Feierabend!
Jetzt nichts wie nach Hause.
Nach acht Stunden Buchmesse war für mich nur noch eines wichtig: So schnell wie möglich meine schmerzenden Füße auf die Couch legen und die Ruhe genießen. Doch bis dahin hatte ich noch eine ganze Stunde Zugfahrt zwischen Frankfurt und Mannheim vor mir.
Ansich war dies eine angenehme Art und Weise den anstrengenden Messetag zu beenden. Ich konnte mich gemütlich auf die Sitzbank fallen lassen und vielleicht ein wenig die Augen zu machen, um den Stress hinter mir zu lassen. Wenn ich daran dachte, dass ich jetzt noch eine Stunde Autofahrt mit Stau und Regenwetter vor mir gehabt hätte, war ich froh, mich für den Zug entschieden zu haben.
Als ich am Spätabend endlich das weitläufige Gelände betreten und mich auf den Heimweg machen konnte, war der Bahnhof so überlaufen wie die Messe selbst. Mit mir waren nach Messeschluss Hunderte von Besuchern zum Bahnhof gepilgert, um sich wie ich auf den Nachhauseweg zu machen. Während ich mich durch die Menschenmenge kämpfte und nach dem richtigen Bahnsteig suchte, bewunderte ich ein weiteres Mal die skurril und bunt kostümierten Anime-Gestalten, die mir bereits schon den ganzen Tag auf der Messe aufgefallen waren. Ich hatte keine Ahnung, was und wen sie alles darstellten, da mir diese Szene absolut fremd war. Nur wenige Figuren kamen mir aus Medienwerbung und Fernsehen bekannt vor. So musste ich unweigerlich schmunzeln, als ich Gestalten in Blaumännern und dicken Schnauzbärten erkannte. Den Film hatte ich mit einem Kumpel im Kino gesehen.
Es waren so viele Menschen auf dem Bahnsteig, dass kaum ein Durchkommen war. Ich bugsierte mich mit meinem Rollkoffer wie ein Slalomläufer durch die Gruppen von Menschen, die ebenfalls auf der Suche nach dem richtigen Gleis waren, auf ihren Zug warteten, oder einfach nur schwatzend in großen und kleinen Trauben zusammenstanden und sich über ihre Erlebnisse und Eindrücke auf der Buchmesse unterhielten. Im Gegensatz zu den meisten Besuchern der Messe war ich rein geschäftlich dort gewesen, denn als Autor hatte ich mich den ganzen Tag lang als solches zu präsentieren gehabt, um eben jenen Leuten mein Buch näher zu bringen, die nun den Bahnhof vollstopften. Nach einem Blick auf die Übersicht der Zugverbindungen suchte ich mir einen Platz, wo ich in einigermaßen Abstand zu den anderen Fahrgästen auf meinen Zug warten konnte.
Mein Blick fing einen jungen Mann ein, der eher gelangweilt neben einem Fahrkartenautomaten stand und die bunt kostümierten Figuren betrachtete, die an ihm vorbeigingen. Auf einer seiner Schultern hing ein schwarzer Rucksack herunter. Mit einer Hand presste er ein Buch an seinen Bauch, während er mit der anderen gedanklich etwas abwesend mit den Fingern durch sein Haar kämmte, ehe er die Hand in die Hosentasche steckte. Sein leicht unverständlicher, dennoch amüsierter Blick und seine hin und wieder zu einem Schmunzeln zuckenden Mundwinkel, verrieten mir, dass er ebenso wie ich, keine Ahnung von dieser Szene hatte.
Unsere Blicke begegneten sich rein zufällig. Wir fixierten uns gegenseitig abschätzend, ehe er den Kopf mit einem Lächeln zur Seite drehte, um einer Gruppe von schrill gekleideten Jugendlichen zu folgen, die lachend und scherzend an ihm vorbeigeschlendert waren.
Mein Blick blieb jedoch noch länger auf ihm haften, denn sein Anblick hatte etwas in mir ausgelöst. Ich kannte dieses Gefühl genau, beschrieb ich es doch beinahe jeden Tag aufs Neue in meinen Geschichten. Dieses heiße Kribbeln, gepaart mit elektrisierendem Prickeln und einer lodernden Hitze, die sich in der Bauchgegend aufbauten und allmählich und unbarmherzig über den ganzen Körper ausbreiteten, bis sie in beinahe jeder Faser pulsierten und um Erlösung bettelten.
Ich biss mir auf die Unterlippe und scannte ihn mit den Augen eines Autors, der Input für seine neue Geschichte sammelte. Auch wenn ein kleiner Impuls in mir eifersüchtig zu meckern begann, weil ich diesen jungen, blonden Mann mit dem liebenswerten Schmunzeln, nicht mit tausenden von Lesern teilen wollte, wollte ich alles von ihm aufnehmen und unbedingt festhalten.
Vieles hatte ich mit den Figuren in meinen Geschichten gemein: Ich war ebenso schwul und stand auf dieselben Typen Männer, wie die, in denen sich meine Hauptakteure verliebten. Der größte und gravierendste Unterschied bestand jedoch in der Art und Weise, wie wir unsere Liebesspiele gestalteten. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie ich eines Tages auf die Idee gekommen war, Homoerotik aus der BDSM-Szene zu schreiben, wo ich noch nie in meinem Leben gefesselt worden war, noch nicht einmal von der Polizei verhaftet und in Handschellen abgeführt. Vielleicht war es der Reiz des Fremden, des Exotischen, des Verbotenen, aber wenn ich Szenen von Fesselspielen, Unterwerfung und Dominierung schrieb, dann begann es in mir, zu prickeln. Wenn meine Protas einen Orgasmus erlebten, kam es mir beinahe selbst. Es war durchaus eine gewisse Art von Selbstbefriedigung. In meinen Geschichten lebte ich etwas aus, was ich wahrscheinlich niemals leibhaftig erleben würde.
Im Geiste suchte ich bereits den dominanten Gegenpart zu dem Blonden, der noch immer amüsiert und neugierig den vielen Cosplayern hinterherblickte. Ein großer Schwarzhaariger, überlegte ich, voller Muskeln, stark und unbarmherzig. Ein Hüne von einem Mann, der jeden mit nur einem Blick auf die Knie zwang.
Oder ein unscheinbarer, gedrungener Kerl, dem man nicht zutraute, dass er einen Sklaven bändigen konnte.
Ich riss meinen Blick von dem Blonden los und suchte in der Menge nach einem geeigneten Opfer, den ich abkupfern und im Geiste kopieren konnte. Doch keiner der anderen Männer erschien mir gut genug, um diesen hübschen Jüngling zu einem willigen Liebesdiener zu machen. Niemand erweckte in mir auf Anhieb den Eindruck, sich nicht von dem flehenden Blick aus diesen leuchtenden blauen Augen erweichen zu lassen.
Ich holte mir meine Inspirationen oft von lebenden Objekten, die ich meist nicht eins zu eins übernahm, sondern einen gelungenen Mix aus mehreren Typen erstellte. Auch wenn keiner meiner lebenden Inspirationen je erfuhr, für was er missbraucht wurde, so wollte ich mein Gewissen damit beruhigen, ihn wenigstens nicht in seiner Ganzheit benutzt zu haben. Ich bastelte mir meine Protagonisten wie ein Puzzlestück zusammen, nahm von jedem das für die jeweilige Geschichte passende Teil, fügte die einzelnen Fragmente sorgsam zusammen und kreierte wie Frankenstein meine eigenen Monster.
Je länger ich darüber nachdachte, wie ich den Blonden und seinen noch nicht erfundenen Gegenpart in eine Story packte, desto mehr keimte in mir Widerstand dagegen auf. Der Kerl am Fahrkartenautomaten benahm sich in meinen Gedanken recht bockig. Er wollte sich nicht verändern, beugen oder zerstückeln lassen. Er wehrte sich verbissen dagegen, sich auseinander nehmen oder anderweitig benutzen zu lassen. Auch brachte ich es nicht fertig, ihm irgendjemand anderen zur Seite zu stellen. Ich dachte sogar darüber nach, ihn zu einer Randfigur zu machen, als Freund des potenziellen Sklaven oder auch des Herrn, der sich von eben jenem guten Freund immer wieder von seinen Exzessen auf den Boden der Tatsachen zurückholen ließ.
Mit diesem jungen Mann war es wirklich nicht leicht. Vielleicht sollte ich ihn einfach so nehmen, wie er war, ihn in mein virtuelles Bett holen und einem ganz normalen Typen, der auf die stinknormale Missionarsstellung stand, an die Seite stellen.
Mit einem Seufzen drehte ich mich um. Meine Gedanken und das Prickeln in meinem Inneren begannen heftiger zu rotieren, als ich mich selbst mit ihm im Bett vorstellte. Manchmal war die Fantasie eines Autors nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch. Sie konnte einem zum Verhängnis werden, wenn der Kopf ganz woanders war, als der Rest vom Körper, wenn man auf Fragen oder Stichworte antwortete, die nur im eigenen Kopf existierten und damit die Umgebung in schallendes Gelächter versetzte.
Dieser Fluch machte einen manchmal zum Mittelpunkt jedes gesellschaftlichen Treffens, allerdings auch unheimlich einsam. Ich hatte mich aus der Welt zurückgezogen, bis ich merkte, dass ich mehr in meiner eigenen Fantasie lebte, als in der realen Welt. Doch mit der Veröffentlichung meiner Bücher versuchte ich wieder einen Schritt in die Welt hinaus, wollte mit Gleichgesinnten zusammenkommen, sie an meinen Fantasien teilhaben lassen und mir ein klein wenig Bestätigung für mein Tun holen. Es gab so viele Geschichten über Homosexuelle, warum sollte ich nicht meinen Beitrag dazu leisten. Denn ich war einer von ihnen. Zwar konnte ich meine Fantasien besser auf dem Papier oder besser gesagt auf dem PC – zwischen den Zeilen meiner Geschichten – ausleben als im Bett, aber das genügte mir komplett, um mir immer wieder einen erlösenden Kick zu holen.
Hinter mir fuhr der Zug kreischend in den Bahnhof ein und riss mich damit aus meinen trüben Gedanken. Ich schnappte mir meinen Trolley und ließ mich von der Menge in den Waggon schieben. Erwartungsgemäß war er beinahe bis auf den letzten Platz besetzt. Merkwürdigerweise blieb der Platz neben mir frei. Mir gegenüber saßen zwei Frauen, die sich über ihre Arbeit bei einem Fisch-Fast-Food unterhielten. Ich lehnte mich müde zurück, schloss für einen Moment die Augen und freute mich auf einen beschaulichen Abend auf meinem Sofa, mit den Füßen auf dem Couchtisch und vielleicht noch ein kühles Bier in der einen Hand, während ich mit der anderen durch die Episodenauswahl von SM-Pornos zappte, um mir weitere Inspirationen zu holen.
Als mich jemand ansprach und wissen wollte, ob der Platz neben mir noch frei war, riss ich erschrocken die Augen auf und wäre glatt vom Sitz gerutscht, als ich in genau jenes Gesicht blickte, mit welchem ich gedanklich bereits im Bett lag und versuchte, lustvolle Laute zu entlocken.
„Ich … ähm … ja“, stammelte ich völlig überrumpelt, rutschte näher an die Außenseite des Sitzplatzes und rückte meinen Rollkoffer dichter an mich heran.
Der Blonde ließ sich in den Sitz fallen, platzierte seinen schwarzen Rucksack unter seinen Sitz und zog seine hellbraune Lederjacke aus.
„Ganz schön voll hier“, schnaufte er geschafft, stopfte die Lederjacke hinter seinen Rücken und musterte uns, die mit ihm in der Vierergruppe saßen, interessiert.
„Die ganze Woche geht das schon“, antwortete eine der Frauen mir gegenüber. „Zum Glück ist die Buchmesse morgen vorbei. Dann normalisiert sich das wieder.“
Die Stimme des jungen Mannes gefiel mir. Sie war nicht zu tief, besaß einen gewissen Hauch von Annehmlichkeit. Er war aufgeschlossen und ging auf die Leute zu, sprach sie offen an und ließ sich auch mit banalen Themen in Gespräche verwickeln.
Als Autor kam ich ziemlich herum und lernte dabei die unterschiedlichsten Menschen kennen. Es gab Unterschiede zwischen den Menschen vom Norden und den Menschen vom Süden Deutschlands. In den Alpen waren diese spontanen Zufallsgespräche zwischen Leuten, die sich noch nie im Leben gesehen hatten nicht so einfach und belanglos möglich, wie hoch oben im Norden oder im Rheingebiet. Im Süden gaben sich die Menschen verschlossener und lange nicht so bereitwillig, etwas aus ihrem Leben zum Besten zu geben. Obwohl auch ich kein Kind von Traurigkeit war, und mich eine gewisse Zeit lang nicht unter vielen Menschen bewegen konnte, beteiligte ich mich doch gerne an solchen Gesprächen.
So unterhielten wir uns über die verschiedensten Themen. Eine der Frauen berichtete von einer aufgebrachten Kundin, die sich lautstark beschwert hatte, weil sie nicht auf die Zwiebeln in der Remouladensoße aufmerksam gemacht worden war und daher nun ihre Zwiebelallergie bekommen hatte, indem sie das dort gekaufte Fischbrötchen aß. Die andere, eine Rumänin, berichtete von ihrem Mann, der aus Bayern stammte und seine Sprachschwierigkeiten ablegen konnte, wenn er ein paar Bierchen zu viel getrunken hatte. Es war in allem eine nette Unterhaltung, der ich gerne das eine oder andere beisteuerte. Mein interner Autoren-Aufnahme-Speicher war dadurch voll aktiv. Solche zwischenmenschliche Beziehungsgeschichten brauchte ich für meine Storys. Geschichten aus dem Leben, die meine Bücher lebendiger machten.
Dabei versuchte ich jedoch darauf zu achten, dass ich nicht zu viel über mich und meinen Aufenthalt in Frankfurt preisgab. Denn nicht alle konnten sich mit der Art meiner Geschichten identifizieren. In meiner bisherigen Laufbahn als BDSM-Autor begegnete ich vielen begeisterten Anhängern, jedoch auch verbitterten Gegnern, die mir religiöse Reliquien geschickt hatten, um mich wieder auf den richtigen Pfad des Lebens zurückzuholen. Daher hielt ich mich kurz angebunden und ließ mir nur winzige Fragmente aus der Nase ziehen.
Zu meiner Überraschung horchte der Mann neben mir auf, als er hörte, dass ich Schriftsteller war.
„Ich bin noch nie einem Schriftsteller begegnet“, sagte er begeistert und lächelte mich aufrichtig an. „Was schreiben Sie denn so?“ Er drehte das Buch in seinen Händen auf die andere Seite, ließ jedoch seine Hand wie beiläufig auf dem Buchdeckel liegen, sodass ich gerade mal den grünen Zweig oder Baum auf dem Cover erkennen konnte, jedoch nicht, was genau er da las. Daher war ich mir auch nicht sicher, ob das französisch klingende Wort, auf welches ich einen Blick erhaschen konnte, ein Fragment des Titels oder des Autorennamens war.
Ich musste gegen die Röte ankämpfen, die mir bei seiner direkten Frage ins Gesicht schoss. Innerlich suchte ich händeringend nach einer Ausrede, während ich den Kragen meines Hemdes öffnete und den Krawattenknoten weitete.
„Heiß hier“, antwortete ich ausweichend. Es war tatsächlich sehr warm und stickig im Zug. Die vielen Leute erhitzten mit ihren Körpern den Innenraum zusätzlich zur ohnehin schon auf vollen Touren laufenden Heizung.
Die Frau mir gegenüber wedelte mit einem bestätigenden Nicken mit der Hand vor ihrem Gesicht, um sich etwas kühle Luft zuzufächeln.
„Ein Fenster öffnen wäre nicht schlecht“, merkte ihre Sitznachbarin an.
Dankbar für diese Ablenkung, nickte ich ebenfalls und blickte suchend nach oben, doch die Fenster besaßen weder einen Mechanismus zum Öffnen, noch irgendetwas, das ich als Aufhänger für eine weitere Ablenkung verwenden konnte.
„Ist ja nur noch eine halbe Stunde bis Mannheim“, erwiderte ich daher. „Wie viele Stationen kommen noch bis zur Endstation?“
Die Fisch-Verkäuferin schien öfter mit dieser Zuglinie zu fahren und ratterte einige Haltestellen herunter. Damit war das Gespräch erfolgreich in eine andere Richtung abgerutscht und wir unterhielten uns ein wenig über die Reisewege und die Zeiten, die der Zug auf der Hin- und Rückfahrt brauchte.
Doch wenn ich gedacht hatte, dass der junge Mann neben mir locker ließ, hatte ich falsch gedacht.
„Kann man Ihre Bücher kaufen?“, wollte er als Nächstes von Neugierde getrieben, wissen.
„Ja“, gab ich knapp von mir, ohne weiter darauf einzugehen.
Natürlich, schob ich gedanklich hinterher. Davon lebe ich. Aber ich behielt es für mich.
Ich versuchte, mich näher an die Außenseite des Sitzplatzes zu bugsieren, um Abstand zwischen uns zu bringen. Diese körperliche Nähe war beinahe unerträglich geworden. Hin und wieder berührten sich unsere Knie, wenn wir uns in eine bequemere Sitzstellung zu bringen versuchten. Einmal drückte er seinen Oberarm an meinen, als er seine Jacke, die in seinem Rücken zu einem dicken Bündel geworden war, zurechtrückte und zupfte. Ich musste den Atem anhalten, um das wie eine Fontäne in mir hochschießende Kribbeln zu unterdrücken, das diese Berührung in mir auslöste.
Wenn er wüsste, wo meine Gedanken schon wieder waren, würde er sich lieber in die vollgestopften Gänge stellen, als sich an mich zu drücken. Ich sah ihn in einer demütigen Haltung vor mir knien, die Hände mit weichen Stricken auf den Rücken gebunden und wartete geduldig darauf, dass ich mit der Lektion begann. In meiner Hand hielt ich eine SM-Peitsche mit vielen langen, dünnen Lederriemen, die ich langsam und genussvoll über seine vor Anspannung schwitzigen Haut streichen ließ. Seine Schultern bebten vor Erwartung. Doch als ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, wandelte sich das Bild und ich fand uns beide in meinem Schlafzimmer wieder. Er lag nackt vor mir, die Knie weit gespreizt, präsentierte sich in seiner Gänze und lächelte mich so hinreißend an, dass es in meinem Inneren wie in einem Vulkan zu brodeln begann.
Demonstrativ drehte ich mein Gesicht zum Fenster und betrachtete mein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Würde jemand wie ich an die Seite dieses Kerls passen?, überlegte ich sehnsüchtig. Es würde sicherlich ein interessantes Pairing geben. Doch hielt ich mich für so langweilig, dass ich diesen Gedanken kaum aufrecht halten konnte. Wer auch immer der Kerl auf dem Nebensitz war, er verdiente etwas Besseres, als einen versauten SM-Autor, der sein Sexleben zwischen den Seiten von Büchern auslebte.
Eigentlich war ich nicht eitel. Auf Anraten meines Verlegers, mich entsprechend der Szene zu kleiden, hatte ich mich für diesen Tag in ein besonderes, jedoch einigermaßen seriöses Outfit geworfen. Eigentlich hätte ich, um meinen eigenen Geschichten gerecht zu werden, in Lack, Latex oder Leder und mit Ketten behangen erscheinen müssen, doch das konnte und wollte ich den übrigen Besuchern nicht antun. Daher hatte ich mich für einen eng anliegenden schwarzen Leder-Anzug entschieden, eine schwarze Krawatte mit silbernem Kettenaufdruck und einem schwarzen Hemd, mit glänzenden Lederapplikationen am Ärmel und am Kragen. Doch da ich nun wegen der Oktoberkälte einen langen, schwarzen Mantel drüber trug, konnte man von dem besonderen Outfit wenig erkennen.
Ein paar Jugendliche in schrillen Cosplayer-Kostümen schoben sich an uns vorbei zum Ausgang. Eine willkommene Gelegenheit, das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu leiten. Für ein paar Minuten funktionierte es.
„Ist es ein Geheimnis was Sie schreiben?“, wandte sich der Blonde wieder an mich. „Ich merke schon, dass Sie nicht so richtig mit der Sprache rauswollen. Ist das Buch etwa noch nicht auf dem Markt?“
Ich räusperte mich verlegen, um den Kloß loszuwerden, der sich hartnäckig in meiner Kehle bildete und mich daran hindern wollte, in einem angebrachten, normalen Ton zu sprechen.
„Nein, kein Geheimnis“, presste ich mühsam hervor.
Oh Mann! Wie gerne würde ich es ihm sagen.
Zum ersten Mal schalt ich mich, mich für so ein extravagantes Thema zu interessieren. Schwuler BDSM war doch nicht das, was die breite Allgemeinheit schätzte. Ich war mir dessen durchaus bewusst, dass ich mit meinem Büchern niemals in den Bestsellerlisten auftauchen oder Millionär werden würde. Dennoch konnte ich zufrieden sein, denn es reichte mir zum Leben. Dass meine Bücher besser liefen, als ich erwartet hatte, war eine angenehme Seite, aber auch nichts, womit ich Hausieren ging, oder vor so attraktiven Männern, wie den Kerl neben mir, angab. Wenn ich ihm gestand, womit ich mein Geld verdiente, würde ich ihn wohl eher für alle Zeiten vergraulen.
„Warum darf ich es dann nicht wissen?“, bohrte er weiter und riss mich damit wieder aus meinen Gedanken.
Ich presste mich noch enger an die Außenseite und warf einen Seitenblick auf ihn. Er hatte sich inzwischen seitlich gedreht, wandte sich mir mit seinem Antlitz zu. Ich erkannte, dass er aufrichtig interessiert war und höchstwahrscheinlich nicht eher Ruhe geben würde, bis er die Antwort bekam, nach der es ihm war.
„Weil …“, begann ich zögerlich, „es ein Genre ist, das nicht bei jedermann Anklang findet“, schob ich schnell hinterher, in der Hoffnung, dass er sich mit diesem kleinen Bissen zufriedengeben würde.
Er lehnte sich zurück. „Aha“, machte er nachdenklich. „Nicht für jedermann.“
Erleichterung machte sich in mir breit. Er war von mir als Schriftsteller angetan. Offensichtlich fühlte er sich geehrt, einem solchen begegnet zu sein. Ich wollte ihm jedoch nicht seine heile Wolkenwelt zunichte machen, indem ich ihm offenbarte, neben wem genau er saß. Dafür gefielen mir seine strahlenden, blauen Augen zu sehr, die auch trotz der Hitze im Zugwaggon noch frisch und munter wirkten.
Mir war in meinem Leder-Anzug entsetzlich warm geworden. Ich schielte schon zu Boden, um mich zu vergewissern, dass sich dort unten nicht eine Pfütze mit meinem Schweiß gebildet hatte.
Ein weiteres Mal fuhr er sich mit den gespreizten Fingern, durch das blonde Haar und zwang damit einige losgelöste Strähnen wieder an ihren Platz, während er sein Buch an den Bauch presste. Immer wieder während des vorangegangenen Gespräches, wenn die Unterhaltung für ein paar Sekunden zum Stillstand gekommen war, hatte er es aufgeschlagen und ein paar Zeilen gelesen, es jedoch kurz darauf zugeklappt und mit einer weiteren Frage aufgewartet. Auch jetzt schlug er es zum wiederholten Male auf und schien sich in den Text vertiefen zu wollen, fuhr jedoch erneut hoch und klappte es zu.
„Nicht für jedermann“, wiederholte er. „Horror?“, versuchte er zu erraten.
Ein Lächeln entkam mir. „Nicht ganz“, antwortete ich und versuchte ein weiteres Mal einen Blick auf das Cover des Buches zu werfen. Doch immer noch lag seine Hand so auf der Vorderseite, dass ich gerade mal einen grünen Zweig auf weißem Hintergrund erkannte. Definitiv kein BDSM-Buch, dachte ich. Die Cover sahen allesamt komplett anders aus, meist dunkel, düster und mit nackten, devoten oder auch dominanten Männern geschmückt, die man kaum so offen präsentieren konnte, ohne als Erregung öffentlichen Ärgernisses zu gelten.
Wenn es mir gelänge, den Titel oder wenigstens den Autor des Buches zu erkennen, so hätte ich vielleicht das Thema darauf lenken können. Doch ihn direkt darauf anzusprechen, erschien mir nicht richtig. Er wollte Informationen von mir, nicht ich von ihm.
Bei diesen Gedanken verpasste ich mir gedanklich Peitschenhiebe auf meinen blanken Hintern. Meine Protas mussten leiden. Ich unterzog sie schier unerträglichen Schmerzen und brachte sie zu Handlungen, die sie niemals freiwillig tun würden, doch persönlich brachte ich es nicht fertig, meinen Sitznachbarn nach dem Titel des Buches zu fragen, das er gerade las.
„Sie machen mich wirklich neugierig“, gab er hartnäckig von sich. „Skandalpresse in Form von Feuchtzone?“, versuchte er es weiter.
Ich musste ein Kichern unterdrücken. Er nähert sich, dachte ich schmunzelnd. Es gab ja nur wenige Bereiche, die sich am Rand der Belletristik tummelten. Schmuddelliteratur wie Erotik, Homozeugs und eben BDSM, über die niemand sprechen wollte, aber dennoch zu tausenden verkauft wurde.
„So in etwa“, gab ich ausweichend von mir.
Der Blonde musterte mich eingehend.
Versuchte er, Antworten durch mein Outfit zu erhalten?
Wenn ich den Mantel auszog, würde er sie wahrscheinlich bekommen, dachte ich bitter. Aber den Gefallen tat ich ihm nicht, schon allein deswegen nicht, weil uns gegenüber zwei ältere rumänische Damen saßen, die bei den Wörtern Skandal und Feuchtzone ohnehin schon eine etwas dunklere Gesichtsfarbe angenommen hatten.
Zu meinem Leidwesen hielt der Zug an und die beiden Damen stiegen aus. Wir verabschiedeten uns höflich von ihnen.
Nun war ich mit ihm allein in der Vierersitzgruppe.
„Nicht für jedermann. Etwas Skandalträchtiges“, resümierte er, als der Zug wieder anrollte. „Sie spannen mich wirklich auf die Folter.“ Er drehte das Buch in seinen Händen hin und her. Trotzdem gelang es mir nicht, den Titel zu lesen. Ich war auch zu aufgeregt, denn er näherte sich mir hartnäckig und schien auch gewillt zu sein, das Rätsel zu knacken.
Nervös sah ich auf die Zeitanzeige am Ende des Ganges. Noch fünfzehn Minuten bis zur Endstation Mannheim.
Auf die beiden leeren Plätze ließen sich zwei Mädchen in niedlichen Cosplayer-Outfits fallen und begannen sofort sich über ihre Erlebnisse auf der Buchmesse zu unterhalten. Der Blonde belauschte sie eine Weile lächelnd, ehe er einen tiefen Atemzug machte und sich mir abermals zuwandte.
Ich hatte nach seinem Resümee geschwiegen und ihm die Zeit gelassen, weiter nachzudenken, in der Hoffnung, dass er es vielleicht endlich aufgab. Plötzlich musste ich daran denken, dass ich ihm auch einen dicken Knebel verpassen konnte, damit er endlich den Mund hielt. Doch erstens verfügte ich hier im Zug nicht über dieses Utensil, und zweitens hätte dies sicherlich für Aufsehen erregt, wenn ich ihm so ein Gummiding in den Rachen geschoben hätte, so wie es meine Protas mit ihren Opfern machten.
Ich strich nervös über meine Schenkel, die ich unter dem langen Mantel zu verstecken versuchte, und schnaufte ebenfalls tief ein. Es gab nur wenige Momente, in denen ich mich in meiner Haut als BDSM-Autor unwohl fühlte und am liebsten süßen Liebeskitsch schreiben würde. Der Blonde sah wahrlich nicht aus, als würde es ihm Spaß machen, gefesselt zu werden und sich der Willkür und den Vorlieben eines anderen auszuliefern. Er sah nicht einmal schwul aus. Nun ja, wie eben Homosexuelle so aussahen. Wir erkannten es meist an nur einem einzigen geschulten Blick.
Ein gewisses Glitzern in den Augen, ein harmloses Zucken mit den Mundwinkeln, wenn wir uns gegenseitig betrachteten, und wir wussten Bescheid. Da brauchte es keine Regenbogenanstecker oder qietschbunte Accessoires, wie auch keine Leuchtreklame oder homophobe Idioten, die mit dem Finger auf uns zeigten. Wir erkannten uns eben.
Bei ihm war ich überzeugt davon, dass er hetero war, so wie ich schwul. Diese einfache hellbraune Lederjacke, die abgetretenen weißgrauen Sneakers, das enge schwarze T-Shirt mit dem weißen Totenkopfaufdruck, diese ausgeblichene, hellblaue Jeans, die von findigen asiatischen Händen auf alt und zerschlissen getrimmt wirkte, der leicht vernachlässigte Haarschnitt und das Fehlen von Schmuck jeglicher Art. Er trug weder einen Ring, noch ein Armband, nicht einmal eine Uhr, weswegen er immer wieder auf die Anzeige am Ende des Ganges blickte.
Der Blonde richtete seine Jacke ein weiteres Mal und rückte dabei wieder so nahe an mich ran, dass ich meine Beine unwillkürlich verkrampfen musste, als eine heiße Welle durch meinen Unterleib schoss.
„Ich möchte es wirklich wissen“, sagte er und stopfte das Buch in seinen Rucksack, um eine Flasche Wasser hervorzuholen und ein paar Schlucke zu trinken. „Wie wäre es mit einem weiteren Tipp?“
„Einen Tipp?“, wiederholte ich sofort und musste mir sogleich auf die Unterlippe beißen. Leder, Ketten, Peitschen, Knebel, Käfige, zählte ich in Gedanken auf. Alles Dinge, die ich gerne an dir ausprobieren würde – virtuell, schob ich sofort hinterher, als mir dieser Gedanke einen schmerzhaften Stich versetzte. Der Typ war zu schade, um ihn zu quälen, um ihn leiden zu sehen oder vor Qual jammern und betteln zu lassen. Viel lieber würde ich mit meiner Zunge der Linie zwischen Ohr und Schultern folgen, während seine Hände meinen Körper erkundeten. Während wir in leidenschaftlicher Vereinigung versunken waren und der Schweiß auf unserer Haut glänzte.
Mir wurde noch eine Spur wärmer. Ich stehe sicherlich bereits unter Wasser, dachte ich höhnisch und schielte abermals zum Boden. Noch immer keine Pfütze unter meinen Füßen.
Liebend gern hätte ich es ihm verraten, allein schon, um uns beide zu erlösen. Aber in Anbetracht dessen, dass uns gegenüber zwei junge Frauen saßen, die mein Geständnis in arge Bedrängnis hätte bringen können, hielt ich weiterhin den Mund. Dafür begann ich in meinen Manteltaschen herumzukramen und brachte einen Zettel und einen Kuli hervor, mit welchem ich heute zahlreiche Autogramme gegeben hatte.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, versuchte ich, die Angelegenheit abzuschließen. Es war sowieso unnötig, sich noch weiter Gedanken über heiße Nächte mit ihm zu machen. Fantasie und Wunschträume waren eine Sache, Realität eine andere. „Ich schreibe es auf einen Zettel. Dann können Sie zuhause googlen und sich in Ruhe überlegen, ob …“ Ich verstummte abrupt, da ich gerade dabei war, ihn anzubetteln, sich bei mir zu melden. Wenn er mein Pseudonym und die Titel meiner Bücher las, würde es ohnehin aus sein – was auch immer ich mir zusammenfantasiert hatte.
Den Zettel faltete ich zusammen und überreichte ihn meinem Nebenmann. Dabei achtete ich darauf, ihn nicht zu berühren. Mir war sowieso schon warm genug und Hautkontakt hätte wahrscheinlich die letzte Hemmschwelle in mir zerbröseln lassen. Er nahm den Zettel an sich, holte seine Geldbörse heraus und steckte ihn wortlos zwischen einige Kreditkarten. Doch bevor er die Börse wieder in seinen Rucksack steckte, hielt er inne.
„Ist es so schlimm?“, wollte er wissen und sah mich mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Verunsicherung an. Offenbar kam ihm endlich, in welche Nesseln er sich gerade gesetzt hatte.
„Kommt darauf an“, gab ich zurück. Ich war selbst erleichtert. Es fühlte sich wie ein Outing an. Meine zweite Identität stand auf einen kleinen Zettel gekritzelt. Er wusste, wie ich aussah, mit ein wenig Geschick würde er bald meine ganze Lebensgeschichte kennen. Das Internet war in diese Beziehung ergiebig, unberechenbar und grausam.
„Darf ich es mir jetzt schon ansehen?“ Den Blick, den er mir dabei zuwarf, war einfach zum Küssen. Seine Augen strahlten wie ein neugieriges Kind vor dem Weihnachtsbaum. Am liebsten hätte ich mich zu ihm gebeugt und meine Antwort ins Ohr geflüstert, doch ich konnte nur noch nicken.
Rasch holte er den Zettel zum Vorschein und las ihn.
Ich hielt den Atem einige Sekunden lang an, bis er den Zettel wortlos wieder zusammenfaltete und in seine Börse steckte, um sie endgültig in seinem Rucksack verschwinden zu lassen. Ich war mir auch sicher, dass sich eine gewisse Röte in seinem Gesicht abgezeichnet hatte, kurz, nachdem seine Augen für einen Moment vor Entsetzen groß geworden waren. Hastig setzte er die Wasserflasche an seine Lippen und trank gierig den Rest des Inhalts – beinahe die Hälfte der Halbliterflasche. Schließlich lehnte er sich zurück und brütete gedankenverloren vor sich hin. Seine Hände rangen zitternd miteinander. Hatte ich ihn so erschreckt?
„Aha“, machte er plötzlich. „Das ist … sehr interessant.“ Er holte tief Luft. Offenbar hatte er sich wieder gefangen.
Mein Herz hatte die ganze Zeit über wild geklopft. Fast war mir, als wollte es raushüpfen und sich persönlich von den Geschehnissen überzeugen. Schweiß rann über meine Brust und sammelte sich im Stoff des Hemdes. Es fühlte sich unangenehm kalt und klebrig an. Ich zitterte am ganzen Körper und würde am liebsten aufspringen und brüllend durch den Zug stampfen.
„Wie kommen Sie auf so eine Thematik?“, wollte er wissen, drehte seinen Kopf in meine Richtung und blickte mich interessiert an.
„Das ist ein faszinierendes Gebiet“, gab ich ausweichend von mir. Meine Hände krallten sich nervös in den Mantelstoff.
„Wie holen Sie sich die Infos oder die Ideen dafür?“ Er klang interessiert, obwohl seine Stimme leicht zitterte. Vielleicht erhoffte er sich durch das Gespräch mit mir, einen kleinen, flüchtigen Blick in dieses besondere Gebiet werfen zu können, ohne selbst involviert zu werden. Dabei musterte er mich mit einem Blick von oben bis unten, der mich nicht nur bis ins Detail scannte, sonders sogar regelrecht röntgte, als versuchte er hinter meine Fassade zu blicken, um sich eine Antwort zu holen, die ihm besser gefiel, als das was er erfahren hatte.
„Vieles ist reine Fantasie“, erklärte ich und versuchte verzweifelt, in den Autorenmodus zu schalten. „Was noch fehlt, hole ich mir bei Recherchen aus dem Internet oder vor Ort.“
„Aha“, machte er abermals. Ich erkannte jedoch, dass er während meiner Antwort sichtlich das Interesse verlor und irgendwie nervös wurde. Mir erschien es auch, dass er seine Fragen nach der Enthüllung aus reiner Höflichkeit gestellt hatte. So entspannt und froh gelaunt, wie er vorher war, so unruhig war er nun geworden. Er begann, seine Lederjacke zu entknüllen, den Rucksack zurechtzurücken und rutschte auf seinem Sitz ganz nach vorn, als bereitete er sich zum Sprung vor.
Tatsächlich war der Zug gerade dabei, in den Mannheimer Bahnhof einzufahren, als sich der Blonde schließlich erhob und seinen Rucksack schulterte.
„Dann wünsche ich Ihnen noch viel Erfolg mit Ihrem Buch“, sagte er hastig, warf mir noch ein Nicken zu und verschwand zwischen den Leuten, die sich zum Ausstieg bereit machten, noch ehe ich eine Antwort geben konnte.
Mit solch einer Reaktion hatte ich ja gerechnet, versuchte ich mich zu trösten. Auch wenn es schmerzte, aber ich hatte mich bereits innerlich darauf vorbereitet. Dieser junge Mann war nicht der Erste, den ich auf diese Weise in die Flucht getrieben hatte.
Seufzend nahm ich meinen Rollkoffer, stand auf und ließ mich von den anderen Fahrgästen auf den Bahnsteig treiben. Mit dem ersten Schritt aus dem Waggon heraus wurde ich auch sofort von kalter Oktoberluft empfangen. Da ich nassgeschwitzt war und der Schweiß sofort trocknete, wurde mir augenblicklich kalt. Dennoch blieb ich stehen, atmete die frische Luft ein und genoss die Kühlung, die es in mir bewirkte, während die Menge an mir vorbeiströmte. Erst als sich die Massen etwas gelichtet hatten, setzte ich mich in Bewegung und machte mich auf in Richtung Ausgang.
Der Rollkoffer ratterte hinter mir her, während ich mit weit ausholenden Schritten durch den nächtlichen, aber dennoch gut besuchten Bahnhof, schritt.
Schade.
Immer wieder drängte sich dieses Wort in meinen Kopf.
Schade, er war es wert gewesen, die Hüllen fallen zu lassen. Er war es wert, mich zu outen, oder gar den Autor für eine Zeit lang vergessen zu lassen. Wie gerne hätte ich ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen gedrückt, während meine Hände erforschten, was sich unter dem schwarzen Totenkopfshirt verbarg. Nun würde ich nie erfahren, wer er war und ob er wirklich hetero war. Aber warum war ich enttäuscht? Meist lag ich mit meinen Vermutungen doch richtig. Ich hatte fest damit gerechnet, dass er die Flucht ergreifen würde, sobald ich ihm die ersehnte Antwort gab. Warum hatte ich gedacht, dass dieser Mann anders reagieren würde, als die anderen, die ich damit ebenso vergrault hatte?
Ich hatte ihn sogar gewarnt. Mein Zögern hätte ihm genügen müssen, um Bescheid zu wissen. Dass er nicht locker lassen wollte, geschah ihm eigentlich ganz recht. Jetzt war er geschockt für den Rest seines Lebens, und ich um eine Bestätigung reicher, dass meine Leidenschaft ein Segen, wie auch ein Fluch war.
Mit einem Seufzen auf den Lippen, öffnete ich den Mantel, da mir alleine durch den Gedanken an den jungen Mann, heiß geworden war. Daher ließ ich etwas von der kalten Luft an mich heran, um mich abzukühlen. Obwohl der kühle Wind, der über den Bahnsteig wehte, den Schweißfilm trocknete und ein Frösteln nach dem anderen über mich hinwegrollen ließ, war mir entsetzlich heiß. Mir war nach Abkühlung unter einer eiskalten Dusche. Am besten stundenlang, bis ich den Anblick dieses Blonden aus meinem Gedächtnis getilgt hatte.
Ich bezweifelte, dass er wirklich nach mir googelte und mich ausfindig machen wollte. Höchstwahrscheinlich warf er den Zettel weg, noch bevor er den Bahnhof verlassen hatte.
Bei diesem Gedanken ließ ich meinen Blick auf den Boden gleiten, in der Hoffnung oder auch Befürchtung tatsächlich zu finden, was ich suchte. Es lag zwar jede Menge Müll und Papierreste auf dem Boden, doch kein gelber Post-It.
Vor dem Bahnhof wandte ich mich zu den Taxis, als ich hinter mir eine Stimme hörte, die mir bekannt vorkam. Ich blieb stehen und drehte mich langsam um.
Da stand er.
Der Blonde.
Der gelbe Zettel lag entfaltet in seiner Hand, als hätte er ihn gerade erst wieder gelesen.
„Hallo“, gab er zögerlich von sich. „Ich … ähm …“ Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Seine Augen musterten mich und scannten den Anblick, den ich ihm vorhin mit dem geschlossenen Mantel verwehrt hatte. Die enge Lederhose, die taillierte Lederjacke mit den vielen Schnallen auf der Brust und das schwarze Hemd mit den Lederansätzen am Kragen, fielen ihm sofort ins Augenmerk. Sein Kehlkopf hob und senkte sich hastig, während sich seine Augen offenbar nicht an mir sattsehen konnten.
„Wie Sie geschrieben haben“, schien er sich endlich gefangen zu haben und deutete flüchtig mit einem Blick auf das Stückchen Papier in seiner Hand. „Ist das wirklich nichts für mich. Ich mag es eher normal. Aber …“ Der junge Mann kaute kurz auf seiner Unterlippe herum, während sein beinahe gieriger Blick über mein Outfit raste. „Sie sagten, vieles wäre Fantasie und was noch fehlte, würden Sie sich bei Recherchen holen. Ist es vielleicht …?“ Er schien nicht den Mut zu haben, weiterzusprechen. Es arbeitete jedoch in ihm. Etwas in ihm drängte ihn, schob ihn vorwärts und ließ nicht locker, so wie er selbst, als er die Antwort aus mir herausgelockt hatte. „Kann es sein …?“, unternahm er einen zweiten Versuch.
„Es kann sein“, gab ich nickend von mir. „Es ist nur Fantasie. So hart wie meine Geschichten, bin ich nicht.“
Ein Ausdruck der Erleichterung huschte über sein Gesicht und er wagte sich ein paar Schritte näher heran. Seine Finger krallten sich in den Träger seines Rucksacks.
„Es ist schon ein sehr interessantes Gebiet“, setzte er neu an, nachdem er einen tiefen Atemzug gemacht hatte. „Es reizt schon, aber …“ Er schluckte und drehte seinen Kopf für einen Moment weg, als wäre seine Aufmerksamkeit kurz abgelenkt worden. Er kam jedoch rasch wieder zurück und blickte mich stumm an.
„Wir können es ja langsam angehen lassen“, bemerkte ich. In mir machte sich eine wohlige Hitze breit. In meinem Unterleib tanzten tausend Schmetterlinge zu einer fröhlichen Melodie einen ausgelassenen Reigen. Meine Knie wurden weich. „Und vielleicht kann ich mich dazu durchringen, die Peitsche wegzulassen.“
Ein verunsichertes Lächeln huschte um seine Mundwinkel. Er wagte sich noch ein paar Schritte näher. „Das ist schon ein verdammt geiles Outfit“, gab er anerkennend von sich, während seine Augen ein drittes Mal hungrig über mich fuhren. „Trägt man das als Autor?“
„Jedenfalls in dem Genre“, erklärte ich wissend. „Aber das hier ist wirklich harmlos.“
Der Blonde nickte nervös. „Ich würde es gerne näher in Augenschein nehmen“, gestand er.
Diesmal kam ich einige Schritte auf ihn zu, stellte den Rollkoffer ab und wartete ungeduldig ab, bis sich die aufgebrachte Schmetterlingshorde soweit beruhigt hatte, dass ich meine Konzentration wieder auf den Mann lenken konnte.
„Nur zu!“ Ich öffnete den Mantel ein klein wenig mehr, sodass nun die ganze Frontseite zu erkennen war, die zahlreichen Knöpfe und Schnallen, und freute mich bereits darauf, wie er langsam jeden einzelnen davon öffnete; wie seine Hand genussvoll über das eng an meinem Leib angeschmiegte Leder streichelte, dort wo sich meine aufkeimende Erregung nach außen hin bemerkbar machte.
Er schloss die verbliebene Distanz zwischen uns mit einem letzten Schritt. Zaghaft hob er seine Hand und legte die Handfläche auf das kalte Leder auf meiner Brust, während er seinen Blick hob und wir uns nun tief in die Augen sahen. Das Licht der Leuchtreklame vom Bahnhof glitzerte in seinen Augen, die mich nun gierig musterten. Es dauerte für meinen Geschmack zu lange, ehe sich endlich unsere Lippen zu dem lang ersehnten Kuss fanden. Ein zaghafter erster Kuss, scheu und so neu wie jeder Beginn einer Beziehung, der jedoch alles aussprach, was wir in diesem Moment fühlten.
Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: © Jan Wattjes/pixelio.de © Anna Kaplauhova / www.dreamstime.com © Doctorkan / www.dreamstime.com © Nicholas Piccillo / www.shutterstock.com. Ein herzlichen Dankeschön an Gerry für die Erstellung dieses Covers.
Lektorat: Ingrid Kunantz, Randy D. Avies
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2012
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