhr augenblicklich herum und wollte Lorax mit einer harten Rechten die Besinnung rauben. Lorax, der in der gleichen Zeit auf die Beine kam, streckte nur seinen Arm aus, um den Schlag abzublocken, während er eine Faust unter das Kinn des Soldaten trieb. Der Soldat riss die Augen auf. Ein unverständlicher Laut drang aus seinem Mund, dann sackte er haltlos wie ein leerer Sack in sich zusammen.
Keuchend wirbelte der junge Logeyzaner herum, bereit sich einem weiteren Gegner zu widmen, doch da war nur noch der kleine dickliche Kerl, der nun mit weitaufgerissenen Augen und Mund vor ihm stand. Aus dessen Gesicht war Entsetzen und Überraschung zu erkennen, aber auf eine Art, die Lorax innehalten ließ. Er erkannte sofort, dass dieser Mann wusste, wen er vor sich hatte, dass der wehrhafte Junge nicht einer der anderen Dorfbewohner war, sondern jemand ganz besonderer. Lorax wünschte sich in diesem Moment, dass er aus dem bleichen Gesicht ablesen konnte, was er für ihn darstellte. Ein Spion? Ein Verräter? Es war leider nicht ersichtlich.
Der dickliche Kerl schien zu überlegen, ob er auf den Jungen zugehen, oder vor ihm weglaufen sollte. Er entschied, steif und unbeweglich stehen zu bleiben und ihn anzustarren.
„Was ist?“, wollte Lorax wissen und schielte mit einem Auge in Richtung der anderen Gruppe, die noch immer im Nahkampf vereint waren. Er hätte ihnen gerne helfen wollen, denn er hatte auch erkannt, dass von dem kleinen Dicken keine Gefahr ausging. Vielleicht sagte ihm das auch sein Gefühl. Jedenfalls zuckten seine Nackenhärchen nicht. Aber dieser Kerl fesselte ihn irgendwie.
„Tui’jin“, entfleuchte es dem Dicken fassungslos.
„Tut mir leid. Ich spreche deine Sprache nicht“, entgegnete Lorax achselzuckend. Tiane und ein paar weiter Logeyzaner hatten es geschafft, die Anzahl der Soldaten, mit denen sie noch fertig werden mussten, zu dezimieren. Die Zahl war aber noch ausreichend, um noch gefährlich werden zu können.
„Was?“, fragte der Dicke verwirrt und widerstand der Versuchung, über seine schweißnasse Stirn zu wischen. Er starrte den jungen Mann entgeistert an, so als könne er nicht glauben, was seine Augen ihm zeigten.
„Ich habe noch zu tun“, entschuldige sich Lorax, riss sich von dem Dicken los und war mit wenigen Sätzen bei Tiane und deren Balgerei.
„Braucht ihr Hilfe?“, erkundigte er sich beinahe beiläufig, während er den Schlag eines Soldaten, der eigentlich für Tiane gedacht war, mit der Hand einfing, dessen Arm mit einer galanten Bewegung auf den Rücken drehte und ihn mit einem kräftigen Ruck aus dem Gelenk kugelte. Ein anderer wollte ihn sogleich mit einem dünnen Balken attackieren. Lorax zerrte den Mann mit der ausgekugelten Schulter herum, sodass dieser den Schlag kassierte und warf ihn achtlos von sich. Der nun mehrfach gepeinigte Mann schrie und stöhnte bei jeder Bewegung, die mit ihm gemacht wurde. Lorax besaß nicht die Zeit, sich weiter mit ihm zu befassen. Der Kerl mit dem Balken holte zum neuen Schlag aus. Lorax duckte sich unter dem Balken hinweg und kam hoch, ehe sein Gegner den Schwung bremsen und neu ausholen konnte und versetzte ihm einen heftigen Faustschlag in die offene Seite. Beinahe zeitgleich spürte er, wie sich seine Nackenhärchen sträubten und vollführte mit dem Ellbogen einen heftigen Hieb nach hinten. Ein Kinn klappte auf seine Schulter. Lorax griff nach hinten, beugte sich leicht vor und hebelte den Mann über seinen Rücken geradewegs auf den Kerl, der zu einem neuen Schlag mit dem Balken ausholen wollte. Dabei bemerkte er, dass ihn die dicke Wirkjacke in seiner Bewegungsfreiheit behinderte. Er bekam seine Arme nicht schnell genug hoch und außerdem hatte sich etwas an der Uniform des Soldaten im Maschenwerk der Jacke verheddert. Wenn er nicht so schnell reagiert, sich nach vorn gebeugt und sich die Jacke über den Kopf vom Leib gezogen lassen hätte, wäre er mitgerissen worden.
Während ihm die Jacke vom Leib gezogen wurde, befiel ihn eine weitere Vision – eher Gedanken, die durch seinen Kopf rasten. Eine Feststellung, die er insgeheim bestätigte. Er liebte lange Mäntel, doch bei seinen Aufträgen bevorzugte er kurze, bequeme Jacken oder gar Overalls, die jede Bewegung mitmachten. Ehe er über die Bedeutung von Aufträgen nachdenken konnte, erzitterten seine treuen Nackenhärchen erneut.
Am Rande seines Augenwinkels entdeckte er eine Gestalt, die sich auf ihn stürzte. Lorax wirbelte reflexartig herum, verpasste dem Kerl einen harten Schlag ins Genick und musste sogleich den Kopf einziehen, als ein grellroter Blitz auf ihn zuraste. Er konnte noch den Schützen erkennen, der unweit von ihnen stand und noch immer mit der Mündung seiner Waffe auf Lorax zeigte. Es war der kleine, dickliche Kerl, der ihn zu kennen schien. Dann wurde seine Aufmerksamkeit bereits wieder von einer anderen Angelegenheit verlangt. Ein weiterer Soldat sprang auf ihn zu, hielt kurz vorher an und holte dann zu einem kräftigen Kick mit dem gestreckten Bein aus. Lorax fälschte das Bein mit einer flüssigen Bewegung gekonnt zur Seite ab und trat seinerseits mit dem gestreckten Bein zu. Er traf genau zwischen Hals und Brustbein, worauf der Mann keuchend nach hinten kippte.
Weitere Gedanken rasten durch seinen Kopf, als er dem Mann den Fußkick verpasst hatte. Er wusste, dass er dazu fähig war, jemanden nur mit den Füßen zu töten. Dabei fragte er sich, woher er so etwas konnte. Offensichtlich war er ein sehr guter Kämpfer und ein hervorragender Schütze. Hatte man ihn deshalb als Spion ausgewählt?, fragte er sich.
Doch wieder konnte er nicht lange genug darüber nachdenken, um die passende Antworten zu finden. Der kleine, dickliche Kerl feuerte erneut auf ihn. Lorax brachte sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit. Der Feuerstoß spritzte Dreck und Grasgarben auf und hinterließ einen kleinen Krater, wo nur einen Augenblick vorher Lorax Füße gestanden hatten. Dieser rollte sich geschickt über die Schulter ab, bekam einen faustgroßen Stein zu fassen und schleuderte ihn auf den kleinen Dicken. Selbstverständlich erwartete er nichts anderes, als dass er traf. Die Wucht des Steines warf den Dicken glatt um. Sein Schuss ging geradewegs in den Himmel und verpuffte dort irgendwo in den Wolken.
Dann musste Lorax auch schon den Schlag eines weiteren Gegners abwehren. Ihm war, dass sie alle nur noch auf ihn losgingen, denn er hatte alle Hände voll zu tun. Während er den Mann mit schnell hintereinander ausgeführten Schlägen zu Boden schickte, gönnte er sich einen flüchtigen Seitenblick auf das übrige Geschehen. Er musste feststellen, dass noch genügend Soldaten übrig waren, um auch die anderen Logeyzaner zu beschäftigen. Doch keiner von ihnen war so gut in Nahkampftechniken ausgebildet wie Lorax. Sie würden nicht lange durchstehen können. Er musste sich daher etwas einfallen lassen, um die Prügelei so rasch wie möglich zu beenden.
Ein schriller Pfiff gellte durch das Flusstal. Obwohl auch Lorax zusammenzuckte, glaubte er, dieses Signal und ihre Bedeutung zu kennen – es hieß Rückzug. Er fuhr herum und entdeckte den Dicken, wie er einigen seiner Leute zuwinkte und dann hinter einer Bodenerhebung verschwand. Wenig später raste ein weißer, sehr den Kampfjägern ähnelndes Objekt gen Himmel. Die Soldaten hatten dem Signal augenblicklich Folge geleistet, ihre Waffen, Toten und Verwundeten eingesammelt und machten sich von bewaffneten Kameraden abgesichert auf den Rückweg über den Hügel, hinter dem sie hervorgekommen waren. Auch die Schützen auf der anderen Seite des Flusstales stellten ihre Aktion ein und verließen unter Feuersalven und eiligen, schnellen Schritten ihre Stellungen.
Wenige Minuten später war von dem Angriff nur ein verwüstetes Flusstal, viele Verwundete und Tote und ein gesprengter Damm übrig geblieben.
Lorax blieb etwas verwundert stehen, blickte sich um und schien die neue Situation erst einmal verarbeiten zu müssen. Dann fing sein Augenmerk Tiane ein und er marschierte zielstrebig auf sie zu. Er packte sie, zerrte sie an sich und blickte sie finster an.
„Was geht hier vor?“, verlangte er barsch. „Was verheimlicht ihr mir? Rede, oder ich werde wieder zu dem Lorax, der ich vorher war.“
„Beruhige dich, Lorax!“, sagte Dugg besänftigend und in Ruhe und legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. „Ich werde es dir erklären. Aber jetzt würde ich vorschlagen, ziehst du dir etwas trockenes an. Wenn du mit diesen durchnässten Kleidern noch länger hier draußen im Wind bleibst, wird unsere Mühe, dir alles zu erklären, vergebliche Liebesmühe sein.“ Er tätschelte die Schulter des aufgebrachten Jungen und zog ihn sanft aber bestimmt von der erschrockenen Tiane fort.
„Wer waren die? Wer bin ich wirklich?“
„Alles zu seiner Zeit.“ Dugg nickte, nahm Lorax unter seinem Arm und zog ihn mit sich fort. Als sie weit genug von den anderen entfernt waren, zog er seinen Fellmantel aus und legte ihm Lorax über die Schultern.
„Ich hatte gehofft, dir niemals davon erzählen zu müssen“, begann er, als er seinen heißspornigen Schüler in den Schutz einer Mauer gedrückte hatte, die zu einem vor einiger Zeit zerstörten Haus gehörte. Lorax wehrte sich nur nachlässig, ließ sich aber in die Nische drücken und sank schließlich auf den Boden nieder, als sich Dugg auf einen Mauerbrocken setzte.
„Der kleine, dicke Kerl kennt mich“, sprudelte es über Lorax Lippen.
Dugg nickte wissend. „Wir hatten alle gehofft, dass du ihm niemals wieder begegnest. Er war es, der dich uns genommen und aus dir den Lorax machte, den wir die Klüften hinuntergejagt hatten.“
Lorax wäre wieder auf die Beine gesprungen, wenn diese ihm nicht den Dienst versagt hätten. Die Kälte hatte bereits von ihm Besitz ergriffen. Wenn er nicht bald trockene Kleidung anlegte, würde er sich eine saftige Erkältung einhandeln. „Ihr habt was?“ Ihm blieb der Mund offen stehen.
„Dieser kleine Kerl und sein Vorgesetzter gehören zu Wesen, die eines Tages vom Himmel kamen, unser Land einforderten und die Natur gnadenlos ausbeuteten. Sie nahmen dabei keinerlei Rücksicht auf die Natur oder uns Bewohner, die seit Generationen hier lebten. In ihrer Gier verseuchen sie das Land auf dem sie leben und verpesten die Luft. Sie zerstören die Natur, das was wir so sehr verehren. Wir hatten sie um Einhalt gebeten, doch sie hören nicht auf uns. Ihre Antwort ist das hier.“ Damit zeigte er auf die Verwüstung, die der Angriff in dem Tal hinterlassen hatte. „Natürlich dachten wir auch daran, uns zu wehren, doch unsere Mittel sind nicht wirkungsvoll gegenüber deren. Ihre Waffen sind den unseren weit überlegen. Einzig unsere Entschlossenheit hat uns nicht aufgeben lassen. Daher raubten sie aus den Dörfern fähige junge Männer, formten sie zu ihren Zwecken um und schickten sie wieder in ihre Dörfer zurück. Sie sollten Unfrieden stiften, den Einhalt unserer Gemeinschaft systematisch zerstören und uns anfälliger für Übergriffe zu machen. Du bist einer von ihnen gewesen. Wir hatten lange gebraucht, um das zu bemerken. Doch als es uns bewusst wurde, wollten wir dich zur Rede stellen. Es kam zu einem Eklat, dessen Ende die Klüften und für viele den Tod bedeuteten.“
Lorax starrte ihn entgeistert an. Irgendwie hatte er das schon selbst vermutet, aber eigentlich niemals als tatsächlich zutreffend angenommen.
„Der Verlust deiner Erinnerungen kam uns mehr als Recht. Wir hatten gehofft, dich wieder als redliches Mitglied unserer Gemeinde zurück gewonnen zu haben. Wir wollten dich so gut es uns möglich war, vor allem bewahren, was dich an deine Zeit als Infiltrator erinnern könnte.“
„Infiltrator?“ Lorax senkte den Blick und betrachtete seine Hände. Ihm war kalt. Er begann zu zittern. Vieles von dem was ihm Dugg erzählte, kam ihm irgendwie vertraut vor, einiges aber auch nicht. Er konnte sich nur an Bruchstücke seiner Vergangenheit erinnern, winzige Fragmente, die kaum einen Zusammenhang boten. Die Bilder, die Duggs Erklärung in ihm erzeugten, fühlten sich anheimelnd an, aber in einer gewissen Weise auch nicht. Aus einem merkwürdigen Grund, den er nicht näher definieren konnte, fühlte er sich nicht gerade zu diesen Bildern hingezogen. Er stellte sich als Störenfried, Unhold, Quälgeist und Intrigant vor, konnte diese Bilder jedoch nicht richtig aufrecht halten. Irgend etwas stimmte noch nicht. Irgend etwas wurde ihm noch verschwiegen. Irgend etwas wichtiges, das den entscheidenden Anstoß liefern würde, um ihm die Erinnerungen zurückzubringen. Und dass seine Erinnerungen mit dem richtigen Impuls zurückkehren würden, daran zweifelte Lorax keinen Augenblick lang.
Seine Wahrnehmung glitt auf eine Seitenschiene, als er sich vorstellte, von dem Dicken in Kampftechnik und Schießkunst unterrichtet zu werden. Diese Vorstellungen wollten sich einfach nicht einstellen. Statt dessen sah er sich in einer flachen Umgebung im heißen Sand liegen, die Sonne im Rücken, einen Gewehrkolben an seinem Brustbein und auf ein Ziel feuern, das am Horizont nur noch als unscheinbares Flimmern zu erkennen war. Doch als er abdrückte wusste er genau, dass er mitten ins Schwarze getroffen hatte. Er hatte auf Zielscheiben gefeuert, ähnlich denen, in denen sich die Gesichter verwandelten, die er als Opfer auserkoren hatte. Auch als er so im Sand lag, die Hitze von oben und unten auf ihn einwirken spürte, vernahm er das Ziel ganz nahe vor seinen Augen. Die Zielscheibe befand sich so weit von ihm entfernt, dass man es kaum mit dem bloßen Augen ausmachen konnte, doch er vermochte es so deutlich zu sehen, als stünde es nur wenige Meter vor ihm. Und er wusste auch, dass er im Schießen stets der Beste war.
Der Beste von was? Einer Klasse? Einer Gruppe? Eines Gefangenentrupps?
Er versuchte sich vorzustellen geschlagen, gedemütigt, angeschrieen, erniedrigt oder aufs Gröbste misshandelt zu werden, doch auch diese Bilder fühlten sich in seinem Inneren fremd und unnatürlich an. Man hatte ihn angeschrieen, doch nicht, um ihn zu peinigen, sondern um ihn zu ermutigen, seine Leistungen zu erhöhen. Man hatte ihn geschlagen, doch nicht um seinen Mut zu brechen, sondern um seinen Körper zu stählen. Man hatte ihn gedemütigt und erniedrigt, aber nicht um ihn zu einem willenlosen Häufchen Elend zu machen, das aus Angst nicht anders konnte, als zu funktionieren oder auferlegte Aufgaben zu absolvieren, sondern um seine innere Stärke zu mobilisieren und seine Willenskraft zu stärken. Aber niemals hatte man ihn in irgendeiner Weise misshandelt oder ungerechtfertigt behandelt. Seine Strafen waren gerecht auferlegt und er hatte sie mit Stolz angenommen und ertragen. Etwas anderes hätte er auch nicht zugelassen.
Er konnte sich nicht vorstellen, sich ungesühnt von jemandem wie den dicken Kerl anschreien oder demütigen zu lassen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, mehr oder weniger freiwillig für so rücksichtslose und gierige Leute wie die Weißuniformierten zu arbeiten, oder sich für ihre Zwecke einspannen zu lassen.
Aber vielleicht war es genau das, was ihm dieser Dicke beigebracht hatte? Vielleicht war er der geniale Ausbilder, der ihn zu immer besseren Höchstleistungen getrieben hatte. Vielleicht war er der Mann, zu dem er stets aufgeblickt und täglich als sein Vorbild vor Augen gehalten hatte.
Nein! Lorax konnte sich das nicht vorstellen. Sein erster Eindruck war richtig gewesen. Der Dicke war ein rückgratloser Angsthase, der es gerade noch wagt, aus der Ferne zu agieren, solange er sich sicher war, dass nichts auf ihn zurückfiel. Der Dicke konnte unmöglich sein Ausbilder gewesen sein. Aber vielleicht der Vorgesetzte, von dem Dugg gesprochen hatte. Vielleicht hatten sie ihn auch irgendwo hingeschickt, wo man ihm das beibrachte, das er jetzt so erfolgreich hatte einsetzen können.
Das musste es sein, freute sich Lorax, wenigstens ein kleines Lichtchen in das ganze Durcheinander gebracht zu haben. Wenigstens etwas, woran er sich klammern konnte.
Oder doch nicht?
Gesichter von Leuten kehrte in sein Erinnerungsvermögen zurück, die ihm allesamt bekannt vorkamen. Leute, mit denen er direkten Kontakt besessen hatte. Leute, die ihm etwas bedeuteten oder vor denen er Respekt hegte. Leute, die ihn für eine Leistung entlohnten, die allgemein Hochachtung hervorrief. Leute, die ihm respektvoll und im angemessenen Abstand begegneten. Leute, die voller Angst vor ihm davonliefen, als ging es um ihr Leben.
Was hatte der Dicke vorhin gesagt? Konnte das etwas gewesen sein, das ein kleines Teil seiner Vergangenheit darstellte? Ein Ding, eine Bezeichnung oder etwa ein Name?
Name!
Lorax wäre aufgesprungen, säße er nicht tief versunken in einer Trance. Es war sein Name. Tui’jin war sein Name. Er hieß Tui’jin und nicht Lorax.
Doch wer war Lorax?
Und wer Tiane?
Seine Schwester?
Freundin oder Feind?
* * *
Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Als hätte jemand eine Türe geöffnet durch die er direkt auf seine Vergangenheit blicken konnte. Er sah seine Kindheit auf Presporia und seine Eltern – seine richtigen Eltern. Seine Ausbildung bei der Militärakademie, wo seine spezielle Begabung entdeckt wurde, seine Zeit als Infanterist, dann sein steiler Karriereaufstieg als Scharfschütze und Spezialist für Sonderfälle. Er war engagiert worden, den Terroristen von Logeyza den Garaus zu machen.
Er war engagiert worden, den Terroristen von Logeyza ein für allemal den Garaus zu machen.
Lorax – Tui’jin – wurde es heiß und kalt.
Er war belogen worden. Tiane war nicht seine Schwester und die Logeyzaner waren nicht sein Volk. Es war genau anders herum. Nicht Lekku, der Dicke, hatte Lorax für seine Zwecke umgeformt, sondern Dugg Tui’jin. Augenblicklich ärgerte sich Tui’jin, darauf hereingefallen zu sein. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das diese primitiven Dorfbewohner geschafft hatten. Offensichtlich war er bei dem Sturz doch stärker in Mitleidenschaft gezogen worden, wenn es denn einen Sturz in den Klüften gegeben hatte. Tui’jin nickte innerlich. Der Sturz entsprach der Wahrheit. Er hatte hoch über einem aufgescheuchten Haufen von Naturfühlenden gestanden und sie systematisch erlegt wie Jagdgut, wie es seine Art war, seine Aufträge auszuführen. Er hatte einen Großteil von ihnen bereits ins Jenseits befördert, als der Boden unter ihm einsackte und er in die Tiefe stürzte.
Aber wenn seine Vergangenheit zu ihm zurückkehrte, dann konnte sein Gehirn nicht beschädigt worden sein. Dann konnten nur Drogen für seinen Gedächtnisverlust verantwortlich sein. Nur so konnten sie ihn gefügig gemacht haben. Die Dorfbewohner, genauer gesagt, Dugg oder noch genauer gesagt Tiane musste ihm ständig Drogen verabreicht haben, damit sein Erinnerungsvermögen nicht zu ihm zurückkehrte. Er dachte scharf darüber nach, in welcher Weise und bei welcher Gelegenheit sie ihm die bewusstseinshemmenden Drogen verabreicht haben könnte. Es konnte nur der bitter schmeckende Kräutertee oder als er sich weigerte ihn weiterhin zu trinken, der Beerensaft sein. Nur diese Getränke hatte er in größeren Mengen und regelmäßig eingenommen. Die Bitterstoffe, die ihm stets unangenehm aufgefallen waren, mussten die Kräuter sein, die seine Vergangenheit tief in seinem Gedächtnis festhielten.
Er ärgerte sich, so töricht und naiv gewesen zu sein. Er als Elitekämpfer und mehrfach ausgezeichneter Präzisionsschütze hätte es eigentlich gleich merken müssen. Doch gleichzeitig wusste er auch, dass er, solange er unter dem Einfluss der Drogen stand, keine Chance gehabt hätte, zu diesen Erkenntnissen zu gelangen. Allein Lekkus Angriff und der Zeitknappheit verdankte er es, dass er nicht weitere Schlücke des verhängnisvollen Beerensaftes zu sich genommen hatte. Das letzte Mal lag einige Stunden zurück.
Dann überflutete ihn eine Erkenntnis wie ein Donnerschlag. Er befand sich noch inmitten der Dorfbewohner. Da er Bescheid wusste und wieder Herr seines Erinnerungsvermögens war, konnte er sich nicht mehr als Lorax ausgeben. Das ließ seine Gesinnung nicht zu. Er musste zusehen, dass er so schnell wie möglich zurückkehrte, um...
Sein Wahrnehmungsvermögen schränkte sich plötzlich ein. Die vorher so offen gelegten Erinnerungen verblassten zusehends. Hatte er sich verraten? Hatten sie bemerkt, dass er Bescheid wusste?
Er klammerte sich verzweifelt an die immer mehr in Fetzen reißenden Fragmente seiner Vergangenheit, doch sie verpufften in seinen Händen und lösten sich auf wie Morgennebel. Am Ende stand er vor dem Nichts, wusste weder wer er war, noch was er war. Er stand in einem schwarzen Raum ohne Decken, Wände und Boden und fragte sich, ob er überhaupt noch existierte.
Angst beseelte ihn. Unbegreifliche Angst, dass er tot sein könnte. Panik befiel ihn. Er versuchte zu schreien, irgendwo einen Ausweg zu finden, doch da war nichts außer dem stockfinsteren Raum, der ihn umgab und einhüllte, wohin er sich auch wandte. In weiter Ferne keimte ein kleines Licht auf. Ein Licht, das Wärme, Geborgenheit, Frieden und ewige Ruhe versprach. Er bewegte sich etwas auf das Licht zu und fühlte, wie sein Herzschlag beschleunigte, wie das Blut durch seine Adern raste, wie seine Sinne wie von einem Wirbelsturm erfasst durcheinander wirbelten, dann wurde er brutal gepackt und zurück gerissen, und er bäumte sich auf.
„Wir haben ihn wieder“, rief eine männliche Stimme erfreut.
Der stockdunkle Raum formierte sich in eine düstere, rußige Höhle. Er blinzelte in die grelle Helligkeit einer Fackel. Er lag halb nackt auf einer harten Liege, die unangenehm nach Schweiß, feuchtem Tierfell und anderen nicht näher definierbaren Gerüchen stank. Mehrere Gestalten standen über ihn gebeugt neben seiner Liege. Einer von ihnen beugte sich tiefer über ihn und blickte ihm prüfend in die Augen.
„Lorax, kannst du mich hören?“
Er öffnete seine Lippen, doch kein Laut war zu hören. Er versuchte, seine Gliedmaßen zu bewegen, doch nicht einmal der kleinste Finger ließ sich zu Gehorsam zwingen.
„Lorax! Wenn du mich verstehst, dann blinzle einmal.“
Einzig seine Augenlider schienen aus dem Streik ausgetreten zu sein. Einzig die Lider konnte er zu einem Blinzeln bewegen.
„Allen guten Geistern der Natur, ein herzliches seid Bedankt“, floss es dem Mann erleichtert über die Lippen. Er überprüfte den Herzschlag und die Temperatur des jungen Mannes und zeigte sich zufrieden. Als ihm ein Becher gereicht wurde, nahm er ihn mit einem Nicken an, fasste unter Lorax Hinterkopf und flößte seinem Patienten einige Tropfen der Flüssigkeit ein. Nachdem dieser die eingeflößte Flüssigkeit bereitwillig schluckte, legte er ihn behutsam zurück. „Das hilft deinem Organismus, wieder auf Touren zu kommen. Wir dachten schon, du schaffst es nicht mehr.“
Er - offensichtlich war sein Name Lorax – spürte bereits die Wirkung der wenigen Schlücke. Allmählich kehrte das Gefühl in seine Gliedmaßen zurück. Er konnte beinahe mitverfolgen, wie sich sein Gehirn an jede einzelne Zelle seines Körpers erinnerte. In relativ rascher Zeit vermochte er sogar, seine Finger zu bewegen und den Kopf leicht zu drehen.
„Was ist geschehen?“, wollte er mit heißerer Stimme wissen. Seine Kehle war trocken, als hatte er seit Tagen nichts mehr getrunken. Er schluckte, doch das staubige Gefühl in seinem Hals verschlimmerte sich dadurch nur noch. „Wasser!“ stammelte er.
Bereitwillig wurde ihm ein tönerner Becher hingehalten. Er trank durstig. Doch anstatt klares Wasser befand sich darin leicht süßlicher Saft, der erst nach dem vierten Schluck einen leicht bitteren Nachgeschmack erkennen ließ. Lorax Gaumen rebellierte augenblicklich gegen diesen Bitterstoff. Er wandte den Kopf zur Seite und spuckte das aus, was er im Mund besaß.
„Langsam“, riet ihm der ältere Mann, wischte das Verschüttete und das Ausgespuckte mit einem schmutzigen Lappen weg und setzte sich mit zufriedener Miene neben das mit Fell gepolsterte Lager, auf dem Lorax lag. Die anderen, zwei Männer und eine Frau betrachteten ihn sorgenvoll.
„Du bist dem Tode nahe gewesen“, berichtete der Ältere betrübt. „Das heißt, dein Herz hatte ausgesetzt. Wenn wir nicht zufällig hier gewesen wären, dann müssten wir dich nun betrauern.“
„Warum? Was ist geschehen?“
„Das Bad im kalten Fluss ist dir offensichtlich nicht bekommen“, erklärte der Andere. „Ich hatte noch mit dir gesprochen, da bist du einfach umgekippt. Du bekamst sehr hohes Fieber und Krämpfe. Und vorhin versagte dein Organismus. Wir hatten Mühe, dich wieder ins Leben zurückzuholen.“
„Warum?“ Lorax leckte sich die trockenen Lippen.
„Warum?“, wiederholte der Ältere ungläubig, als verstand er nicht, warum der Junge das wissen wollte. „Wir hatten dich gerade erst zurück gewonnen. Du bist ein Teil unserer Gemeinschaft. Deine Schwester wäre vor Schreck beinahe gestorben. Wir brauchen dich, außerdem hatte ich dir versprochen, aus dir innerhalb von zwei Wochen einen Naturfühler zu machen.“ Er betrachtete den noch immer fiebernden Jungen eingehend. „Erinnerst du dich nicht mehr daran?“
Lorax wollte schon den Kopf schütteln, als sein Blick auf die Frau fiel. Seine Schwester. Irgend etwas empfand er für sie, er vermochte jedoch nicht zu sagen, ob es sich dabei um die Sympathie eines Geschwisters, oder die Zuneigung eines Geliebten handelte.
Und der Ältere?
Sein Gefühl sagte ihm, dass er ihn kennen sollte, doch ihm wollte weder dessen Name noch die Umstände einfallen, unter denen er ihn kennen sollte.
„Für wenige Sekunden bist du tot gewesen“, sagte seine Schwester sorgenvoll. „Ich hatte große Angst um dich.“
Lorax betrachtete sie und kämpfte verzweifelt mit seinem Erinnerungsvermögen. Ihm wollte einfach nicht einfallen, was vor dem Versagen seines Organismus vorgefallen war. Sein Leben hatte erst vor wenigen Sekunden begonnen.
„Warum bin ich im kalten Fluss baden gegangen?“, erkundigte er sich. Seine Stimme klang immer noch belegt. Seine Kehle fühlte sich noch immer staubig und eingetrocknet an.
„Du kannst dich nicht mehr daran erinnern?“, stellte der Ältere fragend fest. „Nun gut“, nickte er. „Wir werden deinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge helfen. Aber nicht jetzt. Jetzt solltest du dich etwas ausruhen. Eine Reise zurück aus dem Jenseits ist nicht weniger kräftezehrend wie ein Absturz in den Klüften.“
Lorax versuchte, sich etwas aufzurichten. In seiner Magengegend begann es zu kribbeln. Ein höchst ungutes Gefühl stieg in ihm hoch. „Welche Klüften?“, wollte er wissen.
„Ich erzähle es dir bei Gelegenheit. Aber jetzt würde ich dir raten, liegen zu bleiben und noch ein paar Stunden zu schlafen. Ich...“
Er verstummte abrupt, als ihm Lorax plötzlich und ohne Vorwarnung seinen Mageninhalt vor die Füße spie. Dieses ungute Gefühl hatte sich rasch verschlimmert und seinen Magen spontan und unvorbereitet verkrampft, sodass ihm kaum die Zeit blieb, sich über den Rand der Liege zu beugen. Es tat gut, seinen Magen leer zu pumpen. Er fühlte sich mit jedem Krampfanfall und jedem Spucken und Husten besser und erleichterter. So als freute sich sein Körper, das unangenehme in seinen Eingeweiden loszuwerden.
War es die Flüssigkeit, die ihm der Ältere eingeflößt hatte und die ihm so angenehm warm und wohlschmeckend die Kehle hinunter geflossen war? Oder hatten sie ihm vorher schon etwas anderes gegeben, wogegen sein Körper oder gar sein Unterbewusstsein ankämpfte?
Seine Schwester kam mit einem in kühlen Wasser getränkten Tuch, wusch Lorax Gesicht und begann sogleich, das Erbrochene wegzuwischen.
Lorax legte sich erleichtert zurück. „Danke...“, sagte er, aber in einem solchen Tonfall, als hätte er seinen Satz nicht beendet. Ihm wollte der Name seiner Schwester nicht einfallen.
„Tiane“, half sie ihm auf die Sprünge und senkte traurig den Kopf.
„Was ist los?“, erkundigte er sich. Ihr betrübtes Gesicht traf ihn tief ins Herz. Er konnte nicht mit ansehen, wie sie sich grämte.
„Es ist sicherlich noch verfrüht, sich deswegen Gedanken zu machen“, sagte sie ausweichend.
„Welche Gedanken?“ Er schielte nach einer Schüssel, in der Tiane das Tuch tränkte, mit dem sie ihm das Gesicht gekühlt hatte. Es musste mit kühlem Wasser gefüllt sein. Ihm war danach, gierig die ganze Schüssel hinunter zu stürzen.
Tiane hielt in ihrer Arbeit inne, ließ den Lappen sinken und verharrte einen Augenblick nachdenklich. Dann seufzte sie tief und begegnete seinem Blick. „Es ist besser, wenn du erst einmal schläfst. Vielleicht bringt der morgige Tag sonnigere Aussichten.“
„Sind wir nicht Geschwister?“, sagte Lorax feststellend. „Dann sollten wir uns sagen, was wir uns zu sagen haben.“
Tiane musste eine Lunge voll Mut holen, ehe sie antworten konnte. „Ich hatte panische Angst davor, dich ein zweites Mal zu verlieren. Versprich mir, dass du dich nie wieder in Gefahr begibst. Immerhin hast du versprochen, immer für mich da zu sein.“
Lorax legte sich zurück und starrte an die rußgeschwärzte Decke. Irgend etwas stimmte hier nicht. In seinem Nacken verharrte ein ständiges Frösteln. Sein Instinkt sagte ihm, dass dieses Frösteln etwas Ungutes zu bedeuten hatte, dass er unmittelbar vor einer Gefahr stand, oder sich etwas Bedrohliches auf ihn zu bewegte. Aber im Moment schien er sich alles anders als in Gefahr zu befinden. Er war in Gesellschaft seiner Schwester und einiger guter Freunde. Seines Vaters? Seiner Brüder? Wohl kaum, denn sonst besäßen sie besorgtere Gesichter. Vermutlich stellten sie enge Freunde dar.
Sollte von ihnen die Gefahr kommen? Oder von dem Mann, der aus ihm einen Naturfühler machen wollte? Oder gar von seiner Schwester?
„Ich habe wohl nicht auf dich gehört, habe ich Recht?“, versuchte er zu erraten. In ihm tauchte die Frage auf, was ein Naturfühler sei. Er verdrängte sie jedoch, da ihm bewusst wurde, dass die Müdigkeit unbarmherzig von ihm Besitz nahm. Etwas Schlaf tat ihm sicherlich gut. Daher schloss er die Augen und lauschte auf die Geräusche um ihn herum.
„Wir hätten es niemals für immer vor dir verheimlichen können“, antwortete Tiane. „Irgendwann hättest du die Wahrheit selbst erkannt.“
Lorax gähnte verhalten. „Welche Wahrheit?“
„Morgen“, sagte sie gütig und lächelte, als sie bemerkte, dass ihr Bruder nicht einmal dieses letzte Wort von ihr mitbekommen hatte. Sie lauschte kurz auf seinen gleichmäßigen Atem, dann räumte sie die Schüsseln und Lappen weg und folgte den Männern nach draußen.
* * *
„Dass er sich an nichts mehr erinnert, verschafft uns noch ein wenig Aufschub“, bemerkte Komunus und setzte sich auf die Bank vor dem Eingang.
Dugg schüttelte den Kopf. „Nicht so viel, wie wir bräuchten“, wusste er. „Lorax verträgt das Adacuz nicht mehr. Eine normale Reaktion. Wir können es ihm nur noch in winzigen Dosen verabreichen, sonst bricht er uns endgültig zusammen. Und ob wir ihn dann wieder ins Leben zurückholen können ist fraglich. Uns läuft die Zeit davon. Außerdem hat ihn dieser Lekku erkannt. Wir müssen damit rechnen, dass sie ihn zurück haben wollen.“
„Was schlägst du demnach vor?“, wollte Tiane wissen.
„Wenn er erwacht, wird sein Erinnerungsvermögen fast wieder auf dem letzt aktuellen Stand sein. Gib ihm das Adacuz in scharf gewürzte Speisen, vielleicht verschleiert das den Geschmack und er nimmt es bereitwilliger in sich auf. Es ist wichtig, dass er regelmäßig seine Dosis bekommt.“
Tiane nickte. „Ich werde tun, was ich kann.“
„Wir bleiben bei unserem zuletzt abgesprochenen Plan. Ich werde allerdings intensiver auf ihn einwirken. Solange sein Bewusstsein noch durch die Kräuter gehemmt ist, ist er aufnahmefähiger und vor allem modellierbarer.“
„Was unternehmen wir gegen die Abbauunternehmen?“, wollte Janos wissen.
„Es ist zu gefährlich. Wir sind zu wenig und zu schlecht ausgestattet. Die letzte Aktion hat über die Hälfte unserer Leute gekostet. Unsere einzige Chance liegt bei Lorax.“
„Ich weiß nicht warum“, gab Janos nachdenklich von sich. „Aber mein Gefühl sagt mir, dass wir mit diesem Jungen gewaltig auf die Nase fallen werden. Du musst ihn schon verdammt gut ummodeln, damit er so spurt, wie wir es gerne hätten.“
„Wieso bist du dir da so sicher?“
Janos zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ein Gefühl eben. Bis jetzt war er ja ganz brav, aber das lag daran, dass wir ihm eine schöne, triefende Geschichte erzählt haben und er es einfach nicht anders wusste. Ich bin fast davon überzeugt, dass wenn er die ganze Wahrheit erfährt, er gewaltig aus der Haut fahren und uns alle gehörig den Hintern versohlen wird.“
„Dann muss ich mir eben sehr große Mühe mit dem Ummodeln geben“, wusste Dugg und nickte ihm zuversichtlich zu. „Wir haben keine andere Wahl mehr. Wenn das mit Lorax nicht funktioniert, sind wir ohnehin verloren und Logeyza in einigen Jahren ebenfalls.“
Janos zuckte abermals mit den Schultern. „Ich werde ihn weiterhin sehr gut im Auge behalten und notfalls ... „ Er klopfte auf die Pistole unter seiner Jacke. „Notfalls werde ich nachholen, wozu ich in den Klüften nicht gekommen bin.“
„Nur im äußersten Notfall“, ermahnte ihn Dugg. „Wir sind keine Mörder. Wir stellen uns nicht auf eine Ebene mit denen.“ Damit zeigte er mit dem Daumen in Richtung des bizarren Horizontes.
Diesmal streckte Janos stolz sein Kinn. Er würde seine Waffe benutzen und nicht einmal mit der Wimper zucken, wenn es darum ging: Lorax oder ein wirklich guter Freund.
Lekku konnte nicht schnell genug in die Basis zurückkehren, um seinem Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Schon an der Türe zu dessen Büro brüllte er die Neuigkeit heraus.
Distriktverwalter Mornt Gekorj schoss erschrocken von seinem Stuhl hoch, sodass dieser hintenüber kippte und mit einem lauten Knall auf dem Boden aufkam. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den untersetzten Mann entgeistert an. „Tui’jin lebt? Wo?“
„In dem Dorf am Damm“, berichtete Lekku voller Eifer.
Gekorj blickte kurz an seinem Handlanger vorbei. „Wo ist er?“
„Noch immer in dem Dorf am Damm“, keuchte der bleichgesichtige Mann und wischte über seine Stirn. „Ihm ist es zu verdanken, dass wir fünf unserer Kampfjäger verloren und über zwei Dutzend guter Männer. Er hat sie mit bloßen Händen erledigt und die Kampfjäger mit einem gezielten Schuss unschädlich gemacht.“
„Tui’jin – die Seiten gewechselt?“ Gekorj musste sich setzen, hob umständlich den Stuhl auf und ließ sich niedersinken. „Das ist nicht gut. Das ist überhaupt nicht gut.“
„Ich hatte allerdings den Eindruck, dass er nicht wusste, wer ich bin“, gestand Lekku und setzte sich in einen Sessel. „Offensichtlich scheint sich unsere Theorie mit den Drogen zu bestätigen.“
„Warum schießt er auf uns? Wir sind doch seine Auftraggeber.“
„Ich sagte doch, er erkannte mich nicht.“
„Ob sein Gehirn nun über unwesentliche Löcher verfügt oder nicht, wir können es nicht riskieren Tui’jin als Gegner zu haben. Ich werde der Hauptverwaltung einen entsprechenden Bericht zukommen lassen und um Erlaubnis bitten, Tui’jin zu eliminieren.“
„Es ist schade, einen solch guten Mann zu vergeuden. Andererseits: Was die Primitiven können, können wir doch auch. Fangen wir ihn wieder ein, pumpen ihn voll Drogen oder unterziehen ihn einer Gehirnwäsche. Tui’jin ist ein Meister seines Faches. Ich habe keinen einzigen gesehen, der nur annähernd an dessen Leistung kam.“
„Jemand wie Tui’jin einer Gehirnwäsche unterziehen?“ Gekorj schüttelte heftig den Kopf. „Laut den Gerüchten über ihn, soll das zwecklos sein. Der Kerl verfügt angeblich über einen derart gefestigten Willen, dass man sich die Mühe getrost sparen kann. Ich glaube den Gerüchten. Sie sind alle wahr, wie auch all die anderen Geschichten über ihn. Nein! Keine Gehirnwäsche. Er wird eliminiert. Geben sie den Befehl an alle Männer weiter.“
„Sollten wir nicht erst die Antwort der Hauptverwaltung abwarten?“, warf Lekku vorsichtig ein.
„Nein! Tui’jin hat es selbst angekündigt. Erinnern sie sich noch an die Bemerkung? Die Textpassage aus einer landsmännschen Dichterkunst?“ Das ist die Bestätigung für mich, dass er die Fronten wechselte.“
Lekku rieb sich misstrauisch das Kinn. „Es ist schade“, gab er schließlich etwas melancholisch von sich. „Er ist der beste Scharfschütze, sogar mit zahlreichen Auszeichnungen.“
„Wie auch immer“, winkte Gekorj ab. „Tui’jin ist eine Gefahr für die Firma. Wenn er sich auf die Seite der Logeyzaner schlägt, muss er auch die Konsequenzen tragen.“
„Wie sie wünschen“, nickte Lekku. „Aber so bald können wir keinen neuen Angriff starten. Die Kampfjäger sind stark beschädigt und dezimiert. In unserer momentanen Verfassung könnten selbst die Primitiven einen Sieg über uns erringen.“
„Dann reparieren sie diese Dinger so schnell wie möglich“, knurrte Gekorj missmutig. „Und gehen sie endlich unter die Dusche.“
Lekku schnaufte beleidigt, hievte sich aus dem Sessel und marschierte gehorsam aus dem Büro. Vielleicht war eine kühle Dusche wirklich keine schlechte Idee. Seine Kleidung klebte ihm am Leib – aber das tat sie meistens.
* * *
Als Lorax erwachte fühlte er sich frisch und ausgeruht und er freute sich, dass er in ihrer Wohnhöhle aufwachte. Er freute sich darüber, dass vieles von dem, was er vor seinem erholsamen Schlaf verloren hatte, wieder zu ihm zurückgekehrt war. Er erinnerte sich daran, dass er sich in der Wohnhöhle seiner Eltern befand, Tiane, seine Schwester offensichtlich eine Mahlzeit auf der Feuerstelle zubereitete und dass Dugg ihn besucht hatte, kurz bevor er plötzlich und tief und fest eingeschlafen war.
Er erhob sich, streckte seine müden Glieder und sah sich um. Es war heller Tag und strahlendes Sonnenlicht quoll durch die Eingangsöffnung in die Höhle herein. Mit dem Sonnenlicht kam aber auch kalte Luft herein, die ihn etwas frösteln ließ. Er sah an sich herunter und bemerkte, dass er nur einen knappen Lendenschutz trug, schlüpfte schnell in sein Hemd und in die Hosen und machte sich auf die Suche nach Tiane.
Sie saß draußen auf der Bank und schälte Bodenfrüchte für das Essen.
„Guten Morgen!“, grüßte sie erfreut und machte ihm auf der Bank Platz. „Ich dachte schon, du wolltest nie wieder aufwachen. Weißt du, wie lange du geschlafen hast? Zwei ganze Tage“, beantwortete sie ihre Frage selbst.
Lorax bemerkte die Sorge in ihrer Stimme. Er nahm ihre Hand und küsste sie liebevoll auf den Handrücken.
Tiane hielt ehrfürchtig still.
„Ich mag ausgewachsen und volljährig sein“, begann er. „Aber ich benötigte offensichtlich immer noch jemanden, der mir sagt, was gut für mich ist und was schlecht. Ich hätte auf dich hören sollen, dann hätte ich dir nicht solch große Sorgen bereitet.“
Tiane versuchte sich in einem aufrichtigen Lächeln. Es wollte ihr nicht so recht gelingen. Statt dessen grinste sie übertrieben. "Wärst du nicht gewesen, wäre von unserem Dorf und von uns nicht mehr viel übrig geblieben.“
Lorax, der zuvor einen zärtlichen Blick besessen hatte, wurde plötzlich ernst. „Dugg erzählte mir, ihr hättet mich auf die Klüften gejagt.“
Tiane senkte traurig das Kinn und betrachtete die Schüssel mit Kantiffern, die sie zum Essen geschält und geschnitten hatte. „Wir waren alle so wütend auf dich. Und wir waren enttäuscht, dass du unser Vertrauen so kläglich missbraucht hast.“
„Was sollte die Geschichte mit dem Berg-Arapacho, dem ich angeblich hinterher gejagt sei?“, wollte er wissen.
„Dugg meinte, es wäre vielleicht besser, wenn wir dir die Wahrheit in kleinen Stückchen wissen lassen. Er meinte, du würdest vielleicht Dummheiten machen, wenn du erfährst, dass ... „ Sie verstummte und hob dann ihr Kinn hoch, um Lorax Blick zu suchen und ihm willig zu begegnen. Sie fand jedoch keine Worte, um ihre Gedanken laut werden zu lassen.
Lorax nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. „Lorax, der Verräter ist in den Klüften gestorben“, sagte er entschlossen. „Neben dir sitzt Lorax, dein Bruder.“
Sie legte ihre Wange an seine Schulter und ihre Stirn an seinen Hals. Es fühlte sich so gut an, beinahe zu gut. Auch er schien diese Berührung zu genießen. Seine Hände strichen langsam über ihren Arm und ihren Rücken herab. Dann seufzte er leise.
„Manchmal wünschte ich, du wärst nicht meine Schwester“, sagte er halblaut.
„Warum?“ Tiane wagte es nicht, ihre Stirn von seinem Hals zu nehmen. Zu schön war dieses Gefühl der Nähe zu ihm.
„Weil ich dich dann fragen könnte, ob du meine Frau werden willst.“
Tiane machte sich ruckartig von ihm frei und starrte ihn entgeistert an. Ihr Gesicht war erschreckend bleich geworden. Dann nahm sie Schüssel und Kantiffern und floh beinahe nach drinnen.
„Tiane!“, rief er ihr erschrocken nach, doch sie ließ sich nicht aufhalten. Er folgte ihr schuldbewusst. „Habe ich was falsches gesagt?“
„Lass mich in Ruhe!“, wetterte sie, während sie die geschnittenen Früchte in den über dem Feuer hängenden Topf schüttete.
„Was ist denn plötzlich mit dir?“, blieb er beharrlich.
Sie antwortete nicht und rührte statt dessen heftig in dem Topf herum.
„Hatten wir nicht geschworen, für einander da zu sein und uns alles zu erzählen?“, erinnerte er sie.
Sie hielt in ihrer Bewegung inne und starrte in den brodelnden Inhalt des Topfes. Dann schüttelte sie den Kopf. „Es ist nichts.“
„So sieht mir das aber nicht aus“, wusste es Lorax besser und näherte sich ihr bedächtig.
„Es ist nichts, womit sich ein Mann den Kopf zerbrechen sollte“, gab sie kühl von sich.
„Ich spreche nicht als Mann zu dir, sondern als Bruder.“
Ihr Kopf fuhr hoch. Ihr war deutlich anzusehen, dass in ihrem Inneren Emotionen explodierten. „Du bist nicht ... „ begann sie, verstummte aber sogleich wieder, biss sich auf die Lippen, drehte sich demonstrativ um und rührte abermals in ihrem Topf herum.
„Was bin ich nicht?“, hakte er nach.
Tiane antwortete nicht, tat so, als hätte sie nichts gehört.
Lorax kam noch näher. „Tiane!“ wurde lauter, als sie immer noch nicht reagierte. „Was bin ich nicht?“
Das Mädchen entkam seinem Griff mit einer geschickten Drehung, als er sie packen, ihr Gesicht zu sich drehen und sie dazu zwingen wollte, ihn wenigstens anzusehen. Lorax war jedoch schnell genug, erwischte sie gerade noch an ihrem Ärmel, zerrte sie zurück, wirbelte sie herum und drückte sie gegen die Wand neben der Feuerstelle. Ihr Kopf stieß dabei hart gegen den Fels. Sie verzog vor Schreck und Schmerz das Gesicht, doch dies ignorierte Lorax in diesem Moment.
„Was bin ich nicht?“, wiederholte er hartnäckiger. „Rede!“
„Es ist unwichtig.“
„Wenn du ein Problem damit hast, dann kann es nicht unwichtig sein.“
Sie schnaufte resigniert und schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass Lorax ihr keine Ruhe lassen würde, bis er es erfuhr. Doch sie hatte geschworen, bei ihrer abgemachten Geschichte zu bleiben. Sie schalt sich, so unvorsichtig gewesen zu sein. Ihre Emotionen waren mit ihr durchgegangen. Nun sandte sie verzweifelt nach einem Ausweg.
„Ich kann es dir nicht sagen“, floss es über ihre Lippen, ehe sie erkannte, dass dies die verkehrte Lösungsmöglichkeit war.
„Was?“
Tiane schloss ihre Lippen und drehte den Kopf zur Seite.
Lorax packte sie an ihrem Hemd, zog sie ein wenig an sich und drückte sie dann erneut mit Nachdruck an die Wand. Er musste dabei sehr an sich halten, um ihr nicht mehr weh zu tun, als er eigentlich vorhatte. Er wollte sie lediglich in die Enge drängen, sie notfalls mit sanfter Gewalt davon überzeugen, dass er gewillt war, mit Leib und Seele ihr Bruder zu sein.
„Sag es mir!“, forderte er, als auch dies nicht fruchtete.
„Nein!“, blieb sie hartnäckig.
„Ist das etwa auch ein kleines Stückchen Wahrheit, das ich nur erfahren darf, wenn ich reif dazu bin?“, versuchte er zu erraten.
„Es ist gut so, wie es jetzt ist. Ich will das nicht zerstören.“ Tiane versuchte in Windeseile eine glaubwürdige Geschichte auszudenken. Irgend etwas, was ihn davon überzeugte, es entweder nicht erfahren zu wollen, oder damit leben zu können, ohne dass ihr ursprüngliches Vorhaben gefährdet wurde.
„Was wäre denn so schlimm, das uns entzweien könnte?“
„Etwas, was nicht gewichtig genug ist, uns beide zusammenzuhalten“, wich sie aus.
„Was?“, wurde er ungeduldig. Seine Stimme war lauter geworden. Sein Griff um den Stoff ihres Hemdes festigte sich, sodass er leise knirschte. „Sag mir was es ist!“
„Ich will und darf es dir nicht sagen“, keuchte Tiane, die Mühe hatte, dem Druck auf ihrem Brustkorb zu widerstehen.
„Hast du es jemandem geschworen? Dugg vielleicht? Der beschlossen hat, dass ich nur Stückchenweise meine Vergangenheit zurückbekommen darf?“
Tiane biss sich demonstrativ auf die Lippen.
Einem Wutausbruch gleich, riss Lorax seine Schwester von der Wand weg und schleuderte sie von sich. Sie stolperte, fiel über einen Tisch und kippte samt Tisch und sämtlichen Utensilien, die sich darauf befanden auf den Boden.
„Willst du mich umbringen?“, schrie sie erschrocken und kroch rückwärts, als Lorax schnellen Schrittes näher kam und sie wieder hoch zerrte.
„Ich will dich nicht umbringen. Aber allmählich bin ich es leid, dass alle anderen glauben über mein Leben verfügen zu müssen. Es gehört mir. Ebenso meine Erinnerungen. Ich will alles wissen. Ich will endlich wieder ein kompletter Mensch sein. Und wenn du jetzt nicht redest, werde ich dich übers Knie legen und ordentlich den Hintern vertrimmen.“
„Versuch das nur!“, gab sie trotzig von sich. „Aber dann ist es endgültig aus. Dann kannst du deine Sachen packen und wieder verschwinden.“
„Warum wieder verschwinden? Ich wohne hier. Das ist ebenso mein Zuhause wie deines.“
Tiane biss sich auf die Lippen. Es lag ihr auf der Zunge, doch sie durfte es nicht über ihre Lippen fließen lassen. Sie senkte den Kopf und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
Mit wenigen Schritten war Lorax bei ihr und zog sie zu sich hoch. „Nun rede endlich“, forderte er barsch und schüttelte sie hart. „Und keine Ausflüchte mehr. Ich will endlich wissen, was ich nicht bin."
Tiane sah hoch und traf geradewegs seinen Blick. Seine dunklen Augen leuchteten vor Wut und Empörung. Einige Strähnen waren ihm in die Stirn gefallen, ein Anblick, der sie schwach machte. Sie wünschte sich, dass die Umstände anders wären. Sie wünschte sich, dass sie sich die Wahrheit sagen können, doch zugleich wusste sie auch, dass wenn Lorax die Wahrheit wusste, er nur noch wenig für Tiane übrig haben würde.
„Rede!“, zischte Lorax zornig und schüttelte sie heftig. „Was bin ich nicht?“
Tiane gab auf. Es hatte ohnehin keinen Zweck. Wenn sie nicht nachgab, würde er sie verprügeln und sie besaß noch gut vor Augen, was er mit Janos gemacht hatte.
„Mein Bruder“, sagte sie schließlich. „Du bist nicht mein Bruder.“
Lorax starrte sie entgeistert an. „Nicht dein Bruder? Wie kommst du da drauf?“
„Weil es so ist“, entgegnete sie und machte sich aus seinem harten Griff frei. „Du bist nicht mein Bruder. Das hier ist die Wohnhöhle meiner Eltern, nicht der unseren.“
„Aber wieso ... ?“ Er war vollkommen perplex.
„Als Kinder waren wir einander versprochen“, begann Tiane ihre flink zurecht gemachte Geschichte zu erzählen. „Ich habe dich immer bewundert, weil du so anders gewesen bist, als die anderen Jungen. Und ich war stolz darauf, einmal deine Frau zu werden. Unsere Vermählung war bereits angesetzt, als du eines Tages spurlos verschwunden bist. Erst dachten wir alle, dass du vor der Ehe Angst bekommen hättest, doch als du Monate später wieder aufgetauchtest, stand vor mir ein vollkommen veränderter Lorax. Viel jähzorniger, als du jemals gewesen bist. Viel draufgängerischer, als du früher jemals gewagt hättest. Und viel gemeiner, hinterlistiger und streitsüchtiger, als je zuvor. Ich war erschrocken, was aus dir geworden war. Du hast dich einfach großartig gefühlt und dich entsprechend benommen. Immer und überall hast du Streit gesucht, dich mit jedem angelegt, bist ständig betrunken gewesen und hast selbst vor einer Prügelei nicht zurückgeschreckt. Dabei bist du stets als strahlender Sieger hervorgegangen. Eines Tages sind uns deine ständigen Gängeleien zuviel geworden. Wir stellten dich zur Rede, beinahe das ganze Dorf. Wir umringten dich, bedrohten dich mit Stöcken und Waffen, drängten dich in die Enge. Du hast uns verspottet und bespuckt, und bei dem immer hitziger werdenden Streit kam es schließlich heraus, dass du dich von den Bonzen der Abbaufirmen hast anheuern lassen, um ihnen Informationen zu übermitteln und in unseren Reihen zu intrigieren. Wir waren natürlich alle wütend, beschimpften dich, schrieen dich an, doch dich hat das nicht berührt. Du standest allein über dreihundert Leuten gegenüber, so als seist du unbesiegbar. Irgendwie – ich weiß auch nicht wie das kam – eskalierte schließlich die Situation. Es entstand eine Prügelei, bei der du fliehen konntest. Die ganze Meute hinter dir her in Richtung Klüften. Als du raufgeklettert bist, kam der ganze Hang herunter. Die Steinlawine begrub die Leute unter sich, die am Fuß standen.“ Sie machte eine kleine Pause, offensichtlich um neuen Mut zu schöpfen. „Ich weinte um dich, obwohl du auch zu mir nicht gerade nett gewesen bist. Ich war unendlich traurig, dass alles ein so schlimmes Ende nehmen musste. Als du dann lebend geborgen wurdest, hätte ich vor Freude laut jauchzen können. Ich erklärte mich bereit, dich aufzunehmen und gesund zu pflegen. Dass du dich an nichts erinnern konntest, kam uns alle wie ein Segen vor. Ich gab mich als deine Schwester aus, um bei dir sein zu können, ohne dich unter Druck zu setzen oder lange Erklärungen abzugeben. Hätte ich gesagt, dass ich deine Verlobte bin, hättest du dich sicherlich nicht so ungezwungen geben können. Ich wollte einfach bei dir sein, ohne eine Verantwortung von dir zu verlangen.“ Sie senkte schuldbewusst den Blick.
„Wer ist dann Torvik?“, fragte er leise.
„Mein richtiger Bruder“, gestand sie und musste dafür nicht einmal lügen. „Er starb in der Steinlawine – und er konnte dich nicht ausstehen. Ihr habt euch bei jeder Gelegenheit sofort gezankt und sogar geprügelt.“
„Und unsere Eltern?“
„Meine Eltern starben bei einem Angriff“, berichtete sie und deutete mit einem Blick auf die Kammer mit der eingestürzten Decke. „Deine sind von der Lawine begraben worden. Ich kann dir aber verraten, dass dein Vater dich höchstpersönlich und kaltlächelnd die Klüften heruntergestoßen hätte. Du hast dich nie richtig mit ihm verstanden und nach deiner Rückkehr erst Recht nicht. Du hattest so gut wie gar keinen Kontakt mehr zu ihm.“
Lorax drehte sich um, stellte den Tisch wieder auf die Beine und setzte sich auf einen der Sitzgelegenheiten, die eigentlich nicht mehr waren, als Baumstümpfe. Das war also der Grund, warum er bei dem Begriff Vater absolut nichts mehr fühlte. Oder doch nicht?
Der Begriff Vater bedeutete ihm etwas, er wusste jedoch nicht, welchen Vater er damit betraf. Den seinen? Oder den von Tiane? Oder vielleicht war der Ausbilder – dieser bleichgesichtige Dicke – zu seinem Vater geworden.
Er sah hoch, als Tiane begann, die Scherben des zu Bruch gegangenen Geschirrs, das auf dem Tisch gestanden hatte, zusammenzuräumen.
„Du bist nicht meine Schwester“, resümierte er feststellend.
Tiane nickte, ohne ihn jedoch anzublicken. „Dugg darf aber nicht erfahren, dass du Bescheid weißt. Er möchte, dass du deine volle Konzentration auf die Verfeinerung deiner Naturfühlerfertigkeiten verwendest und nicht durch anders abgelenkt wirst.“ Sie erhob sich, legte die Scherben auf den Tisch und wischte sich die Hände an ihrem Hemd ab. Sie war froh, ihren Ausrutscher gerade noch zurechtgebogen zu haben. Lorax schien ihre Antwort zu akzeptieren und als richtig anzuerkennen. Es hätte aber auch schlimmer kommen können. „Versprich mir, ihm nichts davon zu verraten.“
„Wieso sollte ich?“, gab er unschuldig zurück. „Das geht nur uns beide etwas an.“
Ihre Blicke trafen sich und für einen schier endlos langen Moment sahen sie sich einfach nur an. Dann hob Lorax seine Hand, legte sie Tiane in den Nacken und zog sie sanft aber bestimmt an sich heran. Die junge Frau sträubte sich ein wenig, fügte sich aber dann, als sie erkannte, was Lorax vorhatte. Ihre Lippen fanden sich zu einem zunächst zaghaften Kuss, wurde dann schnell leidenschaftlicher, bis sie sich schließlich so gierig in den Armen lagen, dass ihre Gefühle die Oberhand über ihre Körper übernommen hatten.
* * *
Einige Zeit später lagen sie eng umschlungen in Lorax Lager, nackt und noch erhitzt und aufgewühlt von dem Inferno der Leidenschaft, das sie verschlungen und jede einzelne Faser der Beiden verzehrt hatte. Zärtlich und genießerisch strich Tiane über die Brust ihres Liebsten, an dessen Seite sie lange Zeit als Schwester gelebt und den sie während dieser Zeit lieben gelernt hatte. Sie spürte die gleichmäßigen Atemzüge des Mannes, der ihr vor wenigen Minuten etwas gab, wonach sie sich schon viele Jahre gesehnt hatte. Obwohl Lorax Augen geschlossen waren und er sich nicht bewegte, wusste sie, dass er wach war und jede Berührung genoss. Der zufriedene, ausgeglichene und vollkommen entspannte Ausdruck auf seinem Gesicht war ihr Beweis dafür, dass sich Lorax das was sie eben taten, ebenso sehnlichst gewünscht hatte. Nur nebeneinander liegen, die wohlige Nähe des anderen spüren und zu wissen, dass sie nun keine Gedanken dem Verbotenen widmen müssen, war ihnen in diesem Moment genug. Sie hatten ihre Leidenschaft ausführlich ausgelebt und in vollen Zügen genossen. Sie hatten einander verschlungen und von den süßen Früchten eines sexuellen Höhepunktes genascht. Das war ihnen im Moment genug - für diesen Moment jedenfalls.
Lorax lauschte den Geräuschen, die ihn umgaben. Er lauschte seinem eigenen Atem, den von Tiane und ihrer beider Herzschläge, die sich allmählich beruhigten und zufrieden ihrer Erschöpfung hingaben. Und dem Säuseln des Windes, das am offenen Eingang zur Wohnhöhle vorbeistrich. Er fühlte den kalten Hauch, der seinem heißen Körper eine willkommene Abkühlung verschaffte und er spürte den warmen Atem von Tiane auf seiner Brust. Er lauschte dem Rauschen der Blätter draußen vor dem Eingang und dem Knistern des Geästes der bereits etwas kahl gewordenen Bäume. Er horchte auf das leise Wispern der Grashalme, wenn ein Windhauch über sie hinwegfegte und auf das lautlose Dahinziehen der Wolken hoch oben am Himmel. Er vernahm das ferne Kreischen von Vögeln, die sich in einem Schwarm von mehreren hundert Krähern zusammengefunden und beinahe in perfekter Formation Pirouetten flogen. Er fühlte auch das kaum wahrnehmbare Zittern des Erdbodens, wenn festes Stiefelwerk in harten Schritten auf ihm gingen. Er bemerkte, dass dieses Zittern stärker wurde. Vermutlich kamen die Stiefel genau auf ihn zu. Er suchte die Ursache des gleichmäßigen Zitterns und entdeckte einen einzelnen Mann den Hang heraufkommen. Er erkannte Dugg und öffnete die Augen.
„Er kommt“, sagte er und küsste Tiane auf die Stirn. „Dugg kommt.“
Augenblicklich erhob sich die junge Frau und blickte zum offenen Eingang, doch keine einzige Gestalt wollte die Öffnung verdunkeln, geschweige denn ein Schatten, der von draußen weit ins Innere fiel.
„Er ist erst an den beiden Krüppelbäumen“, erklärte Lorax lächelnd. „Es ist noch Zeit, sich anzuziehen und die Spuren zu verwischen.“ Er zog sie zu sich zurück und verwickelte sie in einen leidenschaftlichen Kuss. Dann erst ließ er sie gehen, aber nicht ohne sie dabei zu beobachten, wie sie sich ankleidete, die restlichen Tonscherben einsammelte und sich schließlich um das Essen kümmerte. Er war jede ihrer Bewegungen mit einem glücklichen Lächeln gefolgt. Nachdem er kurz in sich gegangen war, um nach Dugg Ausschau zu halten, stand er schließlich auf. In aller Gemütlichkeit schlüpfte er in seine Hose und goss kühles Wasser in eine Schüssel, um sich zu waschen. Nur wenige Augenblicke später verdunkelte sich der Eingang.
Dugg spähte zunächst vorsichtig ins Innere, dann entdeckte er Lorax auf den Beinen und schob schließlich den Rest von ihm in die Wohnhöhle.
„Ich bin froh, dich wieder wohlauf zu sehen“, sagte er und musterte den jungen Mann eingehend. „Wie geht es dir?“ Er setzte sich unaufgefordert auf einen der Sitzblöcke.
Lorax beendete seine Waschung indem er nach dem Trockentuch langte und sich abtrocknete. „Wesentlich besser“, kam es dabei unter dem Tuch hervor. „Ich muss dir danken, Dugg. Du hast mein Leben gerettet.“
„Das zweite Mal schon“, wusste Dugg. „Ich denke, du bist mir etwas schuldig.“
Lorax senkte das Tuch und blickte ihn an. „Was verlangst du?“
„Das Unglück hat uns wertvolle drei Tage gekostet. Wenn wir uns weiterhin so aufhalten lassen, dann schaffen wir es nicht in zwei Wochen.“
Lorax musste lachen. „Da bin ich ganz zuversichtlich. Du bist ein guter Lehrer.“
„Und du ein guter Schüler“, gab Dugg das Kompliment zurück und beugte sich nieder, um eine Tonscherbe aufzuheben. „Ist etwas geschehen?“ Er hob die Scherbe in die Höhe und präsentierte sie wie ein Indiz.
„Ein Missgeschick“, erklärte Lorax leidlich lächelnd. „Ein Tonkrug ging zu Bruch.“ Er ließ sich nicht weiter darauf ein, legte das Tuch beiseite und kleidete sich an.
„Vergessene Scherben sind Fallen des Unglücks“, meinte Dugg und legte die Scherbe auf den Tisch. „Wie sieht es mit deinem Erinnerungsvermögen aus? Weißt du noch über was wir gesprochen haben, bevor du ohnmächtig wurdest?“
„Dass ihr mich auf die Klüften gejagt habt, die dann unter mir zusammengebrochen sind“, wusste Lorax, warf Tiane einen flüchtigen Blick zu und setzte sich Dugg gegenüber auf einen Sitzblock. „Ich muss da einen ganz schönen Schlag auf den Kopf abgekommen haben. Ich hoffe, dass sich das irgendwann wieder legt. Es ist beinahe schon peinlich nicht zu wissen, was man angestellt hat.“
„Der Schlag auf den Kopf hatte auch seine guten Seiten“, erinnerte ihn Dugg mit einem aufmerksamen Gesichtsausdruck. „Du bist ein anderer geworden. Und ich habe mich notgedrungen mit dir beschäftigen müssen, sonst wären mir sicherlich immer noch nicht deine Naturfühlerfähigkeiten aufgefallen.“
Lorax wurde von einem Klappern an der Feuerstelle kurz abgelenkt. Er kehrte aber schnell wieder zu Dugg zurück. „Hättest du Lust mit uns zu essen?“
Dugg richtete sich augenblicklich gerader, doch nach einem kaum merkbaren Nicken von Tiane sagte er zu. Lorax erhob sich daraufhin und schickte sich an, den Tisch zu decken.
Der ältere Logeyzaner beobachtete das Treiben der beiden aufmerksam, dann räusperte er sich verlegen. „Ist etwas zwischen euch?“, erkundigte er sich beiläufig.
„Was meinst du?“, gab sich Tiane unwissend, als sie eine der Schüsseln vom Tisch nahm und sie mit dem Eintopf füllte, dessen Duft angenehm und appetitanregend in der Luft hing und der schon draußen zu vernehmen war. Sie musste aber ihr hochrotes Gesicht peinlichst verbergen.
„Ich weiß nicht. Es ist so eine merkwürdige Atmosphäre zwischen euch.“
„Ich habe nur geschworen, meiner Schwester und allen anderen niemals wieder so weh zu tun“, entgegnete Lorax und setzte sich wieder. „Den Krug habe ich zerschlagen, als ich ihn voller Wut über mich selbst vom Tisch fegte.“
„So?“, machte Dugg wenig überzeugt, beließ es allerdings dabei. Denn schon stellte Tiane einen Teller mit dampfendem Kantiffer-Eintopf vor ihn, einen zweiten vor Lorax. Er kostete einen Löffel voll und war angenehm überrascht. Tiane konnte tatsächlich kochen. Das hätte er der Kämpferin nicht zugetraut. „Ich wollte dich eigentlich entführen, wenn du dich schon gut genug fühlst. Es ist nicht weit von hier.“
„Wieder zerschossene Gerbsäure-Fässer?“, erkundigte sich Lorax und schob sich einen Löffel Eintopf in den Mund.
„Nein! Leer geerntete Matoja-Haine.“
„Das wird ein trauriger Anblick“, bemerkte Tiane wissend, während sie sich setzte und den Teller näher zu sich heran schob.
Lorax schluckte schnell den Bissen hinunter. „Warum?“
„Das erzähle ich dir, wenn wir davor stehen.“ Mit einem weiteren Löffeln köstlichem Kantiffer-Eintopfs schloss er das Thema ab.
* * *
Einige Zeit später standen sie vor den Überresten eines weitläufigen Haines. Welche Baumart das allerdings einmal gewesen war, konnte nur noch ein Fachmann sagen, denn die meisten Bäume waren bis zur Unkenntlichkeit verwittert, vertrocknet oder bis zu den Wurzeln verfault. Es lag ein unangenehmer Duft in der Luft, der einem das Atmen schwer machte. Lorax musste stehen bleiben und erst wieder einmal zur Puste kommen, als er Dugg mit langen Schritten in den Hain hinein gefolgt war.
„Was ist das? Oder besser gesagt, was war das einmal?“, wollte Lorax wissen.
„Das ist der Matoja-Hain, von dem ich dir erzählte.“
„Was ist hier passiert?“ Er berührte vorsichtig einen dürren Ast, der unter seinen Fingern zu Asche zerbröckelte.
„Das ist ein Werk der Abbauunternehmen, die eines Tages vom Himmel herabgestiegen sind und sich nehmen, was sie nur zusammenraffen können“, entgegnete Dugg bissig. Er besaß sich jedoch schnell wieder unter Kontrolle. „Unsere Vorfahren hatten ihn vor über fünfhundert Jahren mit viel Liebe und Mühe gepflanzt. Er wurde seither sorgsam gehegt und gepflegt. Matojas dürfen erst abgeerntet werden, wenn die ersten Früchte von selbst herunterfallen. Sonst entwickelt die Pflanze das Jahr darauf keine Fruchtknospen. Und nur die Früchte dürfen geerntet werden, die sich auf leichten Druck lösen. Dann müssen sie aber schnell weiterverarbeitet werden. Eines morgens waren die noch unreifen Früchte einfach verschwunden. Des Nachts wurden sie von Dieben gestohlen. Um die Früchte von ihren Fruchtstelzen zu bekommen, muss man sie abzwicken, was wiederum bedeutet, dass sie im vorreifen Zustand noch keine Fruchtknospen entwickeln konnte. Die Folge davon ist das hier. Die Bäume gingen ein und verfaulten. Über fünfhundert Jahre alte Bäume.“
„Das ist wirklich ein trauriger Anblick.“
„Reife Früchte sind nicht lagerfähig, geschweige denn transportfähig. Deswegen wurden sie im unreifen Zustand geerntet. Sie reifen zwar nach, aber der Baum stirbt. Über fünfhundert Jahre alte Bäume, doch das war den Dieben vollkommen gleichgültig. Sie platzen ungefragt herein und nehmen sich einfach, was ihnen gefällt.“
„Warum hält sie niemand auf?“, erkundigte sich Lorax interessiert.
„Das haben wir versucht. Die Antwort hast du selbst erlebt. Wir haben um Unterredung gebeten, Kompromisse vorgeschlagen, doch alles wurde einfach ignoriert. Sie kommen und bedienen sich, wie in einem Selbstbedienungsladen. Unsere Schutzmaßnahmen sind für ihre Techniken nicht effektiv genug.“
Lorax ging ein paar Schritte durch die trostlosen Überreste einst stolzer und reich tragender Bäume, berührte einige Äste und Zweige, die unter seiner Berührung zerbrachen, zerbröckelten oder abfielen und versuchte die Trauer wahrzunehmen, die die Natur über die Kaltherzigkeit der Diebe besitzen müsste. Tatsächlich wurde sein Herz von tiefer Trauer beseelt, und der Wut über die rücksichtslose Tat. Er ließ seine Sinne tiefer in diese Trauer gleiten, bis hin zu jenem Punkt, an dem eines finsteren Nachts die Diebe kamen und binnen kurzer Zeit die grüngelben Früchte von ihren Fruchtstelzen knipsten. In seiner Vision erkannte er schemenhafte weiße Gestalten, die in regelmäßigen Abständen um den Hain herum patrouillierten und die Augen in die Dunkelheit richteten, um Störenfriede rechtzeitig erkennen zu können. Mit der Erkenntnis, dass Dugg die Wahrheit gesprochen hatte, zog er seine Sinne zurück, sammelte sich einen Augenblick und begab sich zu seinem Lehrer.
„Aus welchem Grund sind wir hier?“, wollte er wissen. „Um die Trauer zu erkennen?“
Dugg schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Ich denke, du hast das bereits gespürt. Ich war damals mit der Gerbsäure vielleicht nicht ganz gerecht zu dir. Ich hätte dir die Wahrheit sagen und keine Lügenmärchen erzählen sollen. Dann hättest du womöglich nicht versagt. Somit war es sozusagen meine Schuld.“ Er räusperte sich, ließ einen Moment des Schweigen zwischen ihnen hängen und fuhr dann fort. „Ich will diesmal ehrlicher mit dir sein und um es gleich zu sagen, dass ich dir das hier zeigte, war nicht ganz uneigennützig. Ich könnte dir noch mehr solcher Beispiele zeigen, aber ich denke, du hast verstanden. Ich befürchtete schon, dass du mich wieder nur auslachst, wie fast vor einem Jahr, als wir beide hier standen.“
„Wir beide hier standen?“ Lorax kam näher. „Wusstest du etwa damals schon, dass ich mich von den anderen habe kaufen lassen, oder von den Naturfühlerfähigkeiten?“
Dugg schüttelte den Kopf. „Weder noch. Wir kamen hierher, weil ich dachte, wir könnten die Bäume noch retten. Doch es war nichts zu machen. Sie waren verloren.“
„Warum ich und niemand anderer?“
„Wir waren nicht allein. Und wenn du eine Gelegenheit vermutet hast, uns mit deinem Hohn zu überschütten, hast du sie wahrgenommen. Das hier bedeutete eine wahre Fundgrube für dich. Aber lassen wir das.“ Er wischte das Thema imaginär vom Tisch und sah sich flüchtig um. „Wir haben lange darüber diskutiert und waren zu dem Schluss gekommen, dass wir das Risiko eingehen müssen. Es bleibt uns keine andere Wahl. Wir sind ebenso verloren wie diese Bäume, wenn nicht endlich etwas geschieht. Die Okkupanten haben in den meisten der anderen Dörfer Zwangsarbeiter rekrutiert und auch viele von unserem Dorf mitgenommen. Unser Dorf ist nicht immer so menschenleer. Viele verschwanden einfach spurlos oder wurden bei den Übergriffen gefangen genommen.“ Er räusperte sich wieder. „Wir hatten gehofft, dass du uns helfen könntest. Du bist ein anderer geworden, lange nicht mehr so erhaben, aufbrausend und selbstgefällig. Wir und insbesondere ich, bin davon überzeugt, dass dein Gerechtigkeitssinn wieder am rechten Platz sitzt.“
„Wie soll ich euch helfen können?“, wollte Lorax interessiert wissen.
„Du bist etwas besonderes“, begann Dugg. „Das habe ich mit jedem Tag gemerkt, den ich mit dir verbrachte. Diese Diebe zerstören systematisch den Lebensraum und damit auch uns. Wir müssen ihnen Einhalt gebieten. Du hast das Glück zwei Ansichten gesehen zu haben und kannst daher eher beurteilen, was Recht ist und was nicht. Außerdem bist du der Einzige, der nahe genug an sie heran kommen könnte.“
„Nahe genug für was?“
Dugg druckste herum. „Ich weiß auch nicht genau. Irgend etwas, damit sie aufhören unsere Ernten zu stehlen, die Flüsse zu vergiften und die Luft zu verpesten. Wenn sie so weitermachen, sehe ich keine Zukunft für die nächsten Generationen. Niemand kann auf verseuchtem Boden Kantiffern ernten geschweige denn dann essen. Es muss aufhören. Wir hatten gehofft, dass du uns etwas sagen könntest.“
„Würde ich gerne, aber ich weiß nicht was. Ich kann mich nicht an die Zeit bei diesen – wie hast du sie genannt? – Okkupanten? – erinnern.“ Er musste sich plötzlich setzen. In seinem Inneren stieg ein unangenehmes Gefühl auf. Vermutlich rührte das von dem ihn ständig umgebenden fauligen Gestank der verrottenden Bäume her. Er begab sich zu einem niederen Zaun und setzte sich auf den Pfosten. „Alles was vor dem Absturz in den Klüften geschehen ist, ist weg. Vermutlich macht mich genau das zu dem neuen Menschen, der ich jetzt bin. Mit diesen Erinnerungen wäre ich sicherlich wieder der alte Widerling.“
„Sagtest du nicht, der kleine Dicke hätte dich erkannt?“ erinnerte sich Dugg. Er vermied absichtlich den Namen des Stellvertreters, um Lorax nicht unbewusst zu einer Erinnerung zu verhelfen.
„Sagte ich das?“ Lorax war sich nicht sicher. Er versuchte, sich das Gesicht eines kleinen, dicken Mannes in Erinnerung zu rufen, doch außer einem quälenden Gefühl aus seiner Magengegend keimte nichts in ihm auf. Er legte die Hand auf den Bauch und hoffte, dass sich der Tumult in seinem Inneren legte.
„Ist dir nicht gut?“, erkundigte sich Dugg besorgt, der dessen immer bleicher werdendes Gesicht bemerkte. „Komm wir gehen wieder zu dir nach Hause. War vielleicht noch etwas zu viel für dich.“
Lorax schüttelte den Kopf. Es war nicht der Marsch. Dugg war zwar nicht gerade langsam gegangen, aber niemals schnell genug, um den Jüngeren abschütteln zu können. Lorax war bei bester Kondition und hätte die Strecke sicherlich auch mühelos im Laufschritt absolvieren können. Es war etwas anderes, das ihn von innen heraus quälte. Eher er noch weiter darüber nachdenken konnte, stülpte sich auch schon sein Magen um und er spie Tianes guten Kantiffer-Eintopf aus.
Dugg blieb gelassen. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich jedoch ein wenig. Er wusste, warum Lorax übel war, musste dieses Wissen aber für sich behalten. Offensichtlich gab es keine Möglichkeit mehr, Lorax die Adacuz-Extrakte weiterhin zu verabreichen. Wenn die Dosen ausblieben, würden es nur noch vier maximal sechs Stunden sein, ehe sich Lorax wieder an alles erinnerte. Ihnen rann die Zeit schneller durch die Finger, als er eingeplant hatte.
Gleich nachdem sich der junge Logeyzaner beruhigt hatte, begleitete Dugg ihn nach Hause und wies ihn an, sich hinzulegen. Er versuchte ihm einzureden, dass es noch zu früh gewesen sei, um größere Ausflüge zu unternehmen. Lorax widersprach nicht, ließ sich willig auf sein Lager bringen und schloss die Augen.
* * *
Etwas abseits der Wohnhöhle, blieben Dugg und Tiane stehen und unterhielten sich gedämpft.
„Das Adacuz ist nun nicht mehr zu gebrauchen. Die letzte Dosis spie er vorhin wieder aus. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen.“
„Wie weit bist du gekommen?“, fragte Tiane.
„Nicht weit. Aber ich denke, es arbeitet in ihm. Er sagte, er wolle uns helfen, könne sich aber an nichts erinnern.“
„Und wenn du ihm seine Erinnerungen zurückkommen lässt?“
„Dann weiß er, dass wir ihn belogen haben und ihn benutzen wollen. Das können wir nicht zulassen.“
„Was hast du vor?“
„Wir haben nur noch ein paar Stunden Zeit, ehe das Adacuz seine Wirkung gänzlich verliert. Wir müssen ihn in dieser Zeit fester an uns binden.“
„Wie willst du das machen? Mit noch mehr traurigen Beispielen?“
„Nein. Mit dir.“
„Mit mir?“ Tiane riss überrascht ihre Augen auf. „Tu ich nicht schon viel für den Erfolg unserer Mission?“
„Du bist seine engste Bezugsperson. Du musst ihn irgendwie um den Finger wickeln. Du bist doch eine Frau, lass dir etwas einfallen.“
„Ich bin seine Schwester. Da kann ich ihm keine anzüglichen Angebote machen.“
Dugg seufzte verzweifelt. „Ich bräuchte nur ein paar Tage mehr Zeit.“
„Ich könnte etwas versuchen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das funktioniert.“
„Was?“, wollte Dugg wissen.
„Es wäre verfrüht darüber zu reden und Wogen aufzuwühlen, wo lieber stille See sein sollte“, meinte sie und warf einen Blick hinüber zum Eingang. „Wenn es funktioniert, gebe ich dir Bescheid. Wenn nicht, braucht man ohnehin nicht mehr darüber nachzudenken.“
„Es ist wichtig für uns, dass Lorax auf unserer Seite steht“, ermahnte sie Dugg.
Tiane nickte. „Ich weiß“, sagte sie, wischte ihre Hände am Hemd ab und verabschiedete sich mit einem stummen Blick von Dugg.
* * *
Als sie in die Höhle zurückkehrte, schien Lorax eingeschlafen zu sein. Er lag friedlich in seinem Lager. Sein Brustkorb ging gleichmäßig. Seine Gesichtszüge waren entspannt. Dennoch wurde Tiane das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Sie schlich sich beinahe lautlos zu Lorax, beugte sich über ihn und küsste ihn auf den Mund. Dasselbe Gefühl hatte sie besessen, als sie nach ihrem Liebesspiel nebeneinander gelegen hatten. Dabei schien Lorax auch eingeschlafen zu sein. Er war jedoch hellwach.
Als seine Mundwinkel zuckten, sah sie ihre Vermutung bestätigt. Ihre Lippen senkten sich abermals auf die seinen, worauf sie plötzlich seine Arme auf ihrem Rücken spürte.
„Bist du krank?“, wollte sie zwischen zwei Küssen wissen. „Dugg erzählte mir eben, dass du mein gutes Essen wieder ausgespuckt hast. Oder war der Anblick der Majotas so ekelerregend, dass du dich übergeben musstest?“
„Ich schätze beides“, antwortete er. „Es ist schändlich, was die Okkupanten sich erlauben. Ihnen muss schnellstens Einhalt geboten werden.“
„Für sie sind wir nicht mehr als minderbemittelte Werkzeuge, die sie nach gut düngen gebrauchen können. Sie benutzen uns, saugen uns aus und wenn wir alt und verbraucht sind, lassen sie uns fallen. Leider sind wir zu schwach, um etwas dagegen zu unternehmen.“
„Wir sollten uns organisieren“, schlug er vor.
„Was meinst du mit organisieren?“
„Zu einer Gruppe zusammenschließen und gemeinsam zurückschlagen. Diese Waffen, die diese Metallgeschosse abfeuern, sind wirkungsvoll genug, um sich die Gegner wenigstens auf Schussweite vom Leib zu halten.“
„Davon besitzen wir zu wenig. Wir sind im Grunde keine Kämpfer, sondern Farmer. Das Kämpfen haben wir von den Leuten gelernt, die uns unsere Ernten wegnehmen wollten.“
„Du bist darin auch ganz schön in Übung“, bemerkte er anerkennend. „Wer hat dir das beigebracht?“
Tiane zuckte etwas zurück, doch seine Arme auf ihrem Rücken ließen das nicht zu. „Mein Vater“, gestand sie. „Er hatte bereits eine solche Gruppe zusammengefunden. Doch sie wurde bei einem Angriff beinahe vollständig aufgerieben.“
„Wer ist davon noch übrig?“
„Janos, Komunus, Dugg und ich.“
„Janos, der Kerl, der mich bei dem Bundus-Fest angegriffen hat“, erinnerte sich Lorax.
Das Mädchen nickte und berührte sein Kinn mit ihren Lippen. Er fühlte sich heiß und feucht an. Offensichtlich war seine Körpertemperatur etwas angestiegen.
„Geht es dir gut?“, wollte sie daher wissen. „Du fühlst dich heiß an.“
„Wer ist dieser Komunus? Und was kann er?“
„Wir haben eine Kanone“, berichtete sie nicht ohne Stolz. „Komunus ist sozusagen der Kanonenmeister. Er ist der einzige, der mit ihr umgehen kann.“
„Eine Kanone? Warum habt ihr sie nicht bei dem letzten Angriff eingesetzt?“
„Weil sie irgendwie defekt ist“, wusste Tiane. „Komunus sagte, der Schlagbolzen sei gebrochen. Ersatzteile bekommen wir für sie nicht und selbst herstellen können wir es mangels notwendigem Material auch nicht.“
„Warum klaut ihr euch das nicht von den Okkupanten?“
„Woher sollen wir wissen, was das richtige Ersatzteil oder das richtige Material ist?“
„Die verfügen über Präzisions-Laserkanonen. Ich bin mir sicher, dass ich die genauso handhaben kann, wie die Gewehre. Warum sollten wir uns nicht die Gegenleistung dafür holen, was sie uns genommen haben?“
„Weil wir dann ständig aufs Neue auf Diebestour gehen müssten. Diese hochentwickelten Waffen brauchen kontinuierliche Wartung und Ersatzteile.“
„Wer hat dir diesen Unsinn erzählt?“
Sie blickte ihn verwirrt an. „Unsinn? Was meinst du damit?“
„Mit einem Lasergewehr und nur einer einzigen Energiezelle kannst du bei sparsamen Energieverbrauch über fünfhundert Schuss abgeben, bevor du die Energiezelle auswechseln musst. Und wenn du damit nicht gerade den Garten umgräbst, halten die Dinger viele Jahre, ohne dass man nur einmal daran herumschrauben muss.“
„Woher weißt du das? Ist dir das wieder eingefallen?“
„Vermutlich“, pflichtete er ihr bei. „Außerdem kann man die Energiezellen wieder aufladen und muss nicht immer wieder Neue besorgen.“
„Das klingt verlockend“, meinte sie abschätzend und setzte einen sanften Kuss auf seine Nasenspitze. „Ich wollte dir noch etwas anderes sagen, etwas, was ich möchte, dass du es weist.“
„Wieder ein kleines Stückchen Wahrheit – zum Nachtisch?“
Tiane musste lächeln. Sie wurde jedoch schnell wieder ernst. „Ich wollte dir sagen, dass ich den Mann, der in den Klüften abgestürzt ist, zutiefst verabscheut habe. Er ist zum Glück dort gestorben. Aber dem Mann, der aus dem Trümmerfeld geborgen wurde, gehört mein ganzes Herz – aufrichtig, ehrlich und vollkommen entflammt. Ich möchte, dass du das nicht vergisst und dich an meine Worte erinnerst, wenn du einmal Zweifel daran hegen solltest.“
„Warum sollte ich an deiner Liebe zweifeln?“
„Ich weis, dass es Zeiten geben wird, die uns schwere Prüfungen auferlegen. Denk an meine Worte, denke an sie, fühle in dir und dann handle.“
Mit etwas zusammengekniffenen Augen betrachtete Lorax das Gesicht der jungen Frau vor ihm.
„Mein Vater war der Meinung, dass man einen Leitsatz braucht, um leichter über die Hürden des Lebens hinweg zu kommen“, meinte sie und gab ihm einen weiteren Kuss auf die Nasenspitze. „Er sagte immer, das Leben an sich ist eigentlich nicht schwer, nur die Hindernisse, die einem in den Weg gelegt werden, erscheinen einem manchmal unüberwindlich. Wenn man einen Leitsatz besitzt oder an etwas denkt, was einem viel bedeutet, dann kann man jedes Hindernis erklimmen.“
„Kluger Mann“, bemerkte Lorax und nahm sie wieder in den Arm. „Ich werde es mir merken.“
Sie ließ sich bereitwillig an seine Brust drücken und genoss die Berührung, den Druck seiner starken Arme und den Duft seiner Haut.
* * *
Eine Weile waren sie einfach so eng umschlungen dagelegen und sogen jeden einzelnen Moment ihres Glückes in sich ein, als sich Lorax plötzlich versteifte. Er schob Tiane von sich und erhob sich.
„Was ist los?“, erkundigte sie sich verwirrt.
Lorax stellte sich auf die Beine. „Ich glaube, sie kommen“
„Wer kommt? Dugg?“
„Nein, die Okkupanten.“
Sie erhob sich ebenfalls. „Bist du dir sicher?“
„So ziemlich. Ja“, nickte er und hatte es auf einmal extrem eilig. „Wir müssen die Anderen warnen.“ Er suchte nach seinen Stiefeln und einer Jacke, ehe ihm einfiel, dass seine Wirkjacke bei dem letzten Kampf verloren gegangen war. Nicht traurig über diesen Umstand – war ihm doch noch gut in Erinnerung, wie hinderlich sie ihm beim Nahkampf gewesen war – suchte er nach anderen Möglichkeiten, sich gegen die Kälte zu schützen. Er schlüpfte in ein weiteres Hemd und einer Fellweste, die er mit Schnüren fest um seinen Leib band. Dann rannten sie so schnell sie konnten ins Dorf hinunter, um die Übrigen zu alarmieren.
Schnell war Aufregung entstanden. Die Männer errichteten in Windeseile neue Barrikaden und Geschützstände, hinter denen sie sich eventuell verschanzen könnten. Der Rest, der sich nicht an der Verteidigung beteiligen konnte oder wollte, versuchte so viel wie möglich seines Hab und Gutes in Sicherheit zu bringen und selbst nach einem Unterschlupf zu suchen, der ihnen ihr Überleben sichern würde. Doch die Versammlungshöhle, der einzige Ort, der den Angriffen bislang widerstanden hatte, war nicht mehr sicher genug, beinahe schon lebensgefährlich geworden.
„Geht zu uns hoch“, schlug Lorax daher vor. „Der Angriff der Okkupanten beschränkte sich jedes Mal weitgehend auf die sichtbar bewohnten Regionen. Sie kommen sicherlich nicht urplötzlich auf die Idee, auch weit außerhalb Wohngegenden zu vermuten. Ihr seid dort sicherer, als hier unten.“ Er strich einem ängstlich dreinblickenden Kind über den Kopf. Dessen Mutter riss vor Schreck die Augen auf, konnte jedoch eine weitere Reaktion verhindern. Sie nahm ihr Kind auf den Arm und ging mit den anderen fort den Hügel hinauf.
Lorax wandte sich an Dugg. „Sind vom letzten Angriff noch Laserwaffen der gefallenen Okkupanten übrig geblieben?“, erkundigte er sich.
„Einige“, nickte Dugg. „Was hast du damit vor?“ Er winkte einem der Männer, der darauf herumwirbelte und davonrannte.
„Die sind allemal besser als Mistgabeln und Äxte. Apropos Äxte“, erinnerte er sich plötzlich an etwas. „Wer war der Kerl, der auf der Spitze des Hügels mit einer Axt auf mich losging?“
Dugg stutzte kurz, wusste aber, dass er um die Antwort nicht herum kam. Lorax würde sich allmählich an jedes Detail seines Lebens zurückerinnern und ohnehin bald wissen, dass er die letzten Monate an der Nase herum geführt worden war.
„Krails“, antwortete er.
„Warum hat er nicht auf mich geschossen? Das wäre doch wesentlich effektiver gewesen.“
„Er war ein schlechter Schütze“, entgegnete Dugg. „Er hätte dich auch verfehlt, wenn er die Mündung direkt auf deine Stirn gesetzt hätte.“
„Dann war er der falsche Mann, um mich aus dem Hinterhalt zu erledigen“, wusste Lorax, während er die Energiewaffen, die ihm einer der Dorfbewohner gebracht hatte, zu überprüfen. Fast alle Energiezellen zeigten vollen Leistungsstand. Er zeigte einigen Männer, wie sie damit umgehen mussten und widmete sich wieder Dugg. „Wo ist die Kanone?“, wollte er als nächstes wissen.
Dugg blickte ihn mit großen Augen an.
„Tiane erzählte mir, dass ihr eine Kanone besitzt. Vielleicht kann ich etwas machen, um sie wieder zum funktionieren zu bringen.“
Der ältere Naturfühler wechselte einen Blick mit der jungen Kämpferin und winkte die beiden mit sich. Ein weiterer Mann gesellte sich dazu und öffnete schließlich die Türe zu einem im Boden verborgenen Lagerraum. Zwischen Früchten, Kantiffern und anderem Wurzelgemüse stand eine tragbare, handliche Projektilkanone, für die sich jeder Antiquitätenhändler alle Finger danach abgeschleckt hätte. Lorax schob diesen Gedanken beiseite und wollte sich damit beschäftigen, wenn er die Zeit dafür besaß. Er besaß keinerlei Ahnung, ob er an dieser durchaus wirkungsvollen Waffe etwas ausrichten konnte, verließ sich dabei aber vollkommen auf seine Instinkte, die mit seiner Vergangenheit tief in seinem Unterbewusstsein verborgen lagen. Mit geschickten Fingern baute er das abgebrochene Teil aus und betrachtete es eingehend. Dann fiel sein Blick auf eine der Kisten, in der mehrere Handfeuerwaffen lagen und wühlte darin herum. Er fand einen Revolver mit einem auffallend großen Schlagbolzen, legte ihn auf den Boden, angelte nach einer dünnen Metallstange, die sonst für das aufhängen von Kletterpflanzen benötigt wurde, setzte die Spitze auf die Niete, die den Schlagbolzen festhielt und schlug mit dem Kolben eines anderen Revolvers die Niete aus dessen Ringloch. Dann passte er den Bolzen des Revolvers an die Kanone, ließ ein zufriedenes Lächeln erkennen, als er annähernd passte und baute die Ersatzteile wieder ein. Er musste den Bolzen mit Hilfe der Metallstange lediglich etwas zurechtbiegen, dann traf er mitten auf den Zündpunkt und würde damit die Explosion im Inneren der Kanone wieder in Gang bringen.
„Bitte schön!“, sagte er und streckte seine Glieder, die sich während der Reparatur durch das zusammenkauern verkrampft hatten.
Dugg beobachtete ihn, während Lorax die Kanone instand gesetzt hatte, sehr genau. Er schien sich selbst nicht sicher zu sein, ob er glücklich oder lieber vorsichtig sein sollte. Als der junge Mann an ihm vorbei nach draußen ging, hielt er ihn auf.
„Lorax, auf ein Wort“, hielt er ihn zurück und fuhr fort, als er dessen Aufmerksamkeit besaß. „Wie fühlst du dich?“
Lorax blickte ihn fragend an. „Wie meinst du das? Körperlich? Es geht mir gut. Besser, als es mir die letzten Tage und Wochen ging.“
„Nein, ich meine, was für ein Gefühl hast du hierbei?“ Er breitete seine Arme aus, machte eine umfassende Bewegung und deutete auch nach draußen.
„Was für ein Gefühl?“ Lorax folgte der Bewegung und sah sich flüchtig um. „Meinst du, ob wir den Angriff überleben?“
Dugg schüttelte den Kopf. „Nein! Wenn du tief in dein Herz blickst und dann das hier ansiehst, was fühlst du dann?“
Lorax musterte ihn eingehend. Es schien tatsächlich über seine Gefühle nachzudenken. „Eine weitere Lektion?“, versuchte er zu erraten und sah sich abermals um. „Ich fühle Trauer und Wut. Die Natur ist wegen des bevorstehenden Angriffes in Aufruhr. Ich spüre die Unruhe und die Angst. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um sie zu beruhigen, doch ich weiß, dass ich nichts ausrichten kann. Ich kann nur zuhören und zusehen.“
„Du kannst mit der Natur sprechen. Ich weiß, dass du dazu fähig bist.“ Er fasste sich dabei in den Nacken, wo Lorax ihm beim letzten Angriff mit einem gedanklichen Stoß einen kurzen heftigen Schmerz versetzt hatte. „Du kannst sie bewegen. Nur wenige Naturfühler sind dazu in der Lage. Du bist etwas außerordentliches und ich wünschte, viele Dinge wären anders gelaufen.“
Lorax blickte schuldbewusst zu Boden. „Das ist nicht nur ein Wunsch von dir.“
„Würde sich für dich etwas ändern, wenn die Dinge anders gelaufen wären?“, wollte Dugg wissen.
„Dann würden fünfzig gute Menschen heute noch leben“, gab Lorax zurück.
„Würdest du deine Vergangenheit denn zurück haben wollen?“, fragte Dugg unvermittelt.
Lorax musste erst überlegen. Er sank tief in sich, schwieg einige Sekunden lang, dann kehrte er mit einem Seufzer zurück. „Nein!“, sagte er bestimmt. „Ich will sie nicht zurück. Sie macht mir Angst. Sie macht mich wütend über mich selbst. Mir gefallen die Dinge, wie sie jetzt sind.“
Mit einem Lächeln klopfte Dugg dem Jüngeren auf die Schulter. „Merk dir das, für den Fall, dass du einmal zweifeln solltest“, sagte er mit einem erleichterten Ausdruck im Gesicht und verließ den unterirdischen Lagerraum.
Lorax blickte ihm etwas verwirrt hinterher. Erst Tiane, dann Dugg. Er fragte sich, was sie ihm mit ihren tiefsinnigen Sätzen und Fragen vermitteln wollten. Er hatte gerade erst begonnen, an sich selbst zu glauben, hatte eine Liebe gefunden, die ihm Halt schenkte und er hatte eine Aufgabe gefunden, mit der zumindest ein kleines Stückchen seiner Tat wieder gut machen konnte.
„Ach, Lorax“, sagte Dugg und erschien wieder in der Öffnung zum Lagerraum. „Die zwei Wochen sind vorbei. Ich denke, du weißt nun, was ein Naturfühler ist.“
Der junge Mann musste unwillkürlich lächeln. „Ich weiß es“, sagte er beinahe schon grinsend. „Ich bin einer.“
Ihre Blicke trafen sich kurz, dann drehte sich Dugg um und verschwand endgültig. Lorax blieb mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl zurück. Stärker noch, als er seine Leidenschaft mit Tiane ausgelebt hatte, überkam es seinen Körper und ließ jede einzelne Faser, jede einzelne Nervenzelle in seinem Inneren erbeben. Er war ein Naturfühler, sagte er sich immer wieder. Schier unendlicher Stolz auf sich selbst, gleichzeitig aber auch eine verantwortungsvolle Verbundenheit seinen eigenen Leuten gegenüber machte sich in ihm breit. Er war ein Naturfühler und er schwor sich, seine Fähigkeiten für das Wohl von Logeyza einzusetzen und alles in seiner Macht stehende zu tun, um es zu retten. Die Natur hatte ihn sicherlich nicht grundlos mit diesen herausragenden Eigenschaften ausgestattet. Er musste es tun, das war er allein schon den Menschen schuldig, für dessen Tod er verantwortlich war.
Er unterdrückte einen Jubellaut, als sich im selben Moment eiskaltes Kribbeln in seinem Nacken bemerkbar machte. Instinktiv wusste er, dass Gefahr im Verzug war. Die Okkupanten mussten nicht mehr weit entfernt sein.
Er blickte sich flüchtig um, griff sich eine der veralteten Laserhandfeuerwaffen, überprüfte kurz dessen Energiestand und steckte sie in den Gürtel. Dann verließ er das Kellerloch.
Draußen herrschte helle Aufregung. Noch immer waren eifrige Männer damit beschäftigt, Barrikaden zu errichten, wertvolle Güter in Sicherheit zu bringen oder einen sicheren Unterschlupf zu suchen. Lorax marschierte durch sie hindurch, half beim Errichten der einen oder anderen Barriere, die beim ersten Treffer vermutlich sofort in Rauch und Asche aufgingen und suchte immer wieder den Horizont über den Bergspitzen ab. Er war sich sicher, dass der Angriff unmittelbar bevorstand. Als ihn sein instinktives Warnsystem das letzte Mal alarmiert hatte, hatte es nicht lange gedauert, ehe Dugg die Wohnhöhle betrat. Dass es solange dauerte, bis die ersten Jagdmaschinen über die Bergspitzen schossen, machte ihn zwar stutzig, schob es aber auf die allgemeine Erregung und seiner fortgeschrittenen Sensibilisierung gegenüber den Gefühlen der Natur.
Er entdeckte Tiane im Gewühl einer hektischen Menge, die gefällte Baumstämme zu einem Wall schlichtete und begab sich zu ihr.
Mit hochrotem Gesicht richtete sich die junge Frau auf und bedachte ihn mit einem sorgenvollen Lächeln.
„Diesmal werden sie uns endgültig vernichten“, wusste sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
„Zuversicht kann durchaus ein ernstzunehmender Gegner sein“, entgegnete Lorax hoffnungsvoller. Er musste sich mit der Hand in den Nacken fassen, als das Kribbeln immer unangenehmer wurde.
„Geht es dir gut?“, erkundigte sich die Frau besorgt und beäugte ihn musternd.
Lorax nickte steif. „Dugg sagte, ich wäre jetzt ein Naturfühler. Ich muss mich aber offensichtlich erst noch an die besitzergreifenden Empfindungen gewöhnen. Vor allem an die unangenehmen.“
Tiane lächelte stolz. Liebend gern hätte sie ihn in den Arm genommen und Trost gespendet. Dass es ihm offenbar genauso ging, verriet ihr der beinahe sehnsüchtige Blick, mit dem er ihr Lächeln beantwortete. Als ein Ruck durch ihn ging, erkannte sie, dass er mit dem Impuls kämpfte, sie in den Arm zu nehmen. Er unterließ es jedoch und wandte sich um, um abermals den Horizont abzusuchen.
„Wie lange wird es noch dauern?“, fragte eine Stimme. Tiane fuhr herum und entdeckte Janos näherkommen.
Lorax drehte sich nur langsam um. Seine Gedanken schienen auf Wanderschaft zu sein. Erst nach einigen Augenblicken zuckte er ratlos mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht“, gestand er. „Mein Gefühl sagt mir: jeden Moment. Doch etwas stimmt nicht.“ Er reckte sein Kinn in die Höhe, als lauschte er unhörbaren Stimmen.
„Was?“, wollte Janos wissen.
Wieder zuckte Lorax mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Es fühlt sich so intensiv an. Die Natur ist in heller Aufruhr.“
„Vielleicht fühlst du nicht einen bevorstehenden Angriff, sondern etwas, was die Okkupanten tun“, mutmaßte Tiane. „Etwas ganz schlimmes.“
Lorax rieb seinen schmerzenden Nacken. Das eisige Gefühl ließ ihn frösteln. Er blickte sich um. Einige der Umstehenden hatten aufgehört, Baumstämme zu Stapeln zu schlichten und erwarteten nun ebenso gespannt die Antwort.
„Ich denke, ich muss noch sehr viel lernen, um ein brauchbarer Naturfühler zu werden“, bemerkte Lorax entschuldigend. „Es kommt etwas auf uns zu, ich weiß nur nicht was und wann.“ Er erinnerte sich an die Lektion mit den Krähern und versuchte seine Konzentration zu bündeln, um sie mit den Vögeln auf die Reise zu schicken. Doch er konnte weder Kräher noch Wolken finden, die ihn in weite Gefilde hätten tragen können. Auch beschäftigte ihn das unangenehme Kribbeln in seinem Nacken so, dass es ihm schwer viel, die nötige Konzentration aufzubringen. Er fragte sich spontan, in welcher drohenden Gefahr er sich befände. So intensiv hatte er es noch nie gespürt. Und er bezweifelte, dass es mit der Tatsache zusammenhing, wissentlich ein Naturfühler zu sein. Es musste etwas anderes sein, etwas das so stark war, so nahe und so bedrohlich, dass es schon fast seine Gedanken kontrollierte. Er blickte sich um. Ein Großteil der umstehenden Leute hatte inzwischen aufgehört, sich eine sichere Deckung zu bauen, oder ihre Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen. Die meisten standen beobachtend herum und schienen auf ein Signal zu warten, dass ihnen den Startschuss für ihre nächsten Aktionen geben könnte. Einige von ihnen beobachteten den jungen Naturfühler - Lorax. In ihren Augen war deutlich zu lesen, dass sie auf eine Antwort warteten. Früher hätte er sicherlich jedes einzelne Gesicht gekannt und ihre Namen dazu ausrufen können, doch heute kamen ihm die Gesichter so fremd vor, wie an manchen Tagen sein eigenes. Lorax versuchte ihre Gedanken zu erraten, doch das Kribbeln in seinem Nacken, unterband die Versuche, sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Vielleicht drohte ihm Gefahr von dem Kerl, der ihn bereits einmal angegriffen hatte - wie hieß er noch? - Janos. Lorax schüttelte innerlich den Kopf. Wenn Janos das beabsichtigt hätte, dann hätte er Gelegenheit dazu gehabt, als er geistesabwesend in die Ferne geblickt hatte.
Oder von Tiane?
Nein! Sie waren Geschwister - halt - nein, Geliebte, verbesserte er sich schnell. Tiane würde sicherlich nicht ihren Geliebten bedrohen oder gar töten wollen, wo sie ihn doch erst vor kurzem wiedergewonnen hatte.
Aber woher stammte dann die instinktive Ahnung, dass er sich in einer Gefahr befand?
Sein Blick schweifte abermals über die Bergkuppen, über die jeden Moment die Okkupanten in ihren fliegenden Objekten angeschossen kommen mussten. Für einen Moment glaubte er sogar, diese weißen Flugmaschinen in Wartestellung sehen zu können - wie in einer Vision - und eine jede schien zu flüstern: Töte Tui’jin!
Er fragte sich kurz, was das bedeutete, dann wurde seine Aufmerksamkeit wieder von dem kalten Kribbeln aus dieser Vision herausgerissen.
Etwas benommen schüttelte er den Kopf, ließ sich auf einen der Baumstämme nieder und begegnete Tianes besorgtem Blick.
„Was ist mit dir?“, erkundigte sie sich. Ihre Hand zuckte, als wollte sie ihm zärtlich oder tröstend über das Gesicht streichen.
„Was gibt dir die Gewissheit, dass wir diesmal gänzlich vernichtet werden?“, fragte er.
Tiane machte eine umfassende Bewegung mit der Hand. „Sieh dich doch um. Wir sind nur noch ein Bruchteil dessen, was wir einmal waren. Wir sind nicht einmal mehr genug, um das nötigste für unseren Lebensunterhalt zu besorgen. Die Okkupanten rotten uns systematisch aus. Wenn uns der nächste Angriff nicht den Todesstoß versetzt, dann wird es uns im nächsten Winter erwischen.“
„Was sagt dir der Begriff Tui’jin?“ wollte Lorax wissen.
Die Frau blickte ihn verwirrt an. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nichts“, sagte sie schließlich und setzte sich zu ihn. „Was ist das?“
„Ich weiß es nicht. Es kam mir eben zugeflüstert.“
„Von wem?“
„Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler.“
„Was ist mit den Okkupanten? Wann kommen sie?“, wollte Janos ungeduldig wissen.
Lorax sah hoch und erwiderte den strengen Blick des jungen Mannes. Er erinnerte sich an die kurze Vision; an die vor seinem geistigen Auge wie durch einen Blitz erschienenen Bilder. „Ich denke, sie sind längst da. Sie warten nur noch auf etwas.“
Janos sah sich suchend um. „Wo sind sie?“
„Hinter dem Berg. Ich weiß allerdings nicht, auf was sie warten.“
„Vielleicht warten sie auf eine Einladung“, warf Janos sarkastisch ein und biss sich nervös auf die Lippe.
„Ich kann ungeladene Gäste nicht ausstehen“, bemerkte Tiane bissig.
„Nein, sie warten auf Tui’jin“, wusste Lorax.
Janos blickte ihn fragend an. „Was ist Tui’jin?“
Lorax antwortete nicht. Seine Sinne kämpften sich verbissen durch das eiskalte Kribbeln in seinem Nacken und suchten nach einer Antwort. Er konnte die weißen Flugmaschinen sehen, wie sie in beinahe perfekter Reihe standen, frisch poliert und die beim letzten Kampf beschädigten Teile repariert, ausgebessert, ersetzt und neu gestrichen. Er konnte Leute sehen, die in den Cockpits saßen, die Fingerspitzen erwartungsvoll über den Startknöpfen. Er konnte ihre Anspannung spüren. Er konnte ihre Angst fühlen. Sie hatten Angst. Angst vor Tui’jin.
Er sah hoch und traf Tianes Blick. „Sie warten auf mich“, sagte er wissend und erhob sich. „Ich bin Tui’jin.“
Tiane setzte dieselbe verwirrte Miene auf, die auch in Janos Gesicht erschienen war. „Wer bist du?“, sagten beide beinahe wie aus einem Munde.
„Für sie bin ich Tui’jin“, erklärte er, fasste sich in den schmerzenden Nacken und blickte hin zum zerfranzten Horizont, hinter welchem sich eine ganze Staffel gefährlicher Jagdmaschinen verschanzt hatte. „Sie haben Angst vor mir.“ Er suchte den Blickkontakt mit Tiane. „Warum?“, wollte er wissen. „Bin ich so schlimm gewesen?“
„Es ist gut, dass du vieles deiner Vergangenheit vergessen hast“, erwiderte Tiane besänftigend. „Vielleicht hättest du dann vor dir selber Angst.“
Lorax verzog sein Gesicht und blickte abermals auf die Bergkuppe. Er fühlte ein Vibrieren unter seinen Füßen. Die Natur sprach mit ihm. Sie war in Sorge. Sie hatte selbst Angst vor dem nun kommenden.
Mit einem lauten Seufzen löste sich Lorax von dieser Wahrnehmung. Er konnte sich jetzt nicht auf die Bedenken der Natur konzentrieren. Sein Leben stand nun auf dem Spiel, und das der übrigen Dorfbewohner. Er musste dafür sorgen, dass sie nicht noch weiter dezimiert wurden. Er musste dafür sorgen, dass Logeyza noch eine Zukunft besaß.
Er wandte sich an Janos. „Ich möchte, dass du immer in meiner Nähe bleibst“, sagte er bestimmt. „Ich habe keine Lust, wieder in die Hände der Okkupanten zu fallen und erneut zu einer Bestie umfunktioniert zu werden. Notfalls erschießt du mich.“
Janos riss erschrocken den Mund auf.
„Bist du verrückt!“, rief Tiane entsetzt, doch Lorax gebot ihr mit einer schnellen Handbewegung zu Schweigen.
„Es muss so sein.“ Er holte tief Luft für seine Erklärung. „Irgend etwas stimmt hier nicht. Es ist unlogisch. Da hinter dem Berg stehen ein paar Dutzend schwerbewaffnete Männer, in voll ausgerüsteten Kampfausrüstungen und äußerst effektiven Jagdmaschinen. Die haben Angst vor mir, mir einem einzelnen Mann, einem in ihren Augen Primitiven. Sie haben Angst vor mir und würden mich am liebsten in tausend Stücke schießen.“ Er machte eine all umfassende Handbewegung. „Ihr habt niemals Angst mir gegenüber gezeigt. Ihr hattet sogar den Mut, mich zur Rede zu stellen und zur Verantwortung zu ziehen. Ihr habt mich wieder aufgenommen, hattet Zuversicht in die Zukunft, habt mir wo ihr nur könnt geholfen und auf die Beine gestellt. Die hinter dem Berg jedoch haben eine Scheißangst vor mir, weil sie wissen, wozu ich wirklich fähig bin.“ Er blickte beinahe ehrfürchtig auf den Horizont. „Sie warten auf mich, weil sie nicht wissen, was hier bei uns vor sich geht. Sie trauen sich aber nicht, über die Bergkuppe zu sehen.“
„Das alles sagt dir die Natur?“, gab Janos beeindruckt von sich.
„Nein!“, erwiderte Lorax bestimmt. „Das sitzt tief in mir drin. Das sagt mir mein Gefühl.“ Er wandte sich an Tiane. „Ich muss es riskieren. Die Bestie der Vergangenheit kann niemals begraben werden, wenn sie sich nicht der Zukunft stellt.“ Damit gab er ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund, wirbelte herum und rannte in Richtung Deich davon.
„Das war’s dann wohl“, schnaufte Janos resigniert und blickte dem jungen Mann hinterher. „Duggs Plan ist gescheitert.“
Tiane seufzte nur.
„Wenn er sich wieder an alles erinnern kann, möchte ich nicht gerne in seiner Nähe sein“, sagte Janos und strich mit den Fingerspitzen durch sein Haar.
„Duggs hofft, dass er sich dann auf unsere Seite stellt. Dass er sich dann mehr mit uns identifiziert, als mit dem, der er in seiner Vergangenheit war.“
„Das bezweifle ich.“ Janos schüttelte den Kopf und suchte nach dem Mann, von dem sie gerade sprachen. „Ich muss zusehen, dass ich ihn nicht verliere. Obwohl ich nicht allzu viel Sympathie ihm gegenüber aufbringen kann, werde ich ihm den Gefallen tun und ihn erschießen, ehe er uns wieder wie Schlachtvieh niedermetzelt.“ Er verabschiedete sich mit einem flüchtigen Blick und rannte ebenfalls Richtung Deich davon.
„Ich wünschte, es gäbe eine andere Lösung,“ seufzte Tiane, zögerte kurz und folgte den beiden Männern.
* * *
Lorax konnte nicht sagen, warum er sich für Tui’jin hielt. Der Name klang ihm jedoch so vertraut, so warm, so geborgen, dass er sich zwangsläufig damit in Verbindung brachte. Vielleicht war dies sein Deckname bei den Okkupanten, mutmaßte er, um wenigstens eine Lösung parat zu haben. Je mehr er sich in seinem Geiste diesen Namen vorsagte, desto vertrauter wurde er mit ihm und bald war er davon überzeugt, untrennbar zu diesem Namen zu gehören. Dieser Name war Gewicht. Er war ein Zeichen, eine Legende. Er erzeugte Ehrfurcht und Angst. Er verursachte Schrecken und Panik. Er war der Grund dafür, dass selbst gestandene Männer ihre Beine in die Hand nahmen und um ihr Leben liefen. Lorax fragte sich, warum.
Er erinnerte sich an eine Sequenz mit Janos, in der er den Mann mit wenig Aufwand halb tot geschlagen hatte. Dabei war er der Meinung gewesen, sich nur verteidigt zu haben. Hatten ihn die Okkupanten zu einer schier unschlagbaren Kampfmaschine umgewandelt? Ein solches Training würde Jahre benötigen. Wie lange war er bei ihnen gewesen? Dann erinnerte er sich an seine Kenntnisse über die Jagdmaschinen, die Laserwaffen.. Woher konnte er das alles wissen? All das war nicht in ein paar Monaten beizubringen.
Ein flüchtiges Bild huschte durch sein Bewusstsein, ein sonnendurchflutetes Bild, heiß und brennend. Er sah sich selbst, einen Kampfbomber unter einer sengenden Sonne reparieren.
Lorax blieb mitten auf dem Deich stehen und suchte die Sonne. Die Sonne, die er in seiner Vision gesehen hatte, war heißer, heller, greller und lodernder gewesen. Nicht wie die hier, matt und gerade so ausreichend, um auf diesem Planeten eine Vegetation entstehen zu lassen. Er wusste plötzlich, dass er in seinem Leben schon Dutzende von verschiedenen Planeten bereist hatte.
„Is‘ was?“, riss ihn eine atemlose Stimme aus seinen Gedanken.
Lorax fuhr herum und starrte Janos einen Moment entgeistert an. „Wie lange war ich weg?“
„Hä?“ Janos musterte ihn durch zwei schmale Schlitze seiner Augen.
„Als ich plötzlich verschwand und dann vollkommen verändert wieder auftauchte. Wie groß war dieser Zeitraum?“
Janos zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Ich habe mich nicht um dich gekümmert“, sagte er schnell.
„Waren es Tage, Monate oder Jahre?“, ließ Lorax nicht locker.
„Ich muss gestehen, dass dein Verschwinden bei den meisten nicht sonderlich auffiel. Irgendwann bemerkten wir einfach, dass der Störenfried nicht mehr da war. Die meisten, wie auch ich, haben dich einfach vergessen.“
„Wie viel Jahreszeiten lagen dazwischen?“, versuchte Lorax einen anderen Weg.
Janos schnaufte gereizt. „Frag mich keine Löcher in den Bauch. Du warst mir damals schon gleichgültig und bist es heute auch noch. Und ich denke, dass wir im Moment wichtigeres zu tun haben, als Vergangenheitsbewältigung.“
Die Rast auf dem Deich hatte Tiane die Gelegenheit verschafft, den Vorsprung zu den Männern aufzuholen und kam nun näher.
„Was ist los?“, wollte sie wissen. „Gibt es ein Problem?“
In Lorax Gesicht spiegelte sich undefinierbares wider. „Mir wäre lieber, du würdest im Dorf bleiben“, sagte er tonlos zu Tiane.
Sie sah ihn fragend an.
„Wer weiß, was passiert, wenn die Jagd auf mich eröffnet ist. Geh lieber und hilf den Anderen. Ich versuche, sie vom Dorf weg zu locken, damit es nicht noch mehr Schaden nimmt.“
„Du wirst mich nicht fortschicken“, entgegnete sie nachdrücklich und streckte ihr Kinn energisch vor. „Ich kann gut auf mich selbst aufpassen. Außerdem denke ich, dass du gegen ein paar Dutzend schwerbewaffnete Männer jede Hilfe gebrauchen kannst.“
„Mir ist es ernst damit.“
„Mir auch“, hielt Tiane unbeirrt dagegen.
Lorax wandte sich an Janos. „Sag ihr, sie soll gehen.“
„Wenn du darauf bestehst, dass ich gehe, brauchst du nicht wieder zurück zu kommen“, ließ sie sich mit bitterernster Miene nicht umgehen.
Für einen langen Moment trafen sich ihre Blicke und hielten aneinander fest. Sie schienen sich im stillen zu prüfen, ihre jeweilige Entschlossenheit unter Beweis stellen und sich nur über den Kontakt ihrer Augen zu verständigen. Lorax war derjenige, der sich als erster von dieser Bindung löste und einen fiktiven Punkt in der Ferne über dem Horizont suchte.
„Ich habe Angst um dich“, gestand er, während er den Himmel nach etwas absuchte, ohne genau zu wissen, nach was er eigentlich suchen wollte.
„Ich um dich auch“, erwiderte Tiane und legte eine Hand auf seinen Oberarm. „Wir werden das gemeinsam durchstehen.“
„Ich weiß nicht, was gleich dort hinten passieren wird. Vielleicht werde ich zu dem, was ich einmal gewesen bin – und dann möchte ich nicht, dass du in meiner Nähe bist.“ Seine Augen kehrten zu ihr zurück und musterten sie mit einem Blick, der Tiane beinahe dahin schmelzen ließ. Nie zuvor hatte sie so viel Besorgnis, Leidenschaft und Angst in seinem Gesicht entdecken können, wie in diesem Augenblick. Beinahe schon geriet ihr Entschluss ins Wanken. Eine Bewegung von Janos ließ ihre Entscheidung jedoch wieder festigen.
„Wir werden das gemeinsam durchstehen“, wiederholte sie, diesmal eindringlicher. „Wir haben uns etwas geschworen. Für mich bleibt dieser Schwur für alle Zeiten bestehen, was auch immer passieren wird.“
Lorax atmete tief durch. „An diesen Schwur fühle auch ich mich gebunden. Es ist nur ... „ Er stockte und brauchte zum weiterreden einen weiteren tiefen Atemzug – so, als besäße er Schwierigkeiten, den Sauerstoff aus der Luft herauszufiltern. „Mir ist im Moment ... wie damals, kurz bevor der Damm brach. Die Luft, die ich atme fühlt sich ölig und unangenehm an. Mir ist, als breche mein Innerstes bald unter der Last eines enormen Druckes zusammen. Eine Wolke drohenden Unheils schwebt über unseren Häuptern. In absehbarer Zeit geschieht etwas, wovor ich dich vielleicht nicht beschützen kann.“
„Wenn wir untergehen, dann gehen wir gemeinsam unter“, sagte sie selbstsicher. „Unser Volk hat schon so viel erleiden müssen. Es ist schwer angeschlagen und wird bald gänzlich vom Antlitz dieser Welt verschwunden sein. Die Hoffnung, dass wir es retten können ist klein, doch es gibt sie noch. Sofern auch du daran glaubst und wir auf deine Loyalität hoffen können.“
„Ich habe euch schon einmal enttäuscht“, wusste Lorax. „Es kann wieder geschehen.“
Tiane schüttelte den Kopf. „Nein, wird es nicht. Denn du bist ein anderer geworden. Und du bist nun ein Naturfühler. Du kannst nun die Zeichen verstehen und deuten. Sie können dich nicht mehr verwirren.“
Lorax betrachtete sie einen Moment eingehend. Dann senkte er den Kopf und versank für einen weiteren Moment in grüblerischem Schweigen. Mit einem tiefen Seufzen kehrte er zu ihr zurück. „Du hast Recht. Ich will nie wieder so werden wie ich einmal war. Ich bin nun der Natur verpflichtet und werde tun, was in meiner Macht steht, um Logeyza zu retten.“
„Wenn das einer kann, dann du“, sagte Janos. „Wie wäre es, wenn wir die Sache endlich hinter uns bringen. Wenn die auf uns warten, dann sollten wir sie nicht enttäuschen.“
„Sie warten auf mich“, verbesserte Lorax. „Ihr solltet euch nicht sehen lassen.“ Er setzte sich endlich wieder in Bewegung.
„Ich bin nicht gerade scharf darauf, mich von einem dieser Blitze in meine Bestandteile zerlegen zu lassen“, gab Janos trocken von sich.
Lorax blieb wie angewurzelt stehen und fuhr herum. „Ihr müsst euch etwas besorgen, dass die Energiestrahlen reflektieren kann und dass ihr wie ein Schild vor euch haltet“, sagte er und visierte die beiden an. „Das ist eure einzige Chance zu überleben.“
„Reflektieren?“ Janos überlegte scharf. „So etwas wie ein Spiegel?“
Lorax nickte. „So in etwa. Aber es muss stark und widerstandsfähig genug sein, um der geballten Ladung von Energie standhalten zu können. Sonst geht der Blitz, wie du ihn nennst, hindurch und erschlägt euch.“
„Was könnte dafür geeignet sein?“, wollte Tiane wissen.
Lorax überlegte kurz. Dann glitt sein Blick zu den Wracks im Tal zurück, die noch von der letzten Schlacht dort lagen. Eines davon lag jenseits des Flusses, nahe des Deiches. „Nehmt euch ein Teil der Außenhülle. Sie sind mit einer energieabsorbierenden Legierung beschichtet. Das reicht, um den Strahl abzulenken.“ Er sprang vom Deich auf die Uferböschung und begann den Berg zu erklimmen.
„Also ich für meinen Teil nehme mit diesem Ding hier lieber den Pfad“, sagte Janos und schulterte ein Wrackteil, das beinahe so hoch und so breit wie er war. Lorax war bereits einige Meter an einem ziemlich bröckelig aussehenden Geröll in die Höhe geklettert, während Janos einen Weg folgte, der bald steil in die Höhe Richtung Bergkamm führte.
Bereitwillig kam Lorax heruntergeklettert. „Ich wünschte, manche Dinge würden in mein Erinnerungsvermögen zurückkehren“, gab er etwas sarkastisch von sich. „Ich lebe schon beinahe mein ganzes Leben hier und kann mich nicht an den Pfad erinnern.“ Er nahm Tiane ein Wrackteil ab, das nur halb so groß wie das von Janos war, für Tiane dennoch ziemlich schwer.
„Dafür hast du ja uns“, bemerkte Tiane mit einem süßen Lächeln.
Lorax antwortete mit einem ebensolchen Lächeln und folgte Janos den steilen Pfad hinauf.
* * *
Nach einer halben Stunde kamen sie atemlos am Grat an. Sie legten ihre Blechschilde auf den Boden und schlichen sich vorsichtig bis zu einem Abgrund, der ihnen einen weitreichenden Blick über das nächste Tal offenbarte.
„Ich wusste es“, flüsterte Lorax beinahe triumphierend, als tief unter ihm, zwischen Büschen und Bäumen versteckt zahlreiche große, weiße Körper versteckt lagen. Er konnte zwischen den schlanken Flugmaschinen Bewegung ausmachen. Offenbar bestand die Übergriffmannschaft nicht nur aus Kampfpiloten. Diesmal schienen die Okkupanten auch Bodentruppen mitgeschickt zu haben.
„Auf was warten die eigentlich?“, fragte Janos. „Dass du einfach so hineinplatzt, und Hallo sagst?“
„Vermutlich“, gab Lorax etwas abwesend von sich. „Ihr schleicht euch näher, während ich versuche, um das Lager herumzukommen und mich auf der anderen Seite zu erkennen gebe. Während ich die Bodentruppen weglocke, müsst ihr die Kampfjäger unschädlich machen. Ihr wisst, worauf ihr zielen müsst. Euch bleibt nicht viel Zeit. Wenn sie mich bemerken, werden sie ihre Maschinen startklar machen. Wenn sie auf euch schießen, geht hinter euren Schilden in Deckung.“
„Wir hätten noch ein paar Männer gebrauchen können“, kam Janos zu spät die Erkenntnis.
„Je mehr wir sind, desto eher fallen wir auf.“ Er erhob sich leicht. Sein Blick fiel abermals in die Tiefe, wo sich die Okkupanten aufhielten. Eine Vision schoss ihm durch den Kopf. Für einen Moment sah er sich hoch oben auf einem Berg stehen und mit einem Präzisionsgewehr auf lebendige Zielscheiben schießen. Er hörte die Schreie der Leute, sah wie sie verzweifelt hinter Büschen, Baumstämmen und Felsen Schutz suchten. Er sah sich selbst mit Genugtuung wehrlose Menschen abschlachten. Er sah sich selbst, wie er kalt lächelnd auf alles schoss, was er vor seinem Zielsucher bekam. Ein Gefühl des Triumphes überkam ihm. Ein Gefühl der Überlegenheit, ein Gefühl der unbarmherzigen Gerechtigkeit, so als sei es richtig, was er tat. Ein eiskaltes Kribbeln in seinem Nacken ließ ihn herumwirbeln. Er hatte einen Mann mit einer erhobenen Axt erwartet, doch da stand nur Tiane und blickte ihn überrascht an. Die Vision löste sich in Luft auf. Dennoch blieben gewisse Empfindungen zurück.
„Was ist?“, fragte sie verwirrt.
Lorax schüttelte den Kopf. „Nichts“, sagte er. Das waren sicherlich Erinnerungen gewesen, die zu seinem alten Leben gehörten. Ein Leben, das unter den Trümmern eines Berghanges begraben lag. Er musste es vergessen. „Gehen wir“, rief er zum Aufmarsch. „Wir treffen uns unten.“
Tiane hielt ihn auf. „Viel Glück“, sagte sie und küsste ihn auf den Mund.
„Ihr braucht es nötiger als ich“, gab er zurück und erwiderte den Kuss. Dann riss sich schnell los und rannte den Pfad hinunter ins Tal.
„Ist der Plan geändert worden?“, wollte Janos wissen und blickte dem jungen Mann hinterher. „Ich dachte, ihr spielt Bruder und Schwester. Die küssen sich doch nicht und schon gar nicht auf den Mund.“
„Ich musste improvisieren“, erklärte sie etwas verlegen. „Nach außen hin sind wir noch Bruder und Schwester.“
Janos blickte sie verwirrt an. „Ich verstehe nicht ganz.“
„Ich hätte mich im Affekt beinahe verplappert. Da musste ich mit einer glaubwürdigen Geschichte aufwarten.“
„Aha“, machte Janos, schulterte sein schweres Schild. „Und jetzt spielt ihr Mann und Frau? Oder wie ist das nun? Nur damit ich auch informiert bin?“
„Ich weiß nicht, ob das Bestand hat, wenn er sich wieder an alles erinnern kann. Vermutlich wird er mir als aller Erstes den Kopf abreißen.“ Tiane nahm auch ihr Schild und ging neben Janos den Pfad hinunter.
„Ich an seiner Stelle wäre stinksauer“, bemerkte Janos. „Wollen wir hoffen, dass Duggs Plan funktioniert.“
„Ja“, seufzte Tiane hoffnungsvoll. Sie hätte nichts dagegen, das Mann-und-Frau-Spiel weiter zu führen. Lorax war ein bemerkenswerter Mann, den sie sicherlich vermissen würde.
* * *
Lorax gelang es, unbemerkt um das Lager herumzuschleichen und sich auf der anderen Seite so nahe heranzupirschen, dass er die Gespräche der Männer der Bodentruppen belauschen konnte. Keine drei Meter von seinem Versteck entfernt, saßen zwei Männer in eine Unterhaltung vertieft. Lorax hielt inne, als er den Namen fallen hörte, unter dem er bei den Okkupanten bekannt war.
„Auf was warten wir eigentlich?“, wollte der eine wissen.
Der andere zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ich glaube, bis dieser Tui’jin auftaucht.“
„Ich dachte, der ist tot.“
„Das dachten alle. Ich glaube, es ist was wahres dran, an dem, was man über ihn sagt.“
„Was denn?“
„Der Typ ist nicht normal. Er ist nicht tot zu kriegen. Und wer ihm in die Quere kommt, hat sein letztes Sekündlein erlebt.“
„Ich verstehe trotzdem nicht, warum wir auf ihn warten. Soviel ich weiß, ist er doch von den Primitiven umgedreht worden. Dann ist er jetzt doch unser Feind – sozusagen.“
„Ich weiß auch nicht, was Lekku damit beabsichtigt. Ich hätte schon längst das Dorf platt gemacht, in welchem er sich aufhalten soll.“
„Ich denke Gekorj und Lekku haben vor Tui’jin eine Scheißangst. Ich habe gehört, dass Gekorj von Anfang an vorhatte, ihn zu verheizen. Dieser presporianische Killer verlangte für diesen Job hier so viel Honorar, dass Gekorj nichts anderes übrig blieb, als ihn letzten Endes umzubringen.“ Er fuhr herum und blickte in die Richtung, in welcher sich Lorax in einem Busch verbarg. „Was war das?“
„Bestimmt irgend so ein Vieh“, tat es der andere ab. „Je eher wir von diesem Planeten fortkommen, desto besser. Hier scheinen sogar die Felsen zu leben. Das ist unheimlich.“
„Diese Primitiven mit ihrem Naturtick“, tat es auch der andere ab.
Lorax kroch geräuschlos weiter und pirschte sich an eine andere Gruppe von Männern heran, die tatenlos herumstanden und ebenfalls in ein Gespräch vertieft waren. Dann entdeckte er im Hintergrund jenen kleinen Dicken, dem er bereits einmal begegnet war. Jener Dicke, der ihn mit weit aufgerissenen Augen und überraschtem Gesicht Tui’jin genannt hatte. Tief in einem ausladenden Busch verborgen, sammelte Lorax seine Konzentration und lauschte der Natur. Er hoffte, dass sie ihm etwas über die Empfindungen dieses Mannes erzählen konnte. Doch alles was er wahrnahm, war die ölige, schwer atembare Luft und das eiskalte Kribbeln in seinem Nacken, dass ihn nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr losließ. Er wusste, dass er sich in unmittelbarer Gefahr befand. Er war nun für die Okkupanten ein nicht einzuschätzender Gegner, vor dem sie soviel Angst hatten, dass sie auf seinen ersten Schritt warteten.
Er dachte kurz über die Bezeichnung „presporianischer Killer“ nach – was das wohl zu bedeuten hatte. Und wieso er für die Ermordung eines ganzen Völkerstammes ein so horrendes Honorar verlangen konnte, welches den Distriktverwalter von Logeyza in den Ruin treiben konnte.
Lorax stutzte. Woher wusste er, dass Gekorj – Mornt Gekorj – der Distriktverwalter war? Sicherlich aus seiner Zeit als Infiltrator. Da musste er zwangsläufig mit dem Anführer der Okkupanten zu tun gehabt haben. Aber Gekorj hatte ihn doch gefangen genommen, einer Gehirnwäsche unterzogen, in diversen Dingen unterweisen lassen und wieder als Störenfried auf seine eigenen Leute gehetzt. Wie konnte Lorax da in der Position sein, für seine Dienste auch noch ein Honorar zu verlangen?
Die Antwort musste er auf später verschieben, denn Lekku hatte sich in Bewegung gesetzt und kam geradewegs auf Lorax Versteck zu, so als wüsste er genau, wo er sich verborgen hielt. Er wandte sich jedoch an die Gruppe Männer, die nur wenige Schritte von Lorax entfernt standen. Lekku schickte sie auf Erkundung den Hang hoch, um nachzusehen, was die Dorfbewohner trieben. Die Männer setzten sich augenblicklich in Bewegung und Lekku blieb allein zurück. Gedankenverloren blieb er stehen, wo er von den anderen verlassen wurde. Die Gelegenheit für Lorax. Vorsichtig kam er aus seinem Versteck, schlich sich lautlos in Lekkus Rücken an und schnappte ihn sich, ehe dieser auch nur einen Mucks von sich geben konnte.
„Du hast auf mich gewartet, hörte ich“, zischte Lorax leise, während er ihn in den Schutz des Busches zerrte. Lekku war beinahe starr vor Schreck und ließ sich willenlos mitschleppen. Lorax bezweifelte, dass Lekku es gewagt hätte zu schreien, auch wenn er ihn nicht mit einem Hand den Mund knebelte. Lekku schien sich beinahe vor Angst in die Hosen zu machen. Der plötzliche Schweißausbruch und das verängstigte Zittern in dessen Leib waren für Lorax ein untrüglichen Anzeichen dafür.
Niemand hatte das Verschwinden des Dicken bemerkt. Als sie weit genug vom Lager entfernt waren, um noch durch Rufen auf sich aufmerksam zu machen, hielt Lorax an und lockerte den Knebelgriff.
„Du solltest mich besser nicht unterschätzen“, sagte er leise.
Lekku schüttelte den Kopf, so vorsichtig und heftig, es der Griff um sein Kinn zuließ.
„Wenn ich dich loslasse, wirst du so laut um Hilfe schreien, wie du kannst“, zischte Lorax.
Abermals schüttelte Lekku den Kopf.
„Du wirst schreien“, wusste es der Jüngere besser, drückte mit dem Daumen auf einen bestimmen Nerv im Nacken seines Opfers und entließ gleichzeitig dessen Mund, damit dieser seinen Schmerzensschrei ungehemmt ausstoßen konnte.
Lekku kreischte. Seine Stimme überschlug sich. Lorax ließ ihn fallen und entschwand im Dickicht. Nur wenige Augenblicke später wimmelte es nur noch so von Soldaten, die durch Lekkus hektisches Gefuchtel und röchelndes Gestöhne wie aufgescheuchte Hühner durch das Dickicht hasteten. Doch vergeblich. Der Angreifer blieb verschwunden.
Wenig später krachte es im Lager, wo die in den Cockpits wartenden Piloten allein zurückgeblieben waren. Eine Feuerfontäne schoss gen Himmel. Wrackteile, Holzsplitter und brennende Teile wurden in alle Richtungen davon geschleudert und setzten trockene Büschel und Gras in Brand. Lekku fluchte und musste sogleich hinter einem Baumstamm in Deckung gehen, als der nächste Jäger explodierte. Lorax Plan war es offensichtlich gewesen, die Bodentruppen von den Jägern fortzulocken, damit seine Leute die Jagdmaschinen zerstören konnten. Er brüllte vor Wut. Gekorj würde ihm persönlich den Hals umdrehen, wenn auch die letzte seines teuren Verteidigungsgeschwaders in Rauch und Asche aufging.
Lorax machte sich so schnell es die Gegebenheiten und die Örtlichkeiten erlaubten auf den Weg zu den anderen, um ihnen zu helfen, die Jagdmaschinen so rasch wie möglich zu vernichten. Er bemerkte, dass sie sich aufgeteilt hatten. Beinahe gleichzeitig gingen zwei Jäger in die Luft – auf zwei verschiedenen Seiten des Lagers. Lorax eröffnete daher eine dritte Front und zielte auf die empfindliche Landedüse auf der Backbordseite. Mit einem einzigen gezielten Schuss verwandelte er die ganze Düse in Schrott. Funken stoben aus der ausgefranzten Öffnung und wenig später detonierte der Jäger. Der Betreiber der Jäger schien die Schwachstelle offenbar nicht für gewichtig genug zu halten, um sie auswechseln oder ausbessern zu lassen – was sicherlich eine Zeit- und vor allem eine Kostenfrage darstellte. Ein Glück für die Logeyzaner, denn dadurch gelang es ihnen, fünf der sechzehn Jagdmaschinen in unbrauchbares Altmetall zu verwandeln.
Die restlichen starteten in den Himmel und waren nun für die Schützen mit den Handwaffen schwerer zu erreichen. Lorax steckte seine Waffe in den Gürtel und sprintete los. Ein letzter stand noch auf dem Boden. Dieser musste warten, bis seine Kameraden in der Luft waren, ehe er selbst aufsteigen konnte. Der Luftraum war sprunghaft rar geworden, sodass er sich in Geduld üben musste, um einer Kollision der startenden Maschinen zu entgehen. Lorax hechtete auf die Kanzel, hieb auf den Auslöser für den Öffnungsmechanismus und riss die Transpariglaskapsel auf, noch ehe sie sich gänzlich öffnen konnte. Der Pilot trug einen Helm und war zudem angeschnallt. So konnte er ihn weder mit einem Hieb auf den Kopf unschädlich machen, noch ihn einfach aus seinem Sitz reißen. Lorax wuchtete seine Faust in das flache Gerät auf der Brust des Piloten, das die Atmung im sauerstoffarmen Höhen regulieren sollte und ihm half, bei scharfen Wendungen und Manövern nicht das Bewusstsein zu verlieren. Das Gerät gab dem Druck nach und bohrte sich in die Brust des Piloten, der daraufhin einen röchelnden Laut von sich gab und nach vorn über kippte. Schnell öffnete Lorax den Gurt des Piloten, zerrte den besinnungslosen Mann von seinem Sitz, ließ ihn einfach zu Boden plumpsen und setzte sich selbst auf den Pilotensitz. Er vermochte nicht zu sagen, woher er die Kenntnisse über diese Flugmaschinen besaß. Er wusste jedoch, dass er sie fliegen konnte und irgendwo in seinem Kopf war auch gespeichert, dass er ein verdammt guter Pilot war.
Schnell schloss er die Kanzel und betätigte einige Hebel und Knöpfe. Er zerrte an dem Steuerknüppel und die Maschine schoss senkrecht in die Höhe. Ein kleiner Ruck nach rechts und der Jäger kippte folgsam nach steuerbord. Eine kleine Korrektur und schon hatte er den ersten Jäger in seinem Zielsucher. Der Mann musste mehr als überrascht gewesen sein, als er von seinem eigenen Kameraden abgeschossen wurde. Schnell suchte sich Lorax ein weiteres Ziel, solange noch die Verwirrung unter den anderen Piloten herrschte. Es dauerte in der Tat nicht lange, bis er einen weiteren Kameraden unfreiwillig zur Landung zwang und auf dem Manövercomputer ein bislang grüner Punkt in Rot wechselte. Sie hatten die Sachlage erkannt und das gekaperte Schiff als Feind deklariert. Lorax musste nun den grünen und roten Blitzen aus den anderen weißen Jagdmaschinen ausweichen. Die anderen Piloten mussten sich jedoch gewaltig anstrengen. Geschickt tänzelte er zwischen den anderen hindurch und schickte seine Salven genau im richtigen Moment aus den Laserbatterien unter seinen Tragflächen. Nicht selten fanden sie ihr Ziel und so dezimierte Lorax das Geschwader langsam aber stetig.
So holte er sechs weitere Jäger vom Himmel, ehe es ihn schließlich doch noch erwischte. Das eiskalte Kribbeln in seinem Nacken kam einen Augenblick zu spät, sodass er den Steuerknüppel einen Hauch zu spät herumriss und mit seinem linken Tragflügel geradewegs in eine Salve hineinflog. Der Flügel blieb beinahe in der Luft stehen, während Lorax versuchte, die sofort ins Trudeln geratene Maschine abzufangen. Er zerrte heftig am Steuerknüppel, doch der Sturz würde dennoch sehr hart werden. Er versuchte noch, in Buschwerk und niedere Bäume zu lenken, doch kurz vorher traf ihn ein weiterer Laserschuss und zerfetzte den Bug und die Kanzel. Schützend hob er die Hände vor sein Gesicht und spürte auch schon den harten Aufprall, der ihn schmerzhaft in das Sitzpolster und gegen die Konsole knallen ließ. Er kämpfte mit der Besinnung und atmete einige Male tief durch, ehe er sich wieder unter Kontrolle besaß. Offenbar war nichts gebrochen, bemerkte er, als er seine Gliedmaßen bewegte. Über ihm zischten die anderen Jäger hinweg und schickten weitere Salven tödlichen Lichtes zu ihm hinunter. Er duckte sich tief in die Kanzel und sprang sofort wieder auf, als sie ihn passiert hatten und zu einer Wende ansetzten. Er wusste, er musste das Wrack sofort verlassen. Das schützende Buschwerk war etwa hundert Meter entfernt. Wenn er schnell genug war, konnte er sich dort verstecken und sie würden ihn zwischen all den Bäumen und Grünzeug aus den Augen verlieren. Er sprintete los, noch ehe die Jäger ihre Kehre vollenden konnten. Es waren noch ungefähr zwanzig Meter zur schützenden Waldgrenze, ehe ihn die erste Lasersalve beinahe zum straucheln brachte. Er musste über rote Lichtblitze hechten und sich unter einer grünen hinweg ducken. Eine weitere versperrte ihm den Weg und er legte eine Vollbremsung ein, bevor er geradewegs in sie hineinlief. Dabei rutschte er auf dem kiesigen Boden aus. Geschickt rollte er sich ab, sprang wieder auf die Beine und sprintete weiter. Noch zehn Meter vor der Waldgrenze holte ihn die zweite Welle Laserfeuers ein. Nur knapp an seinem Kopf raste die erste Salve vorbei. Eine zweite säumte seinen Weg. Eine dritte spritzte quer vor ihm Kies, Sand, Geröll und Staub auf. Lorax sprang in die Staubwolke und knickte zur Seite. Wieder rollte er sich schnell ab und musste gleich wieder in Deckung gehen, als ihn eine weitere Salve nur knapp verfehlte.
Sofort sprang er wieder auf und wollte weiterlaufen, doch eine weitere Salve bahnte eine tiefe Rinne in den Boden vor ihm, sodass er zum stehen bleiben angehalten wurde. Eine zweite versperrte ihm die Flucht zur Seite. Eine dritte den Rückweg. Lorax war eingekesselt von tödlichen Lichtblitzen. Er duckte sich tief zu Boden, schützte seinen Kopf und sein Gesicht so gut er konnte. Aufspritzende Gesteinsbrocken schnitten ihm schmerzhaft in die Hände. Ihm blieb keine andere Wahl mehr, als aufzugeben. Er hatte wohlweislich bemerkt, dass sie ihn nicht töten wollten. Das hätten sie längst tun können. Offenbar wollte ihn Gekorj lebend haben.
Aus dem niederen Wald brachen mehrere Dutzend bewaffnete Männer, die einen immer enger werdenden Kreis um den einzelnen Mann zogen, der sich nun bedächtig, aber schwer atmend aufrichtete.
Zwischen ihnen arbeitete sich Lekku in die erste Reihe. Ein breites Grinsen verunstaltete sein fettes Gesicht. Vor dem jungen Mann, der wie einer dieser Primitivlinge gekleidet war, die er so hasste, baute er sich auf und betrachtete ihn geringschätzig.
„Du solltest mich nicht unterschätzen, Tui’jin“, krächzte Lekku. „Ich konnte dich noch nie ausstehen. Daher wird es mir ein Vergnügen sein, dich persönlich einem Tribunalgericht vorzuführen. Sie werden dir für deinen Verrat deinen arroganten Kopf abschneiden.“
Lorax sagte nichts. Ihm fehlte zuviel seiner Erinnerung, als dass er eine passende Bemerkung hätte hervorbringen können.
„Führt ihn ab“, befahl Lekku barsch. Doch dann hob er eine Hand. „Halt! Wartet! Einen Moment noch.“ Er nahm seine Waffe fester in die Hand. „Eine kleine Revanche“, sagte er heißer. Dann rammte er den Lauf seiner Waffe geradewegs in die Rippen seines Opfers. Jedoch hatte er nicht mit dessen schnellen Reaktion gerechnet. Lorax war im letzten Moment zur Seite gewichen und rempelte nun den Mann um, der ihm zuvor Handschellen anlegen wollte, jedoch durch Lekku davon abgehalten worden war. Dieser verlor durch diese plötzliche Handlung das Gleichgewicht, riss die Arme hoch und versetzte dabei seinem Vorgesetzten einen unbeabsichtigten Hieb gegen das Kinn. Lekku taumelte rückwärts, stolperte und landete plump auf seinem Hosenboden. Durch die aufsteigende Tränenflut erkannte er noch, dass sich eine Handvoll Männer auf Tui’jin geworfen hatten, um den vermeintlichen Fluchtversuch zu vereiteln. Dieser wehrte sich nach Leibeskräften und ließ einige Kiefer und Rippenknochen krachen. Ein handfestes Gerangel war entstanden.
„Aufhören!“, schrie Lekku und rappelte sich auf die Beine. „Sofort aufhören!“
Tui’jin stand keuchend zwischen sechs oder sieben Männer, die allesamt deutliche Spuren davongetragen hatten. Ein kleines Blutrinnsal rann ihm übers Kinn. Eine Schürfwunde über einem Auge – mehr schien er nicht davongetragen zu haben.
„Hört sofort auf damit.“ Hektisch wischte Lekku den Staub von sich und scheuchte die beherzten Männer in ihre Reihen zurück. „Die Hauptverwaltung will ihn lebend.“ Er wandte sich an Lorax. „Du hast der Direktion eine Menge Unkosten verursacht, die sie sicherlich ersetzt haben möchte. Ein Toter kann keine Rechnungen begleichen. Daher bekommst du noch Gnadenfrist, bis die Schuld für deinen Hochverrat beglichen ist.“ Er wirbelte herum, so behände er es mit seiner Leibesfülle schaffte und stampfte davon.
Lorax fragte sich, wie ihn Lekku des Hochverrates bezichtigten konnte. Er war von den Okkupanten annektiert und sozusagen für ihre Zwecke umerzogen worden. Dass er irgendwann zu seinen Wurzeln zurückkehrte, damit hätten sie rechnen oder es vielleicht auch einkalkulieren müssen. Er schwieg jedoch. Die Zeit für Fragen würde sicherlich noch kommen.
In Anbetracht der Masse an Gegnern fügte sich Lorax lieber und setzte sich mit ihnen in Bewegung, als sie ihrem Vorgesetzten folgten. Nach ein paar Schritten musste er arg an sich halten, um sich nicht in den Nacken zu greifen. Ein plötzlich auftauchendes eiskaltes Kribbeln hatte selbst ihm einen Schreck versetzt. Zugleich wusste er aber auch, was dieses Warnzeichen zu bedeuten hatte. Janos! Er selbst hatte ihn darum gebeten.
Lorax besaß den Mut aufrecht zu bleiben, obwohl er genau wusste, dass er im nächsten Moment von einem tödlichen Energieblitz getroffen werden würde. Kaum hatte sich dieser Gedanke in ihm geformt, als etwas mit beinahe lautlosem Zischen herangeschossen kam und sich mit unbarmherziger Härte in seinen Rücken bohrte. Unsagbarer Schmerz machte sich in ihm breit. Er wurde vorwärts geschleudert und fiel haltlos in undurchdringliche Schwärze.
* * *
Janos schnalzte beeindruckt mit der Zunge. „Ein Teufelskerl“, entwich es ihm, während er der Luftschlacht zusah. Die Piloten in den Flugmaschinen hatten zu lange gebraucht, um zu merken, dass einer unter ihnen ein falsches Spiel trieb. „Zwei, drei, vier, fünf, sechs“, zählte Janos die Abschüsse und musste sich festhalten, als Lorax mit zwei Fliegern im Schlepptau nur wenige Meter über ihren Köpfen hinwegraste und die Bugwelle den Baum, in dessen dichter Krone sich Janos und Tiane verschanzten, heftig schüttelte. „Wenn er so weitermacht, gewinnt er diesen Krieg ganz allein.“
„Unterschätze die Okkupanten nicht“, ermahnte ihn Tiane mit gedämpfter Stimme. „Außerdem laufen da unten noch bestimmt fünfzig, wenn nicht sogar hundert Männer herum. Die werden sich auf uns stürzen; und wir sind nur zu dritt.“
„Verdammt!“, fluchte Janos und kletterte einen Ast höher. „Es hat ihn erwischt. Er ist direkt hineingeflogen.“
„Wo hineingeflogen?“, wollte Tiane wissen, ohne wirklich mitzubekommen, um was es eigentlich ging.
„Verdammt!“, fluchte Janos abermals. „Er stürzt ab.“ Er schickte sich an, vom Baum zu klettern, doch gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, dass dort unten schwerbewaffnete Männer durch auf eine solche Gelegenheit gewartet hätten, um jemanden Unvorsichtigen wie Janos vor ihre Mündung zu bekommen.
Tiane entdeckte jetzt den rauchenden weißen Vogel, der im Tiefflug beinahe direkt auf sie zukam. Sie zog schon den Kopf ein, doch da wurde die Maschine von einem weiteren Blitz getroffen und sackte daraufhin wie ein Stein plump und Sand, Staub, Geröll und zerfetzte Vegetation aufspritzend auf den Boden.
„Glaubst du, er hat es überlebt?“ Sie hielt den Atem an.
„Lorax schon“, gab Janos zuversichtlich von sich. „Der hat schon andere Dinge überlebt. Der ist nicht tot zu kriegen.“
„Wir müssen ihm Feuerschutz geben“, sagte sie erleichtert, als sie eine Gestalt aus dem Wrack klettern sah. „damit er in den Wald laufen kann.“
„Feuerschutz?“, rief Janos halblaut. „Gegen diese Ungetüme dort?“ Er deutete auf die verbliebenen Flugmaschinen, die eine Kurve flogen und offenbar zurückkehren wollten. „Nur Lorax ist in der Lage, die im Flug zu treffen.“ Janos hielt inne. „Die schießen auf ihn.“
„Aber sie treffen ihn nicht.“
„Sie wollen ihn nicht treffen.“
„Wie können wir ihm helfen?“
„Gar nicht. Wir müssen abwarten.“ Janos beobachtete das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Einerseits hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass dieser Killer endlich wieder von der Bildfläche verschwand. Andererseits musste er eingestehen, dass ihnen nichts besseres passieren konnte, als dass Lorax auf ihrer Seite der Front kämpfte.
Janos keuchte angespannt, als Lorax umzingelt wurde und suchte nach seiner Waffe.
„Was hast du vor?“, wollte Tiane wissen, die gerade im richtigen Moment kurz nach Janos sah.
„Ein Versprechen einlösen“, gab dieser knapp von sich und überprüfte kurz die Energieladung seiner Waffe. Als er die Hand hob, um die Anzeige vor die Augen zu heben, stieß er an einen Ast, die Waffe glitt ihm aus den Fingern und fiel herunter.
„Verdammt!“, fluchte er herzhaft. Zum Glück im Unglück befanden sich die noch vor wenigen Minuten unter ihrem Baum herumwuselnden Männer nun alle um Lorax versammelt. Sein Kopf fuhr hoch. „Du musst es tun.“
„Was tun?“
„Lorax erschießen.“
„Niemals!“
„Du musst es tun. Ich habe es ihm versprochen.“
Tiane schüttelte energisch den Kopf.
„Du musst es tun. Er will nicht wieder in die Hände der Okkupanten fallen. Außerdem kann er dann keine Geheimnisse mehr verraten. Tu es!“
Tiane schluckte hart und angelte zögernd nach ihrer Waffe.
„Tu es!“, zischte Janos und funkelte sie fordernd an.
Äußerst widerwillig suchte die junge Frau in ihrem Zielsucher nach der Person, nach der sie sich im Moment am meisten sehnte und die sie lieber umarmt, als getötet hätte. Doch Janos hatte Recht. Lorax wusste zuviel über sie, als dass er am Leben bleiben durfte. Und wenn sein Erinnerungsvermögen wieder vollständig zurückgekehrt war, würde er als erstes Rache an dem ohnehin schon stark angeschlagenen Volk nehmen wollen. Gerade als Lorax abgeführt wurde und vollkommen frei zwischen zwei Baumwipfeln auftauchte drückte sie ab. Gerade noch rechtzeitig, bevor eine Tränenflut über sie hereinbrach.
* * *
Das erste, was Tui’jin fühlte, als er erwachte, war kalte Leere. Ein Gefühl, dass er stets verspürte, wenn er sich im Weltraum aufhielt. Er brauchte die Natur, wusste er jetzt. Er musste sie fühlen, er musste sie hören, er musste mit ihr sprechen können. Er musste ein Teil von ihr sein. Er brauchte eine Umgebung voller Leben. Er brauchte festen Boden unter den Füßen und um sich herum lebendige Natur. Das wusste er jetzt – jetzt, da er von seinen wahren Fähigkeiten erfahren hatte und jetzt da er ein Naturfühler war. Der luftleere Raum war ihm schon immer unangenehm. Er hatte sich in den Weiten des Universums nie richtig wohl gefühlt. Deswegen war er auch froh gewesen, als ihn heimelige Wärme durchströmte, sobald er seinen Fuß auf logeyzanischen Boden setzte. Es hatte ihn sofort mit Wohlwollen erfüllt und er schwor sich damals, irgendwann wieder nach Logeyza zu kommen – sofern es den Planeten noch gab, nachdem er seinen Job erledigt hatte.
Einzig die zähe Flüssigkeit, in der er schwamm, spendete ihm etwas Trost. Sie war organisch und voller mikroskopischer Kleinstlebewesen, die den Heilungsprozess seines Körpers optimierten und förderten. Er ließ sich von ihnen verwöhnen, ließ sie in jede einzelne seiner Zellen eindringen und ihre Arbeit verrichten. Er ließ sich von ihnen liebkosen, umfangen, vereinnahmen und umsorgen und ging gänzlich in dem Gefühl auf, von quicklebendigem Leben umgeben zu sein – auch wenn es nur mikroskopisch winzig war.
Er erinnerte sich an die letzten Sekunden vor seinem Wiedererwachen. Er erinnerte sich an Janos Versprechen, ihn zu töten, sobald ihn die Okkupanten in die Hände bekamen. Doch der Logeyzaner war ein lausiger Schütze. Er musste ihn nicht richtig getroffen haben, sondern nur schwer verletzt. Er schwor sich, Janos beizeiten einige Tipps zu geben.
Tui’jin öffnete die Augen. Die Schutzbrille, die seine Augen vor der Flüssigkeit schützte, war nur mäßig durchsichtig. Sie ließ gerade noch so viel Helligkeit zu ihm durchdringen, wie er feststellen konnte, dass der Raum, in dem der Tank mit der Heilflüssigkeit stand, hell erleuchtet war. Er bewegte vorsichtig seine Gliedmaßen. Sie gehorchten ihm nur schwerfällig und träge. Wie viel Zeit seit seiner Festnahme auf Logeyza vergangen war, vermochte er nicht zu sagen. Der Schwere seiner Gliedmaßen nach zu urteilen, musste es eine Ewigkeit sein. Tui’jin wusste aber, dass es nur einige Tage sein konnten. Denn die Organismen in der Heilflüssigkeit brauchten weniger als sieben Tage, um einen Körper vollständig zu heilen – auch wenn er schwerste Verletzungen davongetragen hatte. Er brauchte nur etwas Geduld, dann würden alle seine Fragen beantwortet werden.
Gedankenverloren, beinahe sehnsüchtig, dachte er an Tiane. Er vermisste sie bereits jetzt schon. Er sehnte sich nach ihrem Duft, ihrer zarten Haut und ihrem warmen Blick. Er sehnte sich nach dem Gefühl, dass sie in ihm verursachte.
Er vermisste den Blick über das Tal, wenn er bei ihrer Behausung vor die Türe trat. Er musste unwillkürlich lächeln, als er an die Wohnhöhle dachte. Tui’jin war beileibe komfortableres gewohnt, hatte schon in den teuersten Unterkünften und den kostbarsten Stoffen geschlafen. Früher war ihm das beste Essen nicht gut genug gewesen und hatte an vielem herumgemäkelt. Unter der Obhut von Tiane genügte ihm schon ein einfacher Eintopf aus einfachem Wurzelgemüse. Warme Gefühle keimten in ihm auf, als er an ihr Lächeln dachte, mit dem sie ihm Kantiffer-Eintopf, Kräutertee und im Holzofen selbstgebackenes Brot servierte. Früher hätte er dieses Menu nicht einmal mit einem Wimpernzucken bedacht. Er sehnte sich nach dem herben Geschmack der Kantiffer zurück und dem bitteren Kräutertee zurück. Es hätte alles so schön sein können, wenn er nicht unbedingt hätte Held spielen müssen.
Dann durchzuckte ihn urplötzlich eine einschneidende Erkenntnis und er versteifte sich.
Diesen Gedanken weiterzuverfolgen, wurde ihm jedoch versagt, denn eine sprunghaft erschienene helle Aufruhr um ihn herum, riss ihn jäh in die Wirklichkeit zurück. Die Mikroorganismen und mit ihnen die Heilflüssigkeit geriet in Bewegung. Ihm war es, als flüchteten die Organismen, als flohen sie in wilder Panik von ihm weg. So als verwandelte er sich von einer Sekunde in die andere in eine Bestie, die nichts anderes im Sinn hatte, als diese Handlanger, die ihn gesund gepflegt hatten, zu Milliarden zu verschlingen.
Ein stetiger Strom zog ihn mit der Flüssigkeit nach unten und gleichzeitig wurde er nach oben gezerrt. Für einen Moment gedachte er, sich gegen diese Aufwärtsbewegung zu wehren. Er wollte inmitten der Organismen bleiben. Denn er wusste, wenn er die Flüssigkeit verließ, würde er umgeben sein von vollkommener kalter Leere. Eine Leere, die ihm mehr als irgendwann in seinem Leben unbehaglich vorkam. Er war zu schwach, um sich gegen den Sog nach oben zu wehren. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Zudem besaß ihn das, was ihn nach oben zog so fest im Griff, dass es auch unmöglich gewesen wäre, wenn er bei besten Kräften und Gesundheit wäre.
Kälte umfing ihn, als die Flüssigkeit abgelaufen war und er der Luft ausgesetzt wurde. Er fühlte kühle Hände auf seinem Körper, die ihn packten und auf eine kalte Bahre legten. Die Schutzbrille und das Atemgerät wurde ihm abgenommen. Grelles Licht und kalte, schneidende Atemluft stürzten auf ihn ein.
„Monsoir Tui’jin“, sagte eine merkwürdig gekünstelt klingende Stimme dicht an seinem Ohr. „Monsoir Tui’jin, können sie mich hören?“
Tui’jin blinzelte in das grelle Licht. Ihm war kalt. Er zitterte. Dann legte jemand eine warme Decke über ihn und es ging ihm beinahe schlagartig besser. Er versuchte etwas zu sagen, doch seine Stimme versagte ihm und über seine Lippen kroch nichts weiter als ein heißeres Keuchen.
„Sie befinden sich auf einem Lazarettschiff der nourisch-zelfischen Handelsföderation“, erklärte die künstliche Stimme, die offenbar einem Roboter gehörte. „Die letzten fünf Tage verbrachten sie in einer Heillösung. Sie sind nun weitgehend genesen und werden zur Weiterbehandlung auf die Station gebracht.“
Tui’jin ergab sich seinem Schicksal. Er war im Augenblick ohnehin zu nichts anderem fähig. Müdigkeit befiel ihn und er schloss erschöpft die Augen. Er bemerkte noch, wie sich seine Bahre bewegte und die Lichtverhältnisse einige Male wechselten, dann sank er wieder in einen traumlosen Schlaf.
* * *
Es war die Erkenntnis, die Stimme zu kennen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe lautstark bemerkbar machte und ihn damit aus seinem erholsamen, aber traumlosen Schlummer riss. Tui’jin öffnete die Augen und blickte sich um. Der Raum war abgedunkelt. Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch ein dünnes Milchglaselement in der Türe, die das Zimmer, in dem er sich befand von dem nächsten trennte. Hinter dem Glaselement bewegten sich Gestalten, die offenbar lautstark miteinander stritten. Eine dieser Stimmen gehörte einem guten Bekannten.
„Baltique!“ strengte Tui’jin seine Stimme an und unterdrückte den Hustenreiz. Das Atemgerät hatte offenbar eine leichte Entzündung seiner Atemwege verursacht.
Die Türe glitt mit einem leisen Zischen zur Seite und außer einer stämmigen, grobschlächtigen Gestalt drängten sich noch zwei weitere herein, die Tui’jin sogleich als Mitglieder der Sicherheitseinheit der Handelsföderation erkannte, für die er zuletzt tätig war.
Die massige Gestalt schob die beiden weitaus schmächtigeren Männer einfach zur Seite und stürmte an Tui’jins Bett.
„Endlich bist du wach!“, rief Baltique erleichtert. „Wurde aber auch Zeit. Diese Clowns hier wollten mich nicht zu dir lassen. Dabei muss ich unbedingt vorher mit dir reden, sonst kann ich keine Gegenargumente hervorbringen.“
Tui’jin schüttelte den Kopf. Seine Sinne schwirrten ihm. Zuviel war in diesem Augenblick auf ihn eingestürzt. „Was ist hier eigentlich los?“, wollte er wissen.
„Du bist des Hochverrates an der Handelsföderation angeklagt. Die Hauptverwaltung will deinen Kopf rollen sehen. Ich bin als dein Verteidiger ernannt worden. Doch wenn ich nicht weiß, was wirklich geschehen ist, haben wir nicht viel Chancen bei der Verhandlung.“
„Welche Verhandlung?“
„Die Verhandlung, die in vier Stunden deine Hinrichtung bestimmen wird.“
„Sie retten mir das Leben, um mich dann wieder hinzurichten?“ Tui’jin brachte es nur zu einem leidlich hohnvollem Grinsen.
„Jetzt erzähle mir mal hübsch brav der Reihe nach, was auf Logeyza geschehen ist“, forderte Baltique, der Mann, mit dem er in der Vergangenheit schon so manche Geschäfte abgeschlossen und der ihm schon so manchen lukrativen Auftrag verschafft hatte. „Du sollst dich angeblich auf die Seite der dort lebenden Wilden geschlagen und die Leute des hiesigen Distriktverwalters ermordet haben. Sie sagen, du hättest einen Jäger gestohlen und beinahe die ganze Verteidigungseinheit vernichtet. Das klingt irgendwie überhaupt nicht nach dem Tui’jin, den ich kenne. Also – ich würde gerne deine Version der Geschichte hören.“
Tui’jin sank in die Kissen zurück und starrte für einen Moment an die Decke. „Es sind keine Wilden“, begann er dem Mann, den er im Augenblick als einzigen Freund und Verbündeten zählen konnte, alles was auf Logeyza vorgefallen war, zu erzählen. Wer auch immer Fontier Baltique zu seinem Verteidiger ernannt hatte, wusste auch sicherlich, dass es keinen besseren Mann im ganzen Universum gegeben hätte. Baltique war ein Kämpfer und stand bis zur letzten Faser voll und ganz hinter seinen Überzeugungen. Er focht mit allen Mittel für die Durchsetzung seines Zieles, solange er davon überzeugt war und solange es der Gerechtigkeit diente. Und in den meisten Fällen erreichte er sein Ziel. Umstände, die Tui’jin stets zu schätzen gelernt hatte.
„Und du wusstest bis zum Schluss nicht, wer du wirklich bist?“, resümierte Baltique, als Tui’jin beinahe eine ganze Stunde erzählt hatte.
„Nicht genau. Es flammten immer wieder Visionen auf, doch die verpufften ebenso schnell wieder. Ich weiß nicht, was für ein Zeug die mir verabreicht haben und wie sie es geschafft haben, es mir unterzujubeln...“ Plötzlich wusste er es. Eine Vision, die sich wie ein Blitz in sein Dasein hineinstahl – Tiane und ihr bitterer Kräutertee. „Es sorgte dafür, dass meine Erinnerungen im Verborgenen blieben.“
„Und warum hast du diesem Kerl – diesem Janos – gesagt, er soll dich erschießen?“
„Ich lebte in einer anderen Welt. Ich war ein anderer. Die Geschichten, die sie mir auftischten, waren für mich Realität. Ich nahm sie bereitwillig an, weil ich nichts anderes kannte. Ich besaß keine Vergangenheit mehr. Ich wurde zu einer fiktiven Gestalt. Eine Gestalt, die Dugg, Tiane, Janos und wer weiß noch alles erfunden haben.“ Er schloss die Augen und unterdrückte das Gefühl von Wut, Rache und die peinliche Erkenntnis überrumpelt und manipuliert worden zu sein.
„Hast du eine Ahnung, warum sie das getan haben?“, wollte Baltique wissen.
„Die Handelsföderation zerstört ihren Planeten und raubt ihnen ihre Lebensgrundlage“, erklärte Tui’jin. „Sie sind dem unweigerlichen Niedergang – dem schier nicht mehr zu vermeidendem Tod geweiht, wenn die Handelsföderation nicht schleunigst ihre Finger von Logeyza lässt.“
„Und was ist mit diesem Naturfühlerquatsch?“
„Das ist kein Quatsch“, hielt Tui’jin entschieden dagegen. „Du weißt doch, dass ich über besondere Fähigkeiten verfüge.“ Baltique nickte. „Diese Fähigkeiten kamen auf Logeyza erst so richtig zur Geltung.“
„Wussten sie das? Ich meine, dieser Dugg - der offensichtlich der Anführer ist – wusste er von deinem Naturfühlertalent?“
Tui’jin schüttelte den Kopf. „Das wusste nicht mal ich.“
„Dann kannst du jetzt mit der Natur reden.“ Das war eine Feststellung.
„Sozusagen.“
„Was sagt sie?“
„Sie spricht nicht in Worten, sondern in Gefühlen und Eindrücken.“
„Was sagte sie jetzt?“
„Ich befinde mich in einem Raumschiff in absolutem Vakuum. Oder hast du in der Nähe irgend etwas Natürlichem gesehen?“
Die Sorgenfalten auf Baltiques Stirn zogen sich in tiefe Furchen. Die tiefen Falten gehörten zu Baltiques Gesicht wie sein immer währender schlecht rasierter Bart und die deutlichen Lachfalten um Mund- und Augenwinkel.
„Einen Aufschub des Urteils brauchen wir“, überlegte er laut. „Damit wir die Angelegenheit überprüfen können. Mit dem rigorosen Raubbau auf Logeyza verstößt die Handelsföderation gegen eines ihrer obersten Gebote, wie sie selbst behauptet.“
„Ich denke, dass die Logeyzaner durchaus geneigt sind eine Handelsbeziehung aufzunehmen, jedoch zu Bedingungen die für sie vertretbar sind.“
Baltique hob skeptisch eine Augenbraue. „Bist du doch auf die andere Seite übergetreten?“
„Jetzt enttäuschst du mich. Ich dachte, du kennst mich besser. Sollte ich Dugg jemals wieder begegnen, wird er zur Begrüßung einen saftigen Haken einstecken müssen.“
„Du bist immer noch ein anderer“, stellte der Ältere überrascht fest. „Früher hättest du ihn mit deiner Lieblingswaffe, dieser kleinen Aikonia, die ihre Ziele bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, eliminiert.“
„Das mit der Aikonia lief nur eine begrenzte Zeit gut. Sie ist mir irgendwann beinahe selbst um die Ohren geflogen. Ein Entwicklungsfehler, der erst nach einer bestimmten Betriebsdauer auftrat.“
„Logeyza ist soviel ich weiß, ein freier Planet“, erinnerte sich Baltique. „Niemand hat je für ihn Rechte angemeldet.“
„Das liegt vermutlich daran, dass niemand die derzeitigen Bewohner fragte. Und wenn du schon dabei bist, kannst du mir einen Gefallen tun.“
Baltique blickte ihn fragend an, als sich Tui’jin mit seiner Erklärung Zeit ließ.
„Ich will die Rechte an Logeyza haben“, sagte er endlich.
Der Ältere zog misstrauischer denn je eine Augenbraue hoch. „Allmählich wirst du mir suspekt. Ich sollte deinen geistigen Gesundheitszustand überprüfen lassen.“
„Das ist absolut eigennützig“, erklärte Tui’jin. „Auf diesem Planeten erlebte ich etwas, was ich mir unbedingt sichern muss.“
„Aha!“ machte Baltique wissend. „Hat das etwas mit diesem Mädchen zu tun?“
„Nein! Mit der Natur.“
Baltique verkniff sich ein Kichern. „Das wird nicht leicht sein. Du bist kein Logeyzaner.“
Tui’jin blickte ihn herausfordernd an. „Wetten doch?“ Er richtete sich leicht auf. „Lorax vom Haidberg ist ein waschechter Logeyzaner. Das wird dir jeder dort bestätigen können.“
„Das ist verrückt.“
„Aber legal.“
„Und vielleicht sogar machbar.“ Er erhob sich. „Ich muss jetzt noch einiges für die Verhandlung vorbereiten. Ich komme später noch mal vorbei.“
„Sollte der Angeklagte nicht bei seiner eigenen Verhandlung dabei sein?“
„In deinem Zustand...?“ Baltique schüttelte den Kopf. „Ich hatte vorher schon einen Antrag gestellt, dich aufgrund deines Zustandes von der Teilnahme zu befreien. Bei der nächsten Verhandlung solltest du allerdings bereits im vollen Besitz deiner geistigen und körperlichen Kräfte sein.“
Tui’jin nickte. „Ganz bestimmt.“
Damit verabschiedete sich der stämmige Mann und schubste beim Durchqueren der Türe die beiden Wachen gleich mit hinaus in den Korridor.“
Tui’jin legte sich zurück und starrte an die dunkelgraue Zimmerdecke. Er konnte sich an jede Einzelheit seiner Vergangenheit erinnern: Seine Kindheit auf Presporia, seine nicht immer einfach gewesene Ausbildungszeit, seine zahlreichen Aufträge, die ihn in allen möglichen, entlegenen Winkel des bekannten Universums verschlagen hatte. So auch nach Logeyza, wo er dachte einen der einfachsten Jobs zu erledigen. Er war dafür bekannt gewesen, effizient, prompt und loyal zu arbeiten. Noch nie hatte er sich gegen seine Auftraggeber gestellt. Gewissensfragen checkte er stets vorher ab und sagte erst zu, nachdem er es mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren konnte. Den Auftrag Logeyza hatte er allerdings nur wegen des immens hohen Honorars angenommen. Da fragte er nicht weiter nach den Hintergründen. Dass dies nur ein Köder war, um ihn anzulocken und ihn dann nach getaner Arbeit zu eliminieren – das nahm er Gekorj und der Handelsföderation übel. Ebenso sich selbst – weil er so naiv gewesen war, darauf hereinzufallen.
Einen Großteil des Honorars hatte er sich bereits als Vorschuss gesichert. Das Geld war auf verschiedenen Konten sicher verwahrt. Daher fragte er sich, wie Gekorj an sein Vermögen herankommen wollte, um sich das Honorar zurückzuholen. Vermutlich hätte er die Nachlasskommission unter Druck gesetzt, um die versteckten Konten ausfindig zu machen und ihm auszubezahlen.
Tui’jin machte sich darüber keine Gedanken. Die Konten, die für jeden zu finden waren, auf die die Honorareinzahlungen gingen, dienten nur als Köder. Niemand außer ihm wusste, wo sich sein wahres Vermögen befand. Nicht einmal seine engsten Verwandten und nicht einmal Baltique. Und niemand außer ihm würde an sie herankommen, sollten sie je entdeckt werden.
Einigermaßen erleichtert sank er in einen leichten Schlaf und träumte davon, mit einem Schwarm Kräher über das weite Land zu ziehen und die Natur flüstern zu hören.
* * *
Mornt Gekorj gefiel es gar nicht, Logeyza verlassen zu müssen. Die Order der Handelsföderation war jedoch eindeutig gewesen. Er sollte sich unverzüglich auf der Verbatourn einfinden, einem Vorzeigekreuzer der obersten Luxusklasse, der meist dazu benutzt wurde, um hochrangige Diplomaten zu empfangen. Gekorj wusste selbst, dass er kein hochrangiger Diplomat war. Er war ein einfacher Distriktverwalter und seinetwegen würde die Verbatourn sicherlich nicht mobilisiert werden. Vielmehr glaubte er daran, dass sich dort etwas großes abspielte. Wie etwa die Gerichtsverhandlung des Presporianers Tui’jin, der aufgrund Gekorjs Zutun, wegen Hochverrat an der Handelsföderation angeklagt war. Er ärgerte sich maßlos, dass er die Hauptverwaltung über Tui’jins Verhalten informiert und damit den Stein erst ins Rollen gebracht hatte. Wenn er den bezahlten Killer einfach sich selbst überlassen oder ohne Aufsehen zu erregen getötet hätte, wäre diese Lawine der Empörung nicht losgetreten worden.
Gekorj seufzte genervt. Sein Handlanger Bart Lekku tippelte nervös neben ihm her, schwitzend und keuchend und sich mit einem Tuch ständig über das Gesicht wischend. Obwohl die Raumtemperatur auf der Verbatourn durchaus angenehm war, schien der dicke Lekku fast vor Hitze zu zergehen.
Der Distriktverwalter kümmerte sich nicht darum. Er war es leid, sich über Lekkus Probleme Gedanken zu machen. Wäre der Mann nicht so dick, würde er weniger zu leiden haben, sagte er sich im stillen und beschleunigte seine Schritte. Nicht dass er sich beeilen müsste. Zeit besaß er genug. Auch wenn er sehr langsam ging, würde er noch rechtzeitig ankommen. Die schnellere Gangart war einfach eine weitere Art und Weise seinen Handlanger etwas mehr zu triezen. Seine persönliche Art mit Untergebenen mit Handicaps umzugehen.
Entsprechend atemlos und wie nach einem Marathonlauf schwitzend kam Lekku nur wenige Augenblicke nach seinem Vorgesetzten vor der Türe des Verhandlungszimmers an. Es war ihm nicht gelungen, mit ihm Schritt zu halten. Zum wiederholten Male wischte er sich mit dem bereits feuchten Tuch über das schweißnasse Gesicht und versuchte verzweifelt nach Atem zu ringen. Er wusste, dass ihn Gekorj mit seiner Hast nur ärgern wollte, war aber gehorsam genug, nicht dagegen zu rebellieren.
Unweit der Eingangstüre zum großen Konferenzraum wartete Tui’jin in Handschellen und flankiert von Sicherheitsbeamten auf den Beginn der Verhandlung. Er schien von seiner gewohnten Arroganz viel eingebüßt zu haben. Den Kopf hängen lassend und lässig an die Wand gelehnt, besaß er nur noch die Gewänder mit dem Mann gemein, den er vor vielen Monaten als Auftragskiller kennen gelernt hatte. Neben ihm stand ein Mann in einem feinen Anzug, der für dessen stämmige, breitschultrige Statur sicherlich maßangefertigt worden war und der unablässig auf den Presporianer einredete. Auch ohne ihn je vorgestellt zu bekommen oder je persönlich Kontakt mit ihm gehabt zu haben, wussten Gekorj und Lekku, um wen es sich dabei handelte – Fontier Baltique – dem wohl bekanntesten, erfolgreichsten und teuersten Anwalt des bekannten Universums. Allein schon seine beeindruckte Erscheinung schien bei den Gegenparteien die Zuversicht um einiges schrumpfen zu lassen. Gekorj schnaubte, als ihm jene Gedanken durch den Kopf schossen. Bei dem Honorar, dass der Lohnkiller als Vorschuss erhielt, konnte er sich leichthin den besten aller Anwälte leisten.
„Ich hätte auf meine erste Eingebung hören sollen“, knurrte Gekorj so leise, dass es nur Lekku hören konnte. „und nicht die Hauptverwaltung einschalten, sondern den Kerl gleich umbringen sollen.“
„Das hätte einigen Ärger verursacht“, wusste Lekku und wischte sich ein weiteres Mal den Schweiß von der Stirn.
„Zumindest weniger, als jetzt“, knurrte Gekorj zurück und drehte sich abrupt um, als Baltique zu ihm herüber blickte. „Sie hätten dem Kerl sofort entgültig den Garaus machen sollen, nachdem er von den Primitiven angeschossen wurde. Dann hätten wir einen Schuldigen gehabt und müssten jetzt nicht Erklärungen abliefern.“
„Ich dachte, er wäre tot“, entschuldigte sich Lekku. „Allerdings hatte ich das nicht überprüft. Ich hielt es für sicherer, erst einmal zur Basis zurückzukehren, um...“
„Sicherer?“ Gekorj glaubte sich verhört zu haben. „Wir sind den Primitiven an Waffentechnik haushoch überlegen. Wo kann es sicherer sein, als in der Nähe einer meiner Leute. Stattdessen schleppen sie dieses halbtote Bündel zu mir ins Büro, wo wenige Minuten später eine Abordnung von der Hauptverwaltung hereinplatzt. Da konnte ich gar nicht anders, als ihnen diesen eingebildeten Bastard zu übergeben. Manchmal glaube ich, ihr Posten überfordert ihre Fähigkeiten.“
„Ganz bestimmt nicht“, erwiderte Lekku eifrig. „Dass sie auf ihn schießen, um ihn zum stillschweigen zu bringen, konnte ich ja nicht ahnen.“
„Die Schützen ausfindig zu machen, das ist ihnen in ihrer übereilten Flucht sicherlich auch nicht eingefallen.“
Lekku schluckte trocken. „Öhm... äh... nein“, stotterte er und wischte sich abermals über die feuchte Stirn. „Ich hielt das nicht für nötig.“
„Jemand muss für die Zerstörung einer teuren Verteidigungseinheit gerade stehen und ich werde das bestimmt nicht sein.“
Lekku starrte ihn entsetzt an. „Ich... ?“
„Können sie einen anderen Schuldigen vorweisen?“, fragte Gekorj zurück und schnaufte, als sich die Türe zum Verhandlungsraum öffnete und die Wartenden eintreten durften.
Der Vorstandsvorsitzende Sap Na Nour’ni höchst persönlich führte den Vorsitz dieser Verhandlung. Als Gekorj ihn erkannte, schnaufte er abermals. Was auch immer für Anschuldigungen und Argumente er hervorbringen würde, er würde stets auf verlorenen Posten sein, denn Nour’ni war ebenfalls Presporianer – wie Tui’jin.
Dass der Angeklagte ebenso kein glückliches Gesicht machte, als er den landsmännischen Richter sah, bemerkte Gekorj allerdings nicht.
Es dauerte einige Minuten, ehe die Parteien und die Zuschauer ihre Plätze eingenommen hatten. Der vorsitzende Richter Sap Na Nour’ni ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Obwohl er bereits die erste Verhandlung angeführt hatte, verfinsterte sich seine Mine, sobald er den jungen Mann an der Seite des Verteidigers erblickte. Er konnte Fontier Baltique ebenso nicht ausstehen, wie dessen Mandanten, den er schon auf seinen Knien geschaukelt hatte.
Tui’jin beugte sich zu Baltique hinüber. „Du hättest mir sagen können, dass Nour’ni den Vorsitz führt“, raunte er ihm zu.
Der massige Mann sah ihn überrascht an. „Warum? Stellt das ein Problem dar?“
„Ich fürchte schon“, nickte Tui’jin. „Er wird mich nicht anhören wollen.“
Baltique nahm einen tiefen Atemzug, in welchem er einen flüchtigen Blick zum Richter warf. „Zumindest willigte er ein, dich nicht aufgrund von leeren Anschuldigungen zu verurteilen. Er war ebenfalls für eine weitere Überprüfung und Beweißaufnahme. Das spricht doch dafür, dass was auch immer ihr beide für einen Disput habt, dies nicht in diese Gerichtsverhandlung einfließt.“
„Disput ist gut gesagt“, schnaufte Tui’jin. „Als wir uns das letzte Mal sahen, schlugen wir uns gegenseitig die Nasen blutig.“
„Was ernsthaftes?“, wollte der Anwalt wissen.
„Er ist mein Sior’gis und war nicht damit einverstanden, was ich aus meinem Leben machte.“
„Was ist ein Sior’gis?“
„So was ähnliches wie ein Pate.“
„Oha!“, machte Baltique. „Also doch was ernsthaftes.“
Die Antwort Tui’jins ging in einem lauten Klopfen unter. Der Richter eröffnete die Verhandlung und wandte sich sogleich an Fontier Baltique.
„Aufgrund ihres Antrages und ihrer Gegenanzeige wurden Sachverständige nach Logeyza entsendet“, begann er und fesselte den Anwalt, dessen stämmigen Statur in dem feinen Anzug etwas fehl am Platze wirkte. „Leider liegt deren abschließender Bericht noch nicht vor, sodass ich mir aus den Ausführungen der Distriktverwaltung und ihres Mandanten Klarheit erhoffe.“ Er nahm einen tiefen Atemzug und stieß ihn die ersten Worte auskeuchend wieder aus. „Da es sich hier um kein öffentlich, rechtliches Gericht handelt, sondern um die Vorentscheidung, ob der Angeklagte der Schuld bezichtigt und der öffentlichen Gerichtsbarkeit ausgehändigt werden soll, werde ich weiterhin die Beweißführung anführen. Ich bitte daher die Distriktverwaltung von Logeyza, in ihrer Person Mont Gekorj, vorzutreten.“ Er wartete einen Moment, bis sich Gekorj erhoben und auf dem Zeugensitz wieder Platz genommen hatte. „Monsoir Gekorj“, fuhr er fort. „Sie sind der bevollmächtigte Distriktverwalter von Logeyza, mit der Aufgabe die Arbeitsvorgänge dort zu überwachen.“
Gekorj nickte.
„Mit Absprache der Hauptverwaltung der nourisch-zelfischen Handelsföderation heuerten sie den Monsoir Tui’jin an. Bitte berichten sie, welchem Zweck die Anwesenheit des Angeklagten auf Logeyza dienen sollte.“
Gekorj straffte seine Brust. „Es gab immer wieder Zwischenfälle, durch Sabotage und mutwillige Zerstörung. Dadurch entstanden Schäden, deren Kosten für uns nicht mehr tragbar waren. Um den Terroristen ein....“ Der Zwischenruf Baltiques ließ ihn augenblicklich verstummen.
„Ich bitte darum, für die Bewohner Logeyzas nicht die Bezeichnung Terroristen zu verwenden“, sagte der Anwalt laut und einen Hauch persönlich gekränkt.
„Und ich bitte sie darum, nicht mehr mit Zwischenrufen zu stören. Wir möchten die Darstellung der Distriktverwaltung anhören. Danach können sie mit ihren Ausführungen beginnen, gegebenenfalls auch die eine oder andere Definition richtig stellen.“
Baltique nickte nur. Die barsche Stimme des Richters schüchterte ihn keineswegs ein.
„Fahren sie fort, Monsoir Gekorj.“
„Die Terroristen...“ Der Distriktverwalter suchte händeringend nach seinem verlorenen Faden. „Um den Terroristen Einhalt zu gebieten, gestattete mir die Hauptverwaltung einen Spezialisten für Spezialfälle zu engagieren. Tui’jin wurde mir als der Beste empfohlen.“
„Was genau war seine Aufgabe?“
„Er sollte das Problem Terroristen beheben.“
„Ich hätte gerne eine genauere Definition.“
„Was meinen sie damit?“ Gekorj lockerte seinen Kragen. Er schien plötzlich zu eng geworden zu sein. „Seine Aufgabe war, uns dieses Problems zu entledigen.“
„Besaß er dazu genaue Anweisungen, wie er vorgehen sollte? Oder hieß es, wir haben da ein Problem, kümmern sie sich drum.“ Der Richter lehnte sich bequem zurück. „Ich möchte gerne wissen, ob es Monsoir Tui’jin freigestellt war, dieses Problem auch friedlich zu lösen, beziehungsweise Verhandlungen zu führen. Oder ob er gleich dazu angehalten war, zum äußersten zu greifen.“
„Wir hatten bereits Verhandlungen geführt, die jedoch zu keinem Ergebnis führten. Das war auch der Grund, warum wir weitergehende Maßnahmen ergreifen mussten.“
„“Diese weitergehenden Maßnahmen interessieren mich noch immer“, erinnerte der Richter. „Wie lautete der konkrete Auftrag an Monsoir Tui’jin?“
Gekorj zögerte. Er biss auf seine Lippe, so als wollte er die Antwort nicht laut werden lassen. „Liquidation“, entgegnete er schließlich knapp.
„Mit anderen Worten, ihr Problem wollte sich ihrer Ansicht nach nur mit der endgültigen Eliminierung der Terroristen lösen.“ Damit bedachte er Baltique mit einem entschuldigenden Blick. „Wo wir nun bei diesen Terroristen wären. Sie hatten auf Logeyza eine lukrative Ackerbauwirtschaft ins Leben gerufen. Innerhalb kürzester Zeit konnten sie Gewinne einfahren. Das musste natürlich Neider hervorrufen. Wer sind diese Terroristen eigentlich? Woher stammen sie?“
Gekorj zuckte ratlos mit den Schultern. „Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nicht, woher sie kommen. Ich weiß nur, dass sie uns bisher enormen Schaden zugefügt haben.“
Dem Richter entging nicht, dass bei Gekorjs letzter Aussage Baltique und Tui’jin beinahe gleichzeitig die Köpfe schüttelten.
„Aha“, machte Sap Na Nour’ni. „Und sie wollten der Sache auch nicht nachgehen.“
„Ich musste mich um den reibungslosen Ablauf der Ernten kümmern. Da blieb mir keine Zeit dazu.“
„Fassen wir mal zusammen.“ Der Richter überflog seine Notizen, die er während der Aussage des Distriktverwalters gemacht hatte und warf auch einen Blick in die Akten, die vor ihm im Tisch auf einem Sichtmonitor eingeblendet waren. „Im Auftrag der Handelsföderation bauten sie auf Logeyza einen lukrativen Ackerbaubetrieb auf. Eines Tages tauchten sogenannte Terroristen auf, die ihnen ihren Verdienst streitig machen wollten und dabei auch vor Sabotage und willkürliche Zerstörung nicht zurückschreckten. Aus diesem Grund engagierten sie einen Spezialisten für Spezialfälle, der diesen Terroristen den Garaus machen sollte. Der jedoch wechselte die Fronten und schloss sich den Terroristen an. Ist das richtig so?“
Gekorj nickte.
„Was sagen sie zu den Anschuldigungen, sie würden auf Logeyza Raubbau und skrupellose Ausbeutung betreiben?“
„Wir haben eigene Anbaugebiete“, warf Gekorj bestimmt dagegen. „Außerdem gehört Logeyza nicht zu den Föderationen. Es ist ein freier Planet und jeder kann ihn sich zu nutze machen.“
„Sofern er nicht jemanden anderem gehört.“ Nour’ni lehnte sich zurück. „Danke, Monsoir Gekorj. Sie können sich auf ihren Platz zurück begeben.“ Er suchte den Blick des Verteidigers. „Jetzt bitte ich ihren Mandanten, Monsoir Tui’jin in den Zeugenstand.“
Tui’jin stand bereitwillig auf und begab sich auf den Stuhl, der noch von Gekorj erwärmt war. Unangenehm berührt, aber dennoch ließ er sich nieder und blickte dem Richter festen Willens ins Gesicht. Seine Hände waren mit Handschellen aneinander gefesselt. Die rechte ballte er zur Faust. Fest umschlossen hielt er dort eine kleine Moosflechtenmatte, die Baltique ihm kurz vor dem Beginn der Verhandlung in die Hand gedrückt hatte. Er selbst hatte ihn darum gebeten, ihm etwas organisches zu besorgen, da er sonst befürchte, bei der Verhandlung nicht die Nerven behalten zu können. Die Moosflechten besänftigten ihn und sein Verstand war so klar und scharf wie noch nie.
„Monsoir Tui’jin, sie wurden von der Distriktverwaltung von Logeyza engagiert, sich um ein bestimmtes Problem zu kümmern. Ist das richtig.“
„Korrekt“, antwortete Tui’jin bestimmt.
„Für das Protokoll. Sie sind ein Spezialist für Spezialfälle. Man könnte auch sagen Auftragskiller. Ist das richtig?“
„Korrekt“, antwortete Tui’jin abermals. Er fragte sich, wieso Nour’ni das noch mal erwähnte. Jeder im Saal wusste doch, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente. Der Richter wusste dies besser als jeder andere hier im Saal.
„Dann sind sie demnach in ihrer Eigenschaft als Auftragskiller engagiert worden, Störenfriede zu eliminieren.“
„Ja.“
„Wussten sie, um wen es sich bei diesen Störenfrieden handelte?“
„Die Information war sehr dürftig.“
„Eliminieren sie jeden, für den sie bezahlt werden?“
„Nein!“ Tui’jin blickte ihm fest in die Augen und hielt dessen Blick stand.
„Sie informieren sich demnach genauer über ihr Opfer.“
„Natürlich. Um den besten Zeitpunkt abpassen zu können, muss ich Nachforschungen anstellen und das Zielobjekt beobachten.“
„Taten sie das in diesem Fall auch?“
„Nicht so umfangreich, wie ich es hätte tun sollen.“
„Warum?“
„Mont Gekorj drängte zur Eile. Ich beobachtete einige Überfälle und bereitete dann meinen Einsatz vor.“
„Ein Einsatz, bei den sie laut Bericht nicht überlebten. Wie kommt es, dass sie entkamen und letztlich auf der Seite der Terroristen standen.“
Tui’jin nahm einen tiefen Atemzug. „Das sind keine Terroristen. Das sind die Bewohner von Logeyza, die schon seit Generationen als friedliebende Siedler auf diesem Planeten leben.“
„Friedliebend? So friedliebend erscheinen die mir nicht. Erzählen sie mir bitte die ganze Geschichte.“ Er lehnte sich wieder zurück und wartete geduldig darauf, dass der junge Mann vor ihm seine Version der Sachlage zum Besten gab.
Tui’jin begann bei dem Massaker am Hügel, zu dem er maßgeblich beigetragen hatte und endete bei der letzten Schlacht hinter dem Bergkamm. Einige Dinge verschwieg er allerdings: Dass Gekorj ihn loswerden wollte, bevor der Rest des Honorars fällig wurde; dass Dugg ihn zu einem Naturfühler ausbildete und dass er sich nach Logeyza und einer bestimmten Bewohnerin sehnte.
Als Tui’jin endete, herrschte einige Augenblicke lang Schweigen im Saal. Der Richter hatte sich immer wieder nachdenklich am Kinn gestreichelt, oder wenn Gekorj aufgesprungen war, um einen Einwand hervorzubringen, ihm mit einer Handbewegung Einhalt geboten. Nun saß er zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch und schien über das eben gehörte noch einmal nachdenken zu müssen.
Plötzlich straffte er sich und suchte den Blick des Angeklagten.
„Ihre Anschuldigungen sind hart“, begann er und beugte sich leicht vor. „Ich wünschte, der Bericht der Sachverständigen läge mir vor. So steht das eine Wort gegen das andere.“
„Ich beantrage eine Vertagung, bis dieser Bericht vorliegt und ausgewertet ist“, sagte Baltique laut. „Die Anschuldigungen meines Mandanten entsprechen der Wahrheit. Das wird dieser Bericht eindeutig belegen.“
Nour’ni seufzte. „Ich denke, das wird nicht nötig sein.“ Er nahm seine Aufzeichnungen heran und überflog sie kurz. „Für mich steht der Sachverhalt bereits fest. Monsoir Gekorj sah auf Logeyza eine äußerst lukrative Einnahmequelle. Aufgrund der einfachen Siedler dieses Planeten, dachte er leichtes Spiel zu haben. Er rechnete jedoch nicht mit dem Kampfgeist der dortigen Bewohner, der erst geweckt wurde, nachdem Gekorj ihnen nahm, was sie sich in Generationen und in mühsamer Arbeit erwirtschaftet hatten. Das Schicksal brachte Monsoir Tui’jin ins Spiel, der mehr oder weniger freiwillig die Fronten wechselte und sich auf die Seite der Siedler stellte.“ Er lehnte sich zurück. „Monsoir Tui’jin ist vom Verdacht des Hochverrates befreit. Die Handelsföderation wird sich mit sofortiger Wirkung von Logeyza entfernen. Monsoir Tui’jin erklärte sich bereit, den bereits erhaltenen Vorschuss seines Honorars als Wiedergutmachung zu spenden. Der noch ausstehende Anteil wird zur Hälfte die Handelsföderation, zur anderen Hälfte aus dem Privatvermögen von Mont Gekorj zum Wiederaufbau verwendet. Die Obrigkeit über Logeyza wird einem gewissen...“ Er musste kurz in seinen Unterlagen nachsehen.“...Lorax vom Haidberg übergeben, dessen Antrag zur Übertragung der Rechte an Logeyza vorliegt.“ Er legte seine Notizen zur Seite.“ Damit ist diese Sitzung beendet. Er ignorierte den tobenden Distriktverwalter, der mit hochrotem Kopf und wüsten Beschimpfen das Urteil zu revidieren suchte.
„Das Urteil ist ungültig. Sie sind voreingenommen. Sie sind Presporianer, genau wie Tui’jin...“
Der Richter ließ sich nicht beeindrucken. In aller Ruhe erhob er sich und suchte den Blickkontakt zu dem aufgebrachten Verwalter.
„Ich bin der Vorsitzende der Handelsföderation. Wenn ich verfüge, dass die Föderation Reparationsleistungen zu tätigen hat, dann ist das Gesetz und wird auch so befolgt. Außerdem war ich nicht ganz ehrlich zu ihnen, verehrter Monsoir Gekorj.“ Er tippte auf einen Stapel Datenkarten neben seinen Notizen. „Die Berichte der Sachverständigen liegen bereits seit einiger Zeit auf meinem Tisch. Und das was die Experten am wenigsten gefunden haben, waren die enormen Anbauflächen, die sie hätten anlegen müssen, um den Gewinn zu erwirtschaften, den sie letztendlich angaben.“ Damit schien für ihn das Thema erledigt zu sein. Auch Gekorj gab sich plötzlich mit dem Urteil ab. Dampfend wie eine alte Maschine polterte er aus dem Saal, sodass Lekku wieder einmal alle Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.
„Monsoir Tui’jin, würden sie mir bitte zu einem vertraulichem Gespräch ins Nebenzimmer folgen?“ Dabei machte er sich bereits auf den Weg zu einer Seitentüre. „Und bitte...“, hielt er inne. „Nehmen sie ihm endlich die Handschellen ab. Monsoir Tui’jin steht nicht mehr unter Arrest.“ Die Wachen schienen erst mit diesem Befehl verstanden zu haben, dass ihr Gefangener keiner mehr war. Umständlich kramten sie einen Codeschlüssel hervor und öffneten die Fesseln.
„Monsoir Tui’jin?!“ Sap Na Nour’ni bat den jungen Mann mit einer Handbewegung Richtung Türe. Bereitwillig setzte sich Tui’jin in Bewegung und folgte ihm.
Als sich die Türe hinter ihnen geschlossen hatte, befürchtete Tui’jin schon, dass ein Donnerwetter über ihm hereinbräche. Doch der Richter setzte sich gelassen und entspannt auf die Kante eines Schreibtisches und schien ihn erst einmal stumm betrachten zu müssen.
„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, begann er schließlich. „Als ich von deinem Tod hörte, erfüllte mich tiefer Schmerz. Und Wut, weil es dir doch offensichtlich endlich gelungen ist, dein Leben zu zerstören. Ich trauerte um dich und vergoss sogar Tränen.“ Dieses Geständnis schien ihm leichter zu fallen, als er sich selbst zutraute. „Als ich erfuhr, dass du doch noch am Leben bist, setzte ich schließlich alle Hebel in Bewegung, um dich da rauszuholen – notfalls hätte ich dich an deinen Ohren herbei gezerrt, um dich dann irgendwo einzuschließen, bis du vernünftig geworden bist.“ Er räusperte sich und ließ seinen Blick abermals über den jungen Mann schweifen, der schweigend und beinahe bewegungslos vor ihm stehen geblieben war. „Das ist soweit ich das beurteilen kann, gar nicht mehr nötig. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass der Mann, der nun vor mir steht, mit dem Heißsporn von damals, der mir bei unserer letzten Begegnung drei Rippen und das Nasenbein brach, absolut nichts gemein hat. Du bist ein gänzlich anderer geworden. Ich hatte dich fast nicht wieder erkannt. Du hast dich zu deinem Vorteil verändert, muss ich eingestehen.“
Tui’jin ließ sich zu einem schwachen Grinsen verleiten.
„Darf ich erfahren, was du in deiner Hand hast?“, erkundigte sich der Richter. „Du verbirgst das schon die ganze Zeit in deiner Faust.“
Tui’jin öffnete bereitwillig die Hand.
„Moos? Was hast du denn damit vor?“
„Du hast Recht. Ich habe mich verändert“, brach Tui’jin endlich sein Schweigen. „Was all deine handfesten Argumente nicht bewirkt hatten, gelang einem einfachen Mann auf Logeyza. Er erzählte mir eine von ihm erfundene Geschichte, damit ich nicht auf die Idee kam, über meine verlorene Erinnerung nachzudenken. Das was er erzählte, entsprach so ziemlich genau meiner tatsächlichen Vergangenheit. Ich weiß jetzt, warum ich stets ruhelos und aggressiv war, warum ich ständig neue Herausforderungen suchte, warum ich ständig von einer Launenextreme in die andere fiel. Ich kann dem jetzt entgegen wirken, mit diesem einfachen Moosfleckchen. Wenn ich es bei mir trage, fühle ich die Natur und kann daher meine Gefühle besser kontrollieren.“
„Aha“, machte Nour’ni etwas verwirrt. „Ich hoffe, ich kann das irgendwann verstehen lernen. Im Moment sehe ich nur, dass es offensichtlich funktioniert. Es ist bemerkenswert wie sehr es dich verändert.“
„Ich hoffe, dass es so bleibt“, gestand Tui’jin und musste an die letzten Gespräche mit Tiane, Dugg und Janos denken. „Ich würde gerne nach Logeyza zurückkehren, weil ich meine Fähigkeiten als Naturfühler weiter optimieren möchte.“
„Was ist ein Naturfühler?“
„Jemand, der die Natur hören kann.“
„Und das kannst du?“
„Ja“, gab Tui’jin knapp von sich.
„Beeindruckend“, gab der Richter anerkennend von sich und erhob sich. „Und was gedenkst du, damit zu tun?“
Tui’jin zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es noch nicht. Zunächst muss ich mehr darüber wissen.“
„Ich hoffe für dich, du wirst diesmal den richtigen Weg für dich finden.“
„Davon bin ich überzeugt.“
„Das sagtest du mir früher auch. Doch jetzt bin ich wesentlich zuversichtlicher.“ Er schenkte dem jungen Mann ein aufrichtiges Lächeln. „Wer ist eigentlich dieser Lorax vom Haidberg? Einer deiner Freunde von Logeyza?“
Tui’jin musste schmunzeln. „Nein. Das bin ich selbst. Diesen Namen bekam ich von ihnen.“
„Dann willst du die Recht für dich haben?“
„Nein. Ich möchte nur nicht, dass wieder irgendwann jemand kommt und sich auf Logeyza wie in einem Selbstbedienungsladen verhält. Mensch und Natur müssen im Gleichgewicht leben – sonst kann keiner von beiden existieren. Ich habe dort etwas erlebt, was ich unbedingt erhalten möchte. Als Naturfühler bin ich es Logeyza schuldig.“
Der Richter bewegte sich etwas auf Tui’jin zu. „Was auch immer du nun tun wirst, ich sehe es bereits jetzt mit wesentlich mehr Freude und Stolz. Ich wünschte nur, diese Veränderung wäre schon viel früher gekommen. Dann hätten wir uns nicht entzweit.“
„Wir können immer noch zueinander finden“, entgegnete Tui’jin. „Komme mich auf Logeyza besuchen, dann werde ich dir die Wunder der Natur zeigen.“
Nour’ni schmunzelte. „Ich wünsche dir viel Glück, mein Junge.“ Dann nahm er ihn spontan in den Arm und drückte ihn an sich. Tui’jin ließ ihn gewähren und legte sogar seinerseits die Arme um seinen Sior’gis.
* * *
Vollkommen außer Atem platzte Komunus in Duggs Hütte, wo sich auch Tiane und Janos befanden. Die beiden hatten sich bei Dugg eingefunden, um wieder einmal über die vergangenen Erlebnisse zu sprechen. Eigentlich wollten sie sich treffen, um die Neubestellung eines Feldes, jenseits der Flusses zu besprechen. Doch stets wechselte wie durch Magie das Thema und sie sprachen meist nur noch über Lorax und darüber, dass es seit seinem Tod keine Übergriffe seitens der Okkupanten mehr gegeben hatte. Unter Tianes Augen standen deutlich dunkle Ringe und ihre Augen wirkten müde und erschöpft. Tatsächlich weinte sie beinahe jede Nacht. War sie es doch selbst gewesen, die die Liebe ihres Lebens getötet hatte. Sie konnte es sich nicht verzeihen, obwohl Lorax zuvor ausdrücklich darum gebeten hatte. Es war ihre eigene Hand gewesen, die den tödlichen Strahl auf ihn richtete. Sie hatte sich mit dem Blut ihres Liebsten besudelt.
Als Komunus in die Stube hereinplatzte wie der Wirbelwind persönlich, schraken alle drei hoch. Denn sie waren in grüblerischem Schweigen vertieft gewesen. Nur wenige Minuten zuvor war ihr Thema gewesen, wie sie Lorax Tod hätten vermeiden können.
„Er ist wieder da!“, keuchte Komunus atemlos und rang verzweifelt nach Luft. „Er ist wieder da!“
„Gekorj?“, fragte Dugg, der die Abreise des Verwalters, dem sie ihre ganze Not zu verdanken hatten, mit angesehen hatte.
Komunus schüttelte heftig den Kopf. „Lorax. Lorax ist wieder da.“
Tianes Unterkiefer klappte herunter. Sie hatte ihn doch getötet. Lorax konnte unmöglich wieder von den Toten auferstanden sein.
Dugg war auf die Beine gesprungen. „Wo ist er?“ Obwohl er die Schilderung von Lorax Tod mehrmals gehört hatte, bezweifelte er Komunus Neuigkeit keinen Augenblick lang.
„Im Matoja-Hain. Er sitzt einfach da und rührt sich nicht.“
Dugg – gefolgt von Tiane, Janos und Komunus – stürmte zur Türe hinaus und rannte den ganzen Weg bis hin zum Matoja-Hain, wo er tatsächlich einen einzelnen Mann zwischen den verfaulten und zerfallenen Stümpfen entdeckte, die einmal mehr als reichhaltige Ernten geliefert hatten. Am Rande des Haines blieben die vier stehen und beobachteten den offenbar meditierenden Mann einen Moment lang. Eher um sich zu vergewissern, dass es sich tatsächlich um Lorax leibhaftig und nicht um dessen Geist handelte. Schließlich kam Bewegung in die Gestalt. Sie erhob sich und kam auf die vier zu. Ihnen war, als sei Lorax nie von ihnen gegangen. Er trug für Logeyza typische einfache Stiefel, ein grob gewebtes Hemd und Hose und eine lederne Weste, die sich eng an seinen Körper schmiegte.
Lorax bemerkte ein Zittern in seiner Wahrnehmung. Ehe er die vier Passanten, die den Weg entlang getrampelt kamen, sehen konnte, war er in der Lage sie genau zu identifizieren. So als stünden sie vor ihm, sah er Dugg, Tiane, Janos und Komunus, die atemlos den Weg entlang liefen, als sei Gekorj mit einem ganzen Geschwader Kampfjäger hinter ihnen her. Er sah wie sie am Rand anhielten und ihn beobachteten. Obwohl er seit drei Tagen, seit er sich in die Mitte des zerstörten Haines gesetzt hatte, die Augen geschlossen hielt, konnte er sie sehen. Drei Tage lang hatte er mit den kaum wahrnehmbaren Matoja-Pflanzen kommuniziert, hatte ihnen zugesprochen, hatte sie bekräftigt und sie ermutigt, gegen den Zerfall und die Fäulnis anzukämpfen. In dieser Zeit bemerkte er, wie die Pflanzen stärker und kräftiger wurden und sie begannen sich zu regen. Diese Regung war freilich kaum wahrnehmbar, aber allemal besser, als nur noch Leere zu spüren. Mehr konnte er ohnehin nicht tun, wusste er. Der Rest musste von der Natur selbst kommen. Er konnte nur besänftigen, trösten und aufmuntern. Er konnte ihnen seine Gefühle wahrnehmen lassen und er konnte mit seiner ganz besonderen Gabe, der Natur einen kleinen Kick geben.
Wenige Meter vor ihnen hielt er an und beobachtete sie schweigend, wie auch sie ihn schweigend beobachteten. Er musste sich ein Schmunzeln arg verkneifen. So leicht wollte er es ihnen nicht machen. Was sie sich erlaubt hatten, hätte er früher niemanden so ungestraft durchgehen lassen. Baltique traf mit seiner Bemerkung recht gut ins Schwarze. Die kleine wirksame Handfeuerwaffe, mit der er früher mit Vorliebe Feinde in ihre Bestandteile zerlegt hatte, wäre das mindeste gewesen, das er ihnen angetan hätte. Doch jetzt nicht mehr.
„Du bist ein lausiger Schütze, Janos“, ergriff Lorax endlich das Wort, um die unangenehme Stille zu beenden. Dabei setzte er ein ziemlich mürrisches Gesicht auf. „Ich muss dir wohl ein paar Nachhilfestunden im Leuteumbringen geben. Die effektivste Tötungsmethode ist auf den Kopf zu schießen, nicht auf den Körper.“
„Das war ich nicht“, wehrte er ab. „Ich verlor in der Hektik meine Waffe. Es war Tiane.“
Die junge Frau schluckte trocken.
„Du? Du hast auf mich geschossen?“
„Es war dein Wunsch“, versuchte sie sich zu rechtfertigen. „Ich wollte ihn dir erfüllen, wenn wir schon nichts mehr für dich tun konnten.“
„Ich kann von Glück reden, dass ihr miserable Killer seid.“
„Warum bist du zurückgekommen?“, wollte Dugg wissen. „Immerhin...“ Er verstummte, als Lorax eine Bewegung machte.
„Ich bin ein Naturfühler. Du erinnerst dich doch noch, oder? Du hast mich angelogen. Ich bin noch lange nicht fertig. Mir fehlen noch grundlegende Kenntnisse über die verschiedenen Kräuter und Tränke – wie zum Beispiel das Zeug, das ihr mir verabreicht hattet.“ Dabei bedachte er Tiane mit einem flüchtigen strafenden Blick. „Ich verlange, dass du meine Ausbildung beendest. Damit ich meine Fähigkeiten einsetzen kann, wo sie gebraucht werden.“
„Du meinst, du bist zurückgekommen, um ein richtiger Naturfühler zu werden?“
Lorax nickte steif.
„Gekorj wird das nicht gerne sehen“, befürchtete Janos. „Immerhin hast du ihm großen Schaden zugefügt.“
„Um ihn braucht ihr euch keine Sorgen mehr zu machen. Er wurde versetzt.“
„Versetzt?“, kam es aus vier Mündern beinahe gleichzeitig.
„Wer ist nun an seiner statt?“, erkundigte sich Dugg vorsichtig.
„Ein gewisser Sap Na Tui’jin. Mit dem solltet ihr euch gut stellen. Erzählt ihm keine Märchen und serviert ihm keinen bitteren Kräutertee. Dann könnt ihr von ihm so ziemlich alles verlangen.“
„Moment mal“, rief Janos, als ihm dabei etwas einfiel. „Du sagtest doch, du wärst Tui’jin.“
„Korrekt.“ Lorax nickte abermals steif.
„Dann bist du der neue Distriktverwalter“, schlussfolgerte Dugg.
„Nein. Logeyza gehört nun sich selbst und nichts und niemand wird sich mehr an ihm bereichern können.“
Die vier sahen ihn fragend an. Doch Lorax verweigerte ihnen die ausführliche Erklärung.
„In ein paar Tagen werden einige Leute kommen, die euch helfen werden, eure Häuser wieder aufzubauen“, berichtete er und bewegte sich dabei einige Schritte auf die vier zu. „Sie werden reparieren und ersetzen, was unter Gekorjs Einfluss Schaden nahm – aber nur unter einer Bedingung.“
„Und die wäre“, fragte Dugg vorsichtig.
„Die...“ Damit fing sich der Logeyzaner eine harte Rechte ein und fand sich unversehens mit einer blutenden Lippe auf dem Boden wieder. „Ich musste das tun, sonst hätte ein Freund arg an mir gezweifelt. Obwohl ihr nichts besseres hättet tun können, nehme ich euch das mit dem Kräutertee ziemlich übel.“
„Adacuz“, sagte Dugg und spuckte Blut aus. Er hievte sich wieder auf die Beine. „Äußerst effektiv. Beeinträchtigt das Langzeitgedächtnis, aber leider nicht auf Dauer. Es gibt in der Tat noch jede Menge mehr zu lernen und es wird mir eine Ehre sein, dir alles beizubringen.“
Endlich erschien ein Lächeln um Lorax Lippen. Er wandte sich an Tiane. „Denkst du, du wärst in einem Haus glücklich, in dem man nicht jeden Augenblick fürchten muss, das einem die Decke auf den Kopf fällt?“
Tiane zögerte nicht lange. „Ich denke schon.“ Dann fiel sie ihm in die Arme und sie küssten sich.
Nur zwei Tage später sprossen aus den Überresten der zerfallenen Matoja-Bäumen erste zaghafte neue Triebe.
Ende
Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: xymonau/rgbstock.com
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2013
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