Inmitten eines idyllischen Gartens, umringt von Tannen, deren Spitzen leicht von einer warmen Brise hin und her bewegt die fernen Wolken zu kitzeln schienen, stand eine kleine Villa. Duftende Rosenbüsche wetteiferten mit üppigen Blumenrabatten um Blütenpracht. Weiße Kieselsteinwege, die im Licht der Sonne glitzerten wie Diamanten, wurden von perfekt geschnittenen Buchsbaumhecken gesäumt. Im Zentrum des Vorgartens badeten einige Spatzen in einem kleinen Teich. Aus dessen Mitte ragte ein großer weißer Stein, aus dem klares Wasser quoll und leise plätschernd in den Teich floss. Hunderte von Insekten wimmelten um die Blumen herum und erfüllten die Luft mit einem flüsternden Sirren. Die Villa selbst war einfachen Stils und den Bauweisen der Umgebung angepasst. Die Wände kalkweiß gestrichen, die Fenster mit einem grün gemalten Rahmen betont. Ein Schindeldach hielt Nässe und Hitze fern. Eine dicke Efeuranke bahnte sich ihren Weg von einer Hausecke zur anderen und bedeckte bereits den Großteil der Hauswand mit ihren leuchtend grünen Blättern. Hinter der Villa befanden sich die Stallungen und die Wohnungen der Bediensteten, wurden jedoch von der Villa und ihrer Pracht vor den Blicken der Leute, die auf der Straße vorübergingen, verdeckt.
All die schönen Seiten des fortgeschrittenen Frühlings hatte dieses Häuschen um sich gescharrt, doch der Reiter, der durch den weitläufigen Garten ritt, erkannte diese Schönheit nicht. Streng vor sich hinblickend, sah er die leuchtenden Blumen nicht, die ihren betörenden Duft aussendeten und damit Bienen und Schmetterlinge anlockten. Er sah nicht den romantischen Park, in denen manche Liebespaare einsame ungestörte Stunden hätten verbringen können. Seine Augen waren starr auf das Ziel gerichtet. Die finstere Miene entstellte sein feingeschnittenes Gesicht. Die Augenbrauen zu zwei fest zusammengezogenen Strichen, über einem Augenpaar, das kalter und herzloser nicht hätte blicken können. Seine Kleidung ließ von vornehmer Herkunft schließen. Sein Mantel war aus Samt, dessen Saum von kunstvoll bestickten Goldfäden in der Sonne blinkte. Seine Füße steckten in kostbaren Stiefeln, die von einem Meister der Zunft hergestellt sein mussten. Selbst das Zaumzeug war mit Silber und glitzernden Steinen verziert. Mit weitausholenden Schritten trug der Hengst seinen Herrn über den weißen Kiesweg und wirbelte dabei mit seinen scharfen Hufen Steinchen und Dreck hoch.
Aber all der Stolz und der zur Schau gestellte Prunk konnten den Reiter nicht aufheitern. In dem Häuschen wohnte eine Person, die ihn entgegen seines Willens zu sehen wünschte: Seine Mutter.
Ohne einen Blick seitwärts zu werfen, ohne mit den Gedanken abzuschweifen, ritt er den gekiesten Weg entlang und konzentrierte sich vollends auf die Begegnung dieser ihm verhassten Frau. Eigentlich hatte er ihrem Ruf nicht folgen wollen, doch die Nachricht enthielt Worte, die ihn neugierig gemacht hatten. So entschloss er sich mehr oder weniger spontan, ihr einen Besuch abzustatten, sich anzuhören, was sie zu sagen hatte und dann wieder zu verschwinden. Er war sogar bereit, sie wegen des kleinsten Impulses hin, mit Schimpf und Schande zu überschütten.
Wortlos stieg er vom Pferd und ließ es einfach stehen. Es war eine Sache des Pferdedieners, das Reittier wieder einzufangen, falls es davonlief. Es war ihm völlig gleichgültig, was es anstellen würde, welche mühsam gezüchteten Blumen es anknabberte, oder welchen gepflegten Rasen es mit seinen Hufen zerstörte. Es hätte jedenfalls wieder bereit zustehen, an derselben Stelle, wenn er beabsichtigte, die Residenz seiner Mutter wieder zu verlassen. Es war keine Sache, um die sich der Sohn des Landesfürsten zu kümmern hatte. Deshalb ließ er es sorglos zurück und blickte nicht hinter sich. Er bemerkte allerdings im Augenwinkel eine Gestalt, die auf das Pferd zulief. Ein Pferdeknecht, wusste er sogleich und ärgerte sich darüber, dass ihm die Gelegenheit genommen wurde, seinen Groll zum Ausdruck bringen zu lassen.
Ein Diener erwartete ihn auch bereits an der Türe. Er verbeugte sich knapp und öffnete eiligst die Tür. Ohne ihn zu begrüßen oder sich zu bedanken, marschierte der junge Mann in das Haus. Ohne sich Staub und Schmutz von Kleidern und Schuhen zu klopfen, betrat er die dicken Teppiche des Foyers. Ohne sich ankündigen zu lassen, durchquerte er den Saal und ging zielstrebig in die Wohnräume des Hauses, wo er seine Mutter finden würde.
Lady Claire saß nahe an einem großen Fenster in einem Lehnstuhl und stickte versonnen an einem Bild. Sie blickte nicht auf, als ein Diener rasch die Tür öffnete, kurz räusperte und sich schulterzuckend für die Ungezogenheit ihres Gastes entschuldigte. Bradley trat ein, ohne den Mann zu beachten. Für ihn war es selbstverständlich, dass ihm augenblicklich alle Türen geöffnet wurden, wohin er auch immer gehen wollte. Lady Claire nickte leicht. Sie wusste auch ohne hochzusehen, wer sie besuchen kam. Nur ein Einziger besaß die Frechheit, sich mit einer derartigen Überheblichkeit, über alle Regeln der Etikette hinwegzusetzen. Der Diener nickte zurück, schloss die Türe und ließ die beiden allein.
"Sie wollten mich sprechen“, kam Bradley gleich zur Sache. Seine Stimme klang so schroff und kalt wie sein Gesichtsausdruck, mit dem er die Frau bedachte.
Lady Claire beendete ihren Stich in aller Ruhe, schob die Nadel in den Stoff, damit sie sich nicht verlor, wenn sie ihre Arbeit beiseite legte und hob langsam ihren Kopf. Ihr Gesicht zeigte die Folgen langer Sorge und Betrübnis. Trotz Falten und traurigem Ausdruck, war sie noch eine Frau, der sich jeder Kavalier zu Füßen legen würde. Ihr goldbraunes Haar war sorgsam zurückgekämmt und zu einem ordentlichen Zopf im Nacken geflochten. Sie trug stets einfache Kleider, ohne Rüschen, kostbare Stickerei oder sonstigem Tand, dennoch war es zarter und weicher, als die Kleider der Frauen des nahe gelegenen Dorfes. Ihre Gesichtszüge ähnelten stark dem ihres Sohnes, besaß jedoch einen wesentlich weicheren und angenehmeren Ausdruck. Sie betrachtete ihren Sohn bedächtig und atmete tief ein. Sie besaß vor ihm keine Angst, genauso wenig wie vor ihrem Gatten, der sie vor vielen Jahren mit Schimpf und Schande und unter falschen Anschuldigungen, wie sie behauptete, aus seinem Palast gejagt hatte.
"Setz dich“, bot sie ihm freundlich einen Platz ihr gegenüber an.
"Ich stehe bequem“, gab Bradley geringschätzig von sich und rührte sich nicht von der Stelle.
"Vielleicht möchtest du dich nicht lieber doch setzen“, ließ sie sich nicht von ihm provozieren. "Was ich dir zu sagen habe, ist von außerordentlicher Prägnanz."
"So?", machte er nur und hob abschätzend eine Augenbraue.
"Mich überrascht, dass du meiner Bitte tatsächlich gefolgt bist“, gab sie lächelnd von sich und legte ihre Arbeit endgültig beiseite. Auf dem kleinen Tischchen neben ihrem Stuhl stand eine bereits geleerte Teetasse. Vorsichtig legte sie ihren Stoff darauf.
"Ich würde mir eher einen Finger meiner Hand abhaken, als ihnen eine Bitte zu erfüllen“, erwiderte der Sohn kalt. "Was mich in ihr Haus treibt, ist reine Neugier."
Für einen kurzen Moment huschte ein betrübter Ausdruck über ihr Gesicht. Es kränkte sie, dass ihr eigener Sohn derart reagierte. Doch was hatte sie erwartet. Er stand gänzlich unter dem Einfluss seines Vaters. Und dass ihm dieser nichts anderes als Hass vermittelte, musste sie eigentlich aus eigener Erfahrung wissen. Sie seufzte leise. Ihren Sohn verlor sie bereits in dem Moment, als sie ihn gebar. Er hatte ihr niemals gehört. Ihr Gatte sorgte stets dafür, dass sie ihn nie zu Gesicht bekam, solange er jung und beeinflussbar war.
"Nun, was ist?", forderte Bradley sie ungeduldig auf. "Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit."
Lady Claire hatte sich bereits wieder gefasst. "Du bist trotz allem eine Frucht aus meinem eigenen Leib“, begann sie. "Ob du mich nun verabscheust, oder nicht, ich werde jedenfalls alles in meiner Macht Stehende tun, um dich vor Schaden zu bewahren."
"Pah“, machte er und zog seine Mundwinkel angewidert hoch. "Auf ihren Schutz kann ich verzichten. Ich kann sehr gut auf mich selbst achten."
"Du bist geblendet, von den Worten deines Vaters und verkennst die Gefahr, die dich von seiner Seite aus bedroht“, hielt sie seinen verächtlichen Worten stand. "Dein Vater beabsichtigt Böses mit dir."
"Achten Sie auf ihre Worte, Lady Claire“, fuhr er ihr ärgerlich ins Wort. "Genügt Ihnen die Schande nicht, die Sie ihrem Gatten angetan haben? Müssen Sie ihn nun auch noch beleidigen?"
"Nichts was je über meine Lippen kommt, kann deinen Vater beleidigen“, gab sie ungerührt zurück. Böse funkelnde Augen drohten sie zu erdolchen, doch sie hielt seinem Blick stand. "Dein Vater trachtet stets nach neuem Ruhm, immer mehr Reichtum und immer mehr Macht, welches Leben es auch kosten mag."
"Tun wir das nicht alle?", erwiderte Bradley gelassen.
"Er würde sogar sein eigen Fleisch und Blut benutzen, um das zu bekommen." Ihre Worte wurden immer zorniger. Ihre Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen.
"Manchen bedeutet das eigene Blut weniger, als das von anderen“, spielte er auf etwas längst Vergangenes an.
Lady Claire ließ sich nicht provozieren. Sie atmete tief ein und entschloss sich, es ihm einfach zu sagen, ob er bereit war ihr zu zuhören, oder nicht. "Mir kamen höchst unlautere Absichten deines Vaters zu Ohren. Er schloss mit einem Herrscher aus dem Norden einen Vertrag über einen Landstrich, oben an der Grenze, zwischen unseren beiden Reichen. Der Preis dafür bist du." Sie blickte ihm unvermindert in die Augen.
"Sind Sie von Sinnen?", rief Bradley entsetzt. "Wie können Sie so etwas behaupten?"
"Meine Informanten sind absolut zuverlässig und loyal. Dein von dir so verehrter Vater, verschacherte dich für ein Stückchen Land, wie gemeines Vieh."
"Ich werde Ihnen für diese Lüge, die Zunge herausschneiden lassen“, rief er aufgebracht.
"Du brauchst ihn nur zu fragen."
"Niemals würde er Derartiges tun. Ich bin sein Erbe."
"Ob das in seinen Augen etwas zählt, bezweifle ich“, gab sie kühl von sich.
Nur für einen kurzen Augenblick schien Bradley über die Worte seiner Mutter nachzudenken. Doch mit einer verächtlichen Handbewegung wischte er seine Gedanken weg. "Mein Besuch bei Ihnen ist vergeudete Zeit“, zischte er böse. "Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen wollen. Ich habe Besseres zu tun, als den neidischen Worten einer Hure zu lauschen."
Diese Worte trafen schmerzhaft in ihr Herz. Doch sie schluckte und hielt seinem Blick eisern stand. "Achte auf dich, Bradley, und halte deine Augen offen“, schickte sie ihm hinterher, als er ohne weitere Verabschiedung den Raum verlassen wollte. An der Türe drehte er sich noch einmal um.
"Ich pfeife auf Ihren Schutz, Mutter“, zischte er höchst verächtlich. Das letzte Wort betonte er mit besonderer Verachtung. Böse funkelnde Augen bestraften sie ihrer vermeintlicher Lügen. Damit verschwand er endgültig.
Zurück blieb eine Frau, die schwer mit ihren Tränen zu kämpfen hatte. Die Worte ihres Sohnes trafen sie härter, als sie sich zugestehen wollte. Lange konnte sie den Kampf mit ihrem Schmerz nicht durchhalten. Sie griff sich ihre Stickarbeit, um sich abzulenken, doch bald tropften salzige Tränen auf den feinen Stoff.
Bradley spazierte den langen Korridor zum Arbeitszimmer seines Vaters entlang. Er ließ sich Zeit, denn er musste die ketzerischen Lügen seiner Mutter erst noch verdauen, bevor er seinem Vater gegenübertrat. Ob er ihn darauf ansprach, wusste er noch nicht. Vielleicht tat er es. Vielleicht aber auch vergaß er diesen Besuch einfach.
Er war sich seiner Schönheit und seiner Grazie, mit der er sich bewegte, durchaus bewusst. Von jahrelangem Training mit Schwert, Bogen und Fäusten, konnte er sich geschmeidiger bewegen, als manche Tänzer, die auf den immer wieder stattfindenden Bällen, im Haus seines Vaters, um die Gunst der jungen Damen buhlten. Bradley legte stets Wert darauf, in den kostbarsten Gewändern gekleidet zu sein. Reinste Seide und feinstes Linnen waren das Mindeste, das er an seinen Körper ließ. Er pflegte sich, wie ein verwöhntes Muttersöhnchen, obwohl er sich keineswegs davor scheute, während eines Kampfes in Schmutz und Morast zu waten - den kostbaren Gewändern zum Trotz. Er liebte seine eigene Schönheit und er liebte es, deswegen bewundert zu werden.
Als er das Arbeitszimmer seines Vaters betrat, war das Erlebnis mit seiner Mutter längst vergessen. Ein hünenhafter Mann in einem kostbar bestickten Hausmantel fuhr hoch, als Bradley eintrat.
"Bradley“, rief sein Vater aufgeregt. "Wo bist du gewesen? Ich habe dich überall suchen lassen. Komm setz dich, ich muss etwas Dringendes mit dir bereden." Hektisch wies er auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch. Wie oft hatte Bradley dort gesessen und den Ausführungen seines Vaters gelauscht. Auch heute setzte er sich in diesen Stuhl und wartete gelassen auf das, was sein Vater ihm zu berichten hatte.
"Ich ließ mich zu etwas hinreißen, was deine Zukunft beträchtlich verändern könnte“, begann er begeistert. "König Torwik aus dem Nordenland hörte von deinen hervorragenden Qualitäten als Heeresführer. Er bat mich, dich für eine Weile an ihn zu entleihen, damit du seine Männer auf Trapp bringst. Was hältst du davon?"
Bradley starrte ihn kurz an. Doch dann hellte sich sein Gesicht auf und er lachte lauthals los. Sein Vater betrachtete ihn fragend und schien eine Absage zu befürchten.
"Was ist daran so erheiternd?", wollte er wissen.
"Wissen Sie, von woher ich eben komme?", kicherte Bradley.
Der Fürst lehnte sich zurück und wartete stumm die Antwort ab.
"Ich war in Pickleewall“, beantwortete er sich selbst die Frage und wartete eine Reaktion ab.
Das Gesicht des Fürsten verfinsterte sich augenblicklich. Er wusste, wer in Pickleewall wohnte. - seine verstoßene Gattin.
"Was wollte sie von dir?", fragte er unvermindert. Auf die Idee, dass vielleicht sein Sohn seine Mutter sehen und sprechen wollte, kam er nicht. Dies war zu absurd für ihn.
Bradley beruhigte sich schnell wieder, doch der amüsierte Ausdruck in seinen Augen blieb. "Sie wollte mich davon überzeugen, dass Sie Ihren eigenen Sohn, für ein Stück Land oben an der Grenze verkauft haben."
Die Augen des Mannes weiteten sich, als hätte ihn jemand auf frischer Tat ertappt. Bradley sah es nicht, denn er lehnte sich bequem zurück und blickte zur Decke. Ruckartig erhob sich der Fürst. Der Stuhl kratzte über den Steinboden.
"Die Intrigen dieser Hure gehen ein für allemal zu weit“, rief er wütend und donnerte mit der Faust auf den Tisch. Bradley setzte sich wieder gerader.
"Wie kann sie es wagen solche lästerlichen Anschuldigungen von sich zu geben?", tobte der Vater. "Das ist unerhört."
"Sie behauptete, es aus zuverlässiger Quelle erfahren zu haben“, erwiderte Bradley. "Ihre Informanten bestehen scheinbar aus tauben Greisen, oder sie sind nicht ganz so loyal, wie sie denkt." Erneut kicherte er leise vor sich hin.
"Bradley, mein Junge“, wand sich der Fürst besorgt an seinen Sohn. "Ich muss dir leider jeden weiteren Besuch bei dieser Frau untersagen, so schwer es für dich vielleicht sein mag. Ich kann es nicht erlauben, dass du dich erneut ihrem schlechten Einfluss aussetzt."
"Keine Sorge, verehrter Vater“, entgegnete der Sohn leichthin. "Ich hätte ihrer Nachricht niemals Folge geleistet, wenn mich nicht einfach nur die Neugier veranlasste, sie zu besuchen. Ich wollte unbedingt wissen, was so präsent war, dass ich sie unverzüglich aufzusuchen hatte."
"Sie sandte dir eine Nachricht?", fragte der Fürst ungläubig, wo er doch wusste, dass Briefe und Boten aus ihrem Hause nicht eingelassen werden durften, demnach ihr Ziel niemals erreichen konnten.
Bradley nickte, ging jedoch auf die Frage nicht weiter ein. "Grämen Sie sich nicht länger, verehrter Vater“, beruhigte er ihn. "Ich schenkte keiner ihrer Worte Glauben. Ich bezeichnete sie sogar als Lügnerin."
Der Fürst setzte sich wieder, sichtlich erleichterter. "Ich wünschte, ich könnte sie hinrichten lassen, damit diese Intrigen ein für alle Mal aufhören."
"Was hält sie davon ab?", wollte Bradley kaltblütig wissen.
Ein winziges Schmunzeln huschte um die Lippen des Fürsten. Seine langen Lehren hatten gefruchtet. Sein Sohn entschied über das Leben seiner Mutter, in derselben verächtlichen Gleichgültigkeit, die er auch einem faulen Apfel zuwenden würde.
"Der Mob da draußen liebt sie trotz allem“, erklärte er mit hängenden Schultern. "Sie hilft Armen und Notleidenden und begibt sich in deren erbärmlichen Unterkünften, um ihnen Essen und Kleidung höchstpersönlich zu überbringen. Sie spielt die Erlöserin und beschämte ihren eigenen Ehemann. Wie kann ein Volk sie nur trotzdem lieben? Ich würde meine Stellung verlieren, wenn ich sie öffentlich anklagen und hinrichten ließe."
"Sie sind der Fürst dieses Landes und der Herr über das Volk. Ihr Wort gilt. Wie können Sie sich über die Meinung verwahrloster Bauern grämen?"
"Es ist nicht so einfach, wie du denkst“, erwiderte der Fürst und legte seinem Sohn eine gut gemeinte Hand auf die Schultern. "Du bist jung und heißspornig, aber in gewissen Dingen noch unerfahren. Ein ganzes Land zu regieren ist weitaus schwieriger, als einen Haufen Soldaten in eine Schlacht zu führen." Beinahe liebevoll tätschelte er die Schulter. "Doch ich bezweifle nicht, dass du es eines Tages ebenfalls lernen wirst. Man muss viel auf die Meinung seines Volkes geben, um es zufrieden zu stellen und zu bekommen, was man von ihnen verlangt. Weißt du, die erbärmlichen Bauern sind der Grundsockel unseres Thrones. Ohne sie würde er im Schmutz stehen." Damit entblößte er zwei Reihen weißer Zähne.
"Ich werde es mir merken, Vater“, lächelte Bradley.
"Wirst du nun nach Norden gehen?", fragte der Fürst und zog seine Hand zurück.
"Für wie lange?", wollte der Sohn wissen.
"Solange wie du brauchst, um aus dem Haufen Wilde zivilisierte Krieger zu machen“, grinste er.
"Ich werde es mir überlegen“, erwiderte Bradley und erhob sich.
"Ich wüsste nicht, was es zu überlegen gäbe“, entgegnete der Vater unschuldig. "Ich hielt dies für eine ausgezeichnete Gelegenheit, dein Können unter Beweis zu stellen. König Torwik ist unser Freund und so gab ich ihm bedenkenlos dein Einverständnis."
Bradley starrte ihn wortlos an. Er hasste es, wenn über ihn entschieden wurde, ohne ihn zu fragen. "Ich werde es mir überlegen“, wiederholte er fest entschlossen, sich nicht drängen zu lassen. Damit verließ er den Arbeitsraum.
Der Fürst von Bearesberg lächelte zufrieden. Er wusste, dass sich sein Sohn nicht würde anders entscheiden können, als sein Vater bereits für ihn entschieden hatte. Ein finsterer Ausdruck schlich sich in seine Augen, als seine Gedanken zu Lady Claire wanderten. Er konnte es nicht zulassen, dass sie unverhohlen seine Pläne durchkreuzte. Vielleicht sollte er sie doch einfach hinrichten lassen. Eventuell tat vielleicht ein zufällig ereignender Unfall seine Wirkung. Oder ... ?!
Er betätigte eine kleine Messingglocke, worauf ein Diener erschien.
Bradley konnte sich nicht anders entscheiden. Sein Stolz und sein Ehrgeiz ließen eine Absage nicht zu. So zog er mit einigen Männern nach Norden, um den schwarzen Wilden zu zeigen, wozu ein Bearesberg fähig war.
Auf einem Hügel vor der Stadt hielt er an und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Auf dem Weg hatte er viele verschiedenen Landschaften gesehen, hatte reißende Flüsse überquert, sich durch beinahe undurchdringliche Wälder gekämpft, war im strömenden Regen durch morastige Sümpfe gewatet und musste im Eisregen einen steilen Geröllhang hinaufklettern. Die Landschaft war immer karger und trostloser geworden, je weiter er in den Norden kam. Aus üppigen Blumenwiesen wurden karge Steinwüsten. Aus dichten Wäldern wurden Steppen aus kümmerlichem Buschwerk. Die verschwenderische Blütenpracht des Südens schwand zusehends. Im Norden wuchsen lediglich winzige Flechtgewächse, deren stecknadelgroße Blütenkelche nicht weit aus dem Blattwerk herausragten. Der Wind war kälter geworden und feuchter. Der Sommer stand bevor, doch Bradley fror und musste den Kragen weit hochziehen, um sein Gesicht vor dem Wind zu schützen. Er schob all die finsteren Gedanken beiseite, die die Umgebung in ihm hervorrief, und konzentrierte sich auf seine strahlende Zukunft als Heerführer der Nordmannarmee.
Frohen Mutes gab er seinem Pferd die Sporen und ritt den Hügel hinunter, in die Stadt, die dem Schloss König Torwiks zu Füssen lag. Finster aussehende Gestalten wichen zur Seite, säumten die Straße und entließen ihn nicht aus ihrem Blick, bis er um die nächste Ecke bog. Bradley konnte die Nordleute eigentlich nicht ausstehen. Er hielt sie für so wenig zivilisiert, wie einen verwahrlosten Straßenköter. Noch vor den Stadttoren empfingen ihn lange Stangen mit aufgespießten Skeletten. Ein Beweis mehr für die Primitivität der Nordmänner. Nur für einen Moment überwältigte ihn kaltes Grauen, doch er schüttelte es rasch ab. Er hatte sich bereiterklärt für einige Zeit ihr Lehrer zu sein, so musste er seine Meinung für sich behalten.
Ein Trupp Soldaten des Königs ritt ihm entgegen, als er durch das Stadttor kam. Und bald wurde Bradleys Zug von finsteren, Schrecken verheißenden Gestalten eskortiert. Er sah seine Meinung bestätigt, als er die Soldaten betrachtete. Der König hielt es nicht einmal für wichtig, seine Leute gleich zu kleiden. "Wie konnten sie in einer Schlacht zwischen Feind und Freund entscheiden?", fragte sich Bradley. Doch er würde diesen Fell tragenden Hünen bald Zivilisation und Disziplin beibringen, dessen war er sich sicher. Die meisten der Männer trugen eingeschwärzte Felle und Helme, die bei einem Kampf Mann gegen Mann hinderlich waren, oder gar ins Gesicht rutschten und die Sicht verdeckten. Kopfschüttelnd überlegte sich Bradley, wie er den König von der Notwendigkeit einer zweckmäßigen Uniform überzeugen konnte.
In den Straßen der Stadt wurden ebenso verwahrloste und finstere Gestalten zur Seite gedrängt. Sie schimpften, fügten sich aber und blickten dem Trupp mit drohendem Blick hinterher. Bradley fragte sich, ob dies eine typische Mentalität der Nordmänner sei. Keiner begrüßte ihn freudig und betrachtete ihn neugierig. Offenbar stellte eine Störung ihres normalen Tagesablauf lediglich ein lästiges Übel dar. Vergnügungen schien es nicht zu geben, zumindest nicht in diesem Sinne.
König Torwiks Schloss saß inmitten der Stadt, wie ein verrußter Felsbrocken, drohend und unheimlich, wie die Bewohner, die ihn umringten. Auf einigen Türmen wehten schwarze Fahnen. Der bevorzugte Schmuck des Königs schienen allerdings die Gebeine seiner besiegten Feinde zu sein, die auf langen Stangen auf den Schlossmauern hingen und wie Mahnmale auf die Bewohner unter ihnen herunterblicken. „Kein Wunder“, sagte sich Bradley. „Bei diesem Anblick kann doch keine Freude aufkommen.“
Das Innere des Schlosses bot weitaus mehr Schmuck und Zierade. An den Wänden hingen dicke Teppiche und kostbare Bilder – offenbar Beutestücke aus Raubzügen. Denn einige der Bilder besaßen Kratzer und Scharten, die offenbar von unsachgemäßem Transport oder Lagerung herrührten. Zahlreiche Fackeln leuchteten beinahe jeden Fleck des Schlosses aus. Das Mobiliar schien aus mehreren Geschmacksrichtungen, Stilen und Epochen zusammengewürfelt oder vielmehr zusammengestohlen zu sein. Der junge Königssohn ging mit einem abschätzenden Lächeln an all den Reichtümern vorbei. Die Nordmänner schienen nicht nur Nachhilfe in Kampfkunst zu benötigen, sondern auch in der Art und Weise, wie sie sich einrichten mussten.
König Torwik war ein ebenso überragender und Furcht gebietender Mann, wie seine Gefolgsleute. Auch er schmückte sich mit Tierfellen und einem unkommodem Helm, sodass sich Bradley die Angelegenheit mit der Kleidung für später aufhob. Der junge Bearesberg mit seinen leuchtend, blonden Haaren und seiner mit glitzernden Edelsteinen besetzter Kleidung, stach aus der Menge Gäste, die sich vor dem Thron des Königs versammelten, so gewaltig heraus, wie eine Fackel in einer mondlosen Nacht. Bradley grinste und war sich seiner Wirkung bewusst. Stolz erhobenen Hauptes schritt er auf den Herrscher zu und beobachtete die Leute, an denen er vorbeischritt aus den Augenwinkeln heraus. Jeden einzelnen fragenden Augenaufschlag, jeden einzelnen verwunderten Blick, sog er gierig in sich hinein. Auf der Reise hatte er mehrmals darüber nachgedacht, ob er das wirklich Richtige tat, doch nun, in Anbetracht der staunenden Gäste, hieß er seine Entscheidung für die einzige, die je hätte fallen dürfen. Der Glanz des bevorstehenden Ruhmes begann, ihn zu blenden.
König Torwik unterbrach die Konferenz, deren er im Moment beiwohnen musste, erhob sich und ging dem jungen Krieger entgegen. Er nahm ihn in die Arme, wie einen alten Freund und tätschelte ihm freundschaftlich die Schulter. Bradley rümpfte die Nase in Anbetracht des ranzigen Geruches seines königlichen Felles. Doch er zwang sich, dies nicht anmerken zu lassen.
"Der junge Bearesberg“, rief Torwik erfreut. "Ich bin hoch erfreut, dass du meinem Hilferuf gefolgt bist."
"Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun“, entgegnete ihm Bradley höflich und verbeugte sich leicht.
"Es wird nicht leicht sein, meinen Männern die Kampfkunst des Südens beizubringen“, grinste der König. "Aber wenn du nur annähernd so gut bist, wie dein Ruf, wird es für dich wohl ein Leichtes sein."
"Ihr könnt unbesorgt sein“, erwiderte Bradley selbstsicher lächelnd.
König Torwik drehte sich um und winkte einen seiner Gäste zu sich. "Das hier ist mein Neffe Klarik“, stellte er ihm den Mann in dickem schwarzen Pelz und kürbisgroßem Helm vor. "Ihm ist die Horde unterstellt, die ich bis dahin mein Heer nannte. Er wird dir zur Seite stehen und dir bei deiner Arbeit behilflich sein." Klarik nickte Bradley kurz zu, ließ sich jedoch zu keiner weiteren Äußerung verleiten. Daraufhin nickte ihm Bradley ebenfalls wortlos zu.
"Wenn ihr mich nun entschuldigen wollt, ich muss mich um unaufschiebbare Angelegenheiten kümmern." Damit tätschelte er Bradley noch einmal kurz auf die Schultern und wand sich dann wieder seiner Konferenz zu.
Etwas enttäuscht, nicht gebührender empfangen zu werden, blickte Bradley dem König hinterher, bis er ein Geräusch neben sich vernahm. Klarik räusperte sich kurz, um die Aufmerksamkeit des Südländers zu erwerben und ging dann ebenso wortkarg wie bisher an ihm vorbei. Er bahnte sich einen Weg durch die wartenden Gäste und schien kein Interesse mehr an seinem neuen Lehrmeister zu haben. An der Türe blieb er jedoch stehen und wartete, bis Bradley begriffen hatte, dass dies eine Aufforderung war, ihm zu folgen. Schulterzuckend und kopfschüttelnd spazierte Bradley wieder aus dem Saal und folgte dem Schwarzbepelzten.
"Das sind Eure Gemächer“, bellte Klarik kurz, öffnete eine Tür in einem langen Korridor und drehte sich wieder um, um ihn dann einfach stehen zu lassen.
"Unverschämter Kerl“, schimpfte Bradley im Stillen, beließ es jedoch dabei. Er war müde von der langen Reise und sehnte sich nach einem Bad und einem Bett. Beides fand er in seinen neuen Räumen vor.
Er genoss es sichtlich, als er in einer Wanne mit duftendem, heißem Wasser lag und von blutjungen Mädchen eingeseift wurde. Sie kicherten und tuschelten miteinander und tauschten vielsagende Blicke miteinander aus. Doch Bradley ließ sich dadurch nicht weiter stören. Vermutlich erwarteten sie von ihm, dass er sich nach dem Bad Eine nach der Anderen nahm, da sie sich je länger das Bad dauerte, immer mehr entblätterten. Bradley weigerte sich, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Er brauchte seinen Kopf für weitaus wichtigere Dinge und schickte die halbnackten Mädchen kurzerhand weg.
Ihm wurde ein Heer von dreihundert bepelzten Männern unterstellt, die er persönlich zu unterrichten hatte. Klarik stellte sie als die Besten des nordischen Heeres vor. Missgläubig beäugte Bradley beinahe jeden einzelnen. Dass sie zu kämpfen verstanden, bezweifelte er keinen Augenblick. Doch ihre ordinäre Art sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, entsprach wahrhaftig nicht die einer vernünftigen und erfolgreichen Kriegsstrategie. Es versprach, eine Menge Arbeit zu werden.
Als Erstes konnte Bradley tatsächlich erwirken, dass sie alle die gleiche Kleidung trugen. Da er ihnen ihre großen Helme, die Dämonengesichter darstellen sollten, nicht gänzlich nehmen konnte, ließ er sich eine besondere Helmart einfallen, wesentlich kleiner und weniger hinderlich, als die großen, aber mit dem Symbol eines alten nordischen Kampfgottes als Patron. Als Zweites tauschte er die Keulen, Äxte und Prügel in Schwerter und Speere um. Er seufzte müde, als er ihnen den Gebrauch einer Klinge erst erklären musste. Die nordischen Krieger standen ihm in Mut und Ausdauer keineswegs nach. Was ihnen fehlte, war Strategie und logisches Handeln. Sie waren es gewohnt, ihre Gegner mit wildem Gebrüll, grotesken Masken und bedrohlichen Waffen einzuschüchtern und sie bei plötzlichen Ausfällen buchstäblich zu überrennen, doch gegen die taktische Kriegskunst der östlichen Länder besaßen sie nicht die geringste Chance. Für einen Moment fragte er sich überheblich, wie es den Nordmännern nur gelingen konnte, ihr gewaltiges Reich viele Generationen lang erfolgreich zu verteidigen.
Als Bradley nach einigen Wochen und Monaten der Meinung war, die Männer seien bereit, um auf das Schlachtfeld geschickt zu werden, inszenierte er Auseinandersetzungen mit den östlichen Heeren. Die Ostleute und die Nordmänner lagen in ständigem Streit um ihre Grenzgebiete. Dies kam Bradley gerade Recht, um die Qualifikation der ihm unterstellten Männer zu testen.
Zufrieden blickte er von einem kleinen Hügel auf das Getümmel herab.
Klarik wich ihm während der ganzen Zeit nie von der Seite. Er beobachtete den Südländer ständig, als wolle er ihn kontrollieren. Bradley wurde das Gefühl nicht los, dass sich der Nordmann ständig unter Kontrolle halten musste. Anweisungen nahm er stets zähneknirschend entgegen und die schlechte Laune schien nie von ihm weichen zu wollen. Lächelnd hielt Bradley sein Verhalten für die Reaktion darauf, dass man ihm einen Mann vor die Nase gesetzt hat, der nicht einmal ein Stammesgenosse war.
Bradley liebte das Tosen einer Schlacht. Er liebte das Klirren der Schwerter und das Sirren der Bogensaiten. Genüsslich beobachtete er das Heer Nordmänner, wie es tiefe Schneisen in die Landkarte fraß. Gelegentlich beteiligte er sich selbst an Schlachten, doch meist beobachtete er aus sicherer Entfernung und hatte ein Auge auf alle Handlungen seiner Schüler. Er entdeckte, dass zu den südländischen Strategien, die unerschrockene und todesmutige Kampfkraft der Nordmänner kam und sich dies zu einer gefährlichen Mischung entwickelte. Mit diesem winzigen Heer bewirkte er beinahe so viel, wie mit der dreifachen Anzahl von Südländern. Stolz auf sein Werk entwickelte er immer neue Ideen und hinterließ immer blutigere Spuren auf seinen Ausfällen.
Als sie einmal hinter einer flüchtenden Einheit herjagten, kamen sie durch bewohntes Gebiet. Die Nordmänner fielen grausam in die Bevölkerung ein, brandschatzten, vergewaltigten und metzelten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie benahmen sich plötzlich wieder wie Barbaren. Entsetzt rief Bradley Klarik zu sich.
"Was soll das?", schimpfte er. "Ruft die Männer zurück."
Klarik lächelte nur, gab den Befehl jedoch nicht weiter.
"Ich habe ihnen nicht befohlen, sich an der Bevölkerung auszulassen“, wetterte Bradley. "Ruft sie zurück, oder Ihr werdet dafür büßen."
Auch diese Drohung setzte Klarik nicht in Bewegung. "Ihr könnt den Männern doch nicht vorenthalten, was Ihr euch selbst verwehrt“, grinste er frech.
"Was soll heißen?", wollte Bradley zornig wissen.
Stumm wies Klarik mit dem Kopf auf einen der Nordmänner, der in ihrer unmittelbaren Nähe ein junges Mädchen vergewaltigte. Es war eine Anspielung auf Bradleys körperliche Abstinenz.
"Das ist noch lange kein Grund“, schrie Bradley. "Befiehlt ihnen, endlich damit aufzuhören."
"Ich werde keinen Mann von seinem Vergnügen wegholen“, erwiderte Klarik gelassen. "Gönnt den Männern diesen Spaß. Ihr werdet sehen, sie werden hinterher umso besser kämpfen."
"Ich werde mich bei Eurem Herrn über Euren Ungehorsam beschweren“, drohte Bradley böse.
"Nur zu“, riet ihm der Nordmann lächelnd zu. "Ich wette, er wird euch auslachen."
"Euch wird das Lachen schon noch vergehen“, zischte Bradley und trieb sein Pferd an, um dem Mädchen zu Hilfe zu eilen.
Klarik hielt ihn zurück. "Solltet Ihr es wagen, einzugreifen, werdet Ihr nichts mehr zu lachen haben“, drohte er.
"Ach ja?", schrie Bradley und stieß seine Hacken in die Flanken seines Tieres, dass es hoch stieg. Klarik holte augenblicklich mit seinem Schwert aus und erwischte den jungen Bearesberg nur knapp an der Schulter.
Entsetzt starrte Bradley auf die kleine Schnittwunde. "Wie könnt ihr es wagen?", zischte er wütend und zog ebenfalls sein Schwert.
"Ich kann mit Sklaven walten, wie ich will“, erwiderte Klarik nicht minder gereizt. Zu lange musste er sich zurückhalten. Nun war es soweit, dass ihn nicht einmal mehr der strikte Befehl seines Königs aufhalten konnte. Doch nur für einen kurzen Moment war er bereit gewesen, die Maskerade abzulegen. Schnell hatte er sich wieder gefasst, riss die Zügel herum und beabsichtigte, sich scheinbar selbst an den Vergnügungen zu beteiligen.
"Einen Moment“, schrie im Bradley hinterher. "Wie war das eben?" Er packte die Zügel des anderen Tieres und bremste es ab. "Würdet Ihr das bitte wiederholen?", forderte er barsch.
"Was wollt ihr hören?", gab Klarik, wieder vollkommen Herr seiner selbst, von sich.
"Ich bin keiner Eurer verlotterten Sklaven und ich verbiete Euch, jemals wieder so über mich zu reden“, herrschte Bradley und hob ihm zur Unterstreichung seiner Worte die Schwertspitze unters Kinn.
"Das glaubt Ihr“, zischte Klarik. Wieder einmal war es soweit, dass er sich nicht mehr bremsen konnte. Zu lange hatte er zurückstecken müssen. "Ihr seid ebenso ein jämmerlicher Sklave, wie die hier es bald sein werden." Ein gefährliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Seine Augen drehten sich kurz zu den panischen Bewohnern des Dorfes, um erkennen zu geben, wen er mit 'die hier' gemeint hatte. "Glaubt Ihr allen Ernstes, Ihr seid lediglich ausgeliehen worden, um uns zu unterrichten?" Klarik lachte auf. Die Schwertspitze unter seinem Kinn schien ihn nicht im Geringsten zu stören. "Der Preis für einen guten Feldherrn war ein Stück Land“, kicherte er und amüsierte sich köstlich, obwohl ihm der drohende Tod buchstäblich an der Gurgel saß.
Fassungslos starrte Bradley den Nordmann an. Wie naiv war er nur gewesen. Seine Mutter hatte also die Wahrheit gesagt. Grenzenlose Wut und rasender Zorn keimte plötzlich in ihm auf, doch ehe er zustoßen konnte, schnellte Klariks Fuß hoch und trat Bradleys Reittier so heftig in die Schulter, dass es erschrak, stolperte und samt Reiter stürzte. Fluchend kroch Bradley unter dem Tier hervor und wollte sich sogleich wieder auf den Nordmann stürzen. Während dessen, hatte Klarik einigen Männern ein Zeichen gegeben. Sie warfen sich auf Bradley, entwaffneten ihn und nagelten ihn mit ihrem Körpergewicht auf dem Boden fest. Klarik stieg seelenruhig aus dem Sattel und spazierte zu dem gefangenen Südländer.
"Ihr seid nicht mehr wert, als ein Stück Vieh“, zischte Klarik.
"Demnach seid Ihr wohl der Ziegenhirt“, konterte Bradley und versuchte sich zu befreien. Eine harte Ohrfeige ließ ihn innehalten.
"Benehmt euch vor dem Ziegenhirt“, ermahnte Klarik. "Sonst könnte es sein, dass ich auf die Idee komme, euch zu melken." Damit fielen seine Männer in schallendes Gelächter. Bradley spuckte angewidert aus. Eine weitere Ohrfeige knallte.
Vor der Tür des Arbeitszimmers, in dem König Torwik seinen Regierungsgeschäfte abwickelte, entstand Aufruhr. Männer brüllten durcheinander, Gegenstände wurden umgeworfen, eilige Schritte hasteten hin und her, bis die Türe plötzlich aufflog und ein wutentbrannter junger Mann hereinstürmte. Der nachfolgende Nordmann bemühte sich nicht sonderlich, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er wahrte den Schein und hielt ihn nur dann und wann zurück, wenn er sich aus seiner Reichweite begab.
"Ist das wahr?", brüllte Bradley den König an. "Ihr habt mich gegen ein Stück Land eingetauscht?"
Torwik suchte den Blick seines Neffen. Dieser starrte unvermindert zurück. Er machte keinen Versuch, den Verrat abzustreiten.
"Ist das wahr?", schrie Bradley hysterisch, als die Antwort ausblieb.
"Mein junger Bearesberg, so beruhige dich doch“, gab Torwik seelenruhig von sich. "Ich hatte eigentlich vor, dich vor dieser schrecklichen Wahrheit zu bewahren. Deine Arbeit sollte nicht durch trübe Gedanken zerstreut werden. Du hast Wichtigeres zu tun."
"Ich werde unverzüglich abreisen“, entschloss Bradley außer sich vor Zorn.
"Mein Junge“, beruhigte ihn der König. "Ich bezweifle, dass dein Vater das Land zurückgeben wird. Es ist zu wichtig für ihn. Siehst du ... ." Er erhob sich aus seinem Stuhl und ging ein paar Schritte auf den vor Wut zitternden Bradley zu. "Diese Idee stammte nicht von mir. Ich weiß deine Fähigkeiten zu schätzen und werde sie nicht mehr missen wollen. Dein Vater wollte dieses Stückchen Land schon immer haben und er wusste, wie sehr ich deine Leistungen auf dem Schlachtfeld bewundere. So bot er dich im Tausch gegen diesen Landstrich an. Es wäre deshalb falsch, deine Wut an mir auslassen. Ich für meinen Teil machte bei diesem Handel das schlechtere Geschäft."
Dies genügte, um Bradley vor Wut schier platzen zu lassen. Er schlug um sich und hätte den König getroffen, wenn Klarik nicht auf der Hut gewesen wäre. Er hielt den zappelnden und strampelnden Kerl fest in seinen starken Armen und gab ihn auch nicht frei, als Bradleys Kräfte nachließen.
"Ich denke doch, dass du dich nach einer gewissen Zeit hier gut einleben wirst“, versicherte ihm Torwik. "Mein Neffe wird dafür sorgen, dass es dir an nichts mangelt und du ungehindert deine Arbeit verrichten kannst."
"Einen Dreck werde ich tun“, brüllte Bradley.
"Na, na“, mahnte Torwik. "Du wirst doch nicht unartig werden. Ich müsste sonst veranlassen, dass dir der Hintern strammgezogen wird und dies möchte ich dir nicht unbedingt antun. Es ist äußerst demütigend für einen erwachsenen Mann, über eine Streckbank gespannt, den Allerwertesten vertrimmt zu bekommen."
Bei diesen Worten kicherte Klarik leise. Er verstummte jedoch, als ihn der König mit einem strafenden Blick versah.
"Du bist immerhin mein Eigentum“, fuhr Torwik fort. "Und mit meinem Eigentum kann ich verfahren, wie mir der Sinn steht. Ich würde dir daher raten, dich in dein Schicksal zu fügen und zu tun, was man dir aufträgt."
Bradley keuchte. Seine Augen funkelten zornig. Er biss sich auf die Lippen, um sich die Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, zu verkneifen. Klariks Griff schmerzte, doch dies ließ er ungeachtet. Was ihn mehr schmerzte, war der Verrat seines Vaters an seinem eigenen Fleisch und Blut. Er schalt sich, nicht auf die Warnung seiner Mutter geachtet zu haben. Nun war es zu spät.
"Du wirst dich daran gewöhnen“, ergiff der König erneut das Wort. Er nickte seinem Neffen zu, worauf dieser seinen Gefangenen augenblicklich freigab. Noch bevor er ihn gänzlich freigeben konnte, entriss sich Bradley ihm. Klarik machte keinen Versuch, sich den Südländer wieder unterzujochen. Er erkannte, dass er nicht mehr tiefer gekränkt werden konnte. Bradley kannte nun seine Stellung und würde sich früher oder später fügen.
"Ich denke doch, dass du nun wieder an deine Arbeit gehen kannst“, gab Torwik von sich. Er ging zurück zu seinem Stuhl, um seine unterbrochene Tätigkeit fortzuführen.
Bradley blieb stehen und starrte ihn zornig an.
"Hast du noch einen Wunsch auf dem Herzen?", fragte Torwik unschuldig. "Wie wäre es, wenn ich dir einen persönlichen Wunscherfüller zuweise, damit es dir wirklich an nichts mangelt?" Seine Frage glich mehr einem Befehl, den Aufpasser unbedingt anzunehmen, denn einem Vorschlag. "Ich bin sicher, Klarik ist bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Nicht wahr, mein Neffe?" Dieser nickte frech grinsend.
Bradley wandte sich kurz nach ihm um. Seinem Blick war zu entnehmen, dass ihm dies ganz und gar nicht passte.
"Ich bin euch für eure Großzügigkeit unendlich dankbar“, erwiderte Bradley krampfhaft beherrscht und verbeugte sich leicht. Dann drehte er sich wortlos um und wollte den Saal verlassen. Klarik stellte sich ihm in den Weg. Sein breites Grinsen verriet, dass er den Südländer keine Sekunde mehr aus den Augen lassen würde. Er würde jeden einzelnen Augenblick von Bradleys Leben mit Argusaugen überwachen und ihm gehörig auf die Finger klopfen, falls er es wagen würde, einen Fehler zu begehen. Dann erst gab er den Weg frei.
Bradley begab sich in seine Räume. Er warf die Türe hinter sich zu und hätte sie beinahe seinem, ab sofort ständig und überall hin folgenden Schatten vor die Nase geknallt. Klarik schien dies bereits vorher gewusst zu haben und blieb rechtzeitig stehen. Leise öffnete er die Türe und sah Bradley in grenzenloser Wut alles von Tischen, Schränken und Regalen herunterfegen und auf dem Boden zertrampeln. Amüsiert beobachtete er ihn dabei und meldete sich erst zu Wort, als sich sein Schützling einigermaßen beruhigt hatte.
"Ihr werdet den Schaden bezahlen müssen“, meinte er, die Summe oberflächlich abschätzend.
"Verschwindet“, zischte Bradley böse und hätte ihn mit Blicken getötet, wenn er dazu im Stande gewesen wäre. Dann entschied er sich, ihn einfach zu ignorieren. Er ließ sich in einen Stuhl fallen, jedoch nur um gleich wieder aufzuspringen und unruhig im Zimmer hin und her zu wandern. Sein aufgewühltes Blut ließ keinen Moment der Ruhe zu.
"So gerne ich es täte“, gab Klarik leichtfertig von sich. "Ich kann euch diesen Wunsch leider nicht erfüllen."
Sein breites Grinsen brachte Bradleys Blut erneut in Wallung. Doch er zwang, sich Ruhe zu bewahren. Er brauchte nun einen klaren Kopf. Er musste nachdenken. Er musste einen Fluchtplan aushecken. Je angestrengter er darüber nachdachte, desto stärker keimte der Hass auf seinen Vater auf.
"Verdammt“, fluchte Bradley leise vor sich hin. "Wie Vieh verkauft. Das lasse ich mir nicht bieten." Wütend stieß er den Stuhl um, auf den er sich vorhin, für ein paar Sekunden gesetzt hatte. "Verdammt noch mal“, fluchte er erneut. "Ein einziges Mal sagte sie die Wahrheit und ich Trottel habe ihr nicht geglaubt." Diesmal trat er nach dem Stuhl. "Aber das werde ich ihm heimzahlen. Ich werde mich dafür rächen“, zischte er leise vor sich hin. Doch dann brüllte er seinen Zorn aus sich heraus. "Hörst du? Verdammt noch mal, ich werde mich dafür rächen - bis aufs Blut." Seine geballten Fäuste drohten der Decke entgegen.
Klarik beobachtete ihn stumm und mit höchst amüsiertem Blick. Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als den Südländer davor zu bewahren, sich lächerlich zu machen.
"Wenn er es so haben will, bitte“, rief Bradley, immer noch mit sich selbst redend. "Ich spiele mit. Ich spiele sein verdammtes Spiel mit. Aber er wird sich wundern. Er wird sich noch wundern." Dann funkelte er seinen Beschützer tatenfreudig an. "Wir haben viel zu tun“, rief er und verließ das Zimmer, ohne darauf zu achten, ob ihm sein Schatten folgen konnte. Klarik konnte ihm folgen. Er hätte sich um nichts in der Welt abhängen lassen.
Bradley entwickelte in den folgenden Tagen eine nie geahnte Aktivität. Er trieb die ihm unterstellten dreihundert Nordmänner zu Höchstleistungen an und forderte sie immer stärker, in immer neuen und unbarmherzigeren Schlachten, um die Gebiete im Osten. Seit diesem Tag der Wahrheit, beteiligte er sich selbst an den Plünderungen und Brandschatzungen, ließ sich jedoch trotz allem nur selten zu einer Vergewaltigung hinreißen. Klarik verspottete ihn deswegen, sogar vor versammelter Mannschaft. Bradley reagierte, als ginge ihn dies nichts an. Seine Gedanken hafteten, trotz allen Ausfällen, in denen er nicht minder blutig hauste, an seinen Fluchtplänen. Er schätzte jede Gelegenheit genau ab und dachte erst an Flucht, als er sich absolut sicher war, dass es ihm gelingen würde.
Eine solche Gelegenheit bot eines Tages eine Brandschatzung in einem Dorf. Die Nordmänner waren gänzlich mit plündern, morden und vergewaltigen beschäftigt, dass sie nicht auf ihren Anführer achteten, der eigentlich ihr Gefangener war. Selbst Klarik war weit und breit nicht zu sehen. Bradley wagte es. Der Wald war zum Greifen nahe. Er arbeitete sich langsam dem Wald näher und rannte los, als er es für richtig hielt. Doch bereits, als er wenige Meter in das freie Feld hinein gelaufen war, warf ihn der Schwung eines heransausenden Pfeils um. In Windeseile standen ein Dutzend Nordmänner um ihn herum.
"Ihr wolltet wohl fliehen?", rief Klarik, erfreut, endlich eine Gelegenheit sich an ihm auszulassen, zu bekommen.
"Tölpel“, schimpfte Bradley geistesgegenwärtig und stöhnte vor Schmerz. Der Pfeil hatte sich in seine Schulter gebohrt. "Es ist Eure Schuld, wenn sie entkommen."
"Ich denke, da ist niemand der entkommen könnte“, lachte Klarik und piekte kurz sein bluttriefendes Schwert in die Rippen des Südländers.
Bradley wollte aufspringen, doch die Männer setzten schnell ihre Füße auf seinen Rücken und drückten ihn wieder zu Boden. Sie wandten mehr Kraft auf, als sie benötigten, ihn dort festzuhalten, so stöhnte ihr Gefangener ein zweites Mal auf.
"Es soll doch niemand entkommen“, rief Bradley. "Dann schickt endlich ein paar Männer hinterher, sonst kommen sie mit dem Leben davon“, schrie Bradley wütend und versuchte sich zu erheben. Die Last der vielen Füße war zu schwer und er gab auf.
Klarik schickte tatsächlich einige Männer in den Wald. Sie kamen aber nach einiger Zeit kopfschüttelnd zurück.
"Ich denke, ihr wolltet doch fliehen“, rief Klarik. "Da ist niemand im Wald."
"Natürlich“, rief Bradley zurück. "Weil ihr ihnen genügend Zeit gegeben habt. Ihr seid unfähig. Verdammt noch mal, lasst mich los."
Klarik nickte seinen Männern zu, worauf diese ihre Füße zurücknahmen. Bradley rappelte sich hoch.
"Dafür werdet ihr büßen“, zischte Bradley drohend und klopfte sich den Staub aus den Kleidern. Die Pfeilwunde schmerzte. Er verzog sein Gesicht. Jemand zog ihm die Spitze mit sehr wenig Gefühl heraus. Bradley biss sich jedoch auf die Lippen. Kein Schrei sollte über seine Lippen kommen.
"Ich bezweifle, dass ihr Flüchtlingen auf den Fersen wart“, grinste Klarik selbstsicher. Er nickte erneut und seine Männer stießen ihren Anführer vor sich her, zurück in das Dorf, das ihre Kameraden inzwischen dem Erdboden gleich gemacht hatten.
Erneut entstand vor der Türe des Arbeitszimmers Aufregung. Diesmal wurde Bradley hineingestoßen. Er fiel gegen die Türe, die sich daraufhin öffnete und seinen Schwung keineswegs abbremste. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten.
König Torwik beobachtete das Geschehen, mit einem gelangweilten und einem erbosten Auge.
"Er hat versucht zu fliehen“, kam Klarik sogleich mit seiner Neuigkeit heraus.
"Das ist nicht wahr“, brüllte Bradley ihm wütend entgegen, entriss sich gewaltsam Klariks Griff und wand sich dann an den König. "Ich verfolgte einige Flüchtlinge, die sich in den Wald retten wollten. Es ist seine Schuld, wenn sie nun mit dem Leben davongekommen sind." Bradley atmete schwer und zitterte vor Rage. Er hielt den Arm seiner verletzten Schulter an den Brustkorb gepresst. Der Stoff seines Anzuges war inzwischen blutdurchtränkt. Niemand hatte bislang daran gedacht, die Wunde zu versorgen. Der Schmerz trieb ihm beinahe die Tränen in die Augen, doch er versuchte die pochenden Qualen krampfhaft, aber unmerklich zu unterdrücken.
Der König wechselte fragende Blicke von einem zum Anderen. Zwei nervende Streithähne, mochte er in diesem Moment gedacht haben. Er war es leid, ständig den Schlichter spielen zu müssen.
"Du hast also nicht versucht zu fliehen?", fragte Torwik, etwas gelangweilt.
"Sehe ich so dumm aus?", gab Bradley spitz zurück und hielt dem durchdringenden Blick des Herrschers mühelos stand.
Der König wusste genau, dass der junge Mann log. Dennoch ging er nicht weiter darauf ein. Er wand sich an seinen Neffen.
"Entschuldige dich bei ihm“, forderte er.
Klarik blieb der Mund offen stehen. Er brachte es vor Überraschung nicht fertig, eine anständige Verweigerung zu äußern.
"Entschuldige dich bei ihm“, forderte der König erneut und mit barscherem Ton.
Diesmal gehorchte Klarik. "Verzeiht mir meinen Fehler“, kam es leise hervor.
"Lauter“, forderte sein Onkel.
"Ich bitte euch um Vergebung“, schrie er es beinahe heraus. Seine Augen drückten unendliche Enttäuschung aus.
"Wagt es niemals mehr, an meinen Handlungen zu zweifeln“, drohte Bradley böse.
"Geh und lass deine Wunde versorgen, Bearesberg“, befahl Torwik und wies ihn zur Türe hinaus. Seinen Neffen hielt er mit Blicken zurück.
Sobald die Türe hinter Bradley geschlossen war, wollte Klarik seinen Protest zum Ausdruck bringen, doch eine Handbewegung seines Herrn ließ ihn verstummen.
"Ich weiß, er hat versucht zu fliehen“, wusste er Bescheid. "Er lügt. Doch lassen wir ihn in dem Glauben, dass es ihm tatsächlich gelang, sich herauszureden." Klariks Blick hellte sich ein wenig auf. "Ich möchte, dass du genau auf ihn Acht gibst. Er wird es wieder versuchen und du musst ihm die Gelegenheiten nehmen, bevor er sie finden kann. Wir können es uns nicht leisten, ihn zu verlieren, bevor wir zur eigentlichen Schlacht schreiten. Lass ihn noch eine Weile mit den Ostleuten spielen. Dann wird er sich wie ein hungriger Wolf auf mein Angebot stürzen." Ein vielsagendes Lächeln huschte um seine Lippen. Klarik erwiderte es.
"Wie Ihr wünscht, mein Herr“, gab er ergeben von sich und verbeugte sich höflich.
"Sei nett zu ihm“, ermahnte Torwik, mit einem vielsagenden Lächeln. "Er führt unser Land zu Ruhm und Macht."
Klarik nickte und verließ dann das Arbeitszimmer.
Klarik gönnte seinem Lehrer und Gefangenen ein paar Tage Ruhe, um sich von der Wunde zu erholen. Seine Männer mussten indessen im Innenhof des Schlosses Übungen ausführen, die Bradley entworfen hatte. Mit Schwertern, Speeren und Holzstangen gingen sie immer wieder aufeinander los, probten Ausfälle, Verteidigungen und besondere Hiebe. Metall klirrte auf Metall. Das Stampfen zahlreicher Füße erzitterte den Boden und ihre markerschütternden Schreie hallten durch jeden Raum des Schlosses. Bradley hatte sich längst an dieses Gebrüll gewöhnt, ihn trieb jedoch seine Neugier auf die Terrasse. Zu seinem Missfallen fand er dort bereits Klarik vor, der ebenfalls hier Stellung aufgenommen hatte, um einen besseren Überblick über das Trainingsgeschehen zu bekommen. Noch ehe Bradley umkehren und die Terrasse verlassen konnte, war er entdeckt.
"Kommt und seht es Euch an“, lud ihn Klarik ein und wies auf das Getümmel unter ihnen. "Das ist mitunter auch Euer Verdienst."
Bradley zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Komplimente war er aus diesem Mund nicht gewohnt. Trotzdem ging er zur Brüstung und blickte hinunter. Er musste sich eingestehen, dass er nicht ohne Stolz auf die wilde Horde blicken konnte. Er hatte aus ihnen eine perfekt funktionierende Streitmacht geschaffen. Klarik wollte er diesen Triumph jedoch nicht gönnen und wand sich wortlos und mit abfälligem Blick wieder ab.
"Euch gefällt es wohl nicht“, maulte Klarik beleidigt. "Ihr könnt es anscheinend besser." Seine Hand wanderte zu seinem Schwert.
Bradley ließ sich nicht provozieren und viel weniger aufhalten.
"Bleibt stehen und beweist, dass ihr es besser könnt“, rief Klarik. Das leise kratzende Geräusch einer eben aus einer Scheide gezogenen Klinge ertönte hinter Bradleys Rücken. Er blieb stehen und drehte sich langsam um.
"Einem Mann die Schulter zu durchbohren und ihn wenig später zum Duell fordern“, schüttelte Bradley gemächlich den Kopf. "Verehrter Klarik, Eure Methoden sind reichlich unfair. Findet Ihr nicht auch?"
"Sollte ich mich so täuschen? Kann Euch dieses kleine Loch tatsächlich davon abhalten, Eure Klinge mit meinem Blut zu tränken?", lockte Klarik und hatte Erfolg. Bradleys Hand wanderte langsam zu seinem Schwert. Doch dann nahm er es wieder weg.
"Nein“, schüttelte Bradley den Kopf. "Es liegt nicht an diesem kleinen Loch. Eher an dem Mann, der es verursacht hat. Ich kämpfe nicht mit einem Mann, der nicht den Mut aufbringt, es mit einem gesunden Gegner aufzunehmen."
Damit drehte er den Spieß um und hatte mehr Erfolg. Wütend stürmte dieser mit erhobenem Schwert auf ihn ein. Schneller als die Augen des Nordmannes folgen konnten, zog Bradley seine Waffe und wehrte den Hieb ab. Es schien, als behindere ihn seine Wunde keine Sekunde. Er hieb kraftvoll dagegen und drängte den Nordmann quer über die ganze Terrasse. Die beiden duellierten sich, die volle Fläche der Anhöhe ausnutzend. Keiner gewann genug Oberhand, um den Kampf zu beenden. Es war kein Kampf zwischen Nord und Süd, sondern einer zwischen zwei erbitterten Rivalen. Keiner gönnte dem Anderen auch nur einen winzigen Erfolg. Keuchend trieben sie sich gegenseitig vor und zurück, jederzeit bereit den Anderen im entscheidenden Moment den Geschmack kalten Stahles spüren zu lassen.
"Aufhören“, rief eine feste Stimme. "Hört sofort damit auf."
Die beiden jungen Heißsporne waren zu versessen darauf, das Blut ihres Rivalen fließen zu sehen, dass sie die Stimme ihres Herrn überhörten.
"Ihr sollt sofort damit aufhören“, befahl Torwik.
Bradley führte mehrere schnelle Streiche hintereinander aus und drängte Klarik an die Brüstung. Mit dem letzten Streich ließ er die Schwertspitze genau vor Klariks Brust stehen. Keuchend standen sich die beiden gegenüber. Bei dem geringsten Fehler würde Bradley zustoßen.
"Was soll das?", schimpfte der König und war nun nahe genug, um persönlich einzugreifen. "Spart euch eure Kräfte für das Schlachtfeld auf."
Bradley zog seine Klinge zurück, bevor sie ihm abgenommen werden konnte. "Dies war lediglich eine Darbietung bearesbergischen Könnens“, erklärte er atemlos und steckte die Waffe zurück.
Torwik bedachte seinen Neffen mit einem strafenden Blick und setzte sich dann auf eine steinerne Bank.
"Ihr könnt Euch wohl nicht genügend bei Euren Ausfällen austoben, was?", schimpfte der König und blinzelte der Sonne entgegen. "Es wird, scheint mir, Zeit, dass Ihr in eine richtige Schlacht zieht. Dieses Katz-und-Maus-Spiel mit den Ostleuten dient doch lediglich als Übung. Wie wäre es, wenn Ihr gegen eine richtige Armee ziehen würdet?" Er betrachtete seine beiden Heeresführer und wartete ab.
"An was denkt Ihr, Herr?" klinkte sich Klarik in das Spiel ein.
"Bradley“, wandte sich der König an ihn. "Was hältst du davon, diesen kleinen Landstrich zurückzuholen, für den du eingetauscht wurdest?"
Bradleys Gesicht nahm undefinierbare Ausdrücke an. In seinem Kopf schien es fieberhaft zu arbeiten.
"Deinem Zorn auf deinen Vater würde es mit Sicherheit genüge tun, wenn du ihm diesen Streich spielen kannst“, köderte er ihn.
Das Gesicht des jungen Mannes hellte auf.
"Es wird mir ein Vergnügen sein, mein Herr“, erwiderte er und grinste dabei gefährlich. Er schien sich bereits eine Strategie zurechtgelegt zu haben.
"Gut“, rief Torwik und erhob sich. "Ich möchte, dass ihr beide mit euren bereits ausgebildeten Männern und noch weiteren zweitausend zur Grenze reitet und das Land für den Norden zurückerobert."
"Zu Befehl“, riefen die beiden Männer, wie aus einem Mund. Dieses eine Mal waren sie sich einig, schien es jedenfalls so. Dass Klarik und Torwik hinter Bradleys Rücken verstohlene Blicke austauschten, bemerkte dieser nicht. Seine Gedanken schweiften bereits zur bevorstehenden Schlacht ab.
Nur wenige Tage später wälzte sich eine gewaltige Lawine gen Grenze. Über zweitausend Nordmänner näherten sich bedrohlich dem Land, in dem nun der Fürst von Bearesberg herrschte. An ihrer Spitze ritten Klarik und Bradley. Sie gingen mit noch fataleren Folgen ans Werk, raubten und brandschatzten die Dörfer aus, die vorher zu ihrem Land gehört hatten, und fraßen sich, wie eine ausgehungerte Schnecke in ein Blatt, in das verkaufte Gebiet hinein, bis sie schließlich eines Tages einer Armee von fürstlichen Soldaten gegenüberstanden. Bradley kannte sich sehr gut in der nun auch für ihn feindlichen Armee aus, denn er hatte sie ebenfalls einmal angeführt. Er kannte ihre Taktiken, wusste von ihren Fallen und sagte ihre Handlungen stets exakt voraus. So gelang es ihnen, dem Heer des Fürsten einen beträchtlichen Verlust zuzufügen.
Bradley kämpfte mitten unter den Nordmännern und metzelte kaltlächelnd seine eigenen Landsleute nieder. Keine Regung zeigte sich in seinem Gesicht, als er auf alte Bekannte traf, die überrascht innehielten und von ihm ohne mit der Wimper zu zucken ermordet wurden. Klarik hielt sich ständig in seiner Nähe und beobachtete ihn interessiert. Amüsiert zählte er die Opfer, die den Namen des Fürstensohnes ausriefen und eben von diesem erschlagen wurden. Irgendwann hörte er auf - es wurden zu viele. Es waren genug, ihn von einem eventuellen Umschwung zu überzeugen. Vielleicht hatte sich der Südländer tatsächlich ganz auf ihre Seite gestellt und würde nun nicht mehr versuchen zu fliehen.
Doch kaum hatte er dies gedacht, entdeckte er Bradley, wie er sich im selben Moment auf ein herrenloses Pferd schwang und ihm die Fersen in die Flanken trieb. Klarik fluchte, erschlug seinen Gegner mit einem Streich und schleuderte sein Schwert über den Kampfplatz. Es traf mitten zwischen die Beine des Tieres und zerschnitt sie ihm. Es stürzte laut wiehernd. Bradley wurde im hohen Bogen aus dem Sattel geschleudert und kam hart auf dem Boden auf. Reglos blieb er liegen, dort wo er aufgekommen war. Klarik hatte jedoch keine Zeit sich um ihn zu kümmern, denn die Schlacht forderte ihn gänzlich.
Rasende Kopfschmerzen holten Bradley aus seiner Ohnmacht. Als er die Augen öffnete, bemerkte er, dass ihm Hand und Fußgelenke zusammengebunden waren. Seine Muskeln hatten sich vom langen, verrenkten Liegen verkrampft. Er bewegte sich leicht. Eine Welle von Schmerzen raste durch seinen Körper.
Unerwartet kam ein neuer hinzu. Eine kalte Spitze bohrte sich leicht in seine Schläfe.
"Guten Morgen“, grüßte freundlich, eine ihm wohl bekannte Stimme.
Bradley fluchte im Stillen. Sein Fluchtversuch war misslungen.
"Ich möchte wissen, mit welchen Ausflüchten du dich diesmal herauszureden versuchst“, kicherte Klarik und piekte die Spitze etwas tiefer in die Haut seines Gefangenen. Heiße Blutstropfen bahnten sich einen Weg über seine Wange und tropften an seiner Nase ab. "Nur schade, dass diesmal ich der Richter über deine Worte bin“, fuhr er fort. "Und ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Mich kannst du also nicht belügen." Er lachte laut auf, verstummte bald darauf wieder. "Ich würde dich liebend gern zerquetschen wie eine faule Kartoffel“, drohte der Nordmann. "Leider darf ich das nicht. Mein Onkel will dich lebend." Aus seiner Stimme war der ganze Missmut über diesen Befehl zu erkennen. "Aber du hast versucht, aus mir einen Narren zu machen und dies kann ich nicht durchgehen lassen." Er zerrte an den Fesseln des Wehrlosen, dass dieser aufstöhnte. "Ich muss dich bestrafen“, zischte Klarik nahe an Bradleys Ohr. "Und es wird mir ein Vergnügen sein, dies persönlich zu erledigen." Er lachte erneut auf. Dann erhob er sich und Bradley wurde von einigen Männern vom Boden hochgezerrt.
"Was auch immer du dir ausdenkst, es kann mich nicht größer treffen, als dein hinterhältiger Pfeil“, schleuderte ihm Bradley verächtlich entgegen. Eine harte Ohrfeige ließ ihn auf die Zunge beißen. Er schmeckte sein eigenes Blut.
"Es wird“, lachte Klarik. Auf einen Wink von ihm, zerschnitt einer seiner Männer die Fußfesseln, dann stieß er ihn vor sich her, hinaus aus dem Zelt.
Zwischen zwei Zelte waren zwei abgeschälte Baumstämme in den Boden gerammt worden. Sie hatten sich sichtlich Mühe gegeben, ihren Züchtigungsplatz auszustaffieren. In die Baumstämme waren zahlreiche Muster und Schriftzeichen geritzt, mystische Hieroglyphen des nordländischen Kultes. Bradley hatte keine Zeit sie zu entziffern. Seine Fesseln wurden abgenommen, mehrere Hände zogen ihm Wams und Hemd aus, sodass er mit nacktem Oberkörper dastand, und banden ihn zwischen die Pfosten. Bradley konnte sich unschwer denken, was nun folgen würde. Klarik wiegte bereits triumphierend grinsend die Peitsche in seinen Händen. Nur kurz erlaubte sich Bradley die Augen zu schließen, um sich auf das Bevorstehende vorzubereiten.
Lachend ließ Klarik die Peitsche über seinem Kopf knallen, bevor er zum ersten Streich ausholte. Er würde sie solange auf ihn niedersausen lassen und nicht eher Ruhe geben, bis die Haut seines Opfers in Fetzen hing, dessen war sich Bradley sicher.
Beim ersten Streich, biss er sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Kein Laut würde über seine Lippen kommen, schwor er sich fest. Ein Streich nach dem anderen folgte und mit jedem wurden die Schmerzen stärker. Krampfhaft kämpfte er dagegen an, doch irgendwann konnte er es nicht mehr aushalten. Klarik war ein Mensch einfacher Freuden und er ergötzte sich köstlich an den Qualen seines Opfers. Er war sogar so hinterhältig, dass er jedes Mal, wenn er bemerkte, dass Bradley drohte in die Ohnmacht zu fallen, inne hielt, abwartete bis er sich wieder einigermaßen erholt hatte, um dann mit der Bestrafung fortzufahren, bis sein Opfer erneut nahe der Besinnungslosigkeit war.
Die Züchtigung dauerte den ganzen Tag an. Bradley hing in seinen Fesseln und war selbst zu schwach aufzuschreien, wenn die Ledergerte unsanft über seinen Rücken streichelte. Er verwünschte seine eigene Willensstärke und verwünschte seinen Foltermeister. Eines Tages würde er es ihm heimzahlen, schwor er sich.
Dann rutschte er doch unaufhaltsam in das schwarze Nichts.
Klarik tobte. Für einen Moment hatte er nicht aufgepasst und sein Opfer in die Ohnmacht gleiten lassen. Kalte Wassergüsse, selbst neue, heftigere Streiche, konnten den Geschändeten nicht mehr aufwecken. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er tagelang so weiter gemacht. Auch auf die Gefahr hin, dass er ihn damit umbrachte. Er ließ ihn von den Pfosten schneiden und ins Zelt bringen.
Schmerz, nichts als Schmerz. Sein Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen. Bradley öffnete die Augen. Es war dunkel. Er bewegte sich leicht. Da war nur Schmerz. Nun wusste er, dass er keinen Körper mehr, sondern nur noch Schmerz besaß. Er schloss sie wieder. Seine seichte Bewegung war heftig genug gewesen, um festzustellen, dass ihm Hände und Füße ans Bett gefesselt worden waren. Klarik wollte kein Risiko eingehen. Er verfluchte diesen Kerl.
Er gab sich seiner Erschöpfung hin und sank wieder in erlösende Taubheit.
Bradley behandelte Klarik ab sofort, als existierte er überhaupt nicht. Die erste Zeit reagierte dieser in Tobsuchtsanfällen, doch irgendwann wurde es ihm zu dumm und er amüsierte sich nur noch köstlich über den beleidigten Südländer und riss in aller Öffentlichkeit derbe Witze über ihn. Bradley ließ dies stets ungerührt. Ohne mit der Wimper zu zucken, hörte er sich Klariks Reden an und wandte sich ab, ohne ihn dafür büßen zu lassen. Bradley hatte aus seinen Fehlern gelernt. Er musste töricht gewesen sein, als er dachte, sich im Gewimmel der vielen kämpfenden Menschen klammheimlich davonstehlen zu können. Der Nordmann war auf der Hut. Vermutlich hing Klariks Kopf an demselben seidenen Faden, an dem auch sein Kopf hing, und achtete daher, wie ein Spießhund auf sein Opfer. Bradley musste geduldig die einzig richtige Gelegenheit abwarten. Beim nächsten misslungenen Fluchtversuch würde es ihm mit Sicherheit um einiges schlimmer ergehen. Er schwor sich, es diesem Nordmann eines Tages heimzuzahlen. Er würde für die Schmerzen, die er ihm zufügte, bitter büßen. Doch dies später.
Der Zufall kam ihm unerwartet zu Hilfe. Wochen später, auf einem Schlachtfeld, traf ihn der Huf eines hochgehenden Pferdes. Es schleuderte ihn rückwärts, und er stürzte einen Abhang hinunter, geradewegs in eine Felsspalte, die ihn verschluckte, wie ein Frosch eine Fliege.
Bradley war verschwunden.
Als Klarik Bradleys Verschwinden bemerkte, ließ er seine Männer augenblicklich ausschwärmen, ihn zu suchen. Sie kamen jedoch allesamt kopfschüttelnd zurück. Niemand kam auf die Idee, direkt unter ihren Füßen nachzusehen. Denn sie vermuteten ihn bereits wesentlich weiter entfernt.
Irgendwann kam der junge Bearesberg wieder zu sich. Seine Augen ließen sich nicht öffnen. Verkrustetes Blut verklebte seine Lider. Er rieb sich das trockene Blut solange von den Augen, bis er sie öffnen konnte. Jede Bewegung schmerzte, doch er ließ sich davon nicht stören. Verwirrt blickte er um sich. Über ihm war ein Felsüberhang und geradewegs über ihm eine schmale Spalte, die nur einen winzigen Ausschnitt des blauen Himmels zeigte. Eine Schar schwarzer Vögel zog vorbei. Als Bradley versuchte, sich aufzurichten, schrie er auf. Sein Bein sandte eine Welle gleißenden Schmerzes durch seinen Körper. Es war gebrochen. Deshalb blieb er liegen, bis sich die Welle einigermaßen beruhigt hatte und lauschte. Außer leisem Vogelgezwitscher und dem Flüstern des Windes, der über trockenes Gras strich, war nichts zu hören. Kein klingendes Metall, keine stampfenden Hufe, keine schreienden Männer. Einfach nur Stille. Bradley lauschte genussvoll.
Nach Stunden des Horchens drehte er sich auf die Seite und musste die Zähne zusammenbeißen. Sein Bein meldete sich wieder. Er blickte sich suchend um. Aus einem Busch, in greifbarer Nähe brach er einen kleinen Ast und klemmte ihn sich zwischen die Zähne. Dann robbte er sich auf den Unterarmen aus dem Felsvorhang heraus. Tränen des Schmerzes trübten seinen Blick, doch er biss auf das Stück Holz und zog sich weiter. Er hatte einen kleinen Baum entdeckt. Dessen Stamm würde ihm als Schiene dienen. Er musste sein Bein schienen, damit er sich freier bewegen konnte. Doch nur wenige Meter vor dem Bäumchen verließen ihn seine Kräfte und er sank erneut in das schwarze Reich der Ohnmacht.
Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte. Als er wieder erwachte, war sein Mund trocken vor Durst und seine Zunge dick angeschwollen. Er hob müde den Kopf und entdeckte vor sich eine dunkle Gestalt. Sein Blick war nicht deutlich und seine Gedanken nicht klar, so hielt er die Gestalt für Klarik und sank enttäuscht wieder zurück. Er fluchte leise und wartete die nächste Züchtigung ab. Die ließ jedoch lange auf sich warten.
Die Gestalt saß einfach nur da und beobachtete ihn, gab keinen Ton von sich und berührte ihn nicht. Bradley hob erneut seinen Kopf und zwang seine Augen ein klares Bild abzugeben. Vor ihm, auf Knien zusammengekauert, saß nicht Klarik, sondern ein Kind, ein Mädchen. Ihre Haare waren schwarz eingefärbt, verfilzt und zottelig und fielen ihr strähnig und schmutzig ins Gesicht. Ihr schmächtiger Körper steckte in einem Kleid, das auf Bearesberg nicht mehr mal als Putzlappen hätte seinen Dienst tun dürfen. Über und über war sie mit Schmutz und schwarzer Farbe bedeckt. Sie beobachtete ihn nur stumm, selbst auch, als er sich bewegte und sie ansah. Bradley stöhnte und senkte seinen Kopf wieder auf die Erde. Er hätte dieses Mädchen am Liebsten geküsst vor Freude, völlig gleichgültig, wie dick die Schmutzschicht auf ihrer Haut war. Sie gehörte keinesfalls zu den Dirnen, die mit ihrem Trupp gezogen waren.
Er drehte sich auf den Rücken und ließ die Sonne in sein Gesicht scheinen. Sie war bedeutend tiefer, als er es in Erinnerung hatte. Wie lange mag er dort wohl gelegen haben, fragte er sich. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen. Er brauchte Wasser. Unvermindert drehte er dem Kind den Kopf zu und wollte sie um Wasser bitten, doch über seine Lippen kam nur ein undeutliches Krächzen. Wenn sie ihn verstanden hatte, dann musste sie über viel Fantasie verfügen. Sie griff nach einer kleinen Schüssel neben sich und schob sie ihm näher. Bradleys Bewegungen waren zu unkoordiniert, als dass er die Schüssel selbst nehmen und sie sich selbst zu Mund führen konnte. Er stieß sie um. Von der Sonne aufgewärmtes Wasser spritzte auf seine Finger. Gierig leckte er die Tropfen von seinen schmutzigen und blutverkrusteten Fingern. Das Mädchen schnappte sich die Schüssel und verschwand mit ihr, kehrte aber alsbald wieder zurück. Diesmal legte sie ihm die Schüssel vorsichtig an die Lippen und flößte ihm das köstliche Nass ein. Das Wasser brannte auf seiner Zunge, aber es tat gut. Dankbar schloss er die Augen und genoss den Augenblick. Er hatte nicht gewusst, dass Wasser so gut schmecken konnte.
Als sie sich leicht bewegte, öffnete er die Augen wieder und betrachtete sie.
"Wo bin ich hier?", fragte er heißer. Seine Stimme gehorchte ihm bereits etwas mehr. Sie legte ihre Finger auf ihren Mund und schüttelte den Kopf. Sie war stumm. Bradley registrierte dies nicht sofort.
"Wie ist dein Name?", wollte er wissen.
Ihre Hand fuhr in eine Falte ihres zerfransten Rockes und brachte eine bereits verwelkte und arg zerrupfte Blume hervor. Vor langer Zeit musste dies einmal eine Margerite gewesen sein. Sie zeigte auf das mitgenommene Pflänzchen und dann auf sich. Ihr Name war Margerite.
"Was ist passiert?", fragte er in den Himmel.
Das Mädchen erhob sich augenblicklich, schob ihr Becken ein paar Mal ruckartig nach vorne, dann zog sie eine unsichtbare Zunge aus ihrem Mund und schnitt sie mit einem unsichtbaren Messer ab. Sie war vergewaltigt worden. Als sie schrie, wurde ihr die Zunge herausgeschnitten. Dies wollte Bradley eigentlich nicht wissen. Aber da er es nun bereits einmal wusste, lächelte er mitleidig. Er atmete tief ein und suchte das Stöckchen, das er sich zwischen die Zähne geklemmt hatte. Er fand es, mit seinen eigenen tiefen Bissspuren. Er schob es sich erneut zwischen die Zähne und schleppte sich den restlichen Weg zu dem kleinen Bäumchen hin. Margerite kroch ihm hinterher.
Die Wurzeln des Bäumchens saßen zu tief in der Erde und Bradleys Kräfte reichten nicht aus, es aus seiner liegenden Position heraus aus dem Boden zu ziehen. Mit neugierigen Augen beobachtete ihn Margerite, griff jedoch nicht ein.
"Ich brauche den Stamm, als Schiene für mein Bein. Es ist gebrochen“, erklärte Bradley, in der Hoffnung auf Hilfe. Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und betrachtete ihn mit unschuldigen Augen.
"Hilf mir, den Stamm aus dem Boden zu ziehen“, gab Bradley nun klarere Anweisung. Noch ehe er es verhindert konnte, schnellten ihre flinken Finger vor und hatten den Dolch aus seinem Gürtel gezogen.
"He“, rief er ihr hinterher, als sie mit ihm davonrannte. "Verdammt“, fluchte er und zerrte wütend an dem dünnen Stamm. Er fühlte sich so verdammt hilflos. Von einem Kind das Letzte was er noch besaß gestohlen zu bekommen, ärgerte ihn maßlos.
Es überraschte ihn, als sie nach einiger Zeit wieder zurückkam. In ihren Händen flatterten einige in Streifen gerissene Stofffetzen. Dann trat sie mit ihren nackten Füßen in den Stamm, dass er knapp über dem Boden umknickte. Mit Bradleys Dolch säbelte sie die Fasern durch, schnitt Äste und Blätterwerk ab, teilte den Stock in zwei Hälften und legte ihm alles in erreichbarer Nähe hin, Messer, Baumstamm und die Stofffetzen. Sie selbst hockte sich in angemessenem Abstand auf ihre Beine. Ein sonderbares Kind, lächelte Bradley und steckte das Messer zurück in den Gürtel. Es war seine einzige verbliebene Waffe, mit der er sich notfalls verteidigen musste.
Wie alt könnte sie sein, versuchte er sie einzuschätzen. Fünfzehn, vielleicht siebzehn, aber nicht älter. Ihr dürrer Körper, ließ sie jünger wirken, doch der Glanz in ihren Augen, verriet ihr wahres Alter.
Sobald sich Bradley bewegte, pochte sein Bein schmerzhaft und er schaffte es nicht einmal, sich selbst ans Bein zu fassen, geschweige denn die Schiene am Knöchel festzuschnallen. Hilfesuchend wand er sich wieder an das Kind, das ihn mit neugierigen Augen beobachtete. Als sie begriff, was er von ihr wollte, schüttelte sie hektisch den Kopf. Doch dann besann sie sich und kroch vorsichtig näher. Ihre Finger nahmen die Stöcke und die Stoffstreifen in die Hand, zögerten aber ihre Arbeit zu verrichten.
"Bitte“, flehte Bradley.
Wieder schüttelte Margerite den Kopf. Sie tippte mit zusammengelegten Fingerspitzen auf ihre Lippen. Bradley begriff nicht sofort. Immer wieder machte sie diese Bewegung, bis er endlich ihre Zeichen erkannte. Sie verlangte etwas zu Essen von ihm.
Bradley schüttelte den Kopf. "Wenn ich etwas hätte, würde ich dir alles geben“, erklärte er. "Doch ich bin auf der Flucht. Was ich auf dem Leib trage, ist alles, was ich im Moment besitze." Er hielt ihr die leeren Hände hin, zum Zeichen dafür, dass er zur Zeit genauso arm war, wie sie. Die Kleine ließ augenblicklich die Sachen fallen und kroch wieder weg.
"Dann eben nicht“, schimpfte er und zog sich zu den fallen gelassenen Dingen.
Ein Esel schrie irgendwo. Bradley fuhr herum. Er befand sich auf einem kleinen Hügel, dessen Fuß jedoch durch eine niedrige Kuppe verdeckt war. Dort hinter der Kuppe musste das Grautier stehen.
"Bring mir den Esel her“, befahl er.
Margerite schüttelte den Kopf und tippte erneut mit den Fingerspitzen auf ihre Lippen.
"Ich habe nichts“, brüllte Bradley ärgerlich. Das Mädchen erschrak und rückte sich augenblicklich etwas weiter weg.
"Also gut“, versuchte er es anders. "Du bekommst etwas, wenn du mir die Schienen angelegt und diesen Esel hier herauf gebracht hast."
Die Augen des Mädchens öffneten sich interessiert. Sie setzte sich aufrechter, war aber noch nicht ganz überzeugt.
"Erst die Schienen“, befahl er und hielt ihr Stöcke und Stofffetzen hin. Zögernd kroch sie näher. Er legte es auf den Boden. Dann erst nahm sie die Sachen und machte sich daran ihm die Stöcke ans Bein zu binden. Er biss wieder auf den kleinen Ast, als sie die Knoten strammzog. Mit einem Ast, den sie vorher von dem Bäumchen geschält hatte, drehte sie die Bandagen fester und band es ebenfalls fest. Bradley krallte sich in den Boden. Der Schmerz ließ ihn beinahe wieder ohnmächtig werden. Das Stöckchen zwischen seinen Zähnen knirschte und er schmeckte den Saft in dessen Fasern.
Ihre Hände arbeiteten schnell und geschickt und als sie fertig war, rannte sie eiligst den Hügel hinunter, um den Esel zu holen. Keuchend blieb Bradley liegen und versuchte seine Nerven zu beruhigen. Wenn er dies überstehen sollte, würden Einige seine Rache zu spüren bekommen, schwor er sich inständig.
Ein dürres klappriges Grautier, dessen Rippen sich deutlich durch das alte, abgescheuerte Fell abzeichneten, humpelte über die Kuppe. Das Mädchen zog es ungeduldig hinter sich her. Bradley bezweifelte, dass es sein Gewicht zu tragen vermochte, doch auf dem Rücken des Eselchens war bereits ein riesiger Berg Feuerholz geschnallt. Vielleicht war es doch kräftiger, als es den Eindruck erweckte. Sie führte das Tier nahe an Bradley heran und schien plötzlich nicht mehr zu wissen, was sie tun sollte. Ihr Blick wechselte zwischen dem Berg Feuerholz und dem Verwundeten.
"Komm her“, forderte Bradley und winkte das Mädchen zu sich. Sie schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht allein erheben und benötigte die Hilfe des Kindes.
"Komm her“, forderte er barscher. Zögernd tippelte sie näher. Sie zog den Hals ein, wie ein geschundener Köter. Als sie in erreichbarer Nähe war, griff Bradley nach einem Fetzen ihres Kleides und zog sie ruckartig zu sich. Der Stoff knirschte und das Mädchen flog ihm entgegen. Ihre Augen weiteten sich angstvoll und er spürte ihr ängstliches Zittern.
"Keine Angst“, beruhigte er sie. "Ich will dir nichts tun. Hilf mir einfach nur aufzustehen." Er stützte sich auf Margerites Schultern. Sie ging leicht in die Knie, drückte sie aber bald tapfer durch. Sie scheute davor ihn zu berühren, doch als er ihr wirklich nichts antat, gewann sie mehr Zutrauen, krallte ihre Finger in den Stoff seines Hemdes und führte ihn zu dem Esel. Bradley biss sich auf die Lippen.
Für ihn war kein Platz mehr auf dem Tier, deshalb schnitt Bradley kurzerhand die Schnüre durch, die das Holz festhielten, und kroch auf den Rücken. Entsetzt hatte das Mädchen dies mit angesehen, hielt ihn jedoch nicht davon ab. Immer wieder wechselte ihr Blick, zwischen dem Brennholz und ihm hin und her.
"Bring mich von hier weg“, forderte Bradley erschöpft. "Völlig gleichgültig wohin." Er krallte sich in das karge Fell des Tieres. Der Esel protestierte und versuchte seiner Last ins Bein zu beißen. Margerite zog am Strick und riss den Kopf wieder herum. Unsicher, ob sie wirklich das Richtige tat, führte sie die beiden den Hügel hinunter und bedachte ihren Haufen Brennholz mit sehnsüchtigen Augen.
Wie lange dieses Geschaukel und Gezockel andauerte, vermochte er nicht zu sagen. Er hatte ständig mit der drohenden Ohnmacht zu kämpfen. Sein Kopf dröhnte und sein Bein protestierte pochend. Vor einer kärglichen Hütte, die aussah, als würde sie jeden Moment einstürzen, blieb das Mädchen stehen. Sie pochte mit der Faust gegen die Türe und wartete schüchtern.
Eine alte Frau, in denselben abgetragenen Lumpen und denselben eingefärbten und zotteligen Haaren, trat heraus, bedachte das Kind mit einem ärgerlichen Ausdruck und entdeckte dann ihr Mitbringsel. Noch bevor auch nur ein Wort fiel, knallte eine Ohrfeige. Das Mädchen flog gegen die Hütte. Sie biss auf die Lippen und unterdrückte ihre Tränen. Mit hektischen Bewegungen versuchte sie begreiflich zu machen, dass ihr der Verwundete etwas zu Essen versprochen hatte. Die Frau kreischte kurz auf, grabschte nach dem Strick und riss ihn heftig herum. Der Esel, dessen Maul an diesem Strick hing, folgte der Bewegung bereitwillig aus Angst vor Schmerzen. Bradley war nicht auf die heftige Bewegung gefasst und kippte herunter. Er fiel auf sein gebrochenes Bein. Schmerzhaft schrie er auf.
Die Alte riss den Strick und damit den Esel an sich, drückte ihn dem Mädchen wieder in die Hand und schickte sie laut schimpfend und mit wilden Gesten wieder hinaus, um das zu tun, weswegen sie unterwegs gewesen war. Reuemutig zog Margerite den alten Esel hinter sich her und wand sich immer wieder um. Bradley stöhnte leise und versuchte sich aufzurichten. Die Alte kreischte und bewarf den Verwundeten unaufhörlich mit Erde, Sand und Kiesel. Bradley wusste sich nicht anders zu helfen, als ihr ebenfalls eine Hand voll Dreck entgegenzuschleudern. Beleidigt machte sie kehrt und verschwand wieder in der Hütte. Den Verwundeten ließ sie einfach liegen.
Als die Nacht längst hereingebrochen war, kehrte Margerite zurück. Bradley lag noch immer vor der Hütte. Er hatte versucht sich aufzurichten, doch sein geschientes Bein, hatte es nicht zugelassen. Hunger und Durst schwächten seine Kräfte. Die Augen des Mädchens hafteten beinahe ständig auf ihm, als sie den Esel ablud und das Holz ins Innere der Hütte trug. Er hatte ihr etwas zu Essen versprochen. Da konnte er unmöglich sie darum bitten und hielt den Mund, bedachte sie jedoch mit sehnsüchtigen Augen.
Nach dem letzten Stapel kam sie mit einem Becher zurück. Ein Schrei von drinnen ließ sie einen Moment stutzen. Schnell stellte sie den Becher vor ihn hin und rannte zurück in die Hütte. Mit einem letzten Blick schloss sie die Tür. Bradley lächelte dankbar und leerte den Becher gierig.
Er war in den Händen eines Kindes. Ohne sie wäre er verloren gewesen. Lächelnd betrachtete er die Sterne. Er lebte noch und mit etwas Glück würde er bald wieder der stolze Krieger werden, der er bis vor kurzem noch gewesen war. Im Moment kam er sich so hilflos vor, wie ein Neugeborenes, aber glücklich.
Er hörte noch eine Weile die Alte mit dem Mädchen schimpfen, doch dann verstummte sie, als Bradley langsam in den Schlaf glitt.
Jeder Knochen in ihm schmerzte. Er war es nicht gewohnt, auf dem harten Boden zu schlafen. Ein stechender Schmerz aus seinem Bein rief ihm das vergangene Erlebnis in Erinnerung. Er lächelte, als er die Sonne am Mittagshimmel erblickte. Er hatte trotz unbequemen Nachtlagers den halben Tag verschlafen. In einiger Entfernung, auf einem kleinen Felsen, saß Margerite und beobachtete ihn. Von der Alten war weit und breit nichts zu sehen. Bradley überlegte, was er nun tun sollte. In seinem Magen war gähnende Leere. Wie konnte er das Kind dazu überreden, ihm etwas zu Essen zu geben? Er kam zu dem Schluss, dass sie nicht darum gebeten hätte, wenn sie genug gehabt hätte. Daher würde er von ihr nichts erwarten können. Er seufzte hungrig.
Mühsam richtete er sich auf und blickte um sich. Er konnte sich nicht vorstellen, wo er war. Hügel versperrten ihm den Blick über die Gegend. Außerdem war es aus seiner sitzenden Position sowieso unmöglich, viel zu überblicken. Sein Blickfeld reichte gerade bis zum Ende des Schotterweges, was sich dahinter verbarg, verschwand hinter der niedrigen Kuppe. Das Mädchen folgte seinem Blick und kehrte wieder zu ihm zurück, als er sie betrachtete. Sie hielt seinem Blick stand, wie ein unschuldiges Kind, das einem Erwachsenen bei seiner Arbeit beobachtete.
"Hast du noch etwas Wasser für mich?", entschloss er sich, es einfach zu versuchen. Mehr als eine Absage konnte er nicht erwarten.
Sie zögerte, erhob sich aber bald langsam und spazierte in die Hütte, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen, als hätte sie Angst etwas zu versäumen. Alsbald kam sie mit einem gefüllten Becher zurück. Bradley bemerkte erst jetzt, dass der Becher vom Vorabend nicht mehr neben ihm stand. Vorsichtig nähert sie sich ihm, stellte mit zittrigen Fingern den Wasserbecher auf den Boden und entfernte sich schnell wieder. Bradley musste sich sehr strecken, um ihn zu erreichen. Er prostete ihr zu.
"Danke“, sagte er und schenkte ihr ein Lächeln. Margerite verzog die Mundwinkel und vergrub ihre Hände schüchtern in ihren Lumpen.
Ein Schrei hinter dem Hügel ließ sie herumfahren. Die Alte kam hektisch angehumpelt, winkte mit ihren Armen und kreischte mit beinahe überschlagender Stimme. Margerites Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ihr Blick wanderte ängstlich zwischen ihm und der Alten hin und her, bis sie sich entschloss, in der Hütte Schutz zu suchen. Bradley konnte sich die Aufregung der Alten nicht erklären, bis er ein einziges Wort verstand. Dies genügte auch ihm, um ihm das Blut gefrieren zu lassen. - Nordmänner. Er robbte, so schnell er konnte in Richtung Hütte, stieß sie auf und schleppte sich hinein, gleichgültig, was die Alte zu sagen hatte. Sie stürmte sogleich mit einem Stock auf ihn los und prügelte auf ihn ein. Er riss ihn ihr aus der Hand, stieß sie von sich und verbarrikadierte die Türe damit. Dass dieser dünne Riegel die Nordmänner nicht einmal eine Minute aufhalten konnte, wusste er, doch was hätte er sonst tun sollen.
Bald darauf hörte er die Hufe über den Boden donnern. Bradley kroch tiefer in die winzige Hütte. Margerite und die Alte beobachteten ihn mit gemischten Gefühlen. Bradley entdeckte ein Loch im hinteren Teil der Hütte. Er spähte hindurch und fand den Spalt zwischen Hütte und Felswand gerade groß genug und genau richtig als Versteck.
Die Nordmänner ließen selbst diese kleine, erbärmliche Hütte nicht unbeschadet. In Windeseile hatten sie die Türe aufgebrochen und stürmten schreiend herein. Margerite flüchtete sich in die hinterste Ecke und fand ihr Versteck bereits besetzt. Entsetzt starrte sie Bradley an. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch bald abgelenkt. Die Nordmänner begannen die spärlichen Habseligkeiten der Bewohner über den Boden zu zerstreuen und trampelten lachend darauf herum. Die Alte keifte und versuchte sie davon abzuhalten, doch sie wurde achtlos in eine Ecke gestoßen. Als einer der Männer das junge Mädchen entdeckte, kreischte er freudig los. Margerite entwischte ihm flugs durch die Beine, aber nur um dem Nächsten in die Arme zu laufen. Sie zappelte, strampelte, biss, kratzte, schlug um sich, zog den Männern an Bart und Haaren und warf alles, was sie in die Finger bekommen konnte, nach ihnen. Doch alles konnte nicht verhindern, dass sie gepackt, mit dem beachtlichen Gewicht eines erwachsenen Mannes auf den Boden gedrückt und ihre verzweifelt strampelnden Beine eingefangen wurden.
Bradley fühlte sich verpflichtet ihr zu helfen, schließlich hatte sie ihm geholfen. Er kroch leise, ohne ein Geräusch zu verursachen, aus seinem Versteck heraus und zog sich mühsam an der Wand hoch. Die Nordmänner beachteten ihn nicht. Sie waren zu sehr mit dem Mädchen beschäftigt. Langsam holte er sein Messer hervor, drehte es in den Händen, stieß sich von der Wand ab und warf sich auf den Nächstbesten. Er schnitt ihm mit einer schnellen Bewegung die Kehle durch und trieb gleich darauf einem anderen die Klinge bis zum Heft in die Brust. Dann verließ ihn die Kraft und er sackte zu Boden. Es waren vier Männer in die Hütte eingedrungen. Die anderen zwei stürzten sich augenblicklich auf Bradley. Margerite war vergessen.
Das Mädchen hängte sich mutig und fest entschlossen, ebenfalls ihren Anteil beizutragen, an den Hals einer der Nordmänner und zerkratzte ihm das Gesicht. Er schrie auf und schüttelte sie ab, wie einen lästigen Balg. Doch Margerit gab nicht auf. Sie klammerte sich an sein Bein und trieb ihre Zähne in seinen Schenkel. Erneut schrie der Nordmann auf, versetzte ihr eine Ohrfeige, dass sie in eine Ecke flog und für einen kurzen Moment reglos liegen blieb.
Bradley kämpfte mit dem Anderen. Die Schmerzen in seinem Bein drohten ihm die Sinne zu rauben. Er kämpfte verbissen dagegen an. Zuweilen tanzten ihm Sternchen vor den Augen, doch er blinzelte sie weg. Sie wälzten sich über den Boden und rangen um den Sieg. Margerite kam wieder zu sich und entdeckte den zweiten Nordmann dicht über ihr. Ein gefährliches Grinsen breitete seine Zähne nahe vor ihrem Gesicht aus. Während sein Kumpan mit dem Verwundeten kämpfte, konnte er sich schon einmal um das Vergnügen kümmern. Er zog das Mädchen an den Beinen aus ihrer Ecke. Sie strampelte und trat ihm ins Gesicht. Ihn störte dies nicht weiter, griff sich ihre Arme, bog sie um, sodass das Mädchen aufschrie, und drückte sie mit seinem Gewicht auf den Boden. Ihr blieb die Luft weg. Sie schrie nach Leibeskräften, was nur noch lauteres Lachen des Nordmannes hervorrief. Ein Holzprügel knallte auf seinen Kopf. Die Alte schwang ihn erneut herum und prügelte damit auf den Kerl ein. Fluchend griff sich der Nordmann sein Schwert, das er neben sich abgelegt hatte, fuhr herum und trieb die Klinge geradewegs durch ihren Leib. Margerite schrie auf. Kraftlos sackte die Alte zusammen.
Noch bevor er seine Waffe wieder ablegen konnte, bohrte sich ein geschleuderter Dolch in seinen Hinterkopf. Plump fiel er vornüber und begrub das Mädchen unter sich. Keuchend arbeitete sie sich unter ihm hervor. Mit einem Schrei und einem Schwall Tränen warf sie sich über die Leiche der alten Frau.
Bradley zog sich schweratmend an einem umgeworfenen Tisch hoch und blickte vorsichtig durch die Türe. Es waren nur vier gewesen. Entzückt entdeckte er die Pferde, geduldig auf ihre Herren wartend.
"Ist ja großartig“, rief er freudig und ließ seinen Blick auf das Innere der Hütte zurückwandern. Er griff sich ein Schwert, stützte sich darauf und holte sich sein Messer zurück. Erst jetzt entdeckte er Margerite, die sich weinend über die Alte geworfen hatte. Ein Kloß steckte in seinem Hals, doch er zwang sich, wegzusehen. Humpelnd und mit zusammengebissenen Zähnen schleppte er sich auf das erste Pferd zu. Er zog sich mühsam in den Sattel und schrie beinahe auf, als sich das Tier um sich selbst drehte und sein verletztes Bein, gegen die Hinterbacken eines anderen Reittieres drückte. Fluchend drückte er die Ferse seines gesunden Beines in dessen Flanken. Das Tier wieherte und trabte los. Hinter ihm schrie eine Stimme. Im nächsten Moment hängte sich etwas an seinen Steigbügel. Margerite wimmerte und zerrte verzweifelt an dem Steigbügel. Ihre Tränen wuschen den Schmutz in ihrem Gesicht streifenförmig ab.
"Was soll das?", schimpfte Bradley und konnte sich gerade noch zurückhalten, ihr einen Stoß zu versetzen. Sie ließ den Steigbügel nicht los und wurde ein Stück mitgeschleppt. Fluchend brachte er das Tier zum Stehen.
"Du kannst nicht mitkommen“, rief er ärgerlich. "Ich bin auf der Flucht und kann niemanden gebrauchen. Du behinderst mich nur. Geh zurück“, befahl er und versuchte ihr den Steigbügel zu entreißen, ohne sie umzustoßen oder ihr wehzutun. Margerite hing an dem Steigbügel, als wäre sie dort festgeklebt. Sie wimmerte, weinte, klammerte sich an sein Bein und ließ nicht los.
"Nein“, schrie Bradley wütend und stieß sie nun doch von sich. "Du bleibst hier." Das Mädchen landete auf ihrem Hintern, verschluckte augenblicklich jede weitere Träne und blickte ihn erschrocken an. Ihr Blick war es, der ihn drohte weichwerden zu lassen.
"Verdammt“, fluchte er. "Sieh mich nicht so an. Ich kann dich wirklich nicht gebrauchen“, versuchte er ihr zu erklären. "Wenn sie uns erwischen, werden sie uns beide umbringen, verstehst du?" Ihr Blick schaffte es tatsächlich, ihn weichzuklopfen.
"Herr Gott“, schimpfte er und sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel. Dann wand er sich wieder ihr zu. "Wenn du reiten kannst, dann schnapp dir eines der Pferde und komm, aber bald." Er winkte mit seinem Kopf auf die drei herrenlosen Pferde, die noch immer in aller Seelenruhe vor der Hütte warteten. Margerite folgte seinem Wink, aber dann schüttelte sie langsam den Kopf. Sie konnte nicht reiten, oder traute sich nicht.
Bradley atmete tief durch. Vieles hatte er bereits durchgemacht, aber dieses Kind übertraf beinahe sein Gemüt. Endlich streckte er ihr die Hand entgegen. Ein kleines Lächeln huschte um ihre Lippen. Schnell war sie wieder auf den Beinen, griff nach der Hand und ließ sich auf den Rücken ziehen. Dann schnalzte er mit der Zunge, trat seine Ferse in die Flanken und trieb das Tier vorwärts. Margerite klammerte sich krampfhaft am Sattel fest.
Nach stundenlangem Ritt waren die Schmerzen in seinem Bein so stark geworden, dass Bradley anhalten und absteigen musste. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Es war ihm egal. Es wäre ihm in diesem Moment sogar völlig gleichgültig gewesen, wenn um die nächste Biegung Klarik und seine Männer herumgekommen wären. Langsam ließ er sich aus dem Sattel gleiten und blieb dort liegen, wo er niedersank. Margerite beobachtete ihn aufmerksam. Als er sich nicht wieder erhob, kämpfte sie sich von dem Pferderücken herunter, ging neben ihm in die Hocke und wartete.
Vorsichtig streckte sie ihre Finger aus und berührte mit äußerster Behutsamkeit seine schweißnasse Haut. Er zitterte vor Schmerz und Erschöpfung und hätte in diesem Moment alles mit sich geschehen lassen. Margerite zuckte ängstlich zurück, als er sich leicht bewegte. Nach einer Weile, in der er völlig reglos war, wagte sie es erneut. Er hatte hohes Fieber.
Suchend blickte sich Margerite um. Sie befanden sich in einer hügeligen Gegend, ohne Schutz und ohne Deckung. Kein Haus, kein Dorf war in der Nähe, kein Wald, kein einziges Loch, in das sie verschwinden konnten. Sie rannte zur nächsten Biegung und kam bald wieder zurück. Dann hastete sie in die andere Richtung und kehrte ebenfalls bald wieder zurück. Sie suchte nach einer Unterschlupfgelegenheit für sie beide, oder hatte Ausschau gehalten nach jemandem, den sie um Hilfe bitten konnte. Der Mann zu ihren Füßen war nicht fähig, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Sie drehte ihn auf den Rücken und zerrte ihn mühsam von der Straße weg. Er war ihr zu schwer, aber sie zog und zerrte verbissen, um ihn in sicheres Gebiet zu bringen. Hinter dem nächsten Hügel entdeckte sie eine tiefe Senke, in der sich einiges Tau- und Regenwasser angesammelt hatte, geradezu ideal für sie. Sie zog ihn in diese Senke, riss einen Streifen von ihrem Rock, tauchte es in den Tümpel und legte den nassen Lappen auf seine Stirn. Dann eilte sie zurück, um das Pferd zu holen. Bradley bekam von all dem nichts mit, obwohl er noch bei Besinnung war. Seine Gedanken waren zurückgekehrt in seine Kindheit. Unbeschwert tollte er mit dem riesigen Schlosshund im Garten herum.
Margerite zerrte das Pferd hinter sich her, wie sie es mit dem Esel getan hatte. Dann setzte sie sich neben Bradley und wartete. Ihre Augen beobachteten den Mann und ließen keine Bewegung, keinen Atemzug und kein Muskelzucken aus. Immer wieder tauchte sie den Stofffetzen in das lacke Wasser der Senke und legte es ihm auf die Stirn. Das war alles, was sie tun konnte. Wenn Reiter über die Straße jagten, duckte sie sich ängstlich ganz tief hinter Bradley. Der Hügel, der sie von der Straße trennte, war glücklicherweise hoch genug, um sie von allen Blicken fernzuhalten.
Hunger trieb sie zu weiteren und ausführlicheren Rundgängen. Das Wasser aus dem Tümpel schmeckte fahl und faulig. Daher entschloss sie sich, die notwendige Flüssigkeit anderweitig zu besorgen. Dann und wann entdeckte sie einen Beerenstrauch, den sie äußerst sorgsam abpflückte. Alles was sie fand, teilte sie gerecht, zwischen Bradley und ihr auf. Mit bloßen Händen drückte sie den Saft aus den Beeren und träufelte es ihm auf die Lippen. Sie dachte sogar daran, Gras für das Pferd zu suchen. Immer wieder wartete sie einige Zeit geduldig, wenn sie von ihrer Suche zurückkam, beobachtete den schlafenden Mann still und zog dann wieder los.
Das Fieber sank nur langsam und es dauerte ganze zwei Tage, bis Bradley wieder zu sich kam. Er schlug die Augen auf und blickte in einen strahlenden blauen Himmel. Neben ihm summte eine Mädchenstimme leise vor sich hin. Als er sich ruckartig aufrichtete, verstummte sie augenblicklich und starrte ihn erschrocken an. Bradley brauchte einige Sekunden, bis er im Besitz seiner vollen Sinne war. Er zitterte in Anbetracht dieser ungewöhnlichen und schnellen Anstrengung und nach der Zwangsruhe der letzten beiden Tagen. Ein Druck in seinem Unterleib ließ ihn suchend umherblicken. Mühsam richtete er sich auf und wäre beinahe in den Tümpel gefallen, wenn Margerite nicht aufgesprungen wäre und ihn gestützt hätte.
"Was mache ich nur ohne dich“, murmelte Bradley dankbar lächelnd, schob sie aber mit sanfter Gewalt von sich, um hinter den nächsten Hügel zu humpeln und seine Blase zu entleeren. Margerite wartete in angemessener Entfernung, sprang aber sofort herbei und stützte ihn, als er auf das Schwert gestützt zurückgehumpelt kam.
"Wo sind wir hier?", wollte er wissen, als er wieder auf dem Boden saß. Das Mädchen zuckte mit den Schultern und reichte ihm eine Hand voll Beeren. Auch wenn sie es gewusst hätte, wie hätte sie es ihm sagen können. Bradley lächelte, als ihm dies klar wurde. Er musste, solange sie bei ihm war, auf seine Fragen achten. Nicht auf alle konnte sie eine Antwort geben. Er nahm die Beeren an und warf sie sich mit einem Mal in den Mund. Das Pferd lag müde auf dem Boden, nahe dem Tümpelufer und beobachtete die beiden mit wachsamen Augen. Als Bewegung in seine Reiter geraten war, wackelte es lustig mit den Ohren.
Bradley verschaffte sich einen Überblick über seine Lage und erkannte, dass er noch ein paar Tage Ruhe nötig gebrauchen könnte. Aber die hatte er nicht.
"Wie lange sind wir schon hier?", fragte er. Das Mädchen zuckte unschuldig mit den Schultern. Vermutlich konnte sie nicht zählen. Bradley hob seine Hand, streckte seine Finger aus. "Wie lange?", wiederholte er, tippte seine Finger an und sagte bei jedem einen Tag dazu. "Ein Tag ... zwei Tage ... drei Tage ... vier ... oder fünf? Wie lange?"
Sie blickte fragend ihre Hand an und streckte dann zwei Finger in die Luft.
"Aha“, machte er daraufhin, ohne ihr jedoch viel Glauben zu schenken. Ihre Rechenkünste würden nicht viel besser sein, als ihre Ausdrucksweise. "Kennst du dich in dieser Gegend hier aus?"
Sie zuckte erneut mit den Schultern und schüttelte dabei den Kopf.
"Was meinst du damit?" hakte er nach. "Ja oder nein?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Also nein“, versuchte er es zu erraten.
Diesmal nickte sie.
Bradley seufzte. Ein gebrochenes Bein, ein stummes Kind und eine Horde Wilde auf den Fersen, das passte alles hervorragend zusammen. Wieso war er eigentlich noch nicht im Himmelreich? fragte er sich. Bei seinem Glück müsste er bereits längst dort oben sein. Doch er sagte sich, dass er bisher vielleicht mehr Glück gehabt hatte, als er sich zugestand. Dass er in die Felsspalte fiel, war reiner Zufall und eine gehörige Portion Glück obendrein, dass er sich dabei nicht auch noch das Genick gebrochen hatte.
Margerite reichte ihm noch eine Hand voll Beeren, die er ebenfalls annahm und mit einem Mal in den Mund warf. Das Mädchen piekte sich ihre Ration einzeln aus der Hand und schob sie durch einen schmalen Spalt ihrer Lippen.
"Was machen wir jetzt?", fragte Bradley nach einer Weile, nachdenklich, mehr zu sich selbst. Sie sah ihn fragend an und zuckte dann wieder mit den Schultern. "Ich sollte versuchen nach Pickleewall zu gelangen“, fuhr er mit dem Selbstgespräch fort. "Vielleicht kann ich mich dort verkriechen. Ich hoffe nur, dass mich dort niemand mit einem gespannten Bogen erwartet." Dabei dachte er an das letzte Gespräch mit seiner Mutter. Ein Wunder wäre es nicht, wenn sie ihn nicht mehr zu sehen wünschte, nach all dem, was er ihr an den Kopf geworfen hatte. Er dachte trotzdem über den Weg nach, den er dorthin zurücklegen musste. Wenn er nur in etwa dort war, wo er sich vermutete, dann bedeutete es für ihn in seinem Zustand, eine unüberwindbare Strecke. Mit seinem Bein kam er nicht weit. Er musste entweder lange Pausen machen, oder sich erst einmal hier, an Ort und Stelle auskurieren. Hier in dieser Senke war der denkbar ungeeignete Ort dafür. Er blickte sich um und fing Margerites Blick ein, die ihn die ganze Zeit interessiert beobachtet hatte.
Bradley lächelte unvermindert. Nur ganz kurz verzog sie ihre Mundwinkel und wand ihre Augen schnell ab. Verlegen spielte sie mit den Beeren in ihrer Hand, bis sie erste unabsichtlich zerquetschte.
"Wie alt bist du?", interessierte es ihn plötzlich.
Sie zuckte schüchtern mit den Schultern. Dann fiel es ihm wieder ein. Er hielt seine gestreckten Finger in die Luft. "Wie alt? Fünfzehn ... ?"
Sie zuckte erneut mit den Schultern und wischte sich die klebrige Handfläche an ihrem Rock ab.
"Kannst du lesen und schreiben?", wollte er wissen.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Natürlich, dachte Bradley, woher sollte sie es auch können. Sie war der Schützling einer armen, alten Frau. Vermutlich ebenfalls bei einer Vergewaltigung gezeugt. Die Alte wird ihre Großmutter gewesen sein, vermutete er. Kopfschüttelnd wand er sich ab. Er konnte nicht verstehen, wie die Nordmänner einen solchen Heidenspaß am Quälen der Frauen hatten. Sie waren so gierig auf jeden Schoß, dass keine Frau vor ihnen sicher war, gleichgültig wie alt die zugehörige Besitzerin war. Er schüttelte sich angewidert.
Eine zaghafte Hand zog sanft an seinem Ärmel. Bradley fuhr herum. Sie nahm ihre Hand schnell wieder zurück. Dann legte sie ihre Arme um sich, schüttelte sich ebenfalls und zeigte auf ihn. Bradley lachte vergnügt.
"Nein“, schüttelte er leicht den Kopf. "Mir ist nicht kalt. Ich hatte eben nur etwas unschöne Gedanken." Er legte sich kichernd zurück. Dieses Kind machte sich Sorgen um ihn, dabei wollte ihn beinahe die komplette Armee der Nordlandes in tausend Stücke zerreißen.
Als er dies dachte, ließ ihn das weit entfernte Wiehern eines Pferdes, sofort verstummen. Er horchte auf.
Nur wenige Minuten später drang das Dröhnen von zahlreichen Hufen zu ihm. Das Rasseln von vielen Geschirren wurde immer lauter. Eigentlich gewohnte Geräusche für Bradley, doch diesmal warnten sie ihn und erzeugten einen Kälteschauer. Margerite drückte sich ängstlich auf den Boden. Bradley kroch vorsichtig den Hügel hinauf. Ein Trupp Nordmänner kam die Straße herunter geritten. Den Mann an ihrer Spitze erkannte Bradley wieder - Klarik. Er saß mit gesenktem Kopf im Sattel und schien gänzlich in Gedanken versunken zu sein. Bradley stimmte dieser Anblick keineswegs mitleidig. Er musste sich sogar zurückhalten, sich nicht sofort auf ihn zu stürzen. Sollte dieser verfluchte Nordmann doch von seinem Herrn bestraft werden, dann wusste er wenigstens, was Schmerzen waren, dachte er böse und verharrte in seinem Ausguck, bis auch der Letzte des Trupps hinter einem Hügel verschwand. Dann kroch er zurück.
"Es ist wohl besser, wenn wir von hier verschwinden“, meinte er und hievte sich auf sein gesundes Bein. Er humpelte auf den müden Gaul zu, der sich augenblicklich erhob, als sein Reiter näher kam. Das Tier schien nicht bemerkt zu haben, dass vor nicht allzu langer Zeit Hunderte seiner Artgenossen hinter dem Hügel vorbei gezogen waren. Mühsam zog sich Bradley in den Sattel und hob Margerite hinter sich. Sein Bein begann wieder zu schmerzen. Er musste es ignorieren. Wenn die Nordarmee in die eine Richtung ritt, musste er in die andere, dachte er beiläufig zu sich, doch als er die Himmelsrichtungen abschätzte, stellte er fluchend fest, dass er in dieselbe Richtung musste. Die Nordarmee war demnach ständig vor ihm. Wenn er Pech hatte, folgte ihnen noch eine zweite Abteilung und er befand sich mittendrin. Er musste zusehen, dass er einen anderen Weg fand. Er trieb das Pferd über den Hügel und bog in die Straße, hinter der Armee her.
Bradley hielt sich im Groben an die Himmelsrichtung. Mal ritt er querfeldein, mal folgte er einer Straße, war aber ständig auf der Hut. Er verspürte keine sonderlich große Lust, Klarik in die Arme zu laufen. Ab und zu kreuzte sich sein Weg mit den Spuren, die eine hundert Mann große Truppe hinterließ und er wurde noch wachsamer. Sein Bein machte ihm zusehends größere Schwierigkeiten und irgendwann war es wieder soweit, dass er anhalten musste. Er suchte einen geeigneteren Schlupfwinkel als eine Senke und stieg ab. Sein Bein pochte wild. Jeder Pulsschlag war in ihm zu spüren. Mit Margerites Hilfe schaffte er den schotterigen Weg zu der kleinen Höhle hinauf. Es war dunkel, aber warm und trocken. Nur Wasser fehlte noch. Das Mädchen verschwand alsbald, um etwas zu Essen und zu Trinken zu suchen.
Nach einigen Stunden kehrte sie zurück. Bradley hatte es sich indessen in einem dunklen Winkel der Höhle bequem gemacht. Der ständige Kampf mit den Schmerzen zehrte an seinen Kräften und er fiel in einen unruhigen Schlaf. Margerite werkelte geschäftig herum, wollte ihm einen gedeckten Tisch präsentieren und beeilte sich fertig zu werden, bevor er erwachte.
Plötzlich verdunkelte eine Gestalt den Eingang. Noch ehe sie einen Ton herausbringen konnte, hatte sich eine Hand auf ihren Mund gelegt.
"Na, du kleine Diebin?", zischte der Mann im schwarzen Pelz. "Dir werde ich es zeigen, unseren Proviant zu stehlen." Er warf sie auf den Boden und nagelte sie mit seinem Gewicht fest. Ohne lange zu fackeln, riss er ihr die Kleider vom Leib. Margerite strampelte und kratzte, doch der Nordmann schien gegen alle Tritte und Kratzer immun zu sein. Mit schnellen Fingern raffte er ihren Rock hoch, bog ihre Beine mit seinen Knien auseinander, dass ihr Becken krachte, und schob sich dazwischen. Doch kurz bevor er gewaltsam in sie eindringen konnte, sackte er leblos über ihr zusammen. Margerite brach augenblicklich in Tränen aus. Hektisch arbeitete sie sich unter ihm heraus und kroch an der Wand entlang tiefer in die Höhle. Dabei versuchte sie, mit ihren zerrissenen Kleidern schamhaft ihren halbnackten Körper zu bedecken. Sie kroch geradewegs Bradley in die Arme. Mit einem erstickten Schrei fuhr sie herum.
"Ist ja alles in Ordnung“, versuchte er sie zu beruhigen. "Das ging ja gerade noch einmal gut." Er strich ihr sanft übers Haar, doch sie entzog ihm ihren Kopf. Sie zitterte am ganzen Körper, presste die Arme vor ihre Brust und starrte den jungen Mann entsetzt an. Bradley zeigte mit einem Wink mit dem Kopf auf die Leiche des Nordmannes.
"Ist dir noch jemand gefolgt?", fragte er. Das Mädchen war nicht fähig auch nur eine Frage zu beantworten.
"Verdammte Nordmänner“, fluchte Bradley und schleppte sich zu dem Toten. Er musste sein Messer zurückholen.
"Wo sind sie?", wollte er von ihr wissen. Margerite starrte ihn nur entsetzt an.
"Du weißt, wo sie sind, richtig?", vermutete Bradley. "Also mach endlich den Mund auf." Es ärgerte ihn so sehr, dass ihre Unvorsichtigkeit Nordmänner in ihr Versteck geführt hatte, dass er nicht an ihre Behinderung dachte. Das Mädchen kroch dichter an die Wand. Seine barsche Stimme machte ihr Angst. Er entdeckte den gestohlenen Proviantsack und erkannte ihn wieder.
"Bist du von Sinnen?", rief er wütend. "Du hast dich in ihr Lager geschlichen und ihren Proviant gestohlen. Was hast du dir dabei gedacht?"
Ängstlich kroch sie noch tiefer in die Höhle. Sie schüttelte hektisch den Kopf und versuchte immer mehr ihrer bloßen Haut zu verdecken. Aber das Bedecken einer Stelle entblößte eine Andere. Alsbald liefen ihr die Tränen erneut in Strömen über die Wange. Bradley musste tief durchatmen. Mehr als Nordmänner hasste er heulende Weiber und entschloss sich, einfach abzuwarten, bis sie sich beruhigt hatte. Vorher war ohnehin nichts aus ihr heraus zu bekommen. Er betete nur, dass ihr nicht noch jemand gefolgt war. Eiligst packte er seine Sachen zusammen und schickte sich an die Höhle zu verlassen. Den Proviantsack nahm er trotz allem mit. Erschrockene Augen beobachteten ihn bei jeder Bewegung.
"Nun mach schon“, forderte er ärgerlich. "Sein Verschwinden wird schnell bemerkt werden. Wir sollten vorher eine große Distanz zwischen ihnen und uns bringen." Dann hüpfte er an der Wand entlang und auf das Schwert gestützt, zum Eingang der Höhle. Ein Schluchzen hielt ihn zurück. Erneut musste Bradley durchatmen. Dieses Kind wurde ihm langsam lästig.
"Hast du Lust von hundert gierigen Männern vergewaltigt zu werden?", fragte er ungeduldig und wartete die Antwort nicht mehr ab. "Komm endlich“, befahl er hart. Augenblicklich war Margerite neben ihm und half ihm den rutschigen Weg hinunter. Eiligst zerrte sie das Pferd aus seinem Versteck. Sie hatte Mühe, den zerfetzten Stoff auf ihrem Körper zu halten. Oft rutschte er soweit ab, dass manche ihrer bereits ansehnlich fraulichen Rundungen zum Vorschein kamen. Verschämt schob sie einen Fetzen darüber. Bradley hatte kein Auge dafür. Ihn trieb die Sorge und auch Angst vor den Nordmännern vorwärts. Sollte ihn Klarik tatsächlich wieder in die Finger bekommen, hatte er wirklich nichts mehr zu lachen.
Mit zusammengebissenen Zähnen zog er sich in den Sattel, und ehe er Margerite hochheben konnte, war sie davon gelaufen. Er hatte nicht auf sie Acht gegeben und suchte sie mit flinken Augen. Schnell wendete er sein Pferd, um sie vielleicht noch in irgendein Mauseloch kriechen zu sehen, doch sie war verschwunden. Auch gut, sagte er sich und riss die Zügel herum. Doch bereits im selben Moment ließ ihn ein Geräusch in der Nähe der Höhle aufhorchen. Er konnte gerade noch den Pfeil erkennen, der auf seinen Kopf zuraste, als er sich auch schon instinktiv duckte. Ein zweiter Pfeil traf das Pferd in den Hals. Es durchbohrte seine Halsschlagader. Eine Blutfonthaine schoss aus der Ader. Das Pferd scheute und warf Bradley ab. Sein verletztes Bein war nicht geeignet für derartige Eskapaden und er schrie schmerzhaft auf. Gleich darauf piekte auch schon eine stählerne Spitze auf seine Stirn. Ohne jegliche Regung blieb Bradley liegen. Der Nordmann über ihm grinste gefährlich.
"Ich wette, du bist der entlaufene Südländer“, grinste er und drückte die Klinge ein wenig fester auf die Stirn seines Opfers. "Welch ein glücklicher Zufall. Ich verfolge eine Diebin und finde einen entlaufenen Sklaven. Was sagt man dazu." Er lachte hämisch. Dann nahm er die Schwertspitze von Bradleys Stirn weg. "Steh auf“, forderte er streng. Ein Stein flog ihm an der Schulter. Er fuhr wütend herum. "He, was soll ... ?" In diesem Moment schmetterte ihm Bradley die geballte Faust zwischen die Beine. Der Nordmann heulte auf und sackte zusammen. Im nächsten Moment, fuhr er bereits gen Himmel. Ein Messer steckte ihn seinem Herzen.
"Verdammt, Margerite“, schimpfte Bradley ärgerlich in den Wald hinein. "Pass das nächste Mal auf, wem du das Essen klaust." Er wusste, sie war in der Nähe. Das Mädchen kroch zögernd aus ihrem Versteck. In ihrer Hand hielt sich noch einen Stein.
Das verwundete Pferd zuckte noch einmal kurz, dann versiegte mit seinem letzten Blutstrom auch sein Leben. Traurig betrachtete Margerite das Tier und musste sich auf die Lippen beißen. In ihren Augen standen bereits wieder Tränen.
"Nun können wir zu Fuß weiter“, zischte Bradley wütend und zog alles, was noch brauchbar war, unter dem toten Tier hervor. Margerite zupfte ihn wieder schüchtern am Ärmel. "Lass mich in Ruhe“, schimpfte er und stieß sie von sich. "Nein“, verbesserte er sich schnell. "Besorge uns lieber ein neues Pferd. Aber diesmal, ohne Gäste mitzubringen." Seine Worte waren voller Hohn und stimmten Margerite erneut traurig. Ihre Augen füllten sich mit Wasser. "Ich meine das ernst“, brüllte er sie unerwartet an. "Geh endlich."
Vor Schreck machte sie einen Satz rückwärts. Zögernd ging sie davon, aber nicht ohne ihm immer wieder einen schmachtenden Blick zu zuwerfen. Vielleicht hegte sie Hoffnungen, dass er seinen Befehl zurücknahm. Doch er beachtete sie nicht weiter. Die Begegnung mit diesen Nordmännern zehrte an seinen Nerven. Er befand sich nicht gerade in bester Verfassung. Sein Fieber begann wieder zu steigen und sein Bein schickte wahre Höllenqualen durch seine Adern. Wenn dieses Kind auch noch anfing, ihn zu nerven, würde er bald nicht mehr klar denken können.
Margerite kam tatsächlich mit einem Pferd zurück. Er fragte nicht länger, woher sie es hatte, warf die wenigen Sachen über den Hals des Tieres und zog sich in den Sattel. Jede Minute länger, die er hier verbrachte, würde ihn zweifelsohne näher an seinen Tod bringen. Er riss die Zügel herum und trat dem Tier in die Flanken. Das Mädchen ließ er einfach stehen.
Aus Panik, er könnte sie vergessen, hängte sie sich wieder an den Steigbügel.
"Verschwinde“, befahl er und stieß sie zurück. "Du hast mir schon genug Schwierigkeiten bereitet." Margerite ließ nicht locker und zog heftig am Schweif. Das Tier erschrak und ging hoch, worauf Bradley herunterfiel. Laut fluchend und schimpfend suchte er das Mädchen und hätte sie am Liebsten mit seinen Blicken getötet. Margerite beging den Fehler, sich in seine Reichweite zu begeben und fing sich augenblicklich eine harte Ohrfeige ein. Erschrocken landete sie auf ihrem Hintern und starrte ihn entsetzt an. Sie kämpfte mit den Tränen und biss sich auf die Lippen, um nicht losheulen zu müssen. Sie dachte in diesem Moment nicht daran, ihr Kleid festzuhalten. Es rutschte ihr über die Schulter und entblößte viel mehr, als ihr lieb war.
"Fang das verdammte Vieh ein“, schrie Bradley wütend und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Nicht aufzuhaltende Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie wischte sie schnell weg, rührte sich aber nicht von der Stelle.
"Hol das Pferd zurück“, befahl er, als er es auf einem Bein hüpfend nicht erreichen konnte. Das Tier war zu erschreckt. Jedes Mal wenn Bradley nach den Zügeln griff, warf es den Kopf hoch und machte einen Satz zur Seite.
Margerite kroch vorsichtig näher. Wie ein geprügelter Hund, der um Gnade flehte, rutschte sie ihm auf Knien hinterher. Mit einem Zipfel ihres schmutzigen Rocken wischte sie über seine Stiefel.
"Lass das“, rief Bradley ärgerlich und ein wenig angewidert und stieß sie weg. Endlich bekam er die Zügel zu fassen und zog den Kopf des Pferdes hart zu sich. Margerite musste aufspringen, um nicht von den Hufen zertrampelt zu werden. Dann hievte er sich wieder in den Sattel, trat dem Tier in die Flanken und ritt davon, bevor sie den Steigbügel erneut erwischen konnte. Das Mädchen lief ihm hinterher.
Ohne zu murren, ohne es noch einmal zu versuchen, folgte sie ihm unentwegt. Egal wohin er sein Pferd lenkte, sie lief ihm tapfer hinterher. Bradley nervte dies von Stunde zu Stunde mehr. Irgendwann zügelte er sein Pferd. Augenblicklich blieb auch Margerite stehen.
Ihm war plötzlich eingefallen, dass das Mädchen keine Schuhe trug, demnach die ganze Zeit mit bloßen Füßen hinterher lief. Sie waren über Schotterwege, Kiesstraßen und frisch geschnittenem Getreide gelaufen und nie hörte er einen Klagelaut von ihr. Er atmete tief ein, als ob er es sich doch noch einmal überlegen müsste, und wendete dann sein Pferd.
"Na schön“, rief er und hielt ihr die Hand hin. Nur kurz zögerte sie, dann rannte sie auf ihn zu, griff die Hand und ließ sich auf den Rücken des Pferdes ziehen.
"Ich versuche die ganze Zeit, den Nordmännern möglichst aus dem Weg zu gehen, also tu mir bitte den Gefallen und lasse ihnen ihren Proviant, gleichgültig wie laut unsere Mägen knurren. Hast du verstanden?" Margerite nickte schnell und klammerte sich glücklich an ihn fest. Sie hätte ihm alles versprochen, nur um bei ihm bleiben zu können.
Als die beiden über einen Bergkamm ritten und Bradley das vor ihnen weit ausgebreitete Land erblickte, konnte er nur mit Mühe einen Freudeschrei unterdrücken. Er war wieder in seinem Heimatland. Vor ihm entdeckte er die Ruinen einer alten Burg, in der er mit seinen Freunden gelagert hatte, wenn sie die Grenzen ihres Reiches abschritten. Dahinter lag ein Berg, über den sie sich immer lustig gemacht hatten, da er den Umrissen einer auf der Seite liegenden Frau glich, mit sämtlichen Kurven und Vertiefungen. Er musste lächeln, als er daran dachte, doch dann versiegte es schnell. Er hatte sich kurz umgedreht und das Meer entdeckt. Das Land vom Fuß dieses Berges bis zum Meeresufer war gegen den Fürstensohn eingetauscht worden. Im Kampf um dieses Stückchen Land brachte er viele seiner Freunde um. Viele, mit denen er in der Ruine genächtigt und Witze über den Frauenberg gerissen hatte, lebten durch seine Hand nicht mehr. Er wand sich ab und führte das Tier den Pfad hinunter in das Tal.
Nun wusste er wieder, wo er war und bewegte sich sicherer. Er konnte getrost querfeldein reiten. In einem hochstämmigen Wald bog er plötzlich vom Weg ab und ritt geradewegs in die Tiefe des Waldes. Nach nicht allzu langer Zeit hörte er es bereits - das Rauschen eines Flusses. Seit Tagen war er nicht aus seiner Kleidung gekommen und sehnte sich daher nach einem Bad. Das fröhliche Plätschern des Wassers verhieß ihm Erlösung. Bald erreichte er tatsächlich den Fluss. Er führte das Tier an eine seichtere Stelle, stieg ab und begann sich auszukleiden. Margerite blieb auf dem Pferderücken sitzen und beobachtete ihn mit aufmerksamen Augen.
"Ein Bad würde dir auch nicht schaden“, meinte Bradley und schlüpfte aus seinem Hemd. Er ließ es fallen, wo er stand und widmete sich seiner Hose. Vor den unschuldigen Augen eines Kindes brauchte er nichts zu verbergen, doch Dank seiner Beinschiene konnte er die Hose nicht ausziehen. Deshalb ließ er sie einfach an und glitt so ins Wasser.
Das Wasser war herrlich kühl. Es erfrischte ihn und schenkte ihm neue Kräfte. Seinem angeschwollenen Bein tat es ebenfalls gut. Es kribbelte angenehm und bald saßen die Striemen um die Schienen nicht mehr so stramm, als die Schwellung zurückging.
Margerite rutschte vom Pferd, kniete sich ans Ufer und trank einige zaghafte Schlücke, wagte sich jedoch nicht ins Wasser. Sie beobachtete die Wasseroberfläche aufmerksam, und immer sorgenvoller, je länger Bradley untergetaucht blieb.
Plötzlich schnellte er genau vor ihr hoch, packte sie und zog sie mit sanfter, aber bestimmter Gewalt, ins Wasser. Margerite stemmte sich in den Boden und weigerte sich beharrlich zu baden. Sie wand ihre Hand in seinem Griff und zog und zerrte und gab merkwürdige quietschende Laute von sich, doch Bradley ließ nicht los. Dann versuchte sie es mit Kratzen und trieb ihm ihre Fingernägel in die Hand, musste aber dabei ihr Kleid freigeben. Es rutschte herunter. Bradley nutzte den Augenblick der Überraschung und zog sie schwungvoll mit sich in den Fluss. Margerite prustete und hustete, als er ihren Kopf über Wasser zog, und begann sie abzuwaschen. Sie wehrte sich, schlug um sich, doch Bradley zeigte kein Erbarmen. Irgendwann verlor sich ihre Gegenwehr und sie ließ trotzig mit sich geschehen. Die schwarze Farbe ging schwerer von ihr ab, als Bradley gedacht hatte und nur annähernd kam ihre wahre Haut- und Haarfarbe zum Vorschein. Für eine richtige Wäsche fehlte ihm allerdings eine ordentliche Bürste und Seife. Als Margerite aufgehört hatte, sich zu wehren, verlor auch er irgendwie die Lust. Er ließ sich rücklings ins Wasser fallen und tauchte wieder für mehrere Minuten unter.
Nahe am Ufer kam er wieder zum Vorschein, schleppte sich auf eine von der Sonne aufgeheizte Steinplatte und ließ sich von den Sonnenstrahlen trocknen. Ab und zu beobachtete er mit amüsiertem Lächeln das Mädchen, wie es verzweifelt versuchte, ihre Sachen trocken zu legen. Die Blicke des Mädchens vermochten ihn beinahe zu töten. Er hatte sie beleidigt. Als sich ihre Blicke trafen, wand sie schnell den Kopf weg und sah trotzig in eine beliebig andere Richtung. Bradley amüsierte sich köstlich.
Margerite bedachte ihn keines einzigen Blickes mehr, als er schließlich über sie zu lachen begann. Selbst Bradley erkannte, dass es nun genug der Amüsierungen war, und drehte sich um. Er betrachtete den Fluss, in dem er früher mit seinen Freunden gebadet hatte, wie er es an diesem Tag getan hatte. Noch bevor ihn dieses schlechte Gewissen erneut zu plagen begann, sandte er über seinen weiteren Reiseweg nach. Hohe Bäume säumten die Ufer des Flusses und erlaubten es nicht, weiter in die Ferne zu blicken.
Zaghafte Finger strichen plötzlich über die längst gehärteten Striemen seines zerschundenen Rückens. Er fuhr herum. Margerite zuckte erschreckt ein Stück zurück.
"Das war der Anführer der Männer, die hinter mir her sind“, erklärte er bereitwillig. "Für einen äußerst dummen Fluchtversuch." Margerites mitleidiger Blick ließ ihn schmunzeln. "Doch nur noch die Erinnerung daran schmerzt“, versicherte er. "Er wird irgendwann ebenso leiden müssen, wie ich an diesem Tag." Seine harte Stimme erschreckte sie erneut, doch als sie begriff, dass sein Hass jemandem anderen galt, legte sie tröstend die Hand auf seinen Arm. Ihre Finger berührten ihn jedoch kaum, als hätte sie Angst es zu tun.
Ein bekanntes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Er lauschte angestrengt in die Richtung, aus der er es zu hören glaubte.
Und Tatsache ... !
Dumpfes Dröhnen von vielen Hufen. Das helle Rasseln der Pferdegeschirre. Dass sie ihn bis in sein eigenes Land verfolgten, hätte er nicht gedacht. Aber im selben Moment wurde ihm die Absurdität seines Irrglaubens klar. Er war ihr Eigentum, ihr Sklave. Sie taten nichts anderes, als ihr Eigentum zurückzuholen. Schnell schlüpfte er in sein Hemd und stopfte es hastig in die Hose, ohne es ordentlich zu zuknöpfen.
"Beeile dich“, rief er Margerite zur Eile an. Sie half ihm auf die Beine. Bradley ließ sich von dem Pferd über den Fluss schleppen. Zum Hinaufziehen in den Sattel blieb jedoch keine Zeit. Margerite zog das Tier unerbittlich weiter. Als es an einer glitschigen Stelle leicht ins Trudeln geriet, verlor Bradley seinen Halt am Sattel und fiel ins Wasser.
"Mach, dass du fort kommst“, rief er ihr zu, als er wieder auftauchte, dann ließ er sich wieder ins Wasser gleiten, um in den Tiefen des Flusses ein Versteck zu suchen. Margerite blieb verwirrt stehen und blickte ihm hinterher, doch als die Geräusche immer lauter wurden und die Reiter eigentlich bald auftauchen mussten, zog sie hastig am Zügel und zerrte das Tier hinter sich her, als wäre es ihr Esel.
Kurze Zeit später entließ der Wald eine Truppe von zehn schwarzbepelzten Männern in das breite Flussbett. Gemächlich, als hätten sie alle Zeit der Welt, trotteten sie im Gänsemarsch das Ufer entlang und gedachten an einer seichten Stelle den Fluss zu überqueren.
Als der junge Bearesberg noch mit seinen Freunden und Kameraden aus dem Heer des Fürsten an diesem Fluss rastete, hatten sie oft Tauchwettbewerbe veranstaltet. Seine trainierte Lunge kam ihm nun zugute. Doch auch er konnte nicht unbegrenzt unter Wasser bleiben. Noch bevor der Letzte an ihm vorübergezogen war, musste er wohl oder übel auftauchen, wenn er nicht ertrinken wollte. Er versuchte so leise, wie möglich zu sein, Luft zu holen und wieder unterzutauchen, doch der umherirrende Blick eines der Nordmänner entdeckte ihn. Sofort schlug er Alarm. In Windeseile waren die zehn Reiter um ihn.
Bradley hatte keine Chance. Sein verletztes Bein erlaubte kein Davonlaufen. Der schwammige Boden bot ihm nicht die nötige Standfestigkeit. Aus seinen Haaren tropfte ihm ständig das Wasser in die Augen und außerdem musste er noch einen Kampf gegen seine schmerzende Lunge führen. Noch ehe er einen Arm zur Abwehr heben konnte, trat ihm ein Stiefel heftig in den Nacken. Er prallte gegen ein Pferd und geriet unter dessen Hufe. Erneut war er unter Wasser. Die Nordmänner sprangen von ihren Tieren und zogen ihr Opfer an den Haaren heraus, doch sie gaben sich nicht mit seiner bloßen Gefangennahme ab. Fausthiebe trafen unbarmherzig sein Gesicht, harte Tritte drohten seine Rippen zu brechen und ständig stieß jemand gegen sein gebrochenes Bein. Immer wieder tauchten sie ihn in den Fluss, bis er zappelte und hektisch um sich schlug, und zogen ihn heraus, aber nur um ihn gleich wieder unter Wasser zu drücken. Ihr hämisches Lachen schallte über den ganzen Fluss. Ihre begeisterten und anfeuernden Rufe vermochten noch hinter dem Horizont gehört werden.
Irgendwann gab Bradley auf. Erschöpft und zitternd hing er in den Armen der Nordmänner. Sein Atem ging heftig und er musste sich auf die Lippen beißen, um ihnen nicht die Genugtuung seiner Schmerzensschreie zu geben.
Auch als er längst gefesselt und wirklich nichts mehr für seine Flucht tun konnte, konnten sich manche der derben Männer nicht zurückhalten, ihm noch den einen oder anderen Stoß zu versetzen. Der Anführer dieser kleinen Gruppe musste seine Männer immer wieder ermahnen, endlich von ihm zu lassen. Klarik wollte ihn lebend. Doch wie dünn der Faden noch zu sein hatte, an dem Bradleys Leben hing, hatte ihnen niemand gesagt und so versetzten sie ihm immer wieder heftige Schläge und Tritte.
Ein Schrei ertönte von der anderen Seite des Ufers zu ihnen herüber. Die Männer fuhren herum und entdeckten ein Mädchen. Ihre Gesichter erhellten sich und augenblicklich erklärten sich eine Hand voll Männer bereit, sich um das Kind zu kümmern, völlig gleichgültig, wie ihr Befehl lautete. Sie rannten los, vergaßen ihren Gefangenen, mit ihren Gedanken nur noch bei den bevorstehenden Vergnügungen. Eigentlich wollte der Rest auch hinterher laufen, doch der Anführer besaß genug Geistesklarheit und Autorität, sie zurückzuhalten. Murrend packten sie ihren Gefangenen auf ein Pferd und banden ihn dort fest.
Zu den Schreien der gierigen Nordmänner kamen noch die eines entsetzten Mädchens. Sie jagten sie am Ufer entlang, quer über den ganzen Fluss und schließlich auch auf der anderen Seite entlang. Ihre Rufe waren mal hier, mal dort zu hören. Scheinbar wusste keiner mehr so richtig, wo sich ihr Opfer befand. Und als sie glaubten, es verloren zu haben, rief sie aus nicht allzu weiter Ferne. Die zurückgebliebenen Nordmänner beobachteten, mit teils amüsierter, teils mit ärgerlicher Miene. Die einen waren verärgert, dass sie nicht daran teilhaben durften, die anderen kicherten über das Katz-und-Maus-Spiel der kleinen Göre. Denn anstatt sich in ein Erdloch zu verkrümeln und spurlos vom Erdboden zu verschwinden, zeigte sie sich immer wieder und lockte die fünf von den anderen weg, immer weiter Flussaufwärts.
Der Anführer rief ihnen hinterher, dass sie zurückzukehren hatten, doch sie hörten nicht mehr, oder wollten nicht hören. So befahl er zwei seiner Männer, aufzusitzen und sie zu holen. Zurück blieben noch drei.
Bradley kam langsam wieder zu klarerem Verstand. Sein Kopf dröhnte und sein Körper schien nur noch aus Fetzen zu bestehen, doch er zwang sich, nachzudenken. Er hatte keine Ahnung von dem, was im Moment geschah und so wusste er auch nicht von der Gefahr, in die sich Margerite für ihn begeben hatte. Die Fesseln schmerzten und alles, was er sich in einem kurzen Überblick an Informationen beschaffen konnte, war, dass er auf einem Pferd saß und die Gesichter der Männer in die andere Richtung, flussaufwärts gerichtet waren. Völlig gleichgültig, was sein Körper dazu sagte, trat er dem Tier in die Flanken. Es rempelte den Ersten um und musste über den zweiten hinweg springen. Der Anführer war geistesgegenwärtig genug, augenblicklich herumzufahren, noch im Drehen sein Schwert zu ziehen und es herum zu schwingen, egal was er traf. Er durchschnitt den Hals einer seiner Leute und die Vorderläufe des an ihm vorbeijagenden Pferdes. Das Tier stürzte samt Reiter in die Fluten, rutschte auf einem vom fließenden Wasser glatt gescheuerten Schiefer in tieferes Gewässer und wurde von der Strömung mitgerissen. Bradley war am Sattel festgebunden und kämpfte verzweifelt um sein Leben. Das panisch um sich tretende Tier drehte und wendete sich und drückte ihn immer wieder unter Wasser. Harte Felsen bohrten sich in seine Haut, treibende Hölzer schlugen ihn, und die Strömung trieb sie unerbittlich auf einen Wasserfall zu.
Bradley kannte diesen Wasserfall. Als er noch jung und mehr ahnungslos dumm, als todesmutig war, benutzte er den Wasserfall als Mutprobe. Er stürzte sich in einem Anfall von Trunkenheit und Wahnsinn in die Tiefe und wäre beinahe ertrunken, da ihn die Strömung des herabstürzenden Wasserfalles nicht wieder an die Oberfläche kommen ließ. Ihm drohte dies nun ein weiteres Mal. Nur dass diesmal niemand da war, der ihn aus dem Wasser ziehen konnte. Verzweifelt versuchte er, sich aus den Fesseln zu winden. Doch die aufgequollenen Stricke, zogen sich immer mehr zu.
Ein plötzlich vor ihnen auftauchender Fels brach dem Tier das Genick und raubte Bradley das Bewusstsein. Das kalte Wasser holte ihn jedoch schnell wieder in die Wirklichkeit zurück. Wie weit mochte es noch zum Wasserfall sein?, schätzte er flüchtig ab und entdeckte auch schon den hohen Felsen, von dem aus, er sich damals in die Tiefe gestürzt hatte. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Mit all seiner verbliebenen Kraft stemmte er sich gegen den Sattel und schaffte es tatsächlich die aufgeweichten Gurte zu sprengen. Nun hatte er nur noch den Sattel, den er mit in die Tiefe nehmen musste und der ihn mit seinem wesentlich geringeren Gewicht, nur um einiges weniger belasten würde, als der Kadaver der Pferdes.
Kaum hatte er dies gedacht, schleuderte es ihn auch schon ins Leere. Für einen Moment hing er in der Luft, doch dann raste er unaufhaltsam in die Tiefe. Bradley wusste, dass das Auffangbecken tief genug war, doch er wusste auch, dass ihn die versteckten Felsen unterhalb der Oberfläche so dankbar aufspießen würden, wie eine reife Frucht. Er betete zu Gott, dass er die Felsen verfehlte. Dann tauchte er auch schon ins Wasser ein und das Tosen und Brodeln, der Druck des Wassers und der Aufprall drohten ihm das Trommelfell zu zerreißen. Er kam hart auf dem Grund auf. Für einen kurzen Moment befand er sich im Zwischenreich, zwischen Himmel und Erde. Seine protestierende Lunge rief ihn zurück. Bradley versuchte an die Oberfläche zu kommen, und als ihm dies nicht gelang, arbeitete er sich am Boden entlang. Die Last des tosenden Wasser schien ihn dort festkleben zu wollen. Die Luftarmut zauberte Sternchen in seine ohnehin schon trübe Sicht. Der Kopf drohte ihm zu zerplatzen. Er schaffte er tatsächlich sich aus den Fängen der Strömung zu befreien und konnte sich nun nicht mehr zurückhalten, an die Oberfläche zu schwimmen - allen Nordmännern zum Trotz, die vielleicht am Ufer auf ihn warten könnten. Seine Lungen füllten sich augenblicklich und äußerst schmerzhaft mit rettender Atemluft. Er besaß jedoch nicht mehr die Kraft, sich, entgegen dem Gewicht des Sattels, über Wasser zu halten und ließ sich, erneut im Zwischenreich angekommen, treiben.
Rasende Kopfschmerzen waren das Erste, was er wahrnahm. Das Zweite, stechende Schmerzen in seinen Armen. Er öffnete die Augen und fand sich in einem Dornengestrüpp wieder. Die Dornen bohrten sich in das Leder des Sattels, seines Hemdes und der Haut seiner Arme, verhakten sich darin und verhinderten, dass er noch weiter flussabwärts getrieben wurde. In beinahe greifbarer Nähe befand sich das Ufer, doch Bradley konnte nicht zu ihm gelangen. Die Dornen hielten den Sattel - und der Sattel ihn. Mit den Zähnen versuchte er, die Fesseln zu durchbeißen, doch die gesättigten Stricke waren nachgiebig und weich und weigerten sich beharrlich, seine malenden Zähne zu akzeptieren. Und wenn es ihn tiefer trieb, das war ihm egal, er rüttelte an dem Strauch und versuchte die Dornen aus dem Leder zu reißen. Tatsächlich gaben sie ihn frei, aber nicht ohne Bradleys Arme fürchterlich zu zerkratzen.
Die Strömung war hier wesentlich geringer, so konnte er sich mit nur wenig Anstrengung, ans Ufer bringen und sank erschöpft nieder. Er spürte keinerlei Schmerz mehr. Seine sämtlichen Nervenstränge schienen mit dem Wasser davon gespült worden zu sein. Er blieb liegen, da er ohnehin keinen Finger mehr rühren konnte, und schlief augenblicklich ein.
Traumlos und unruhig war sein Schlaf, aber er dauerte lange an. Lange genug, um die grenzenlose Erschöpfung aus seinem Körper zu vertreiben. Als er erwachte, fühlte er sich wie neugeboren, obwohl seine Glieder steif und verkrampft waren. Er erhob sich leicht und eine Welle gleißenden Schmerzes jagte durch seine Adern. Bradley schrie auf, biss sich jedoch sofort auf die Lippen. Sein Bein. Es lag leicht verdreht, noch halb im Wasser und ohne die Beinschiene. Einige übriggebliebene Bandagen zeugten davon, dass dort einmal eine Schiene gewesen. Von den Stöcken, die seine Knochen bisher gestützt hatten, existierte jedoch keines mehr. Die Stricke, mit denen er am Sattel festgebunden wurde, waren nun getrocknet und lockerten sich, als er seine Handgelenke drehte. Er streifte die Fesseln ab und stieß den Sattel in den Fluss. Dann legte er sich wieder zurück und blickte über sich, in das dichte Geäst eines hohen und weitausladenden Baumes. Seine Blätter wiegten sich leicht im Wind. Bradley lächelte gequält. Wie friedlich war es doch hier. Dieser mächtige Baum bot einem Krüppel Obdach. Ja, Krüppel. Er schimpfte sich selbst Krüppel und fand dies plötzlich überaus witzig. Doch bald darauf kamen ihm die Tränen. Er war nur um Haaresbreite am Tod vorbei geschliddert.
Wie lange er dort regungslos und in das Blätterdach starrend, gelegen hatte, wusste er nicht. Die Schmerzen in seinem Bein waren das Geringste, was ihn bedrückte. Immer wieder versuchte er es gerade zu richten, doch er musste es stets aufgeben, weil er den Schmerzen nicht mehr gewachsen war. Hier liegen zu bleiben und darauf zu warten, dass sich seine Tage von allein zählten, war das Dümmste, was er tun konnte, erkannte er irgendwann. Deshalb biss er sich auf die Zähne und richtete es, unter Missachtung allem, gerade. Nur mit Mühe blieb er der unerschütterliche Bradley von Bearesberg, der er vor langer Zeit einmal war. Tränen schossen ihm in die Augen und er heulte wie ein kleines Kind.
Er wusste nicht wieso, doch plötzlich musste er an das kleine Lumpenbündel denken, dass ihm seit Tagen hartnäckig am Rockzipfel hing. Wo war sie nur? Er drehte seinen Kopf in alle Richtungen, fand jedoch nur Wald und Bäume, Wasser und Fluss. Er könnte sie jetzt gut gebrauchen. Ebenso ihre Beeren, die sie auf dem Weg, wie beiläufig gepflückt hatte. Er rief nach ihr. Jedoch nur der Wald antwortete in erstauntem Raunen. Daher vermutete er, dass sie in die Hände der Nordmänner gefallen, oder aus Angst davon gelaufen war. War auch besser so, sagte er sich milde lächelnd, sie war ihm sowieso lästig geworden.
Mühsam zog er sich vom Ufer weg, tiefer in den Wald. Jede Bewegung bestrafte sein Bein mit pochenden Schmerzen. Er könnte Erholung auf irgendeinem weit entfernten und ruhigem Landsitz gebrauchen, sagte er sich, doch wie sollte er in seinem Zustand dort hinkommen. Immer weiter schleppte er sich mühsam vom Ufer weg und er kam nur langsam voran. Ihn wunderte, dass ihn noch keiner entdeckt hatte und wer weiß, wie lange er bewusstlos war oder geschlafen hatte. Die Nordmänner suchten ihn mit Sicherheit. Dass sie ihn noch nicht gefunden hatten, hieß noch lange nicht, dass er in Sicherheit war.
Ein Geräusch ließ ihn zusammenschrecken und an Ort und Stelle verharren. Träges, dumpfes Klopfen erzitterte den Boden. Er kannte sich gut genug aus, um aus diesem Klopfen, den langsamen Trott eines einzelnen Pferdes zu erkennen. Flach auf den Boden gedrückt und gebannt auf jedes Geräusch horchend, wartete er auf das Herannahende. Das dumpfe Klopfen der Hufe, auf dem weichen Waldboden wurde immer lauter. Der Reiter ritt nahe am Ufer flussabwärts. Früher oder später musste er geradewegs über Bradley stolpern. Da er ein entdeckt werden nicht riskieren konnte, zog er sich langsam, aber lautlos weiter.
Die Äste teilten sich und ein herrenloses Pferd spazierte hindurch. Es blieb stehen und knabberte an einem Strauch saftiger Blätter. Ab und zu blickte es in Richtung Fluss und kaute auf den Blättern herum. Nur wenige Meter trennten Bradley von diesem rettenden Tragtier, doch die Entfernung war für ihn unüberwindbar. Dieses Tier war keinesfalls allein den Fluss abwärts gelaufen, vermutete Bradley folgerichtig. Sein Reiter musste irgendwo in der Nähe sein. Und plötzlich tauchten unter dem Bauch des Pferdes zwei nackte Beine auf. Die Enden eines zerschlissenen, schmutzigen und in Fetzen gerissenen Rockes waren noch zu sehen, mehr nicht. Doch Bradley genügte dies, um zu wissen, wer das Pferd hierher gebracht hatte.
"Margerite“, rief er freudig und versuchte sich aufzurichten. Augenblicklich kam das Mädchen um das Tier herumgerannt, blickte sich kurz suchend um und stürzte sich dann in seine Arme, als sie ihn gefunden hatte. Bradley musste erneut die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien, denn das aufgelöste Kind war nicht mehr fähig auf seine Verletzungen acht zu geben. Sie schluchzte und zitterte, klammerte sich an ihm fest und hätte sich durch nichts überreden lassen, sich von ihm zu lösen. Bradleys anfängliche Freude über dieses Wiedersehen verebbte bald. Erst wurde es ihm peinlich, dann begann er, sich zu ärgern. Er versuchte ihren Griff etwas zu lockern, doch je mehr er ihre Arme auseinander bog, desto heftiger zitterte sie und desto krampfhafter klammerte sie sich fest. Mit einem heftigen Ruck befreite er sich aus der Umklammerung und zwang sie ihren Kopf zu heben. Tränen bahnten sich einen Weg über die Schmutzschicht ihres Gesichtes. Und zum ersten Mal erkannte Bradley die Farbe ihrer Augen. Sie zitterte am ganzen Leib und krallte sich in seine Hand, bereit selbst dies kleine Stückchen von ihm, nicht loszulassen.
Sein Ärger verflog augenblicklich, als er ihr Gesicht genauer betrachtete. Über die alte Schmutzschicht war eine neue gekommen, aber auch eine breite Blutspur. Ihre Lippe war geschwollen und die Platzwunde längst verkrustet. Das Kleid zeigte weitaus mehr Risse, als er in Erinnerung hatte. Mit zahlreichen Knoten und getrocknetem Gras hatte sie versucht, es zu flicken. Vorsichtig schob Bradley den Streifen beiseite, der ihr noch als Träger diente. Die Schürfwunden, Schnitte und blauen Flecken zeichneten sich, trotz der Schmutzschicht deutlich ab. Sie war geschlagen und misshandelt worden. Einer plötzlichen Regung folgend, drückte er sie an sich. Sie musste nicht minder Schlimmes durchgemacht haben als er, vermutete er und ließ sie an seiner Brust ausweinen.
Margerite brauchte lange, um sich zu beruhigen. Bradley hatte nicht nur gegen den körperlichen Schmerz anzukämpfen, den ihm dieses Kind verursachte. Seine Wut auf die Nordmänner wurde immer größer, je länger sie brauchte, sich davon zu erholen.
Irgendwann schien sie eingeschlafen zu sein, jedoch ohne ihren Griff zu lockern. Als er vorsichtig ihre Arme von sich heben wollte, rückte sie augenblicklich nach. Doch plötzlich schien ihr einzufallen, an wessen Brust sie sich drückte und fuhr abrupt hoch. Schnell brachte sie einen kleinen Abstand zwischen sich und Bradley und starrte ihn mit roten, verweinten Augen an.
Sie hob erst einen, dann zwei und schließlich drei Finger in die Luft und schirmte ihre Augen vor einer Sonne ab, die sie hier unten, unterhalb des dichten Blätterdaches des Waldes gar nicht blenden konnte. Immer wieder hob sie die Finger in die Luft und schirmte ihre Augen ab. Bradley brauchte eine Weile, bis er begriff, was sie versuchte ihm zu erzählen. Sie hatte ihn drei Tage lang gesucht. Schmunzelnd zweifelte er ihre Zählkenntnisse an, doch als er an die Leere seines Magens dachte, hielt er es nicht mehr für so unwahrscheinlich.
"Weiß du, ob sie mich noch suchen?", wollte er wissen.
Sie zuckte mit den Schultern und zeigte kurz darauf flussaufwärts.
"Sind also noch irgendwo da oben“, versuchte er zu erraten.
Sie zuckte erneut mit den Schultern und zeigte wieder flussaufwärts.
Manchmal wünschte sich Bradley eine Zunge für das Kind, damit sie ihm präzisere Auskünfte geben konnte. Er atmete tief ein und versuchte sich aufzusetzen. Diese Bewegung rief die Verletzung seines Beines wieder in Erinnerung.
"Ich brauche eine neue Schiene“, meinte er deshalb und warf ihr einen auffordernden Blick zu. Margerite betrachtete ihn kurz, sah ihn fragend an, doch dann begriff sie, dass sie die Schiene zu besorgen hatte. Sofort erhob sie sich und durchforschte die nähere Umgebung nach geeigneten Ästen oder Hölzern. Bald darauf kam sie zurück und hatte das Richtige in der Hand.
Er hatte sich ernsthaft vorgenommen, durchzuhalten, gleichgültig, was sie tat. Schließlich würde er ohne sie noch immer unter dem Felsvorsprung liegen und verzweifelt mit dem Baumstamm ringen. Margerite hielt einige Male erschrocken inne, als sie merkte, dass er sich vor Schmerz verkrampfte und sie fuhr erst wieder fort, als sich sein Gesichtsausdruck auflockerte.
Frisch verbunden und ein gebratenes Kaninchen im Magen machten sie sich auf die Weiterreise. Dank der langen Ruhepause konnte Bradley um einiges länger im Sattel bleiben, aber er wollte es nicht unbedingt übertreiben. Ob die Nordmänner noch in der Nähe waren, wusste er nicht. Auf seine Frage, antwortete Margerite stets mit Schulterzucken.
Bradley war wesentlich weiter den Fluss hinunter getrieben worden, als er vermutete. Bis Pickleewall würde es nicht mehr allzu weit sein. Er kannte sich in dieser Gegend aus - von Streifzügen mit seinen Kameraden und von ausgedehnten Wanderungen, wenn er sich davor drücken wollte, seine Mutter zu besuchen. Als er in die Straße einbog, die nach Pickleewall führte, fühlte er sich plötzlich wie zuhause, obwohl er die Gegend früher weitgehend gemieden hatte. Nun hoffte er inständig, dass ihm seine Mutter würde verzeihen können.
Doch als er vor dem Haus stand, verpufften seine Hoffnungen schneller, als ein Auge blinzeln konnte. Von der prächtigen, strahlenden Villa, mit dem blühenden Garten und den himmelhohen Tannen, standen nur noch rußgeschwärzte Grundmauern, verkohlte Baumstümpfe und zerwühlte Erde. Der gepflegte Rasen war von unzähligen Hufen zerstört worden, die Blumenbeete zertrampelt, die Tannen gefällt, der Kiesweg aufgewühlt. Feuer, Raub und blinde Zerstörungswut machten ihm endgültig den Garaus. Moos, Unkraut und Efeu hatten bereits begonnen, die Zerstörung zu überwuchern.
Wenn die starre Stütze seines lädierten Beines es gestattet hätte, wäre er auf die Knie gefallen. Entsetzt starrte er auf die Ruinen seiner Hoffnung. Er ballte die Fäuste und hätte gegen alles gedroschen, wenn nur etwas da gewesen wäre. Was war nur geschehen? Wo war seine Mutter? Lebte sie noch?
Knapp neben seinen Stiefeln bohrte sich ein Pfeil in den Boden. Bradley fuhr herum. Ein Mann, den er aus der Dienerschaft seiner Mutter zu kennen glaubte, stand mit einem gespannten Bogen hinter ihm. Ein weiterer Pfeil zeigte auf ihn.
"Was ist hier geschehen?", wollte Bradley wissen und zeigte auf die Verwüstung.
"Als ob ihr das nicht selbst wüsstet“, zischte der Mann verächtlich zurück.
"Wieso ich?", rief Bradley.
"Genügt euch das nicht?", rief der Mann zurück. "Müsst euch wohl noch selbst daran ergötzen, was?"
"Ich verstehe nicht“, begriff Bradley tatsächlich nicht. "Wo ist Lady Claire?"
"Wo soll sie schon sein, nach all dem?", zischte der Schütze und deutete mit dem Kopf auf die zerstörte Villa. "Dort wo ihr sie hingeschickt habt."
"Ich habe sie nirgendwo hingeschickt“, wurde es Bradley langsam zu bunt. "Ich war lange im Norden."
Darauf wusste der ehemalige Diener keine Antwort, oder wollte keine geben. Er hielt es vielleicht für eine Lüge.
"Wo ist Lady Claire?", fragte Bradley noch einmal. "Ich muss sie unbedingt sprechen."
"So?", machte der Schütze nur kurz.
Bradley humpelte langsam auf den Diener zu. Bereits nach dem ersten Schritt setzte dieser genau auf das Herz seines Gegners an. Ihm schien es gleichgültig zu sein, wem er seinen Pfeil ins Herz bohrte, oder er wusste es ganz genau. Margerite zögerte, als sich Bradley auf sie stützte und sie dadurch zwang, sich ebenfalls dem Bogenschützen zu nähern. Ihr war nicht ganz wohl dabei, doch Bradley gab sie nicht frei.
"Wo ist sie?", fragte er, als er ihm nur noch wenige Meter entfernt gegenüberstand.
"Glaubt ihr wirklich, ich verrate euch das?", rief der Diener zurück und setzte neu an. Die Bogensehne wurde nur noch von seinen Fingerspitzen gehalten. Eine falsche Bewegung und sie schnellte los.
"Demnach ist sie noch am Leben“, schloss Bradley erleichtert aus der Antwort. "Führe mich zu ihr."
Der Diener zögerte. Durch seinen Fehler hatte er seine Herrin verraten und sie eventuell sogar entgültig zum Tode verurteilt.
"Bitte“, führte Bradley seiner Aufforderung aufrichtig hinzu.
Der Blick des Dieners wechselte von dem jungen Mann zu Margerite und wieder zurück. Er betrachtete ihn von oben bis unten und schien nach langem Überlegen zu dem Schluss gekommen sein, dass Bradley auch einiges durchgemacht haben musste. In der Tat konnte man ihn mit einem gewöhnlichen jungen Bauernburschen verwechseln. Seine Kleidung war zerrissen und schmutzig. Seine Wunden verkrustet, ohne versorgt worden zu sein. Zudem humpelte er, mit einem gebrochenen Bein. Er senkte den Bogen langsam.
"Sie ist noch am Leben?", sagte Bradley mehr fragend als feststellend.
"Lady Claire ist noch am Leben“, bestätigte er nickend. "Doch ich weiß nicht, ob sie euch zu sehen wünscht." Seine Worte waren mit Hass geradezu gespickt.
"Frage sie“, forderte Bradley. "Sie wird mich sehen wollen." Er hoffte, dass sich dies bestätigte. Falls nicht, hätte er nicht gewusst, wem er noch vertrauen sollte.
"Vielleicht“, gab der Diener selbstsicher von sich. "Aber nur, um Euch persönlich ein Messer in den Leib zu rennen."
"Du sollst sie fragen“, herrschte er den Diener an. "Geh endlich!"
Nur für einen kurzen Moment hatte sich der Diener entschlossen, doch noch den Pfeil abzusenden, doch dann senkte er den Bogen wieder.
"Wartet hier“, befahl er, drehte sich um und ging davon.
Kurze Zeit später kam er zurück, ohne Bogen. Das war ein Zeichen dafür, dass sie ihn sehen wollte. Hoffnungsvoll lächelte Bradley dem Mann entgegen.
"Sie wünscht Euch zu sprechen“, gab der Diener kurz von sich. "Folgt mir." Damit drehte er sich um und ging in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Bradley stützte sich schwer auf Margerite, als er zum Pferd humpelte und sich in den Sattel zog. Den Diener schien es nicht zu interessieren, ob Bradley ihm folgen konnte, oder nicht. Er marschierte zielstrebig vorweg, über den Hof, quer über mehrere Äcker und in ein kleines Dorf. Bradley holte ihn ein, als der Mann die Grenzen des Dorfes, in dem Lady Claire so aufopferungsvolle Hilfe geleistet hatte, erreichte. Bradley hatte stets versucht, dies zu ignorieren, doch er musste dies ebenso wahrnehmen, wie den Umstand, dass sie deswegen von den Dorfbewohnern geachtet und geliebt wurde.
Der Diener blieb vor einer kleinen Hütte stehen.
"Solltet Ihr noch irgendwelche Waffen tragen, legt sie ab“, befahl der Diener barsch und schätzte Bradley von oben herab ab. Sein Ton ärgerte Bradley, doch in seinem Zustand konnte er es nicht einmal mit Margerite aufnehmen, geschweige denn mit einem vor Gesundheit strotzenden Mann. Er schüttelte den Kopf. Margerite zog ihm schnell das Messer aus dem Gürtel, an das er wirklich nicht gedacht hatte. Der Diener nahm ihr die Waffe augenblicklich ab. Dann stieß er die Türe zu der kleinen Hütte auf.
Doch bevor die beiden eintreten konnten, hielt er Bradley zurück.
"Sie bleibt hier“, forderte er und deutete mit einem verachtenden Blick auf das Mädchen. Ihr war ihre Herkunft deutlich anzuerkennen und es war seinem Hass auf die nordische Bevölkerung zuzuschreiben, dass er ihr den Zutritt verweigerte.
"Habe nichts dagegen“, verzog Bradley seine Mundwinkel. "Wenn du mir dafür weiterhilfst."
Der Diener überlegte kurz, wem gegenüber er mehr Hass verspürte. Dann endlich gab er angewidert den Weg für beide frei.
Das Innere der Hütte war düster. Es roch muffig, aber angenehm. Ein Hauch süßlichen Duftes schwebte durch den Raum, wie ein losgelöster Löwenzahnsamen. Bradley erkannte sofort den Lieblingsduft seiner Mutter, der ständig um sie zu schweben schien. Sein Herz machte vor Freude einen Sprung in die Luft.
"Bradley?", rief eine schwache Frauenstimme aus der hintersten Ecke.
Seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Nur wage konnte er eine Frauengestalt erkennen. Langsam kam sie auf ihn zu.
"Mutter“, rief er die Gestalt an. Sie hob die Arme. Bradley griff danach. Es waren die Hände seiner Mutter. Lange hatte er sie nicht gespürt. Nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten, sie an sich zu reißen und die Frau in die Arme zu nehmen.
Eine heiße Wange berührte die seine. Er spürte ihr Zittern und er hielt sie nur einfach fest. Auch er musste mit den Tränen kämpfen. War nun alles vergeben? Seine Worte, die er in Umnachtung falscher Erziehung gesprochen hatte; konnte sie ihm verzeihen?
Sie drückte ihn an sich. Nun endlich hatte sie ihren Sohn wieder. Über fünfundzwanzig Jahre musste sie auf diesen Augenblick warten. Sie drückte ihn an sich und wollte ihn nie mehr loslassen.
Erst als sich an der Türe jemand respektvoll räusperte, gab sie ihn frei. Sie strich ihm liebevoll übers Gesicht.
"Können Sie mir verzeihen, Mutter?", fragte Bradley heißer. Wenn er es nur vermocht hätte, wäre er vor ihr demütig in die Knie gegangen.
"Du musst mir verzeihen, dass ich es zugelassen habe, dich ziehen zu lassen“, erwiderte sie mit zittriger Stimme. "Oh, mein Bradley. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass du noch lebst. Der Herr hat meine Gebete erhört." Sie nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn, so wie sie es immer getan hatte, wenn sie sich unbemerkt in sein Zimmer schleichen konnte. Früher hatte er sich immer dagegen gewehrt, doch nun ließ er es bereitwillig mit sich geschehen.
"Der Herr hatte allerhand Arbeit, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen“, gab Bradley schmunzelnd von sich. Dann küsste er seine Mutter. Das war das erste Mal, dass er dies tat. Er fühlte sich gut dabei. Er fühlte sich zum ersten Mal frei von bedrückenden Gedanken. Ihm war es gleichgültig, was sie getan hatte. Vielleicht war ihr Leben besser geworden, als sie Bearesberg verlassen musste.
"Was ist geschehen?", wollte er wissen. "Was ist mit Ihrem Haus passiert?" Der Diener in seinem Rücken wollte zu einer Bemerkung ansetzen, doch Lady Claire hieß ihn durch eine kurze Handbewegung an zu schweigen.
"Kurz, nachdem ich von deiner Abreise nach Norden erfuhr, überfielen uns des Nachts unheimliche Gestalten“, erklärte sie. "Sie brannten alles nieder, zerstörten jedes Ding, verscheuchten die Dienerschaft und schrien überall herum, dass dies deine Rache wäre. Ich wurde von Freunden aus dem Dorf gewarnt, so konnte ich fliehen, bevor sie eintrafen."
"Meine Rache?", rief Bradley ungläubig. "Wofür sollte ich mich rächen?"
"Erinnerst du dich, an unser letztes Gespräch“, erwiderte sie. "Ich bezichtigte den Fürsten, Übles zu planen. Für diese Verleumdung wolltest du dich gerächt haben."
"Aber ich ... ?" Bradley brachte es nicht fertig, weiter zu sprechen. Wieder sein Vater ... . Die Blutrache, die er geschworen hatte, wurde immer dicker. Er wird dafür büßen müssen, schwor er sich.
"Ich weiß, dass diese Männer nicht von dir geschickt wurden“, versicherte sie ihm.
"Ich erwähnte Vater von diesem Gespräch“, gab er zornig von sich. Und damit war alles Nötige geklärt. Sein Vater ... .
Bradley atmete tief ein und mit diesem Atemzug zog auch der sanfte Duft ihres Parfüms in seine Nase. Es beruhigte ihn ein wenig. Sein in Wallung geratenes Blut zirkulierte aber immer noch schnell durch seine Adern. Sein Bein schwoll an und begann wieder zu schmerzen. Plötzlich bemerkte er, dass Margerite nicht mehr an seiner Seite war, da er sich wie selbstverständlich auf sie stützen wollte. Er wand sich um und entdeckte sie, geduldig an der Türe wartend. Er winkte sie zu sich. Sie schüttelte heftig den Kopf.
"Komm schon“, forderte er. Nur zögernd kam sie näher. Sie fühlte sich sichtlich unwohl und vergrub ihre Hände nervös in den Falten und Rissen ihres Kleides.
"Das ist Margerite“, stellte er sie seiner Mutter vor und zog sie zu sich, als sie in greifbarer Nähe war.
"Willkommen, Margerite“, begrüßte Lady Claire den weiteren Gast ihres bescheidenen Hauses.
Das Mädchen machte einen höflichen Knicks, der aber mangels Übung etwas unbeholfen ausfiel. Sie traute sich nicht die Hand der edlen Dame zu nehmen und blickte fragend zu Bradley hoch. Er nickte ihr zu, doch als sie es immer noch nicht tat, schubste er sie leicht vor.
"Sie ist manchmal etwas eigenartig“, schmunzelte Bradley. "Und kann einem ab und zu ganz schön auf die Nerven gehen. Aber ohne sie würde ich nicht hier stehen."
Margerite starrte ihn mit weiten Augen an. Sie verzog ihre Mundwinkel und drehte schnell den Kopf weg.
Bradleys Wunden wurden sorgfältig gesäubert und versorgt, sein Bein ordentlich und fachmännisch geschient und er konnte sich ausgiebig ausruhen.
Als er nach einem langen erholsamen Schlaf die Augen öffnete, entdeckte er neben seinem Bett, auf einem Stuhl sitzend, eine Person, deren Gesicht er zu kennen glaubte, aber auch wieder nicht. Er setzte sich auf und betrachtete sie näher. An den Augen erkannte er sie schließlich wieder.
"Margerite?", fragte er ungläubig und starrte sie an. Vor ihm saß nicht mehr das schmutzige Mädchen in den Lumpen und den gefärbten Zottelhaaren, sondern eine ansehnliche junge Dame. Sie sprang augenblicklich auf, breitete ihren Rock aus und drehte und wendete sich voller Stolz in alle Richtungen. Ihr Haar war sauber gewaschen und gekämmt, mit adretten Zöpfen um den Kopf geflochten. Das einfach gehaltene Kleid, ohne Schmuck und überflüssigem Tand, ließ sie auf ihre gemeine Weise hübsch wirken. Das Kind, das ihm so lästig an seinen Fersen gehangen war, hatte eine wundersame Wandlung durchgemacht. Sie war kaum wieder zu erkennen.
"Das gibt es doch nicht“, konnte er es nicht fassen.
Margerite zog die Mundwinkel hoch und setzte sich zu ihm an die Bettkante. Ihre Augen glänzten vor Stolz. Aus der Nähe betrachtet, entdeckte er noch die Reste der Misshandlungen, doch ihre vor Glück und Gesundheit rot glühenden Wangen machten dies allemal wett. Sie zeigte auf sich und breitete dann die Hände vor ihrer Brust aus. Sie wollte wissen, wie sie ihm gefiel.
"Gut“, nickte er.
Das war ihr nicht genug. Sie legte den Kopf schief.
"Wirklich“, versicherte er. "Du bist kaum wiederzuerkennen."
Sie zog die Mundwinkel wieder hoch. Es sollte ein Lächeln sein, vermutete er und erwiderte es. Er war wirklich angenehm überrascht. Sanft strich er über ihre Zöpfe. Margerite hielt still. Ihre Augen beobachteten ihn aufmerksam. Dann zog sie die Mundwinkel noch höher, als er ihr Kinn streichelte.
"Und das versteckst du unter Schmutz und Farbe?", lachte er. "So ist dein Gesicht doch wesentlich hübscher."
Margerite schwellte Stolz ihre Brust und wollte ihre Hand auf die seine legen. Doch vorher zog er sie zurück.
"In diesem Aufzug wirst du jedem Jungen den Kopf verdrehen“, ermahnte er sie schmunzelnd und setzte sich aufrechter. Er war für einen Mann von Stand viel zu spärlich gekleidet, als dass er ein weibliches Wesen in seiner Nähe hätte dulden dürfen. Ohne Hemd und ohne Hose. Ein dünnes Laken bedeckte seinen Unterleib. Sein gesundes Bein hatte er als Stütze angewinkelt. Das Laken war abgerutscht und verhüllte ihn nur noch mehr als spärlich. Bradley merkte von all dem nichts. Er hielt das Mädchen vor sich noch immer für ein Kind und vor einem solchen, brauchte er keine Schamgefühle zu hegen. Margerite ließ ihren Blick über seinen Körper schweifen. Die harttrainierten Muskeln an Oberkörper und Oberarme schienen ihr besonders zu gefallen, denn sie streckte ihre Finger danach aus. Bradley deutete dies falsch.
"Wunden sind bald verheilt“, meinte er und strich ihre Finger beiseite. Augenblicklich zog sie ihre Hand zurück.
Plötzlich stand jemand hinter ihnen. Lady Claire legte ihre Hand auf Margerites Schulter.
"Na, wie gefällt sie dir?", fragte sie lächelnd.
"Ich bin überrascht“, gab er ehrlich zu. "Sie ist nicht wieder zu erkennen."
"Das war ein schönes Stück Arbeit“, lächelte die Mutter und strich liebevoll über Margerites Kopf. "Anfänglich wehrte sie sich verbissen, aber dann hatte sie es doch eingesehen."
"Dachte ich mir doch“, lachte Bradley und musste an das Bad im Fluss denken. "Es kann nicht ihre Idee gewesen sein."
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Mädchens. Ihre Finger vergruben sich im Stoff ihres Kleides.
"Wir sollten sie als Mündel aufnehmen“, schlug Lady Claire vor. "Da bekommt sie eher eine Gelegenheit, eines Tages einen anständigen Mann zu finden."
"Eine gute Idee“, stimmte ihr Bradley zu. "Wir werden schon jemanden finden für dich. Dafür werde ich sorgen." Er nickte ihr aufmunternd zu.
Margerite riss sich aus den Händen von Lady Claire los und rannte aus dem Zimmer. Bradley und seine Mutter sahen sich fragend an. Eben Kinder, sagten sie sich achselzuckend.
Noch bevor Bradley sein verletztes Bein richtig benutzen konnte, begann er es zu trainieren. Es war in der Zeit der Heilung etwas steif geworden und das würde sich bei einem Schwertkampf als hinderlich erweißen. Bereits nach kurzer Zeit konnte er es bewegen, als wäre es niemals verletzt gewesen. Margerite beobachtete ihn stets aus der Ferne. Als Bradley sie zu sich winkte oder sie ansprach, lief sie davon. Er konnte sich ihr seltsames Verhalten nicht erklären und entschloss sich, sie fortan in Ruhe zu lassen und zu warten, bis ihr Anfall vorüber war.
Eines Tages kam sie hektisch und vollkommen außer Atem angelaufen. Schon von Weitem versuchte sie, ihm mit wildem Gestikulieren etwas begreiflich zu machen. Erst dachte Bradley, sie hätte sich endlich entschlossen, wieder mit ihm zu reden, wenn sie es auch nur auf ihre Art tun konnte. Doch als sie in ihrem Sonntagskleid auf dem Boden herumkrabbelte, eine schwarze Katze beim Schwanz hinter einer Kiste hervor zog und mit ausholenden Bewegungen um ihren Kopf, einen überdimensionalen Helm darstellte, begriff Bradley - die Nordmänner.
"Wo?", wollte er sofort wissen.
Margerite zeigte in Richtung Westen.
"Wie weit sind sie noch weg?", war seine nächste Frage.
Sie wedelte heftig mit den Händen. Das war zwar nicht unbedingt eine ausreichende Antwort, doch ihre Reaktion, verriet Bradley, dass sie nahe genug waren, um dem Mädchen gehörige Angst einzujagen. Er drehte sich um und entdeckte seine Mutter, die eben im Begriff war, in die Kirche zu gehen.
"Bringen Sie sofort alle Frauen und Kinder in Sicherheit“, rief er ihr zu. "Die Nordmänner kommen." Dann wand er sich dem Mädchen zu. "Verschwinde, Margerite“, befahl er.
Margerite schüttelte heftig den Kopf.
"Du sollst dich verstecken“, befahl er eindringlicher.
Erneut weigerte sie sich.
"Los, verschwinde!“, brüllte er sie an. Margerite machte ein paar Schritte rückwärts und blieb erneut stehen. Bradley war mit schnellen Schritten bei ihr, drehte sie hart um und schubste sie seiner Mutter entgegen, die zwar die Befehle weitergegeben hatte, nun aber Näheres wissen wollte.
"Ich weiß nicht, wie viele es sind und wann sie kommen“, erklärte Bradley schnell. Dass sie tatsächlich kamen, glaubte er Margerite sofort. "Bringen Sie sich in Sicherheit. Frauen und Kinder dürfen sich auf keinen Fall sehen lassen." Er sprach aus Erfahrung. Lange genug musste er mit ansehen, wie die Nordmänner mit ihren Gefangenen umsprangen, im besonderen mit Frauen und Kindern. Mit Männern gingen sie humaner um, sie töteten sie auf der Stelle. Bradley zog seinen Schwertgürtel parat, hängte sich seinen Kirchgängermantel um und ging dem Glockengeläut entgegen. Er konnte sich kein besseres Versteck, als einen Gottesdienst vorstellen. Selbst Nordmänner, wusste er, waren Gottesfürchtige Leute, obwohl sie noch immer Dämonen und allerlei Halbgötter anbeteten. Sie würden es nicht wagen, eine Kirche zu stürmen, in der gerade eine Messe abgehalten wurde, sondern vor der Türe warten, bis die Leute herauskamen. Den Mantelkragen hochgeschlagen, das Gesicht tief gesenkt, eilte er in die Kirche.
Bevor er in die Bankreihen treten konnte, zupfte ihm jemand am Ärmel. Margerite stand neben ihm und blickte ihn erwartungsvoll an.
"Du sollst verschwinden, habe ich gesagt“, schimpfte er und stieß sie zur Türe hinaus. Sie drehte sich, sodass sein Stoß an ihr vorbei ging. Beharrlich blieb sie an seiner Seite und schüttelte den Kopf, als er sie erneut hinausstoßen wollte.
"Du weißt selbst, was passiert, wenn sie dich in die Finger kriegen“, versuchte er sie zu überreden. Sein Blick suchte flüchtig die Umgebung ab. Von den Nordmännern war noch nichts zu sehen. Margerite faltete die Hände und flehte, bei ihm bleiben zu dürfen. Sie fühlt sich anscheinend in seiner Nähe sicherer. Bradley schüttelte den Kopf.
"Nein“, rief er ärgerlich und stieß sie wieder hinaus. "Es ist zu gefährlich." Erneut bettelte sie ihn an.
Wenn Bradley nicht eine Staubwolke hinter dem Horizont hätte aufsteigen sehen, hätte er höchstpersönlich dafür gesorgt, dass sie ihr Versteck erreichte. Doch so schob er sie vor sich her in die Kirche hinein.
"Wenn wir dies glimpflich überstanden haben sollten, dann erinnere mich daran, dass ich dich ordentlich übers Knie lege“, knurrte er ärgerlich. Margerite verzog die Mundwinkel und hakte sich glücklich in seinen Arm ein.
"Bradley von Bearesberg“, hörte er eine weibliche Stimme seinen Namen ausrufen. Er fuhr herum.
Vor ihm stand eine junge Lady, die er von früher kannte. Sie war am Hof seines Vaters gewesen, bis sie verheiratet wurde. Schon damals war er von ihrer bezaubernden Schönheit fasziniert gewesen und er hatte ihr mehr als einmal den Hof gemacht. Sein Ärger war mit einem Mal verflogen. Galant nahm er ihre Hand entgegen und küsste ihre Fingerspitzen. Er ließ die Staubwolke jedoch nicht aus seinen Augenwinkeln, bis jemand die Türen der Kirche schloss.
"Lady Jennifer“, lächelte er freundlich. "Welch wundersame Überraschung."
"Es überrascht mich, euch hier zu sehen“, lächelte sie und überließ ihm ihre Fingerspitzen, solange er sie halten wollte.
Wie damals, umschmeichelten die weichen Locken ihres offenen Haares ihr feines Gesicht. Ihre Augen strahlten, wie eh und je, in feinstem Eisblau.
"Soweit ich mich erinnern kann, wolltet ihr euch nie und nimmer in die Einöde der Provinz begeben“, entgegnete sie. "Was hat euch bewogen, eure Meinung zu ändern?" Margerite an seiner Seite überging sie einfach.
"Familiäre Angelegenheiten“, antwortete er wahrheitsgetreu.
"Ihr müsst mich unbedingt besuchen kommen, solange ihr noch in Pickleewall verweilt“, bat sie ihn mit einem unschlagbaren Lächeln.
"Der Bitte einer wunderschönen Frau konnte ich noch nie widerstehen“, schmeichelte er galant und musste gegen den Schauer ankämpfen, den ihm, der immer lauter werdende, Lärm der herannahenden Nordmanntruppe verursachte. Wieso er die anderen Kirchgänger nicht warnte, konnte er sich selbst nicht erklären. Vielleicht sagte ihm sein Verstand, dass es bereits für jeden Fluchtversucht zu spät war.
"Mein lieber Bradley“, lachte sie. "Ihr habt Euch in all der Zeit kein bisschen verändert."
"Wieso sollte ich?", erwiderte er leichthin. "Manche Frau würde enttäuscht sein, wenn ich es täte."
Lady Jennifer lachte vergnügt und zog ihm ihre Fingerspitzen sanft und graziös aus der Hand.
"Lasst euch bitte nicht allzu viel Zeit“, bat sie kichernd. "Jetzt, nachdem ich Euch wiedergefunden habe, brenne ich darauf, von Eurem Leben zu erfahren."
"Es wird mir ein Vergnügen sein“, verbeugte er sich leicht, mit einer galanten Handbewegung.
Die Glocken läuteten erneut. Ein Zeichen, dass mit dem Gottesdienst begonnen werden konnte. Der Priester trat in das Vorschiff. Damit verbeugte sich Bradley in aller Höflichkeit etwas tiefer, wartete kurz ihr Nicken ab und setzte sich dann mit den übrigen Kirchgängern in die Holzbänke. Margerite hatte die beiden aufmerksam beobachtet. Ihr Blick war auf der jungen Lady haften geblieben, bis Bradley sie hinter sich in die Bankreihen zog. Gedankenversunken strich sie über ihre, am Kopf festgesteckten Zöpfe, dann zog sie die Nadeln heraus und begann einen nach dem anderen öffnen.
Bradleys Gedanken waren draußen bei den Nordmännern. Margerites Verschönerungsaktion bemerkte er nicht. Er schlug den Kragen erneut hoch und zog seinen Hals ein. Wenn ihn Lady Jennifer erkannte hatte, gab es womöglich noch jemanden, der ihn erkennen und verraten könnte.
Die Messe begann, als der Priester sein Gebetsbuch aufschlug und zu einem Gesang anstimmte. Für einen Moment wurden Bradleys Gedanken von der Musik überstimmt, doch als die Stimmen draußen vor dem Kirchplatz immer lauter wurden, glitt seine Hand langsam zum Schwertgriff.
Und dann, mitten in der Predigt flogen die Türen auf und schwarzbepelzte Hünen stürmten herein. Augenblicklich entstand Aufregung. Die Leute sprangen schreiend von ihren Bänken und flohen in panischer Angst. Einige mutige Männer zogen ihre Schwerter und traten den Nordmännern entschlossen entgegen. Bradley tauchte noch tiefer in der Menge unter. Ängstlich klammerte sich Margerite an Bradleys Arm und verringerte dadurch seine Bewegungsfreiheit. Er schob sie in einen Beichtstuhl und hieß sie an dort drin zu bleiben, bis die Gefahr vorüber sei. Erneut weigerte sie sich, doch sein gestrenger Blick ließ sie gehorchen.
Bradley versuchte, sich mit der fliehenden Menge nach draußen zu retten, wo er vielleicht unerkannt entkommen konnte. Früher wäre er nie auf die Idee gekommen, vor irgendetwas davon zu laufen, doch in anbetracht seiner Erfahrung mit den Nordmännern und der Anzahl der in die Kirche gestürmten Kriegern, zog er es lieber vor, klammheimlich zu verschwinden.
Selbst über dem ohrenbetäubenden Geschrei der Frauen, hörte er die donnernde Stimme von Klarik heraus, der seinen Männern unentwegt Befehle zurief. Die Nordmänner schienen weder Interesse am Blutvergießen, noch an den Frauen zu haben. Die beherzten Jünglinge und Ehemänner, die ihnen mit erhobenem Schwert entgegen getreten waren, schlugen sie, ohne sie tödlich zu verletzen, mit wenigen Hieben nieder. Die Frauen und Kinder trieben sie, einer Schafherde gleich aus der Kirche. An der Pforte standen Männer, die jeden Kirchgänger genau begutachteten. Sie suchten jemanden Bestimmten - Bradley.
Verzweifelt sah sich Bradley nach einem Ausweg um. Die Kirche besaß nur zwei Ausgänge. Die große Pforte und die kleine Hintertür, durch die der Priester seine Privaträume betrat. Der Ausgang durch die Pforte war ihm durch die Nordmänner versperrt. Er schätzte den Weg zum Vorschiff ab und kämpfte sich gegen den Strom.
Plötzlich gerieten die Nordmänner in Bewegung. Einer von ihnen hatte ihn entdeckt und erkannt. So schnell er konnte, arbeitete sich Bradley zur Hintertüre hindurch. Einer, mit einem riesigen Helm, der einem zweiköpfigen Drachen glich, beging den Fehler, sich ihm in den Weg zu stellen. Mit nur zwei schnellen Hieben streckte Bradley ihn nieder. Hastig arbeitete er sich weiter, doch als er die kleine Hintertür öffnete, stand ein über das ganze Gesicht grinsender Klarik vor ihm. Schnell warf Bradley die Türe wieder zu und verbarrikadierte sie von innen. Nun war ihm auch noch dieser Weg versperrt. Er zwang sich zum Nachdenken und sah sich eiligst um.
Plötzlich zersplitterten beinahe alle Fensterscheiben der Privaträume gleichzeitig. Bradley hob den Mantel vor sein Gesicht, zum Schutz gegen die herumfliegenden Glassplitter und machte augenblicklich kehrt, in den Kirchenraum zurück. Zwei Nordmänner hatten es geschafft, ihm durch das Gewimmel der Leute bis in den hinteren Teil der Kirche zu folgen und versperrten ihm grinsend den Weg. Den Ersten spießte Bradley ohne zu fragen auf, dem Zweiten versetzte er zeitgleich einen heftigen Kinnhaken mit dem Ellenbogen, bevor er seine Klinge aus dem Zusammensackenden zog und auch ihn niederstreckte. Er sprang, nahezu ohne aufgehalten worden zu sein, über die Toten hinweg. Hinter sich hörte er bereits die Türe dem Druck vieler Leiber nachgebend, bevor die durch die Fenster Hereingesprungenen den Riegel zurückschieben konnten. Ein Pfeil verfehlte nur knapp seine Schulter und bohrte sich sirrend in das Holz der Türstockes. Unter einem zweiten Pfeil musste Bradley blitzschnell hinwegtauchen. Rein instinktiv fuhr er herum und erschlug einen Nordmann, der ihn von der Seite angreifen wollte. Sein Gespür hatte ihn noch nicht verlassen, dachte er lächelnd. Doch das Lächeln verging ihm, als er sich unvermindert vier Männern, mit kleinen Helmen gegenübersah. Vier Männer aus seinem Heer, die er persönlich ausgebildet hatte. Hinter ihm hörte er Klarik brüllen. Nur kurz erlaubte er sich, hinter sich zu sehen, dann warf er sich den vier Männern entgegen. Nur wenige Streiche später wies eine wütend brüllende Stimme die Männer an, von ihrem Opfer zu lassen. Klarik wollte dies persönlich erledigen.
Keuchend wartete Bradley ab.
"Habe ich dich endlich wieder“, schrie Klarik, als er nahe genug war, um zu erkennen, dass sein Gefangener umstellt und ihm somit jede Fluchtmöglichkeit genommen war. "Wie dumm von dir, dich hier zu verstecken“, spuckte er Bradley entgegen. Er hielt sich nicht mehr an die Regeln der Etikette und achtete weder auf die Anrede, noch auf den Stand. Für ihn war Bradley nun nicht mehr wert, als ein entlaufener Sklave, mit dem er verfahren konnte, wie er gedachte. Er weigerte sich demnach, ihn anders zu behandeln. Bradleys Flucht hätte ihm beinahe den Kopf gekostet und Klarik war ein nachtragender Mensch.
"Wer hat es dir verraten?", ging Bradley auf Klariks Unhöflichkeit ein.
Das breite Grinsen des Nordmannes war ihm Antwort genug. Wer sonst, als der Fürst von Bearesberg höchstpersönlich, sollte ihm diesen Schlupfwinkel verraten haben. Vielleicht war es nur eine Vermutung, nachdem der Fürst das Anwesen seiner Mutter zerstören ließ. Doch was sollte Klarik davon abhalten, nur mal kurz nachzusehen.
"Wie ist es?", wollte Klarik wissen. "Kommst du freiwillig mit?"
"Niemals“, rief Bradley entschlossen und hob sein Schwert. "Wenn du mich haben willst, musst du darum kämpfen."
"Nichts leichter als das“, lachte Klarik und stürmte auch schon auf ihn los. Metall klirrte kreischend aufeinander.
Wie damals auf der Terrasse gingen die beiden Rivalen aufeinander los. Unerbittlich und unerschrocken hieben sie aufeinander ein, schoben sich kreuz und quer durch das ganze Kirchenschiff, rempelten im Weg Stehende um, stießen Bänke und Tische um, fegten alles von den Altären und ließen dem Anderen keine Gelegenheit zu einem Vorteil. Bradley hatte Dank seines intensiven Trainings seine alte Gewandtheit zurückerlangt. Zuweilen schmerzte ihm sein verletztes Bein noch etwas, wenn er es zu arg belastete, doch er biss sich auf die Lippen und focht weiter. Wenn er diesen Kampf nicht für sich bestreiten konnte, würde er eher sterben, als sich erneut in Klariks oder Torwiks Hände begeben zu müssen.
Klariks Wut trieb ihn durch die ganze Kirche. Bradleys Schwertarm wurde allmählich lahm, aufgrund der harten Hiebe, die auf ihn einfielen. Er hatte auch dann und wann gegen einen vorwitzigen Nordmann zu kämpfen, der sich unbedingt einmischen musste, um ebenfalls ein Stück des Kuchens abzubekommen. Klarik rief sie mit bösem Knurren zurück. Es war sein Kampf.
Durch das Einmischen einer seiner Leute konnte Klarik schließlich die Oberhand für sich erlangen. Eine hervorschnellende Klinge schlug Bradley das Schwert aus der Hand. Obwohl er den Kampf hätte allein vielleicht niemals gewinnen können, brüllte er seinen Mann, rot im Gesicht vor Zorn, an. Aber da sein Gegner nun einmal entwaffnet war, nahm er die Gelegenheit sogleich wahr. Noch bevor er Bradley den entscheidenden Streich verpassen konnte, sprangen seine Männer herbei und hielten den Südländer fest. Klariks Schwertspitze drückte schmerzhaft in die Rippen des nun Wehrlosen.
"Nun, mein Freund“, keuchte er atemlos. In seinen Augen entflammte ein gefährliches Glitzern. "Nun wird dir der Ziegenhirt zeigen, was er von schwarzen Schafen hält."
Bradley schloss in Anbetracht seines nahen Todes die Augen, doch der Streich blieb aus.
"Was zum …“, schrie Klarik plötzlich. "Verdammt! ... lass los, du kleines Biest."
Bradley öffnete die Augen. Margerite hatte sich in Klariks Oberschenkel verbissen. Er packte sie an den Haaren und zog sie ruckartig von sich weg, doch das Mädchen verkrallte sich hartnäckig in seine Haut und hielt stand. Erst ein harter Schlag mit dem Schwertgriff konnte sie veranlassen, ihn freizugeben. Klarik zog das Mädchen an den Haaren zu sich herauf. Bevor er jedoch etwas sagen oder tun konnte, ließ ihn Bradleys Tritt zurücktaumeln.
"Wage es nicht, ihr auch nur ein Haar zu krümmen“, drohte Bradley böse trotz seiner ausweglosen Lage.
Klariks Augen erhellten sich, ließ das vor Wut und Angst zitternde Kind aber nicht los. Er wechselte Blicke zwischen dem Südländer und dem Mädchen.
"Jetzt verstehe ich“, lachte er plötzlich. "Ein Wort hätte genügt und wir hätten dir deine Metze geholt." Seine Männer lachten mit.
Bradley fand dies nicht zum Lachen. Liebend gerne hätte er den Mund gehalten, da Margerite wieder einmal nicht auf ihn hörte. Strafe hätte sie verdient, doch niemals das vermeintliche Wohlwollen der Nordmänner.
"Was ist denn an der so Besonderes, dass du unsere Weiber verschmähst?", lachte Klarik unverschämt und betrachtete das Bündel in seinen Händen. "Wer ist sie denn?"
"Meine Schwester“, log Bradley, in der Hoffnung, dass er dann von ihr ließe. In der Tat sah Margerite in dem guten Kleid, sauber gewaschen und herausgeputzt, wie eine kleine Lady aus.
"Aha“, machte Klarik und betrachtete das zappelnde Mädchen. "Wie wäre es, wenn du sie mir vorstellst. Vielleicht möchte ich sie näher kennen lernen."
"Ich glaube kaum, dass du an einer Frau interessiert bist, die bei einer Vergewaltigung eine Zunge verlor“, gab Bradley selbstsicher und leicht verächtlich zurück.
Klariks hämisches Grinsen verschwand für einen Moment. Margerites Augen weiteten sich entsetzt. Augenblicklich kniff sie die Lippen zusammen. Sie wusste, was nun unweigerlich kommen musste. Klarik quetschte seine Finger zwischen ihre Kiefer, doch sie biss ihm so heftig in die Hand, dass es blutete. Der Nordmann schrie schmerzhaft auf und zog Margerite heftig an den Haaren, um sie zu veranlassen ihre Zähne aus seiner Hand zu nehmen. Hart bog er ihren Kopf in den Nacken, doch Margerite ließ nicht los. Tränen des Schmerzes und der Angst liefen ihr über die Wange. Sie war jedoch unter keinen Umständen bereit ihren Mund zu öffnen.
Die Nordmänner lachten über ihren Anführer, der es nicht verstand ein halbes Kind zu bändigen. Bradley nutzte die willkommene Ablenkung, ließ sich zu Boden gleiten und schlüpfte so aus der Umarmung seiner Wachen, die ihre ganze Aufmerksamkeit eher dem Problem ihres Anführers zuteil werden ließen. Aber es waren einfach zu viele. Ehe er sich richtig aufrichten konnte, wurde er auch schon wieder niedergeprügelt. Klarik versetzte Margerite einen so harten Schlag auf den Kopf, dass sie besinnungslos zusammensackte. Bradley war ihm im Moment wichtiger und so kümmerte er sich nicht mehr um die Zunge des Kindes. Er warf sie dem nächst Besten in die Arme und widmete sich seinem Gefangenen. Leise fluchend und das Blut von seiner Hand leckend, stieß er die Männer auseinander. Als er endlich zu Bradley kam, konnte er sich nicht zurückhalten, ihm einen saftigen Kinnhaken zu verpassen. Er musste seine Wut und seinen Schmerz unbedingt loswerden und da kam ihm dieser verfluchte Südländer gerade recht.
Klariks Männer zogen ihn hoch, fesselten ihn und stellten ihn vor ihrem Anführer auf die Beine.
"Du wirst es noch lernen“, zischte Klarik und schmetterte seine Faust in Bradleys Magen.
Bradley hatte keine Zeit sich dem Schmerz zu widmen, oder sich um seine ausbleibende Atemluft zu kümmern. Denn der nächste Schlag traf ihn im Nacken. Schwärze umgab ihn.
Als er wieder zu sich kam, fand er sich in vertrauten Räumen wieder, in seinem Gemächern in der Burg des Nordmann-Königs. Er blickte zur Decke und fragte sich, ob er dies alles vielleicht doch geträumt hatte. Der Vertrag seines Vaters mit König Torwik, die Flucht, Margerite ... ?!
Er erhob sich und blickte sich um. Vielleicht hatte er in letzter Zeit zu viel gearbeitet. Sein Ehrgeiz war schon immer stärker gewesen, als sein Verstand. Er stand auf und ging zum Fenster. Unten im Hof übten sich fünfzig Nordmänner in den Lektionen, die ihnen Bradley aufgestellt hatte. Er erkannte die Uniformen wieder, die er entwarf und er erkannte Klarik, der die Übungen seiner Männer mit kritischen Augen prüfte. Bradley schüttelte den Kopf. War alles nur ein Traum? Hatte er die Versöhnung mit seiner Mutter nur geträumt? Er musste es geträumt haben, denn er würde sich mit ihr niemals versöhnen, nicht nachdem sie solche Schande über das Haus Bearesberg gebracht hatte, als der Fürst sie mit einem Musiklehrer erwischt hatte.
Bradley wusch sich schnell und kleidete sich rasch an. Er war ein schlechtes Vorbild, wenn er am helllichten Tag im Bett lag. Vielleicht hatte er am Abend zuvor zu viel getrunken, vermutete er. Er wusste jedenfalls nichts mehr davon. Aber er war sich sicher, dass Klarik ihn darauf ansprechen würde. Der Neffe des Königs war stets für schadenfrohen Spott zu haben.
Zufällig ging er an einem Spiegel vorbei. Die Züchtigung fiel ihm plötzlich ein und er zog sein Hemd wieder aus. Sein Rücken war übersät mit bereits verheilten und mittlerweile vernarbten Striemen. Er hatte nicht geträumt. Aber wieso war er wieder im Schloss König Torwiks, in seinen Gemächern?
Bradley zog sich wieder an. Er würde es nicht erfahren, wenn er mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel stehen blieb. Eigentlich hatte er erwartet von Wachen aufgehalten zu werden, die vor seiner Türe standen. Doch weit und breit war niemand zu sehen. Bradley ging schnurstracks hinunter in den Hof. Wenn irgendetwas passiert war, dann würde er es von Klarik erfahren.
Der Nordmann grinste bereits, als er Bradley durch das Tor laufen sah. Er war noch viel zu weit entfernt, um sein Gesicht sehen zu können, doch Bradley kannte ihn. Er wusste, wann er grinste und wann er ein wütendes Gesicht zog. Auf dem Weg zu ihm überlegte er sich seine Worte. Sie mussten wohlüberlegt sein, freundlich, aber bestimmt.
"Guten Morgen“, kam ihm Klarik zuvor. Sein Grinsen war noch breiter, als es Bradley in Erinnerung hatte.
"Guten Morgen“, grüßte Bradley zurück und beobachtete die Männer bei ihren Übungen. "Wie bin ich hierher gekommen?", fragte er wie beiläufig.
"Es gibt gewisse Mittel, die Einen eine Zeit lang außer Gefecht setzen können“, gab Klarik bereitwillig Auskunft.
"Und was ist mit den Anderen?", wollte Bradley wissen, ohne seinen Blick von den kämpfenden Nordmännern zu nehmen.
"Ich jagte ein schwarzes Schaf“, gab Klarik achselzuckend von sich. "Was sollte ich da mit Gesindel?"
"Dann hast du sie demnach alle getötet?", war Bradleys Vermutung. Diesmal blickte er Klarik an und hielt seinem Hohn gespickten Blick mit eiserner Kälte stand.
"Wieso sollte ich?", erwiderte Klarik. "Das ist deine Aufgabe."
"Meine?", fragte Bradley ungläubig.
"Was glaubst du, weswegen du hier bist?", lachte Klarik. "Glaubst du wirklich, ich jage durch das ganze verdammte Südland, nur um einen entlaufenen Sklaven einzufangen?"
"Ihr wollt also, dass ich mein eigenes Land für euch erobere“, schlussfolgerte Bradley richtig. "Das könntet ihr wesentlich einfacher haben. Warum vergeudet ihr sinnloses Blut? Ihr braucht nur den Fürsten zu töten. Ich bin sein Erbe - und auch Euer Eigentum. Bringt meinen Vater um und Ihr habt das Land." Ihm schauderte selbst, mit welcher Gelassenheit er über das Leben seines Vaters bestimmen konnte.
"Das hättest du wohl gerne“, kicherte Klarik. "Außerdem ... ." Er betrachtete seine Männer mit einem seltsam gefährlichen Blick, " ... das hier macht mehr Spaß."
Bradley musste sich angewidert abwenden. Klariks hämisches Lachen bohrte sich in seinen Rücken.
"Solltest du dich weigern, Südländer, werden es einige zu spüren bekommen“, drohte Klarik.
"Und wer?"
"Zum Beispiel deine Schwester."
"Meine Schwester?", fragte Bradley und drehte sich wieder um. Klarik hielt eine bandagierte Hand hoch. - Margerite.
"Sie ist nicht deine Schwester“, grinste der Nordmann wissend. "Ihr Vater hätte sie wiedererkennen müssen."
"Wo ist sie?", wollte Bradley aus Sorge um das Mädchen wissen.
"Keine Sorge“, beruhigte Klarik. "Wenn du tust, was man dir sagt, bekommst du sie wieder. ... Vielleicht. Es kommt darauf an, wie du dich benimmst."
Sein Lachen ließ die Wut in Bradley aufkochen.
"Sollte ihr irgendetwas zu stoßen, sollte sie irgendjemand auch nur anrühren, werde ich dir eigenhändig das Genick brechen“, drohte Bradley böse. Er wusste nicht, wieso er sich so für Margerite einsetzte. Vielleicht war er es ihr schuldig. Schließlich hatte er sie in die Sache hineingezogen - in gewisser Weise.
"Das kommt ganz auf dich an“, ließ sich Klarik nicht beeindrucken. Eindeutig hielt er die Trümpfe in der Hand. "Benimm dich und gehorche und ihr wird nichts geschehen."
Bradley musste sich zwingen, ruhig zu atmen. Beherrschung, er brauchte seine Beherrschung. Nichts und Niemandem würde es nützen, wenn er sich nicht selbst im Zaum halten konnte.
"Und?", sagte er, beinahe wieder Herr seiner selbst. "Wie lauten die Befehle?"
"So ist es schon besser“, grinste Klarik übers ganze Gesicht. "Du machst einfach da weiter, wo du aufgehört hast. Dieser dumme Zwischenfall kostete uns einiges an Zeit, Männern und Land. Du musst dich beeilen, um das Versäumte nachzuholen."
Bradley biss sich auf die Zunge. Das was auf ihr lag, durfte nicht ausgesprochen werden.
Bradley fügte sich, um Margerites Leben zu schützen. Oft überlegte er sich, ob er Eines opfern sollte, um das von Tausenden zu retten. Doch dann verwarf er es immer wieder. Der Tod dieses unschuldigen Kindes würde den Krieg nicht beenden. König Torwik würde andere Wege finden, ihn zu zwingen.
Dank Bradleys hervorragenden Fähigkeiten als Heeresführer und Kriegsherr konnte die Nordarmee bald wieder die Erfolge für sich verbuchen. Ihm wurde ausdrücklich verständlich gemacht, dass seine 'Schwester' für jede verlorene Schlacht dem Tode unbarmherzig näher rückte, was Bradley zähneknirschend zur Kenntnis nahm.
Er hasste es, seine eigenen Landsleute zu ermorden, doch was blieb ihm anderes übrig. Einen weiteren Fluchtversuch wagte er schon allein wegen Margerite nicht. Weigerte er sich, stand ihr das gleiche Schicksal bevor.
Klarik amüsierte sich köstlich über Bradleys baldige Gleichgültigkeit, allem gegenüber. Er versuchte ihn mit Trinkorgien, Kampfwettbewerben und Frauen aufzuheitern, was ihm natürlich nicht gelang. Bradley lehnte alles mit reservierter Freundlichkeit ab. Nur ein einziges Mal wurde er schwach, als Klarik ein Mädchen anschleppte, das ihn an Margerite erinnerte. Sie sah ihr nicht einmal ähnlich. Doch was sie mit ihr gemein hatte, waren ihre Augen. Sie trug denselben unschuldigen Blick und dieselben aufmerksamen Augen. Bradley hätte auch sie dankend abgelehnt, wenn ihn nicht eine plötzliche Sehnsucht nach Margerite umgestimmt hätte. Er wusste, dass das Mädchen, wenn er sie zurückwies, den anderen Männern zugeteilt werden würde. Das wollte er ihr ersparen. Wo sie ihn doch so an Margerite erinnerte.
Eines Tages stand er tatsächlich vor den Toren von Bearesberg, mit der ganzen Nordarmee im Rücken. Ihn befiehl plötzlich ein seltsames Gefühl, als wenn er die Burg seines Vaters angriff, damit auch sich selbst verriet.
Ausschwärmen, umstellen, keiner rein, keiner raus. Die Männer kannten ihre Befehle, und beinahe ohne dass Bradley etwas sagen musste, gingen sie in Stellung. Dies war vielleicht die letzte, alles entscheidende Schlacht. Versonnen betrachtete er die Burg, in der er seine ganze Kindheit verbracht hatte.
"Du wirst doch jetzt nicht kalte Füße bekommen?", fragte Klarik und hielt sein Pferd neben Bradley an.
"Irgendwie schon“, gab Bradley offen zu.
"Dafür ist es jetzt wohl zu spät“, grinste Klarik.
Bradley knurrte ihn ärgerlich an. Als ob er jemals eine Wahl gehabt hätte ... !?
"Willst du davonlaufen?", wollte Klarik wissen.
"Ich sehe wahrlich nicht so dumm aus“, gab Bradley reserviert zurück.
"Wird gut sein so“, erwiderte Klarik. "Sonst müsste ich die Metze doch noch suchen."
Bradley fuhr herum. Noch ehe Klarik seinen Fehler bemerkt hatte, war Bradley aus dem Sattel gesprungen und hatte Klarik mit sich gerissen. Hart kamen sie auf dem Boden auf. Klarik blieb die Luft weg. Noch im Fallen hatte Bradley seine Beine angezogen und ihm die Knie mit seinem ganzen Gewicht in den Magen gebohrt. Klarik stöhnte. Ein harter Kinnhaken ließ ihn auf die Zunge beißen. Bradleys ununterbrochene Schläge raubten ihm für einen Moment die Besinnung und machten ihn wehrlos. Bis endlich einige Nordmänner herbeigesprungen kamen und Bradley von ihm wegzerrten, musste er einige Dutzend Schläge einstecken und sein eigenes Blut hinunterschlucken.
Bradley war außer sich vor Wut. Er konnte sich nicht mehr beruhigen. Er war festgehalten worden und hatte sich fügen müssen, immer mit dem Druckmittel, dass sie Margerite etwas antaten. Gedankenlos hatte nun Klarik dieses Geheimnis ausgeplaudert. In der Tat hatte er das Mädchen bei Bradleys Gefangennahme einfach vergessen. Sie war, während sie Bradley fesselten und auf einen Karren warfen, wieder zu sich gekommen und konnte entkommen. Klarik war so auf den Südländer fixiert gewesen, dass er nicht mehr an sie dachte.
Bradley schrie vor Zorn und hätte Klarik umgebracht, wenn ihm die Möglichkeit nicht genommen worden wäre. In all den blutigen Tagen, in all den Schlachten, in denen er seine eigenen Landsleute ermorden musste, kam er nie auf die Idee einen Beweis ihrer Gefangennahme zu fordern. Bradleys Blut kochte, aus grenzenloser Wut auf Klarik, der es wagte ihn mit leeren Drohungen gefügig zu machen und auf sich selbst, weil er es ohne jeglichen Beweis geglaubt hatte.
Der Nordmann rächte sich bitter für die Schläge, die er einstecken musste. Er spuckte Blut aus und schlug Bradley ins Gesicht, der sich aufgrund der vielen Hände, die ihn festhielten, nicht mehr wehren, geschweige denn zurückschlagen konnte. Bradley zerrte und zog an seinen menschlichen Fesseln, versetzte Klarik und anderen Umstehenden Tritte und schrie, als wäre er auf einen Bratspieß gesteckt worden. Klariks Prügel schienen ihm nichts auszumachen. Er war gefühllos gegen jede Art von weiteren Demütigungen, die ihm dieser Nordmann versetzte. Nur ein heftiger Schlag mit einer Keule konnte ihn ruhig stellen.
Bradley war nicht gänzlich in die Besinnungslosigkeit gefallen. Sein Körper war betäubt, doch seine Sinne blieben wach. Er kämpfte verbissen gegen diese Taubheit an, doch nur viel zu langsam kehrte das Leben in seine Muskeln zurück. Klarik hatte ihm etwas angetan, was er ihm niemals würde verzeihen können. Er hörte, wie der Nordmann seine Männer losschickte, die Burg zu stürmen, wie er Befehle erteilte, die Bradley Tage zuvor ausgearbeitet hatte. Er wünschte sich, alles aufhalten und ungeschehen machen zu können. Doch Klarik widersetzte sich diesem Wunsch mit jedem Befehl, den er gab und mit jeder Minute, die verstrich.
Bradley wurde gefesselt und fortgeschleppt. Klarik konnte die Burg nun, Dank den perfekt ausgearbeiteten Plänen des Südländers, allein angreifen und erobern. Er brauchte ihn dazu nicht mehr. Außerdem war dies eine Gelegenheit, die letzte, alles entscheidende Schlacht allein ohne Bradley anführen zu können, was ihm zwangsläufig den alleinigen Ruhm und Anerkennung einbrachte.
So sehr es Bradley auch versuchte, diese Gefühllosigkeit wollte nicht von ihm weichen. Er musste mit sich geschehen lassen. Die Männer banden ihn weit hinter ihren Stellungen an einen Baum und ließen nur zwei Mann zur Bewachung zurück. Die anderen gingen zum Kampfgeschehen zurück. Nur allmählich kehrten Bradleys Gefühle zurück. Er konnte die Augen öffnen. Verschwommen nahm er seine Bewacher wahr. Sein Erwachen nutzte ihm nun nur noch wenig. Die Fesseln hielten fest. Bradley schloss die Augen wieder und spornte sich zum Nachdenken an. Er suchte einen Weg, die Burg vor den Nordmännern zu beschützen. Seine Zunge wollte ihm nicht gehorchen. Ein Horn ertönte, das Zeichen zum Angriff. Es war zu spät.
Einige Stunden später kam Klarik angeritten. Auf seinem Gesicht lag die Sorge über irgendetwas. Er schien bei der Eroberung der Burg auf Probleme gestoßen zu sein. Bradley beglückwünschte sich selbst, denn er hatte Klarik nicht all seine Pläne verraten und nicht in allen Geheimnissen der Burg eingewiesen. Und nun würde ihn nichts in der Welt zum Reden bringen. Er biss die Lippen zusammen, um das Schmunzeln zu verkneifen. Klarik stieg ab und baute sich breitbeinig vor ihm auf.
"Was für ein Spiel spielst du, Südländer?", wollte er wissen.
"Hast du Probleme, Nordmann?", fragte Bradley zurück und konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen.
"Ich werde das Gefühl nicht los, dass du einiges verschweigst, was die Burg von Bearesberg und seine Bewehrung angeht“, erwiderte Klarik ärgerlich.
"Wieso sollte ich?", war Bradleys Antwort.
"Damit solche Dummköpfe wie ich glauben, sie könnten es ohne dich schaffen“, gab Klarik scharf zurück.
"Du hast Probleme", stellte Bradley daraufhin fest.
"Nun raus mit der Sprache“, forderte Klarik. "Was weißt du, was ich wissen sollte."
"Dass du ein Dummkopf bist“, erwiderte Bradley mutig.
"Du meinst also, ich könnte es nicht ohne dich schaffen, hm?"
"Ziegenhirten sollten bei ihren Ziegen bleiben und nicht versuchen eine Herde von Schafen anzuführen“, gab Bradley leichtfertig von sich. Klariks Augen weiteten sich vor Zorn.
"Wie würde es dir gefallen, an diesem Baum zu verfaulen?", drohte er beleidigt.
"Auch gut“, gab Bradley zurück. "Jedenfalls besser, als von einem nordischen Schwert erschlagen zu werden."
Klarik zog sein Schwert heraus. Das Blut seiner heutigen Opfer klebte bereits daran. Er hielt ihm die scharfe Seite der Klinge unters Kinn.
"Das kannst du haben, verfluchter Südländer“, knurrte er nahe vor Bradleys Gesicht. "Wenn du nicht sofort redest, wirst du das nordische Schwert schmecken."
"Glaubst du, du kannst mich damit noch zu etwas zwingen?", fragte Bradley selbstsicher. Auch wenn Klarik daraufhin die Schneide in seine Kehle gedrückt hätte, es wäre ihm gleichgültig gewesen. Er würde sich weigern bis in den Tod, auch nur ein Geheimnis preis zu geben.
"Und ob“, nickte Klarik. "Wegen einer billigen Metze, lässt du es zu, dass dein Land erobert und viele deiner Freunde und Landsmänner niedergemetzelt werden. Du kannst einige von ihnen retten, wenn du nun den Mund aufmachst."
Bradley schüttelte stumm den Kopf. Die scharfe Schneide bohrte sich langsam in seine Haut. Ein kleines Blutrinnsal tropfte aus der Wunde. Dann kam ihm plötzlich eine Idee.
"Was hältst du davon, dir diese Information zu erkämpfen?", schlug er vor. "Verliere ich, werde ich reden; verlierst du, wirst du es nie erfahren."
In Klariks Kopf begann es, fieberhaft zu arbeiten. Er wusste, dass ihm dieser Südländer an Können überlegen war. Sein Ehrgeiz aber, war nicht minderer und sein Stolz verbot es ihm, eine Herausforderung abzulehnen. In seinen Augen spiegelte sich das Wechselspiel wieder, zwischen dem Für und dem Wieder.
"Du wirst reden“, zischte Klarik böse und drückte die Klinge ein kleines Stückchen tiefer in die Haut.
"Nur wenn du mich besiegst“, erwiderte Bradley ganz leise und ohne seine Kehle mehr als nötig zu bewegen, um sich nicht selbst aufzuschneiden.
Wieder musste Klarik überlegen. Bradleys Stimme verriet ernste Absichten und Klarik kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass der Südländer den Mut besaß, den er eigentlich nur den nordischen Kriegern zusprach. Dann endlich nahm er die Klinge weg. Er musste es sich aber scheinbar doch noch erst überlegen, als er vor ihm stehen blieb und die Schwertspitze langsam zu Boden sinken ließ. Bradley ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Jede Minute länger, die er zum Nachdenken benötigte, verschaffte ihm und der Burg von Bearesberg Vorteile. Endlich schnitt er Bradleys Fesseln durch.
"Ich werde dich besiegen“, rief Klarik selbstsicher und mit einem gefährlichen Glanz in den Augen.
"Das werden wir erst noch sehen“, entgegnete Bradley kühl und schüttelte die Stricke ab. Sein Schwert war ihm abgenommen worden. Bevor der Bewacher etwas sagen, oder tun konnte, nahm er ihm das seine ab. "Beweise es“, forderte Bradley und stellte sich in Position.
Klarik verschwendete keine Sekunde. Er stürmte auf seinen Gegner los, bevor sich dieser richtig in Position begeben konnte. Mühelos wehrte Bradley den ersten Schlag ab. Beim Zweiten sprang er zur Seite und ließ Klarik ins Leere rennen. So ging das noch einige Male weiter. Klarik griff wild entschlossen an und Bradley wehrte ab oder ging ihm einfach aus dem Weg. Er hatte vor, ihn erst einmal eine Weile zu ärgern und müde werden zu lassen und dann umso verheerender zurück zuschlagen. Nach kurzer Zeit jedoch bemerkte der Nordmann Bradleys Absicht und stellte jeden weiteren Angriff ein. Siegesgewiss grinsend, da er die Absicht seines Gegners erkannt und die Gefahr in eine Falle zu laufen gebannt hatte, wartete er nun einen Angriff von Bradley ab.
"Was ist, gibst du schon auf?", fragte Bradley frech grinsend.
"Das war erst der Anfang“, rief Klarik und lockte Bradley mit einem vorgetäuschten Angriff.
Doch dieser war auf der Hut. Er ging nur zum Schein darauf ein, und noch bevor Klarik seine Absicht ausführen konnte, hatte sich Bradley auch schon zurückgezogen. Doch da war der Nordmann bereits in seine eigene Falle gelaufen. Er hatte Mühe sich aus der misslichen Lage herauszumanövrieren. Und wieder einmal verdankte es Klarik nicht sich selbst, dass er zumindest für diesen Fehler gerade noch mit heiler Haut davon kam, sondern einem seiner Männer, der sich ungefragt einmischte, als er Bradley einen heftigen Tritt in das Standbein versetzte, sodass es ihm den Boden unter den Füßen wegfegte. Zwar ließ Klarik einen wütenden Schrei heraus, aber er ergriff auch sogleich die willkommene Gelegenheit, Bradley zu erledigen. Blitzschnell rollte sich dieser zur Seite und Klariks Hieb erschlug den Boden.
Sofort war Bradley wieder auf den Beinen. Mit voller Wucht schmetterte er seinen Schwertknauf in die Rippen des Nordmannes, dass dieser gegen den Baumstamm flog und nach Luft röchelte. Der andere Bewacher wollte eingreifen, um seinem Anführer zu Hilfe zu eilen, doch Bradley wirbelte schnell herum und erschlug ihn kurzerhand. Sein Kamerad, der ebenfalls beabsichtigte einzugreifen, blieb vor Entsetzen wie angewurzelt stehen. Er war unbewaffnet, denn Bradley hatte sein Schwert. Sollte er es noch einmal wagen, sich einzumischen, würde ihn unweigerlich das gleiche Schicksal ereilen. Klarik stieß sich von dem Baumstamm ab, doch noch ehe er sein Schwert nur annähernd für einen Streich heben konnte, musste er schnell seinen Kopf auf die Seite drehen, damit ihm Bradleys Klinge nicht den Kopf zerschmetterte. Der Hieb traf seinen Helm, der in einem weiten Boden davon flog. Die Schwertspitze zerkratzte ihm das Gesicht vom Ohr bis zum Kinn. Klarik fasste sich überrascht an die Wunde und schrie wütend auf. Alsbald verstummte er. Die messerscharfe Klinge trennte bei einem kurz danach folgenden Hieb seine Pelzweste in zwei Teile und fügte der darunter liegenden Haut eine tiefe Schnittwunde zu. Nur kurz stutzte Klarik, fasste sich aber schnell wieder und ging schreiend auf Bradley los. Vor Wut rasend, wie ein durchgehender Stier, hatte nun Bradley Mühe sich des Nordmannes zu erwehren. Mehr mit Hilfe seiner blinden Wut, denn durch taktische Überlegungen, gelang es Klarik auch Bradley eine, wenn auch nur unbedeutende, Fleischwunde zu zufügen.
Daraufhin beschloss Bradley diesem Spiel endlich ein Ende zu bereiten und hieb mit Aufgebot all seiner Kraft und all seinem, in vielen Jahren antrainiertem Können, in schier unaufhörlichen und immer schneller aufeinanderfolgenden Streichen auf Klarik ein und ließ diesen nicht einmal mehr zu Atem kommen. Sein letzter Hieb fraß sich mit tödlicher Bestimmtheit in Klariks Hüfte.
Der Nordmann erstarrte wie ein Eisblock. Seine Augen quollen vor Entsetzen heraus, und erst als Bradley die Klinge aus seinem Fleisch zog, sackte er zusammen. Ein Geräusch hinter ihm, ließ Bradley herumwirbeln und den zweiten Bewacher niederstrecken.
Nun endlich gönnte er sich eine Verschnaufpause. Atemlos stützte er sich auf das Schwert und betrachtete den toten Nordmann, der ihn so gequält und gedemütigt hatte, mit eiskalten Augen. Er konnte beim besten Willen kein Mitgefühl aufbringen.
Bradley blickte sich um. Es war niemand in der Nähe, der ihn hätte beobachten oder aufhalten können. Alle waren sie um die Burg herum versammelt und versuchten gewaltsam hinein zu gelangen. Bradley lächelte plötzlich. Er wusste einen besseren Weg hinein in die Burg. Einen Weg, den er immer benutzt hatte, als sein Vater ihm Arrest, wegen irgendwelchen Ungezogenheiten aufgebrummt hatte und den Wachen am Tor auftrug Bradley nicht hinauszulassen. Ein geheimer Tunnel, den er Klarik nie verraten hätte, ganz gleichgültig, wie die Schlacht um Bearesberg oder ihr persönliches Gerangel ausgefallen wäre. Er befand sich ganz in der Nähe dieses geheimen Ausganges. Ein Erdhügel mit einer verwitterten Türe, der auf den ersten Blick einem Rübenkeller glich, doch bei näherem Betrachten und Öffnen der Türe kam ein Geheimgang zum Vorschein. Bradley kannte den Weg, er brauchte weder Fackeln noch Wegweiser. Schon so viele Male war er durch den Tunnel gegangen, von einem verbotenen Ausflug zurückkehrend, oder einem geheimen Rendezvous entgegeneilend. Er hastete durch die Gänge und fühlte sich plötzlich wieder zuhause. Wie früher, als er noch ein junger Tunichtgut war und seine einzige Sorge seiner Ausstaffierung, denn in der Verwirklichung der angedrohten Prügelstrafe lag. Sein Vater hatte stets damit gedroht ihm den Hintern stramm zu ziehen, wenn Bradley ungezogen war, seine Drohungen jedoch nie wahrgemacht. Bis auf einziges Mal, als Bradley im Überschwang den Pferdestall angezündet hatte. Danach konnte er tagelang nicht mehr richtig sitzen, denn dieser Streich kostete dem Fürsten einige gute Reitpferde.
Eine Biegung noch und er war in der Burg. Bradley wusste, wie die steinerne Tür zu öffnen war, betätigte den Mechanismus und schlüpfte hindurch. Hinter ihm schloss sie sich wieder. Er blieb stehen und lauschte. Von draußen war der Lärm der Schlacht zu hören, die Schreie der Männer und das explosionsartige Schnalzen der Katapulte. Bradley hatte hier etwas zu tun und beileibe nicht, seinen eigenen Landsleuten dabei zu helfen, die Burg zu beschützen. Er kannte die Burg mit ihren besonderen Eigenschaften und ihren Tücken genauso gut, wie die unerschrockenen Männer auf den Mauern und Balustraden, die für Bearesberg mit ihrem Leben kämpften. Ohne Bradleys Hilfe und Verrat würden die Nordmänner die Festung nie stürmen können. Als ob er es vorausgesehen hätte, dass sich das Blatt für ihn wenden würde, hatte er die wichtigen Details letztlich für sich behalten.
Er eilte die Treppen hinauf, die er früher schon hinaufgeschlichen war, wenn er von einem verbotenem Ausflug zurückgekommen war. Der Treppenaufgang mündete im Bedienstetentrakt. Bradley durchschritt die einfach eingerichteten Räume der Dienerschaft und rannte die verborgenen Treppen hinauf. Ein Aufgang, den die Dienerschaft benutzte, um schneller die Wünsche ihrer Herren erfüllen zu können. Auch dieser Aufgang hatte früher zu Bradleys Fluchtweg gehört. Er stieß die dünne Tür auf und befand sich im Arbeitszimmer seines Vaters.
Der Fürst fuhr herum. Er hatte am Fenster gestanden und den Angriff der Nordarmee und die Abwehr seiner Männer beobachtet. Als er seinen Sohn erkannte, huschte erst ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht. Dann fasste er sich schnell und setzte ein Lächeln auf.
"Bradley, ich …“, rief er freudig und lief ihm entgegen.
"Vorsicht, Vater“, ermahnte Bradley und streckte ihm die blutbesudelte Schwertspitze, die nun wie ein roter Warnpfeil auf das Herz des Fürsten zeigte, entgegen. "Vor ihnen steht nicht ihr Sohn, sondern ihr Feind. Erinnert ihr Euch? Ihr habt mich verkauft."
Der Fürst blieb augenblicklich stehen. Er starrte entsetzt auf die Klinge und schien es nicht glauben zu können, dass sich sein eigener Sohn wahrhaftig gegen ihn stellte. Doch dann erschien ein gefährliches, auf alles gefasstes Glitzern in seinen Augen.
"Was hast du nun vor?", wollte er wissen.
"Ich will Ihr Sigel“, forderte Bradley. Das Fürstensigel, das seit je her von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Bradley hatte gehofft, es eines Tages von seinem Vater überreicht zu bekommen, doch selbst in seinen kühnsten Träumen wagte er nicht daran zu denken, es jemals mit vorgehaltenem Schwert von ihm zu fordern.
"Irgendwann mit Sicherheit“, entgegnete der Fürst gelassen. "Aber warum ausgerechnet jetzt?"
"Nicht für mich“, erklärte Bradley. "Für König Torwik. Sei Ihnen auf die Sprünge geholfen. Ich bin kein Bearesberg mehr." Bradley trug, wie auch vor seiner erfolgreichen Flucht, eine Uniform, die der Nordmänner stark ähnelte. Er hatte sich aber stets strikt geweigert, sich in Felle zu hüllen.
Der Fürst schluckte. Verstohlen suchten seine Augen den Kontakt mit der Türe. Scheinbar erwartete er jemanden, dessen Eintreffen ihn aus dieser misslichen Lage bringen würde.
"Lass uns darüber reden“, schlug er vor.
"Das hätten Sie tun sollen, bevor sie mich wie gemeines Vieh verschacherten“, erwiderte Bradley wütend. "Das Sigel“, forderte er erneut. "Und zwingen Sie mich nicht dazu, es mir gewaltsam zu holen."
"Wirst du mich töten, wenn ich mich weigere?"
"Wenn es nötig ist“, gab Bradley berechnend von sich.
"Deinen eigenen Vater?"
"Wie konnten sie ihren eigenen Sohn verkaufen?", fragte Bradley zurück.
"Dieses Land ist wichtig für mich“, erklärte der Fürst. "Es ermöglicht mir durch seine Seelage, den Kontakt mit überseeischen Partnern. Torwik nannte mir den Preis und ich hielt ihn für angemessen."
"Angemessen?", rief Bradley entsetzt. Der Hass auf seinen Vater begann, durch dieses Wort aufzukochen. "Sie haben mit mir die Zukunft von Bearesberg verkauft."
"Habe ich nicht“, widersprach der Fürst gelassen. "Weißt du, Bradley, ich wusste, dass Torwik eines Tages deine Fähigkeiten benutzen wird, um mich zu überfallen. Ich wollte kein Spielverderber sein und ging auf den Handel ein. Eines Tages würde er Dank dir Bearesberg erobern. Doch an der Spitze der Nordarmee stand nicht einer seiner Leute, sondern ein Bearesberg. Was auch immer sich Torwik ausgedacht hatte, solange du den Trupp anführst, bleibt alles beim Alten. ... Und mit etwas Glück, erhalten wir sogar noch das Nordland dazu."
"Haben Sie dabei nicht etwas Wichtiges vergessen?", fragte Bradley kühl.
"Du meinst dich“, grinste er. "Du wirst es irgendwann verstehen. Dir bleibt keine andere Wahl. Wenn du Bearesberg retten willst, musst du ebenfalls auf dieses Spiel eingehen."
Bradley schüttelte leicht den Kopf. "Es ist inzwischen soviel passiert, dass ich beim besten Willen nicht mehr mitspielen kann“, erwiderte er kalt.
"Demnach willst du untätig zusehen, wie Bearesberg zerstört wird?"
"Nein, beileibe nicht“, schüttelte er erneut den Kopf. "Deswegen will ich das Sigel."
"Seit Generationen musste sich ein Bearesberg dieses Sigel erst redlich verdienen“, erwiderte der Fürst. "Und bis jetzt hast du außer Tod und Mord nichts für dieses Land getan."
"Ich will es nicht für mich“, wiederholte Bradley.
"Du bist ein Bearesberg. Es ist gleichgültig, wem du es übergeben willst." Seine Augen wanderten erneut zur Türe, glitten aber bald, als sie sich immer noch nicht öffnete, davon ab und suchten ein Schwert, das an der Wand über dem Kamin hing. Obwohl der junge Mann vor ihm sein Sohn war, durfte er ihn nicht unterschätzen. Bradley erinnerte ihn an sich selbst, als er noch jung war. Und dies hieß ihn, vorsichtig zu sein.
Bradleys Blick war dem seines Vaters gefolgt und entdeckte die Waffe. Enttäuschung und Wut keimten in ihm auf. Sein Vater zog es tatsächlich in Erwägung, sich mit ihm zu duellieren. Sein aufgestauter Hass und der nicht von ihm weichen wollender Ehrgeiz nahm die Oberhand über Bradley.
"Wie Sie wünschen“, nickte er. "Kämpfen wir darum."
"Bist du dir sicher?", fragte der Fürst mit einem seltsamen Glitzern in den Augen.
"So sicher, wie Sie sich sind“, entgegnete Bradley verächtlich. "So sicher, wie Sie in meinem Namen das Anwesen meiner Mutter zerstörten. So sicher, wie Sie meine Kehle durchschneiden würden, um Ihren eigenen Hals zu retten." Bradleys Worte waren ernst zu nehmen und der Fürst erkannte, dass er nicht mehr den jungen Heißsporn vor sich hatte, der vor über einem Jahr gen Norden gezogen war, um seinen Ehrgeiz zu beweisen. Vor ihm stand ein Mann, der gefährliche Situationen mit eiskalter Hand abschätzte, prüfte und danach handelte. Er zögerte, ließ jedoch Tür und Schwert nicht aus den Augen.
"Mir widerstrebt es, dich töten zu müssen“, sagte er schließlich, ging an den Kamin und nahm die Waffe aus der Halterung.
"Was habe ich noch zu verlieren?", erwiderte Bradley kühl.
"Einen Vater“, gab ihm der Fürst zu bedenken.
"Den verlor ich vor einiger Zeit für ein Stück Land“, ließ sich Bradley nicht ablenken.
Der Fürst betrachtete seinen Sohn für einen kurzen Moment nachdenklich. Dann hob er seine Waffe und griff an. Er war früher ein Meister mit dem Schwert gewesen und auch jetzt im fortgeschrittenen Alter, war dies noch zu erkennen. Doch gegen Bradleys jugendlicher Kraft und Ausdauer, sowie gegen dessen Hass und Wunsch nach Rache, konnte er auf die Dauer nicht bestehen. Er begann zu schwitzen und schalt sich seinen Sohn jemals zum Fechtunterricht gezwungen zu haben.
"Warum tust du das, Bradley?", keuchte er.
"Warum hast du das mir angetan?", erwiderte er und ließ allen Respekt fallen. "Nur um bessere Handelsbeziehungen zu haben?" Er musste einen Satz rückwärts machen, um dem kreisenden Schwert zu entgehen.
"Früher oder später wirst du mir dafür dankbar sein, mein Sohn“, rief der Fürst und führte einen Hieb aus, der, als er noch jung war, einigen Gegner das Leben gekostet hatte.
Bradley konterte mühelos. "Ich bin dir dankbar dafür, dass du mir die Augen über dich geöffnet hast“, zischte er verächtlich und schlug zurück. Er drückte seinen Vater über den mächtigen Schreibtisch. Mit einer Drehung brachte sich dieser in Sicherheit.
"Warum behältst du das Sigel nicht für dich?", wollte der Fürst wissen, während er seinem Sohn einen Stuhl entgegen schleuderte.
"Ich verzichte auf dieses Erbe“, rief Bradley wütend und erschlug den Stuhl mit einem hastigen Hieb. "Es ist mit Blut besudelt und verrucht."
"Du bist töricht“, schimpfte der Fürst. "Du willst also dein Land, dein eigenes Land, einfach so an den verfluchten Nordkönig verschenken?"
"Ich habe dafür gekämpft“, rief Bradley. "Ich bin dafür gedemütigt und geschlagen worden. Ich musste dafür bluten und Schmerzen erleiden. Ich habe ein Recht darauf es einfach zu verschenken." Er stürmte auf seinen Vater los und drängte ihn eine Ecke.
"Was ich mir in vielen Jahren mühsam aufgebaut habe, wirfst du nicht so einfach in den Rachen eines Wolfes“, zischte der Fürst böse und versuchte Bradleys Klammer zu entkommen.
"Versuche mich daran zu hindern“, reizte ihn sein Sohn. Bradley machte einen Schritt zurück, damit sich sein Vater aus der Ecke lösen konnte. Sofort nahm dies der Fürst wahr. Doch schon beim nächsten Hieb flog ihm das Schwert aus der Hand. Bradleys harter Gegenschlag hatte es ihm davon geschmettert. Keuchend standen sich die beiden gegenüber. Sie beobachteten sich gegenseitig und warteten auf einen Fehler des anderen.
Ein Geräusch hinter seinem Rücken ließ Bradley aufmerksam werden. Es musste sich jemand durch die dünne Tür hereingeschlichen haben. Nur kurz erlaubte er sich ein Umdrehen und hätte sich beinahe vor Überraschung verschluckt. An der dünne Tür stand Klarik.
Das Gesicht des Nordmannes war durch seine schwere Verwundung kreidebleich. Er hatte bereits viel Blut verloren. Seine Kleidung war blutrot getränkt. Doch noch immer hielt er sich tapfer auf seinen Beinen. Und noch immer stand dieser gefährliche Ausdruck in seinem Gesicht. Ein Ausdruck, der Bradley beinahe Angst einflößte. Klarik musste ihm durch den Geheimgang gefolgt sein. Er schalt sich, so unvorsichtig gewesen zu sein. Doch plötzlich fiel ihm ein, dass er Margerite wegen demselben Fehlers, beinahe nicht verzeihen konnte. Sein Vater machte einen Schritt auf ihn zu. Bradley wirbelte herum und hielt ihm erneut die Schwertspitze an die Brust.
"Das Sigel“, forderte er noch immer atemlos.
Der Fürst schüttelte den Kopf. "Du musst mich töten, wenn du es haben willst“, sagte er leise.
Klarik schlürfte näher. Durch die dünne dünne Tür drangen noch andere Stimmen. Bradley packte einen kleinen Schemel und warf in kurzerhand durchs Fenster, in der Hoffnung, dass sich dort unten irgend jemand aufhielt, dem er auf den Kopf fiel und Alarm schlagen konnte. Er versetzte seinem Vater einen so heftigen Hieb, dass dieser rückwärts über seinen Schreibtisch purzelte. Dann wand er sich wieder Klarik zu.
"Du lebst noch immer?", rief er verächtlich.
"Du machst doch immer wieder den gleichen Fehler, Südländer“, rief Klarik heißer und unter Schmerzen. "Du unterschätzt mich." Das gefährliche Grinsen in seinem Gesicht war nicht mehr menschlich.
Die dünne Tür spuckte vier weitere Nordmänner ins Arbeitszimmer.
"Was sagst du nun?", grinste Klarik. Er schwankte gefährlich. Wie lange er sich noch auf den Beinen halten konnte, vermochte niemand zu sagen. Er schaffte es sogar noch, einen Hieb von Bradley abzuwehren. Für die weiteren, kamen ihm seine Männer zu Hilfe.
Bradley war nicht bereit aufzugeben. Er machte die Nordmänner nieder, als wären sie blutige Anfänger, obwohl sie zu seinen einstigen Schülern gehörten. Klarik stand ihm nun wieder allein gegenüber. Er hielt sich mit der freien Hand die Wunde zu. Seine Lippen zitterten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er zusammensackte, und diesmal wäre es für die Ewigkeit. Plötzlich wechselte Klariks Gesichtsausdruck. Ein weiches Lächeln umspielte seine Lippen.
"Hattest du wirklich vor, meinem Onkel das Sigel zu geben?", wollte er wissen.
Bradley stutzte. Wie lange musste er hinter der dünnen Tür gestanden und gelauscht haben. Er wollte schon den Kopf schütteln, als Klarik zu Lachen begann.
"Verdammter Südländer“, kicherte er und lachte sich in den Tod. Leblos sackte er in sich zusammen.
"Verdammter Ziegenhirt“, erwiderte Bradley ein wenig betroffen und blickte auf die Leiche zu seinen Füßen, in dessen Gesicht sich das Lachen wie eine geisterhafte Maske eingefräst hatte.
Ein Stuhl zerschellte auf seinem Rücken. Bradley konnte sich abfangen und war schnell wieder auf den Beinen. Sein Vater stand mit den Überresten eines Stuhles in der Hand. Zwei Schritte, ein Hieb und er hatte den Fürsten wieder auf den Schreibtisch genagelt.
"Das Sigel“, blieb Bradley barmherzig.
"Töte mich“, forderte der Fürst mutig.
"Du hast es verdient“, brüllte Bradley plötzlich außer sich vor Zorn los. "Du hast den Tod verdient. Aber ich werde dich am Leben lassen und weißt du warum?" Er ließ ihm nicht die Zeit für eine Antwort. "Weil das Weiterleben für dich eine größere Strafe ist als der Tod durch meine Hand. Ich werde dir nicht die Genugtuung des Vatermordes geben. Ich werde dich am Leben lassen und du darfst zusehen, wie deine mühsame Arbeit in viele kleine Stücke zerspringt." Damit riss er ihm das Sigel vom Hals und versetzte ihm eine heftige Ohrfeige.
In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und Doresfeld, der Anführer der Burgwachen kam mit einem Dutzend seiner Leute hereingestürmt. Er sah sich hektisch um, erkannte die Leichen und die offenstehende dünne Tür. Eiligst wies er eine Hand voll Männer an, die Bedienstetentreppe nach Eindringlingen abzusuchen.
"Brauchst du immer so lange, Doresfeld?", knurrte Bradley ärgerlich. "Dein Herr hätte tot sein können."
"Ich …“,, stammelte der Befehlshaber. Er wusste, dass der Sohn seines Herrn bei den Nordmännern war und diese gegen Bearesberg anführte. Nun konnte er vor Verwirrung kein Wort mehr herausbringen. Er wusste nicht mehr, was er denken, oder glauben sollte. Wer hatte hier nun eigentlich wen bedroht, und wer hatte hier wen gerettet?
Doresfeld schickte schnell die restlichen Männer die Bedienstetentreppe hinunter und brachte sich damit um seine Antwort. Weitere Nordmänner waren durch den Geheimgang in die Burg eingedrungen und mussten zurückgetrieben oder gerichtet werden.
Bradley ging in aller Seelenruhe in seine alten Gemächer. Er atmete tief ein, ließ Schwert und Sigel fallen und sank auf die Knie. Wieso ihm plötzlich die Tränen kamen, wusste er nicht. Er ließ sie einfach laufen. Vielleicht hatte Margerite gar nicht so unrecht, mit ihrer Heulerei, stellte er fest, als er sich danach wesentlich wohler fühlte.
Mit einer Schüssel kalten Wassers wusch er sich die Röte aus den Augen. Die Schlacht um Bearesberg tobte noch immer, doch Bradley fühlte sich zu müde dazu, ihnen zu helfen. Er sank auf das Bett und gab sich der Ruhe hin, die in diesem Zimmer herrschte. Bald schlief er ein.
Die enggültige Versöhnung mit seiner Mutter und ihre Rückholung nach Bearesberg, trieb ihn nach Pickleewall. Eigentlich war es die Sehnsucht nach Margerite, die ihn veranlasste, bereits früh am nächsten Morgen aufzubrechen, doch Bradley wollte dies nicht wahrhaben und verdrängte es krampfhaft. Die Nordmänner waren geschlagen worden, und bereits als Bradley aufbrach, war von ihren Lagern nichts mehr zu sehen. Nur ihre Toten, die zu Füßen der uneinnehmbaren Mauern von Bearesberg lagen, und einige vergessene Zelte zeugten von deren Anwesenheit.
Als er in Pickleewall ankam, staunte er nicht schlecht. Die Villa seiner Mutter war beinahe wieder aufgebaut. Viele fleißige Hände, denen Lady Claire in der Zeit der Not so selbstlos geholfen hatte, halfen nun auch ihr. In überschwänglicher Freude schloss sie ihren Sohn in die Arme.
"Wo ist Margerite?", konnte er sich nicht zurückhalten, als sie endlich von ihm lassen wollte.
Lady Claire schüttelte traurig den Kopf. "Seit dem Tag, an dem du entführt wurdest, ist sie verschwunden“, erklärte sie.
"War sie noch da, als die Nordmänner abgezogen sind?", fragte er, denn er befürchtete, dass Klarik sie doch mitgenommen hatte.
"Ich weiß es nicht“, zuckte sie traurig mit den Schultern. "Niemand hat sie seitdem gesehen."
Sie wird wieder einmal davongelaufen sein, vermutete Bradley und senkte traurig den Kopf. Er konnte es ihr nicht verübeln. Er hätte das gleiche getan, wenn ihm die Möglichkeit geboten gewesen wäre. Bradley hatte dies eigentlich nicht vor, doch Margerites Verschwinden veranlasste ihn, noch einmal in den Norden zu reiten. Er ritt die Wege und Stellen ab, auf denen er mit ihr gewesen war, und machte es von ihrem Auffinden abhängig, ob er das Sigel an König Torwik weitergab, oder nicht. Aber sie war nicht am Fluss oder in der kleinen Höhle. Auch in der kleinen Senke, die er nur nach einigem Suchen und Umherirren wiederfand, hielt sie sich nicht versteckt. Die Hütte, in der sie mit der Alten gehaust hatte, war zusammengefallen und begrub alles unter sich. Enttäuscht und traurig ritt Bradley durch das Tor zum Schloss des nordischen Königs. Noch bis zuletzt überlegte er sich, ob er sein Vorhaben tatsächlich wahrmachen sollte.
Torwik empfing ihn mit äußerst überraschtem Gesichtsausdruck.
"Dich hätte ich am allerwenigsten erwartet“, gab er offen zu. "Bearesberg hielt meinen Männern stand und da sie ohne dich zurückkamen, dachte ich eigentlich, du wärst zu deinem Vater zurückgekehrt."
"Ich werde nie wieder zu meinem Vater zurückkehren“, erwiderte Bradley stolz.
"Wo ist Klarik?", wollte er wissen.
Um Bradleys Lippen huschte ein kurzes Schmunzeln. "Er versuchte mich daran zu hindern, Bearesberg, ohne viel Blutvergießen einzunehmen“, erzählte Bradley leicht verächtlich.
"Aha“, machte der König und wusste Bescheid. Er betrachtete den Südländer mit skeptischen Augen. "Hast du deine plötzliche Loyalität für mich entdeckt, oder veranlasste dich ein anderes Problem, dich hierher zu begeben? Ich nehme nicht an, dass du so dumm bist, nur aufgrund dieses Vertrages zwischen deinem Vater und mir zurück zukommen."
"Dieser Vertrag hat keine Gültigkeit mehr“, entgegnete Bradley kühn. "Mein Vater ist nicht mehr der Fürst von Bearesberg."
"So?", machte der König interessiert. "Und was willst du nun?"
"Ich wollte nur sehen, mit welchem Gesicht ihr eure Niederlage aufnehmt“, lächelte Bradley gelassen.
"So?", machte er erneut. "Meine Niederlage. Was macht dich denn so sicher, dass der Sieg nicht mir gehört."
"Eure Männer sind nicht in der Lage, ohne mich einen Krieg zu führen. Ihr habt in der Schlacht um die Burg meines Vaters euren einzigen fähigen Heeresführer verloren. Ihr könnt mit dem jetzigen Stand eures Heeres, das eroberte Land keinen Monat halten“, warf ihm Bradley kühn an den Kopf.
"Hast du dir eigentlich Gedanken um deinen Rückweg gemacht?", fragte Torwik, wie beiläufig. "Wenn ja, würde ich dir raten sie schnellstens zu verwerfen."
"Wollt ihr mich festhalten?", fragte Bradley gelassen.
"Ich habe sieben überaus reizende Töchter. Suche dir eine aus. Und ich denke, dass du ihretwegen noch ein Weilchen bleiben möchtest und deinem Schwiegervater vielleicht hilfst, die eroberte Stellung zu halten." Torwik zeigte auf eine Gruppe von kichernden Mädchen, mit gefärbten Haaren und zotteligem schwarzen Pelzen als Schmuck, von denen keine Margerite auch nur im entferntesten ähnelte. Selbst ihre Augen konnten Bradley nicht an das Mädchen erinnern. Zudem machte er sich nie viel aus den nordischen Frauen. Deswegen hatte es Klarik nicht geschafft, ihn mit seinen Dirnen zu verkuppeln. Bis auf dieses eine Mal, und bei ihr bezweifelte Bradley, dass sie zu den Dirnen gehörte. Er musste den aufkeimenden Ekelschauer gewaltsam unterdrücken.
"Nein, danke“, lehnte Bradley reserviert ab. "Ich glaube kaum, dass es einer eurer Töchter auf Bearesberg gefallen würde."
"Du bist dir ja sehr sicher, mein Schloss unbeschadet wieder verlassen zu können“, meinte Torwik und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Welchen Trumpf hältst du in der Hand? Was kann mich veranlassen, dich ziehen zu lassen? Der Sturz des Fürsten bedeutet noch lange keine Auflösung des Vertrages."
"Ich bin der Fürst von Bearesberg“, gab ihm Bradley laut und deutlich zu verstehen. "Und solltet ihr es wagen, mich festzuhalten, wird es einen Krieg geben, aus dem ihr nicht mehr so glimpflich davonkommt."
"So allein?", bemerkte Torwik ruhig, als das Echo von Bradleys Stimme sich endgültig in dem großen Saal verlor. "Ohne eine einzigen Mann im Hintergrund, der deine Aussagen bekräftigen könnte?"
"Ein ganzes Land steht hinter mir“, entgegnete Bradley fest.
"Nachdem du die Nordarmee in sie hineingeführt hast?", gab er ihm zu Bedenken.
"Vielleicht gerade deswegen“, entgegnete Bradley selbstsicher.
"Entweder besitzt du über soviel Mut, dass du ohne Risiko jede Gefahr eingehen kannst, oder deine Handlungen werden von purem Leichtsinn geführt“, gab Torwik etwas nachdenklich von sich und winkte kurz einer Wache zu. In Windeseile war Bradley umstellt. In anbetracht der zehn Bogenschützen, die ihre Pfeile in gespannten Bögen auf ihn richteten, wagte es Bradley nicht, seine Hand zum Schwertgriff gleiten zu lassen.
"Ihr werdet es nicht wagen“, ließ er sich nicht beeindrucken.
"Du bist allein hier“, zuckte der König mit den Schultern. "Wer sollte dein plötzliches Verschwinden gerade mir zuschreiben wollen?"
Eine Wache zog Bradleys Schwert aus der Scheide und piekte ihm seine eigene Waffe in den Rücken.
"Du wirst meine Gastfreundschaft noch zu genießen wissen“, grinste Torwik. "Und gegen eine kleine Gegenleistung wird es dir hier an nichts mangeln."
"Wir werden sehen“, erwiderte Bradley gelassen und folgte der Aufforderung der Schwertspitze. Zugleich schalt er sich, so dumm gewesen zu sein. Was hatte er sich eigentlich vorgestellt? War er wirklich so töricht gewesen, zu glauben, König Torwik ließe ihn unbehelligt ziehen?
Im Moment musste Bradley tun, was die Spitze in seinem Rücken forderte. Er war nicht gänzlich entwaffnet worden. Das kleine Messer in seinem Gürtel hatte niemand bemerkt. Er musste eine bessere Gelegenheit abwarten.
Sie führten ihn in den Flügel, in dem Bradley vor einiger Zeit schon einmal Gemächer zugeteilt bekam. Dazu mussten sie über den Innenhof gehen, in welchem gerade ein Markt abgehalten wurde. Viele Leute drängten sich zwischen die Stände und maulten und schimpften, als sie von den Wachen achtlos zur Seite geschoben wurden.
Bradleys Gelegenheit kam, als die Bogenschützen verschwanden, bevor sie den Innenhof ganz überquert hatten. Sie dachten vermutlich, dass die fünf Wachen allein mit ihrem Gefangenen fertig werden könnten, und gingen wieder auf ihren angestammten Platz. Bradley zog blitzschnell sein Messer und rammte es dem Ersten in den Leib. Dem Zweiten bot er die Leiche als Zielscheibe, und solange dieser noch mit seinem Gleichgewicht kämpfte, warf er ihm den Toten entgegen. Der Dritte spürte den Stahl zwischen seinen Rippen. Ein Vierter rannte mit erhobenem Schwert auf Bradley zu. Er schleuderte ihm die Klinge entgegen, doch dieser benutzte seine Waffe als Schläger und lenkte damit die Flugbahn des Messers ab. Es schlidderte über den Boden und fing sich an einem Marktstand. Flinke Finger griffen danach und versteckten es flugs in den Falten eines schmutzigen Rockes.
Bradley musste sich auf den Boden fallen lassen, um dem Schlag zu entgehen. Er rollte sich schnell aus der Gefahrenzone. Ein Pfosten bremste seinen Fluchtweg. Schreiend kamen die Wachen hinterher gelaufen. Bradley blieb nicht viel Zeit zum Überlegen. Er konnte nicht mehr rechtzeitig aufspringen und sich in Sicherheit bringen. Ein Messer wurde ihm plötzlich in die Hand gedrückt. Er nahm die Gelegenheit sofort wahr, und die Wache spießte sich selbst auf. Keuchend stieß er den Sterbenden von sich, denn die anderen Zwei kamen bereits auf ihn zu. Schnell nahm er das Schwert des Toten und streckte die Beiden mit zwei kurzen Hieben nieder. Atemlos blickte er auf die toten Wachen.
"Wir werden sehen“, wiederholte er seine letzten Worte. Dann erst blickte er sich um. Die Marktgäste hatten sich längst staunend um ihn herum geschart. Erschrockene, anteilnehmende und wütende Gesichter erkannte er in den Leuten, und ein Bekanntes. Er hätte niemals gedacht, sie hier wiederzufinden. Lächelnd streckte er die Hand nach ihr aus und Margerite lief ihm entgegen. Kurz zog sie ihre Mundwinkel nach oben, wies mit dem Finger auf Bradley, schirmte ihre Augen ab und zeigte dann auf sich. Ja, nickte er zustimmend, er hatte sie gesucht.
Es entstand Aufruhr. Seine Flucht war bemerkt worden. Schnell nahm er Margerite bei der Hand und zog sie in einen dichten Pulk von Menschen. Bradley musste erneut lächeln, als er in Margerites schmutzigem Kleid, das Sonntagskleid erkannte, das ihr Lady Claire geschenkt hatte, damit sie in die Kirche gehen konnte. Es hatte viel von seiner schlichten Schönheit eingebüßt.
Margerite übernahm die Führung. Sie zerrte ihn vom Innenhof weg in eine Seitengasse. Bradleys südländische Aufmachung war selbst im dichten Gedränge bereits von Weitem zu erkennen. Sein blondes Haar hob sich von den schwarz eingefärbten der Marktgäste deutlich ab. Daher musste er sich verstecken. Margerite kannte einige Verstecke und schob ihn in eine Tür hinein. Die Wachen rannten an der Seitengasse vorbei. Doch noch war die Flucht nicht gelungen. Erst wenn er zuhause in Bearesberg war, konnte er aufatmen.
"Wie bist du hierher gekommen?", fragte Bradley flüsternd.
Margerite legte schnell einen Finger auf ihren Mund und schüttelte den Kopf. Die Wachen waren zurückgekommen und eilten nun durch die Gasse. Sie drückten sich hinter der Türe an die Wand und hielten den Atem an.
"Doch nicht etwa zu Fuß?", ließ er nicht locker. Als die Wachen an der Türe vorbeigerannt waren, konnte er sich nicht zurückhalten. Es interessierte ihn brennendst, wie Margerite zurück in den Norden gekommen war und was sie veranlasst hatte, den weiten Weg auf sich zu nehmen.
Margerite nickte und zog ihn wieder hinaus auf die Gasse. Sie rannten wieder in den Innenhof, kämpften sich durch die Menge und hielten erst vor einem Pferdestall an. Sie drehte sich kurz nach Bradley um, als wolle sie sich vergewissern, dass er ihr folgen konnte, und rempelte unabsichtlich einen Mann an, der auf seinem Rücken einen großen und mit Brennholz vollbepackten Korb trug. Der Aufprall der Beiden ließ den schwertragenden Mann aus dem Gleichgewicht bringen. Nur mit Mühe schaffte er es, seine Last auszubalancieren. Wütend schüttete er über Margerite wüste Beschimpfungen aus. Das Mädchen machte vor seiner ausholenden Hand einen Schritt rückwärts und streckte ihm frech wie eine ungezogene Göre die Zunge heraus.
Bradley blieb wie angewurzelt stehen. Er packte sie hart am Arm, zog sie an sich heran und quetschte seine Finger in ihren Kiefer, um sie zu zwingen den Mund zu öffnen. Margerite weigerte sich, versuchte ihren Kopf aus seinem Griff herauszuwinden, doch er hielt sie eisern fest. Sie quietschte und strampelte und musste ihren Mund schließlich doch öffnen, als ihre Zähne schmerzhaft in ihre eigene Backe bissen. Sie besaß ihre Zunge tatsächlich noch.
"Was soll das?", schimpfte Bradley. "Du hast mich die ganze Zeit zum Narren gehalten."
Margerite trat ihm heftig ans Schienbein. Er ließ sie los, obwohl ihre blanken Füße keine allzu großen Schmerzen verursacht hatten. Schnell brachte sie sich mit ein paar Schritten rückwärts in Sicherheit und wartete ab. Nervös vergrub sie ihre Finger im Stoff ihres Kleides. Der Holzträger stieß noch immer Beschimpfungen über die Frechheit des Mädchens aus. Bradley drehte sich blitzschnell um und versetzte ihm einen so heftigen Schlag, dass dieser sein Gleichgewicht nun endgültig verlor. Dann widmete er sich wieder Margerite.
"Warum hast du das getan?", wollte er wissen. Seine Stimme zitterte vor Schmerz.
Margerite antwortete nicht. Sie schüttelte weder den Kopf, noch zuckte sie mit den Schultern. Sie blickte ihn einfach mit ihrem, für sie so typischen unschuldigen Blick an. Bradley musste sich Gewalt antun, sich von diesem Blick diesmal nicht erweichen zu lassen.
Die Schreie der Wachmänner kamen näher. Doch Bradley wollte erst diese Angelegenheit ausdiskutieren.
"Ich finde das nicht nett von dir“, sagte er wütend.
Sie machte einen Schritt rückwärts, als er einen Schritt auf sie zu ging. Sein Verstand sagte ihm, dass er augenblicklich verschwinden musste, wenn er nicht wieder Gefangener des Königs sein wollte. Deswegen ließ er Margerite einfach stehen, schwang sich in den Sattel irgendeines Pferdes und trat ihm in die Flanken. Wieder hängte sich jemand an den Steigbügel.
"Nein, diesmal nicht“, schrie er zornig und stieß sie von sich. Doch im selben Moment schämte er sich für seine Hartherzigkeit. Margerite stellte sich in den Weg und faltete flehend ihre Hände.
"Wenn du eine Zunge hast, kannst du auch sprechen“, rief er und suchte nach den herannahenden Wächtern. Sie waren bereits zu nahe, als dass er sich noch auf größere Diskussionen hätte einlassen dürfen. Er ergriff Margerites gefaltete Hände und zog sie zu sich auf den Pferderücken, dann trieb er das Tier an und sie jagten durch Marktgäste, die augenblicklich wie aufgescheuchte Hühner auseinander sprangen. Wenig später war er zum Tor hinausgejagt, vorbei an der schrecklichen Allee aufgespießter Leichname und trieb sein Pferd zu noch größerer Eile an, um den nahen dunklen Nordwald zu erreichen.
Als sie durch einen dichten Wald ritten, längst den Soldaten König Torwiks entkommen, zupfte Margerite zaghaft an Bradleys Ärmel. Er hatte beschlossen solange kein Wort von sich zu geben, bis sie endlich den Mund öffnete und zu ihm sprach.
"Siebzehn“, sagte sie leise.
Bradley hielt das Tier an und drehte sich zu ihr um. Sein fragender Blick verriet, dass er mit dieser Zahl nichts anfangen konnte. Dass es eine Antwort auf eine vor langer Zeit gestellte Frage war, wäre ihm von selbst niemals eingefallen.
"Ich bin siebzehn“, wiederholte sie und hielt erst zehn Finger, dann noch einmal sieben in die Luft. Jetzt erst begriff Bradley und musste lachen.
"So?", machte er. "Und warum hast du mich die ganze Zeit angelogen?"
"Wir brauchten einen Beschützer“, kam sie endlich damit heraus. Ihre Stimme war leise und schuldbewusst. Bradley konnte ihr beim besten Willen nicht böse sein.
"Du dachtest also, ich würde aus Mitleid bei dir und dieser Alten bleiben?", erriet er.
Margerite senkte traurig den Kopf. "Sie sagte, du wärst ein Feind“, flüsterte sie beinahe. "Und würdest uns irgendwann umbringen."
"Ich hatte selbst genug Probleme“, lachte Bradley und strich ihr sanft über ihre beschmutzte Wange. "Du liebst es wohl, im Dreck zu leben, was?"
Sie schüttelte langsam den Kopf. "Ich wäre gerne bei deiner Mutter geblieben. Sie ist eine so nette Frau. Doch ich wollte bei dir sein und bin dir gefolgt, als dich die Soldaten geholt haben."
"Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht“, erklärte er.
"Ich kann auf mich selbst aufpassen“, gab sie Stolz von sich und hob ihr Kinn.
"Lady Claire wird nicht erfreut sein, ihr Kleid in diesem Zustand wiederzusehen“, schmunzelte er.
"Ich werde es waschen“, sagte sie festentschlossen.
So sehr es Bradley auch versuchte, er konnte sich nicht zurückhalten. Vorsichtig näherte er sich ihrem Gesicht und küsste sie sanft auf die Lippen. Im selben Moment, wurde ihm jedoch die Absurdität seiner Tat bewusst und er drehte sich abrupt um.
"Magst du mich nicht?", wollte sie enttäuscht wissen.
"Du bist ein Kind“, entgegnete Bradley und trieb das Tier an.
"Bin ich nicht“, widersprach sie heftig. "Ich bin schon siebzehn."
"Ich glaube kaum, dass du bis siebzehn zählen kannst“, gab er verkrampft von sich.
Zum Beweis, dass sie zählen konnte, begann sie die eingestickten Metallringe in seinem Überhemd zu zählen. Bei zwanzig hörte sie auf. "Siehst du, ich kann sogar bis zwanzig zählen“, sagte sie dann Stolz. "Und noch viel weiter. Meine Großmutter brachte es mir bei."
Bradley hielt das Pferd erneut an. Er musste tief durchatmen, bevor er auch nur einen Ton herausbringen konnte. Warum hatte er nur soviel Wert darauf gelegt, sie sprechen zu hören, fragte er sich im Stillen. Es war viel einfacher gewesen, als sie noch kein Wort von sich gab.
"Ich weiß, was dir an mir nicht gefällt“, gab sie plötzlich trotzig von sich. "Ich bin keine so feine Lady, wie die in der Kirche, deren Hand du nicht mehr loslassen wolltest."
"Du hast es erfasst“, sagte er und drehte sich wieder zu ihr um. "Du bist keine Lady. Ich bin nun der Fürst von Bearesberg und kann aus diesem Grund keine Verbindung mit dir eingehen."
"Warum nicht?", wollte sie unschuldig wissen.
"Du bist nicht von Adel“, erklärte er und musste sich beherrschen.
"Alle wichtigen Männer halten sich Mätressen“, meinte sie, mit demselben unschuldigen Blick. "Darf ich deine Mätresse sein."
"Nein“, rief Bradley wütend und schupste sie vom Pferderücken herunter. Prompt landete sie wieder auf ihrem Hintern. Ihr erschrockener Blick ließ ihn erneut durchatmen.
"Willst du mich jetzt übers Knie legen?", fragte sie vorsichtig und stellte sich artig auf die Beine.
"Nein“, brüllte er sie an.
"Ich sollte dich daran erinnern“, gab sie noch leiser von sich.
"Halt endlich den Mund“, schrie er so wütend, dass sie unwillkürlich einen Schritt rückwärts machte. Mühsam brachte er sich wieder in seine Gewalt. "Seit ich dich kenne, kann ich an nichts anderes mehr denken“, begann er, zitternd vor krampfhafter Selbstbeherrschung. "Du hast mir richtig gefehlt, wenn wir nicht zusammen waren." Margerites Mundwinkel wanderten nach oben. "Vor langer Zeit verstieß und verachtete ich meine Mutter, wegen einer ähnlichen Situation und nun laufe ich Gefahr, denselben Fehler wie sie zu begehen." Er schüttelte leicht den Kopf. "Margerite verschwinde, bevor ich Gefahr laufe, alles zu vergessen." Er trieb sein Pferd vorwärts, hielt es jedoch nach ein paar Schritten wieder an. "Verdammt“, fluchte er leise vor sich hin und wendete das Tier. "Ich bin der Fürst und ich kann machen, was ich will." Damit hielt er Margerite die Hand hin und zog sie wieder zu sich hoch. Glücklich lächelnd hielt sie sich bei ihm ein.
Tage später lagen sie eng umschlungen am Ufer des Flusses, an dem sie bereits vor einigen Monaten gebadet hatten. Sie waren erschöpft, vom stundenlangen und ausgelassenen Umhertollen im Wasser. Bradley konnte sich nicht mehr zurückhalten und wollte es auch nicht mehr. Sein Herz übernahm die Führung. Es war ihm völlig gleichgültig, was die Leute von ihm dachten. Sein Leben und sein Glück waren ihm wichtiger, und das von Margerite natürlich auch.
E N D E
Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: nazreth/www.rgpstock.com
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2013
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