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Der Kürbismann




„Ja, prima. Ich freu mich. Bis später!“
Lachend legte ich den Hörer auf und drehte mich nach meinem Rucksack um. Auf das seit Wochen geplante Pfadfinder-Halloween-Wochenende freute ich mich schon lange. Auch für meine Kids, eine Gruppe von zwölf quirligen zehn- bis zwölfjährigen, gab es kein anderes Thema mehr. Ich musste abermals lachen, als ich an die übereifrigen roten Gesichter meiner Jungs dachte, während wir die Aktivitäten für das Wochenende durchgesprochen hatten. Es würden, für mich als Gruppenleiter, zwar anstrengende drei Tage werden, doch die Begeisterung meiner Schützlinge machte den Stress, die Arbeit und die Aufregung allemal wieder wett.
Ein altes Wanderlied pfeifend stieg ich in meine Trekking-Stiefel und schnürte sie sorgsam zu. Dann schulterte ich meinen vollgepackten, schweren Rucksack, Schlafsack und Isomatte, schloss die Türe hinter mir ab und hüpfte frohgelaunt die Treppen hinunter, um vor der Türe auf Roman zu warten, mit dem ich gerade eben noch telefoniert hatte und der mich in seinem Wagen in den Wald mitnahm.
Roman betreute die andere Gruppe unseres Stammes, die Wölflinge

, die mit den kleineren Jungs, die im Alter von sechs bis neun Jahren waren. Er war ein wirklich süßer Kerl. Stets mit einem Lachen im Gesicht, ständig einen Witz auf Lager. Aus seinen strahlenden blaugrauen Augen blitzte der Schalk nur so heraus. Wir hatten immer enorm viel Spaß miteinander, und weil wir uns so gut verstanden, waren auch unsere beiden Gruppen eng miteinander befreundet. Wir unternahmen viel gemeinsam. Wenn einer von uns beiden zu einem Gruppenabend verhindert war, sprang der andere wie selbstverständlich für ihn ein.
Roman hatte nur einen schwerwiegenden Fehler: Er war durch und durch hetero.
Unwillkürlich musste ich an unser erstes Zusammentreffen denken, als ich, frisch, nachdem ich mit meinen Eltern aufs Land gezogen war, und mich sogleich nach meinem liebsten Hobby den Pfadfindern umsah, eine eigene Gruppe anleiten sollte. Wir waren beide siebzehn. Roman hatte mich damals scharf angesehen und dann breit gegrinst.
„Eines gleich vorweg“, stellte er klar, bevor er oder ich ein „Hallo“ hervorbringen konnten. „Ich stehe auf Mädels.“ So als stünde mir das doppelte Marssymbol mit Leuchtbuchstaben auf der Stirn eintätowiert. Ich war derart perplex, dass ich zunächst gar nichts sagen konnte. Erst als er lauthals zu lachen begann und mir hart auf die Schulter klopfte, kam ich wieder zu mir. Seit dem waren wir dicke Freunde.
Was aber nicht hieß, dass ich ihn nicht hin und wieder mit sehnsüchtigen Blicken betrachtete.
Ich wollte gerade den Rucksack zu meinen Füßen auf den Boden abstellen, als ich auch schon Romans alten, klapprigen VW-Bus um die Ecke kommen sah. Lächelnd winkte ich ihm zu und wartete darauf, dass er vor mir am Randstein anhielt. Ich musste noch eine Spur mehr lächeln, als mir das Klappern des altersschwachen Busses noch klappriger vorkam, als beim letzten Mal. Roman liebte dieses Museumsstück der Autokultur und schraubte den lieben langen Tag daran herum, wenn er nicht gerade kleine Jungs durch den Wald scheuchte oder sein Musikstudium vorantrieb.
Vorsichtig öffnete ich die Türe, da ich immer befürchtete, dass eine ruckartige Bewegung die Tür aus den Angeln reißen könnte, schob meinen Rucksack in den Fußraum und kletterte auf den zerschlissenen Beifahrersitz.
„Hi, Schnuckelchen“, begrüßte er mich fröhlich und ich warf ihm einen lasziven Kussmund zu. Die Verhältnisse zwischen uns standen seit Langem klar. Dennoch ließen wir es uns nicht nehmen, uns mit unseren jeweiligen sexuellen Vorlieben aufzuziehen.
Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen trat Roman wieder aufs Gas und fuhr los. Ich wagte einen Seitenblick und schluckte den Drang hinunter, ihn einfach an mich zu ziehen. Er sah wieder einmal umwerfend aus, in seiner hellblauen Pfadfinderuniform und den dunkelbraunen Zotteln, die ihm immer nachlässig und ungekämmt ins Gesicht fielen, auch wenn er sich kurz zuvor sittsam gestriegelt hatte. Er roch auch wieder nach diesen in schwimmendem Öl ausgebackenen Hefeteigstücken, die seine Mutter gerne bei solchen Gelegenheiten spendierte. Bei ihm roch es keineswegs nach ranzigem, magenumdrehenden Fett, sondern nach duftigem, frisch aus dem Backofen kommendem Hefekuchen. Ich hob meine Nase und schnüffelte.
„Hat deine Mutter wieder für die ganze Pfadfinderschaft gebacken?“, erkundigte ich mich, als mir allein schon bei diesem Gedanken das Wasser im Mund zusammenlief. Sie ließ es sich nicht nehmen, uns bei jedem unserer Ausflüge mehr als ausreichend mit ihren Köstlichkeiten zu versorgen.
Roman verzog das Gesicht. „Du kennst sie doch.“ Er deutete mit einem Nicken über seine Schultern hinter sich auf die Ladefläche des Busses.
Ich drehte mich um und entdeckte dort mehrere Schachteln, aus denen es noch verführerisch dampfte. Der Grund, warum es im Wageninneren so penetrant nach diesen Hefeteilen duftete.
„Ach, übrigens“, fiel Roman ein und sah für einen kurzen Moment von der Straße weg zu mir, um sich meiner Aufmerksamkeit zu vergewissern „Es kommen noch ein paar Gruppen aus einem anderen Stamm. Hinrichs hat mich heute Morgen angerufen. Wir müssen unsere Zelte ein wenig zusammenrücken.“
„Kein Problem“, gab ich gelassen zurück. Bei welchem Ausflug gab es keine unvorhersehbaren Dinge? Ich war inzwischen Meister im Improvisieren.
Zufrieden streckte ich meine langen Beine in den knarrenden Fußraum und genoss die Fahrt, trotz Hungerattacken heraufbeschwörendem Hefeduft und einem atemberaubenden Kerl an meiner Seite, der so gar nichts von mir wollte.
„In letzter Zeit mal wieder Glück gehabt?“, erkundigte sich Roman, als er auf die Schnellstraße eingefädelt war und den Motor aufjaulen ließ; und störte damit meine Chill-Phase empfindlich.
Ich knurrte verhalten. Ich wusste genau, was er damit sagen wollte. Glück im Bett, Glück in der Liebe. „Sehe ich so aus?“
Im Grunde war ich ihm gar nicht böse. Weder, dass er meine Entspannung gestört hatte, noch dass er sich für so intime Details meines Lebens interessierte. Wir waren gute Freunde und erzählten uns beinahe alles. Beinahe

, fügte ich in Gedanken nachdrücklich betont hinzu. Dass ich ganze Nächte lang wachlag und nur an Roman dachte, dies behielt ich natürlich für mich.
„Gibt es da für euch nicht so spezielle Clubs?“, fragte er weiter.
Ich knurrte eine Spur missmutiger. Die Frage hörte sich an, als stellte er Schwule auf die gleiche Schwelle wie Schwerziehbare, Suchtkranke oder Behinderte. Nicht dass ich einen von denen anders oder minder bewerten würde, aber so wie sich das eben anhörte, klang es für mich, als bedürfte ich einer speziellen Heilbehandlung. In meinem Kopf formierten sich tausend bissige Antworten, die ich jedoch allesamt wieder verwarf. Sich darüber aufzuregen, wäre vergebliche Liebesmüh, denn Roman würde meine Homosexualität stets als Missbildung meiner körperlichen Bedürfnisse ansehen. Ich ging stattdessen in Gegenangriff über.
„Da redet genau der Richtige“, protestierte ich. „Wann hattest du das letzte Mal richtig guten, geilen Sex?“
Das war genau ins Schwarze getroffen, denn Romans Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich und er biss sich auf die Unterlippe. Doch rasch kam seine Heiterkeit wieder zum Vorschein.
„Vielleicht sollte ich auch so spezielle Clubs für Workaholics besuchen“, gab er flapsig von sich und streckte die Hand nach dem alten Autoradio aus, um irgendeinen Sender einzustellen. Das Ding war noch Original, wie mir Roman bereits mehrmals versichert hatte, dementsprechend musste er eine Weile an den kleinen Knöpfen drehen, ehe er einen brauchbaren Sender herein bekam.
Das Thema Sex und Liebe war für uns gegessen und wir diskutierten die restliche Stunde Fahrt über Aktivitäten, die wir die nächsten drei beziehungsweise zweieinhalb Tage machen würden. Es war bereits Freitag Nachmittag, und bis wir ankamen, alle Kinder in Arbeitsgruppen aufgeteilt und die Zelte errichtet hatten, konnten wir nicht mehr viel Unternehmungen machen.
Nach fast einer Stunde Fahrtzeit kamen wir endlich in dem Waldstück an, das dem Pfadfinderstamm gehörte und wo regelmäßige Hajks abgehalten wurden. Die Stämme, die bereits vor uns angekommen waren, hatten längst begonnen, ihre Zelte zu errichten. Unsere beiden Gruppen sollten per Bus in knapp einer halben Stunde eintreffen, sodass mir noch Zeit blieb, einen passenden Zeltplatz für meine Jungs zu suchen. Natürlich parkten wir unsere beiden Gruppen nebeneinander und markierten den Platz mit unseren Gruppenfahnen. Mir blieb kaum Zeit, mich im Lager umzusehen und mich mit den Leitern der anderen Gruppen bekannt zu machen. Dafür war laut Zeitplan am späteren Abend noch eine Gelegenheit eingeplant, auf die ich notgedrungen warten musste.
Doch bereits jetzt fiel mir einer der anderen Leiter auf.
Er befehligte ebenfalls eine Schar Jungpfadfinder, die offenbar alle schon vollzählig angekommen waren, und kämpfte sich mit ihnen durch die Zeltstangen und Planen, nicht einmal zwanzig Meter von unserem Zelt entfernt. Die schulterlangen, schwarzen Haare hingen ihm offen ins Gesicht und er war unermüdlich dabei, sie sich aus dem Blickfeld zu streichen, während er über einem Wirrwarr von Stangen, Schlafsäcken, Taschen, Rucksäcken und Isomatten gebeugt stand.
Ein Haargummi täte Wunder

, dachte ich mir im Stillen, als ich ihn in einer der seltenen Pausen, die mir geblieben war, zufällig dabei beobachtete, wie er sich mehrmals die Haare zurück strich. Im selben Moment, so als hätte er meine Gedanken gehört, streifte er einen dünnen, schwarzen Gummi von seinem Handgelenk und band sich die Mähne zurück, sodass ich endlich sein Gesicht sehen konnte.
Er konnte auch nicht älter als zwanzig sein, stellte ich irgendwie erfreut fest. Ein schmales Gesicht mit leicht vorgestelltem Kinn, auf welchem er einen dünnen Streifen Bart übrig ließ. Schlank, hochgewachsen, mit langen Beinen, die in dunkelblauen Pfadfinderhosen steckten. An seinem rechten Handgelenk war irgendetwas Breites, Dunkles, vermutlich ein Lederarmband. Als er sich einmal aufrichtete und tief durchschnaufend genau in meine Richtung sah, blickte ich in große strahlend grüne Augen.
Mein Herz setzte für einen Moment aus. Exakt so lange, wie sein Blick auf mir geheftet war. Erst als seine Aufmerksamkeit von einem seiner Jungs abgelenkt wurde, begann es wieder zu schlagen. Ich keuchte, erschrocken über das, was mir eben passiert war.
Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, kam der Kleinbus mit unseren Jungs an und ich hatte alle Mühe, die aufgedrehte Meute zu bändigen. Für den Rest des Nachmittags hatte ich ihn vollkommen vergessen. Erst als Hinrichs, der Lagerleiter, mit ihm im Schlepptau ankam und uns kurz vorstellte, wurde ich wieder an ihn erinnert. Doch auch da konnte ich keine weiteren Gedanken an ihn verschwenden. Ich hatte zwölf überdrehte Jungpfadfinder an der Backe, die sich um die besten Schlafplätze im Zelt stritten, und war gerade dabei gewesen, die Habseligkeiten einer meiner Jungs auszubreiten, da seine mitgebrachte Limoflasche zu Bruch gegangen war und seine sämtlichen Klamotten nun mit klebrigem Zuckersaft getränkt waren.
Und erst viel später, als meine Schar brav und sittsam, als könnten sie kein Wässerchen trüben am Lagerfeuer saß, besaß ich endlich Zeit, weiter über ihn nachzudenken.
Er, der Gruppenleiter mit den bemerkenswerten grünen Augen, saß mir schräg gegenüber, die dunklen, schulterlangen Haare wieder offen, die Gitarre auf seinem Schoß und begleitete den Gesang von fast hundert Jungen mit geübten Fingern. Ich war fasziniert, mit welcher Leichtigkeit die schlanken Finger über die Saiten tanzten. Ich selbst spielte zwar ebenfalls seit meiner Jugend Gitarre, hatte jedoch meine liebe Müh und Not, die Akkorde so schnell aus den Fingerspitzen zu zaubern, wie es der Takt mancher Lieder verlangte. Doch er schien ein wahres Naturtalent zu sein.
Gekonnt schob er Zwischenakkorde und Noten in die Melodie und bereicherte sein Spiel zu einem wahren Credo an Musikkunst. Dabei lächelte er vollkommen unbekümmert und blickte gänzlich in der Musik und in dem schönen Abend versunken durch die Runde. Als sein Blick unversehens auch über mich wanderte, wurde ich schlagartig nervös und meine Hand glitt wie von selbst zu meinem Kopf, wo ich mir zitternd über die Kopfhaut harkte.
Warum ich dies gerade in diesem Moment getan hatte, vermochte ich selbst nicht zu sagen. Vermutlich, weil mir im selben Augenblick eingefallen war, oder besser gesagt, weil im selben Augenblick die Erkenntnis durch mich hindurch zuckte, dass ich mir seinen Namen nicht gemerkt hatte und ich eigentlich noch vor dem Halloween-Hajk zum Friseur gehen wollte, um meine viel zu lange Mähne in eine ansehnliche Frisur zu verwandeln. Hinrichs hatte den Namen zwar mehrmals genannt, wie ich mich nun erinnerte, er war jedoch aufgrund der derzeitigen hektischen Situation nicht haften geblieben.
Verzweifelt versuchte ich mich an die paar Sätze zu erinnern, die wir gewechselt hatten, während ich die klebrigen Klamotten auf dem Boden ausgebreitet hatte.
„Felix!“, rempelte mich Roman plötzlich von hinten an und schob seinen Hintern zwischen mich und einem meiner Jungs auf den Holzbalken, auf welchem wir saßen, worauf der Junge erschrocken zur Seite wich und wiederum seinen Nachbarn zur Seite drückte. Manchmal kannte Roman nichts

, schmunzelte ich im Stillen und nickte dem Jungen entschuldigend zu, der dem anderen Gruppenleiter einen missmutigen Blick zuwarf.
„Findest du es nicht auch ungerecht?“, plauderte Roman weiter und reichte mir eine Flasche mit Orangensaft. Es war selbstredend, dass auch wir Gruppenleiter auf Alkohol und dergleichen verzichteten. „Ich breche mir seit Jahren die Finger ab, um ein annähernd passables Gitarrenspiel hinzubekommen und Julien, der erst vor einem Jahr von der darstellenden Kunst in die Musik gewechselt hat, spielt wie Jimmi Hendriks persönlich.“ Er schnaufte wütend und nahm mir die Flasche wieder ab, um einen weiteren Schluck zu nehmen. Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, selbst einen Schluck zu trinken. Ich war auch gar nicht durstig, eher hungrig nach Informationen, wie die, die ich eben unaufgefordert und gar nicht so unwillkommen erhalten hatte.
Julien, dachte ich glücklich und drückte kurz meinen Arm an Roman, als Dank dafür, dass er meinem überforderten Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte. Mir war jedoch trotz allen Glücks noch etwas Weiteres in dem eben gehörten aufgefallen.
„Du kennst ihn? Woher?“
Roman sah mich breit grinsend an. „Eifersüchtig?“
„Idiot“, schimpfte ich. „Ich meine nur, ich hab ihn noch bei keinem Hajk gesehen. Von welchem Stamm ist er?“
„Von Dillingen. Ich dachte, Hinrichs hätte ihn dir vorgestellt?“
„Hat er“, nickte ich. „War aber zu beschäftigt? Woher kennst du ihn?“
„Von der Uni“, berichtete Roman bereitwillig. „Er sprach mich an, als ich mit meiner Pfadfinderuniform zur Vorlesung kam. Er suchte Partnerkontakte für seinen Stamm. Ich machte ihn mit Hinrichs bekannt und, na ja, jetzt ist er mit seinem ganzen Stamm hier.“ Er stieß mich mit der Schulter an. „Interesse an ihm?“
„Spinner!“, schalt ich ihn böse. „Wer sind die anderen?“, erkundigte ich mich, um ihn von seinen Gedanken abzubringen.
„Julien Diepold, falls es dich interessiert“, gab Roman unbeirrt von sich und grinste mich frech an. „Soll ich euch miteinander bekannt machen?“
„Hör auf damit, sonst lege ich dich hier vor allen übers Knie“, knurrte ich verhalten und rempelte meine Schulter heftiger gegen ihn, sodass er unwillkürlich zur Seite kippte und den Jungen abermals bedrängte. „Wer sind die anderen beiden Leiter?“, blieb ich ebenso beharrlich.
„Weiß nicht“, zuckte Roman mit den Schultern. „Hatte noch keine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Später gibt es doch diese Gruppenleiterstunde. Da können wir uns dann näher erkundigen.“ Er zwinkerte mir vielsagend zu.
Seine Verkuppelungsversuche nervten. Ich konnte mich jedoch nicht so richtig aufregen, da meine Gedanken bereits bei dieser Zusammenkunft aller Leiter waren, bei welchem wir die Vorgehensweise für die morgige Halloween-Nacht besprechen würden. Dort würde ich ihn ungehindert aller Ablenkungen endlich richtig kennenlernen können, dachte ich hoffnungsvoll. Gleichzeitig versuchte ich auch, mir nicht allzu viel Hoffnungen zu machen. Es bestand nur eine verschwindend geringe Chance auf Erfolg.
Leider gab es keine bewährte Methode, auf die Schnelle und verbindlich herauszufinden, ob er hetero, schwul, bi, interessiert oder gar vergeben war. Bei all der Hektik und all dem Trubel würde die Gruppenleiterstunde die nächstmögliche Gelegenheit sein, dies in Erfahrung zu bringen.
Hoffnungsvoll ließ ich meinen Blick wieder über die Runde schweifen und blieb mehr absichtlich als zufällig bei ihm hängen. Ein Blitz zuckte durch mich hindurch, als sich unsere Blicke unverhofft trafen und mich diese durchdringenden, grünen Augen neugierig fixierten.
In dem vom flackernden Lagerfeuer rötlich beleuchtetem Gesicht stand deutlich Neugierde geschrieben, oder bildete ich mir das nur ein?
Weil ich mich eben über ihn erkundigt hatte oder weil ich vielleicht allzu interessierte Blicke in seine Richtung geworfen hatte?
Etwas beschämt ließ ich den Kopf sinken und starrte mit klopfendem Herzen auf meine Trekking-Stiefel.
Roman hielt mir wieder den O-Saft hin. Dankbar für die Ablenkung, nahm ich ihn und setzte sie an meine Lippen. Dabei schweifte mein Blick mehr oder weniger unabsichtlich hinüber zu ihm. Noch immer beobachtete er mich neugierig. Ich verschluckte mich beinahe an dem Saft und musste husten. Einige Tropfen rannen über mein Kinn. Ich wischte sie hastig mit dem Handrücken weg und schielte dabei verstohlen zu ihm. Kam es mir so vor, als sei um seine Lippen ein wissendes Lächeln erschienen?
Nur für einen Augenblick hatten sie sich geöffnet und die Zungenspitze war zum Vorschein gekommen. Ich konnte mich auch täuschen

, redete ich mir selbst ein. Das flackernde Licht des Lagerfeuers zauberte magische Gesten in die Gesichter der Personen, die an ihm saßen: dunkel, mysteriös, unheimlich, rot unterlaufen oder auch bleich und leblos. Passend zu einer Halloween-Nacht

, dachte ich im Stillen und riss mich von seinem Anblick los.
Ich sollte mich mehr auf meine Gruppe konzentrieren, schalt ich mich. Immerhin war ich hier nicht zu meinem persönlichen Vergnügen hier und schon gar nicht, um auf die Jagd zu gehen. Fast krampfhaft versuchte ich, ihn zu ignorieren und fesselte mein Augenmerk auf die anderen Leiter und Kinder, die lautstark und manchmal falsch die Lieder mitgröhlten.
Es herrschte eine gute Stimmung am Lagerfeuer und die Kinder wollten noch lange nicht in die Schlafsäcke verschwinden. Erst kurz vor Mitternacht war endlich Ruhe und wir Leiter konnten uns zu einer Besprechung treffen.
Mit einem gewissen Kribbeln im Bauch warf ich noch einen letzten Blick in das Zelt meiner Jungs, bevor ich mich in Richtung Hauptzelt begab. Auf dem Weg dorthin wurden meine Beine immer schwerer. Obwohl ich innerlich auf das Zusammentreffen mit Julien Diepold brannte, besaß ich nun eine gewisse Angst davor. Ich konnte es mir auch nicht erklären. Eigentlich hielt ich mich für einen erwachsenen, vor wenigen Wochen zwanzig Jahre alt gewordenen Mann, der schon einige Beziehungen durchgemacht hatte, inklusive Eroberung und Trennung und daher wissen sollte, was auf mich zukam. Okay, wenn man jemanden Neues, Interessantes kennenlernt, sind Schmetterlinge im Bauch und Herzklopfen normal. Aber so von der Rolle war ich noch nie.
Ich trat in das Zelt ein und ließ meinen Blick über die bereits eingetroffenen anderen Leiter gleiten. Schnell erkannte ich, dass sie sich zu Grüppchen zusammengefunden hatten und dass sich Roman nicht in derselben wie Julien befand. Entsprechend enttäuscht ließ ich mich von Roman zu seiner Gruppe winken, jedoch nicht ohne die andere mit einem beinahe sehnsüchtigen Blick zu bedenken. Der Kerl mit den tollen grünen Augen bemerkte mich ohnehin nicht. Er war in ein intensives Gespräch mit den zwei für mich unbekannten Gruppenleitern vertieft, sodass ich mich endlich von seinem Anblick losreißen und mich zu Roman gesellen konnte.
„Wenn er das jetzt gesehen hätte …“, raunte mir Roman sogleich zu, als ich mich neben ihn auf die Bierbank fallen ließ.
„Was?“, tat ich verwundert und verbarg mein rotes Gesicht hinter meiner langen Mähne, über die ich urplötzlich sehr dankbar geworden war.
Roman knuffte mir nur mit dem Ellbogen in die Seite und deutete auf eine Liste, die vor uns ausgebreitet lag. Es waren Straßenkarten des naheliegenden Dorfes. Wie jedes Jahr hatten wir die ganze Örtlichkeit in einzelne Bezirke unterteilt, wo wir unsere Jungs loslassen wollten. Es wäre für die Bevölkerung extrem nervig gewesen, wenn alle zwanzig Gruppen einzeln und nacheinander an ihrer Türe geklopft und um Süßes oder Saures gebeten hätten. Drei bis vier Gruppen pro Bezirk reichten, um die Dorfbewohner einigermaßen milde zu stimmen und die Kinder kamen dennoch mit reichlich Ausbeute zurück.
„Wir gehen mit Lothars und Karls Gruppe in den Osten der Stadt“, erklärte Roman wieder voll und ganz der Vollblutpfadfinder. „Damit wir uns nicht in die Quere kommen, fangen wir zeitversetzt und aus verschiedenen Richtungen an. Die Kleinen beginnen, damit sie auch früher wieder zurück sind. Hast du das verstanden, Felix Wagner?“
Mein Kopf fuhr herum. Ich hatte selbst nicht bemerkt, dass er sich zur Seite gedreht und nach Julien geschielt hatte.
„Ja, klar!“, beeilte ich mich zu sagen. „Dann legen Lothar und du mal als erstes los. Noch was?“ Ich zog ihm eine Grimasse.
„Okay“, nickte Roman mit einem wissenden Glitzern in den Augen. „Nachdem wir mit dem Basteln der Masken und Kostüme fertig sind, mach ich mich mit Lothar auf die Socken. Karl und du folgen später. Als was gehst du eigentlich?“, wollte Roman von mir wissen.
„Wie jedes Jahr“, antwortete ich mechanisch. „Als Kürbismann.“
„Wird dir das nicht bald zu langweilig?“
Ich wippte mit dem Kopf hin und her. „Na sicher. Ich verkleide mich als halb verwester Zombie und mach mich dann über die Kleinen her. Die finden das besonders lustig.“
Roman lachte nur und widmete sich wieder dem Plan, um uns in die jeweiligen Routen einzuweisen. In der restlichen Zeit der Zusammenkunft besprachen wir noch den Ablauf unserer Bastelaktion und wer wann auf welche Gruppe aufpassen und wer wann welche Aktion ausführen sollte. Als Roman mit einem herzhaften Gähnen die Besprechung abschloss und ich hochsah, war Julien mitsamt seiner Gruppe verschwunden. Enttäuscht beugte ich mich wieder nieder.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. „Morgen ist auch noch ein Tag“, versuchte mich Roman zu trösten.
Natürlich

, dachte ich sarkastisch. Morgen, wo der Tag so tierisch voll verplant war, dass man nicht mal mehr Zeit fürs Pinkeln besaß.
Ich seufzte tief, kletterte aus den harten Bierbänken heraus und streckte meine müden Glieder. Dann kroch ich eben ohne einen weiteren tollen Blick aus diesen grünen Augen in meinen Schlafsack und versuchte zumindest von ihm zu träumen – etwas, was auch tatsächlich passierte.

Der nächste Tag war wirklich vom Aufstehen, Wecken, Frühstücken bis hin zum Basteln der Halloween-Masken, dem Aushöhlen und Schnitzen der Kürbisse komplett verplant – aber so, dass unsere Gruppen kaum aufeinandertrafen. Am späten Nachmittag zogen wir uns um, hüllten uns in unsere teilweise selbst gebastelten Kostüme und binnen kurzer Zeit war das Zeltlager überschwemmt mit Spidermans, Dutzenden von Vampiren, Zauberern, kleinen Zombiekopien, Möchtegern-Ninjas, sogar einigen Supermans, unzähligen Cowboys und Indianern, die sich schon mal einen Stammeskrieg lieferten und auch in weiße, zerrissene Bettlaken gehüllte Gespenster, die buhrufend durch die Zeltreihen huschten. Ich trug wie jedes Jahr mein Vogelscheuchenkostüm mit dem aufgemalten Kürbisgesicht, stopfte mir Unmengen von Stroh in Ärmel und Hosenbeinen und unter den alten zerschlissenen Hut und schlürfte mit schleppendem Schritt von Zelt zu Zelt, um die Jungs aufzuscheuchen.
„Guten Abend, Mister Kürbismann“, sagte unversehens eine tiefe, dunkle Stimme hinter mir und ich wirbelte herum. Erschrocken von dem wirklich gruseligen Anblick eines Severus Snape mit stechenden grünen Augen und fahlem, bleichen Gesicht, mit langen, fettigen Haaren, die ihm strähnig und ungekämmt ins Gesicht fielen und einem langen, wallenden, schwarzen Umhang, wich ich einen Schritt zurück, doch dann erkannte ich ihn.
„Julien?“
Das finstere Gesicht des Professors für dunkle Künste wandelte sich rasch und brachte ein breites Grinsen zum Vorschein, das so überhaupt nicht zu ihm passte, ebenso wie dieser schmale Streifen Bart, den ich an dem richtigen Severus Snape

noch nie gesehen hatte und den er offensichtlich mit Schminke nahezu unsichtbar gemacht hatte, um sich an seine Rolle anzupassen.
„Ein echt geniales Kostüm“, gab ich anerkennend von mir. Für einen Moment hatte ich doch tatsächlich geglaubt, den unheimlichen Hogwarts-Lehrer leibhaftig vor mir stehen zu haben.
Severus/Julien nickte grinsend. „Kann ich dich einen Moment entführen?“
Ich wandte mich kurz nach meiner Gruppe um. Sie waren alle noch damit beschäftigt, sich in ihren Kostümen zu präsentieren und Schau zu laufen, oder von den Hefekuchen zu naschen, die Roman unvorsichtigerweise bereits auf einen der Tische gestellt hatte. Für einen Moment, wie Julien gesagt hatte, würde ich sie sicherlich allein lassen können – auch auf die Gefahr hin, dass ich von diesen köstlichen Küchlein nichts mehr abbekam.
„Okay“, antwortete ich und folgte ihm, als er sogleich auf dem Absatz kehrt machte und in seinem wallenden, schwarzen Zaubererumhang vorneweg rauschte, hin und wieder kleine Jungs anfauchte und kleine grünschwarze Gummiteufelchen verteilte, die er unter seinem Umhang hervorzauberte.
Julien marschierte zielstrebig auf das einzige befestigte Gebäude zu, eine kleine Holzhütte, in der sich das Stromaggregat, das Lazarett und unsere Essensvorräte für das Hajk-Wochenende befanden. Er huschte mitsamt seines Umhangs durch die Türe, winkte mich schnell herein und warf die Türe hinter mir zu. Etwas verwirrt sah ich mich um und suchte dann seinen Blick, in der Hoffnung, Antworten auf sein seltsames Verhalten zu finden.
Noch ehe ich meinen Mund öffnen konnte, um meine rasch formulierte Frage zu stellen, drückte er mich auch schon gegen die Holzwand und legte einen Finger auf meine Lippen.
„Ich weiß nicht, ob und wann wir dazukommen werden“, sagte er leise und drückte mich mit seinem Körper noch fester an die Wand. Er befand sich nun so nahe vor mir, dass ich sein Rasierwasser riechen konnte und noch etwas Süßliches. Vermutlich hatte er einige der Gummiteufelchen selbst gegessen. „Bevor wir losziehen und die Stadt unsicher machen, wollte ich noch etwas tun.“
„Was?“, keuchte ich verwirrt und neugierig. Meine Zunge fühlte sich schwerfällig und trocken an. Ich versuchte zu schlucken, doch es ging nicht. Ich war auch zu keiner Bewegung fähig. Seine unmittelbare Nähe lähmte mich förmlich.
Professor Snapes Antlitz kam meinem Kürbisgesicht gefährlich nahe, so nahe, dass ich gewillt war zurückzuweichen, wenn diese Nähe nicht plötzlich ein merkwürdiges Verlangen in mir verursacht hätte. Es wäre auch nicht möglich gewesen, denn ich lehnte bereits an der Wand.
Noch ehe meine Gedanken irgendwie einen Sinn ergeben wollten, trafen sich unsere Lippen auch schon zu einem ersten, zaghaften Kuss. Ich stieß die angehaltene Atemluft durch die Nase aus – wusste gar nicht, dass ich sie zurückgehalten hatte – und erwiderte den Kuss. Er wurde rasch mutiger, drängender, gewagter, leidenschaftlicher. Seine Hände waren plötzlich an meiner Taille. Sie packten mich und zogen mich an sich. Diese Aktion jagte einen lodernden Impuls durch meinen Körper, der sich irgendwie in meinem Unterbauch sammelte und dort zu wüten begann.
Sein Körper auf meinem … Sein Herzschlag ganz nahe bei meinem. Seine Wärme, seine Hitze drang ungehindert der vielen Lagen Stoff und Stroh zwischen uns, direkt in mich ein. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte mit dem Ausstopfen meines Kostüms an Material gespart.
Ein verhaltenes Keuchen entkam mir, als mir all dies bewusst wurde.
Ich tat es ihm gleich, legte meine Arme auf seinen Rücken und drückte ihn ebenfalls an mich. Ein wohliges Grummeln entwich ihm. Das Vibrieren seiner Stimme verursachte in mir ein prickelndes Kribbeln, das mir von den Zehenspitzen bis in die Haarwurzeln ging. Er lehnte sich stärker an mich. Ich spürte sein Gewicht noch drängender auf meiner Brust und meinem Bauch lasten. Er presste sich förmlich an mich. Die langen Finger krallten sich fester in meine Taille, als versuchte er verzweifelt, durch die dicke Lage an Stroh zu mir durchzudringen.
Dann klopfte eine heiße, feuchte Zunge an meinen Lippen an. Ich musste nicht lange überlegen und ließ ihn ein. Tatsächlich schmeckte er nach süßen Gummiteufelchen. Die flinke, nach Erkenntnissen gierende Zunge verbreitete den süßen, klebrigen Geschmack in meinem Mund. Ich erforschte seinen Mund, leckte an seinen Zähnen, saugte die fremde Zunge in meinen eigenen Gaumen, beinahe im selben Zuge, wie er genau dasselbe mit mir tat.
Julien Diepold, sagte ich mir immer wieder. Ein wirklich schöner Name. Er gefiel mir, ebenso wie der Kerl, der zu ihm gehörte.
Doch ehe ich meine Gedanken weiter in Richtung künftiges, trautes Beisammensein

lenken konnte, beendete Julien den Kuss und wich ein wenig zurück. Leuchtende grüne Augen fesselten mich an sich. Ein glückseliges Lächeln machte sich zwischen seinen Mundwinkeln breit.
„Fröhliches Halloween“, flüsterte er atemlos vom Kuss. „Und viel Erfolg heute.“
Ich konnte nur mechanisch nicken, war total perplex, absolut verwirrt und irritiert. Mein Atem ging ebenso heftig wie seiner; und ich starrte ihn fassungslos an, unfähig einen klaren Gedanken fassen zu können, geschweige denn ein vernünftiges Wort hervorzubringen.
Severus Snape

beugte sich abermals vor und küsste mich auf den Mund. Ich genoss den Moment, solange er mir gegönnt war. Dann trennte er sich endgültig von mir und brachte einen größeren Abstand zwischen uns beide, jedoch ohne seine Hände von meiner Taille zu nehmen. Er ließ sie noch einen Moment dort liegen, als könne er sich nicht dazu entschließen, mich loszulassen. Doch dann riss er sie abrupt von mir, wirbelte herum, sodass sein schwarzer Umhang protestierend aufwallte und stürmte aus der Hütte.
Atemlos blieb ich zurück – noch immer verwirrt und überwältigt.
Was zum Henker war eben geschehen?
Julien Diepold hatte mich geküsst. Er hatte mich in die Versorgungshütte gelockt und geküsst.
Ich konnte es kaum fassen.
Ich brauchte noch mehrere Minuten, ehe ich mich soweit fassen konnte, dass ich wieder vor die Türe treten konnte. Mein Hut war verrutscht, als ich gegen die Wand gedrückt worden war. Ich rückte ihn wieder gerade.
Mein Herz schlug immer noch heftig, als ich zu meiner Gruppe zurückkehrte. Roman sah mich mit einem strafenden Blick an, weil ich die Jungs einfach stehen gelassen hatte und er sich offenbar gezwungen sah, sie zu beaufsichtigen. Unter normalen Umständen hätte ich mich entschuldigt, ihm eine meiner üblichen Neckereien an den Kopf geworfen und meine Schuld irgendwie mit Witzchen überspielt. Doch diesmal ignorierte ich es einfach. Meine Fingerspitzen strichen noch einmal über meine Lippen, mussten sich persönlich davon überzeugen, dass sie eben wirklich geküsst worden waren.
Ich war noch irgendwie total von der Rolle.
Dieses kribbelnde Gefühl, das sein Kuss und seine Berührung in mir hinterlassen hatte, war noch immer gegenwärtig. Mein ganzer Körper summte von dem eben Erlebten.
Ich wandte mich um und suchte ihn in dem Zwielicht der Dämmerung, doch er war nirgends auszumachen. Es war ohnehin ein unüberschaubares, wild wuselndes Durcheinander unheimlicher Gestalten.
„Erde an Felix!“, riss mich Roman aus meinen Gedanken. „Bist du noch da? Hattest du deinen Spaß?“
Ich schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, die diese Begegnung hinterlassen hatte.
„Hab ich was verpasst?“ Roman rempelte unsanft seine Faust in meine Seite. Dank der Strohpolsterung fiel es nicht sehr schmerzhaft aus, genügte jedoch, um mich endgültig in die Wirklichkeit zurückzuholen. „Wo bist du gewesen?“
„Auf dem Klo“, gab ich ausweichend von mir, legte einen Arm um seine Schultern und zog den als Vampir verkleideten Kerl lachend in einen Schwitzkasten, worauf sich dieser unter Protest und in das Lachen einfallend rasch wieder freimachte.
Roman musste nicht alles wissen. Wir waren zwar beste Freunde, doch es gab durchaus Dinge, die ich niemals mit ihm teilen würde. Das eben Erlebte gehörte dazu.
Ich schnaufte tief durch, um mich wieder zu sammeln. Verdammt, ich musste meinen Kopf endlich unter Kontrolle bekommen. Immerhin hatte ich die Verantwortung über zwölf kleine Jungs. Also zwang ich mich wieder zur Ressort, schob das Erlebnis in den Hintergrund und begab mich mit meiner kleinen Gruppe zum Essen, wo wir mit mehr oder weniger Heißhunger Kürbissuppe, Kuchen und andere Leckereien verdrückten. Anschließend scheuchte ich meine kleine Schar zum verabredeten Zeitpunkt in die angrenzende Kleinstadt.
Kurz vor zehn Uhr abends kamen wir mit fetter Beute wieder zurück. Professor Snape saß bereits am Lagerfeuer und spielte Gitarre, während eine Schar von Piraten, Vampiren, Gespenstern, Zombies, Ninjas und andere zwielichtige Gestalten um ihn herum saß und lautstark mitgrölten. Meine Jungs setzten sich dazu und verputzten ihre erbeuteten Süßigkeiten. Ich hielt mich im Hintergrund, denn durch seinen Anblick keimte die prickelnde Erinnerung wieder auf. Ich beobachtete ihn jedoch genau. Kein einziger seiner Gitarrengriffe entging mir.
Später am Abend, als auch die anderen Gruppen von ihrer Tour zurückgekehrt waren, erzählte der Lehrer für dunkle Künste die gruselige Geschichte vom Kürbismann. Gekonnt in die Rolle des Professors verfallen, trug er die Gruselstory von dem Kürbis vor, der an Halloween auf dem Feld vergessen worden war und sich an den darauffolgenden Halloween-Festen an allen bitter rächte, die es wagten, eine Kürbislaterne vor die Türe zu stellen. Ebenso virtuos, wie er sein Gitarrenspiel absolvierte, gab er auch die Geschichte zum Besten. Bei den gruseligen Stellen, wenn der Kürbis die Laternen zerschlug und deren Besitzer gleich mit dazu, glitt er in eine unheimliche tiefe Stimme ab, worauf die Jungs vor Spannung gebannt an seinen Lippen hingen und vor Angst schlotternd, die Fingernägel in ihre Handballen oder Oberschenkel drückten.
Ich hatte nur noch Augen für Julien, der nicht nur das Gitarrenspieltalent in die Wiege gelegt bekommen zu haben schien, sondern auch das des Geschichtenerzählers. Als langjähriger Kürbismann kannte ich die Geschichte in- und auswendig. Immerhin hatte ich sie selbst unzählige Male erzählt. So konnte mich selbst die tiefe Snape-Stimme nicht erschüttern, auch nicht, als er an der spannendsten Stelle direkt auf mich zeigte, die Jungs sich neugierig umdrehten und mich erblickten – worauf einige erschrocken aufkreischten und schreiend davonliefen. Andere krallten sich in ihre Nachbarn oder verbargen ihre Gesichter in ihren Händen. Ich spielte das Spiel mit, sprang spontan mit ein und scheuchte die Jungs mit Fauchen, Brüllen und wildem Gestikulieren in ihre Zelte.
Wir hatten alle unseren Spaß, selbst die Kinder, die sogleich lachend wieder hinter mir herliefen, um mich zu necken.
Von den Erlebnissen zu aufgedreht, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis meine Jungpfadfinder endlich eingeschlafen waren. Ich wartete noch eine ganze Stunde, bis auch der letzte in einen seligen Schlaf geglitten war, ehe ich mich auf die Suche nach Snape/Julien machte. Zu meinem Leidwesen hatte er sich bereits mit seiner Schar schlafen gelegt, da er – wie ich von einem anderen Leiter erfahren musste – in den frühen Morgenstunden mit der Nachtwache dran war. Ich erinnerte mich an meine eigenen Pflichten. Auch ich hatte eine nächtliche Wache zu absolvieren. Mir blieben ganze drei Stunden Schlaf, ehe ich zwei Stunden damit verbringen musste, schnarchende Nachwuchspfadfinder zu beaufsichtigen.

Unsanftes Rütteln weckte mich aus dem Tiefschlaf.
„Felix! Wach auf!“
Ich blinzelte mich mühsam aus dem Schlaf.
Romans Stimme drang nur schwerfällig in meinen Verstand hinein.
Eine Hand rüttelte unsanft an meiner Schulter.
„Wach auf!“ Seine Stimme klang irgendwie merkwürdig. So gepresst und gehetzt.
In mir heulten Alarmsirenen auf.
Ich wischte mir mit der Hand über das Gesicht, um die Müdigkeit loszuwerden, zwang meine Augen auf und blickte geradewegs in das aufgebrachte Gesicht von Roman. Es war dunkel im Zelt. Daher konnte ich nur Schemen erkennen. Ich erkannte ihn dennoch und sein nervöses Schnaufen, sagte mir, dass etwas passiert sein musste.
„Schnell! Steh auf! Da stimmt was nicht“, raunte er beinahe lautlos, offenbar um die Jungs nicht aufzuwecken.
Ich blickte verwirrt um mich.
„Was ist denn passiert? Was stimmt nicht?“ Meine Stimme klang noch müde, als ich mich aus dem Schlafsack schälte. „Was ist denn los?“
„Komm mit!“, flüsterte Roman, in seiner Stimme eine deutliche Besorgnis. Er packte meinen Arm und zerrte mich mit sich, noch ehe ich meine Beine gänzlich aus dem Schlafsack befreien konnte. „Komm schon!“, rief er leise, damit die Kinder nicht aufwachten. „Das musst du sehen.“
„Was denn?“ Ich keuchte atemlos, kämpfte meine Füße in die Stiefel und stolperte ihm hinterher. Im letzten Moment schnappte ich mir noch die Jacke, ehe ich das Zelt verließ und ihm nach draußen folgte. Im Inneren des Zeltes war es dank der dicken Zeltwände und der vielen menschlichen Körper, die die Luft aufheizten, relativ warm, außerhalb jedoch nicht.
Sofort empfing mich eisige Kälte. Es war immerhin November, da wurden die Nächte empfindlich kühl. Ich zog den Reißverschluss ganz nach oben und stopfte meine Hände in die Jackentaschen, ehe sie kalt werden konnten. Ich war dankbar dafür, dass ich die dicke, gefütterte Trainingshose trug, die den Wind und die Kälte des jungen November einigermaßen von mir fern hielt.
„Was ist denn los?“, erkundigte ich mich abermals.
Roman war wirklich aufgebracht. Er packte mich am Ärmel und zerrte mich mit sich. „Sieh dir das an!“
Auf dem Versammlungsplatz blieb er stehen und zeigte auf eine Stelle unweit seiner Schuhe. Ich musste meine Augen anstrengen, um in der Dunkelheit etwas sehen zu können.
Aber genau das war es.
Der Platz sollte eigentlich von unzähligen Kürbislaternen erhellt sein, jede einzelne am Nachmittag von fleißigen Kinderhänden ausgehöhlt und mit bizarren Gesichtern versehen und über den gesamten Versammlungsplatz verteilt aufgestellt. Ich vermochte die vielen Teelichter nicht zu zählen, die ich heute Nachmittag angezündet hatte.
Nur noch eine einzige davon brannte – der Kürbis, den ich ausgehöhlt hatte.
Ungläubig glotzte ich ihn an.
Erst als mich Roman ein weiteres Mal mit der Faust in die Seite hieb, seine Taschenlampe anschaltete und auf die Bescherung hielt, bemerkte ich, dass die anderen Kürbisse allesamt zerschlagen waren.
Ich zog die Augenbrauen zusammen.
„Was soll der Scheiß?“, schimpfte ich. Die Jungs würden über diesen schlechten Scherz wahrlich nicht amüsiert sein. „Warum tust du so was?“ Ich sah ihn streng an. Er konnte mein Gesicht sicherlich nicht sehen, so wie ich seines ebenso nicht. Dennoch war ich wütend und musste es irgendwie zum Ausdruck bringen.
„Das war ich nicht“, versicherte Roman aufrichtig. „Ich hab meine Runde gemacht. Als ich losging, war noch alles in Ordnung. Die Kürbisse leuchteten. Als ich zurückkam, sah es so aus.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf und seufzte tief. Derartige Scherze und Überfälle von befreundeten Pfadfindergruppen waren in einem Hajk eigentlich gang und gäbe. Das Problem war nur, dass kein anderes Lager in der Nähe war. Ich bezweifelte, dass der andere Stamm, mit dem wir uns normalerweise solche Aktionen lieferten, extra hierher gekommen war, um uns ein besonderes Halloween zu bescheren. Demnach musste es jemand aus unserem Lager gewesen sein.
Wie auch immer, die Früchte der harten Arbeit von Kindern buchstäblich so mit Füßen zu treten, das ging weit über das akzeptierte Maß hinaus. Wer auch immer sich diesen Scherz ausgedacht hatte, er oder sie waren zu weit gegangen.
„Was glaubst du, wer das war?“, wollte ich von Roman wissen.
Dieser zuckte mit den Schultern. „Der Kürbismann?“
Ich unterdrückte ein Lachen und schubste ihn nur an der Schulter, sodass er einen Schritt zur Seite machen musste, um den Stoß abzufangen. „Blödmann“, zischte ich. „Jetzt im Ernst. Die Jungs werden nicht begeistert sein.“
„Ich frage mich, warum nur ein einziger übrig geblieben ist“, raunte Roman mit deutlichem Unbehagen. „Von wem ist der?“
„Das ist meiner“, gestand ich.
Roman sah mich an. Der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte an mir hoch und traf mich mitten ins Gesicht.
Ich zwickte reflexartig die Augen zu und hob einen Arm vor das Gesicht. „Verdammt, lass das!“, fauchte ich.
„Natürlich!“, rief Roman leise. Offenbar schien er die Lösung gefunden zu haben. „Du bist der Kürbismann. Er hat deinen nicht zerstört, weil du dich als Kürbismann verkleidet hast. Du bist sozusagen ein Verbündeter.“
„Quatsch!“ Ich blinzelte die grellen Lichtpunkte aus meinen Augen weg. „Glaubst du wirklich an diese kindische Halloween-Story?“
„Warum ist dann deiner als Einziger übrig geblieben? Ich meine, übersehen konnte er ihn ja nicht. Er leuchtet als Einziger.“
„Hör auf damit“, schalt ich. Das Ganze begann, mich zu nerven. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte entweder einen schlechten Geschmack, was Scherze anbelangte, oder er wollte sich persönlich an mir rächen.
Unwillkürlich tauchte da die nächste Frage auf: Wer?
Und noch eine weitere: Warum?
Ich wüsste nicht, wem ich derart auf die Füße getreten sein sollte, dass es eine solche Aktion von Nöten hatte. Beinahe gleichzeitig schoss heißes Blut in mein Gesicht. Julien!
Jemand musste gesehen haben, wie wir heute Nachmittag in der Versorgungshütte verschwunden waren. Die Blicke, mit denen ich ihn die ganze Zeit nahezu auszog, konnten nicht übersehen werden. Selbst Roman hatte es mitbekommen.
Was, wenn sein Lover oder auch sein Ex hier war und sich nun an mir rächen wollte?
Verfluchte Scheiße

!, schoss es mir durch den Kopf. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ein Eifersuchtsdrama an Halloween.
Ich wandte mich um und blickte in die Richtung, in der die Zelte der Schar aus Dillingen lagen.
„Ich glaube, ich muss mal jemanden auf den Zahn fühlen“, murrte ich leicht verärgert und machte mich bereits auf den Weg. Roman folgte mir, trippelte hinter mir her wie ein folgsames Schoßhündchen. Mit weit ausholenden Schritten marschierte ich zu den Zeltreihen der Dillinger. Mir war kalt. Ich war müde und sauer. Auch auf die Gefahr hin, dass mich Julien dann für alle Zeit der Welt hasste und unsere Freundschaft in die Brüche ging, ehe sie überhaupt eine Chance hatte, aufzukeimen, riss ich den Fetzen des Zelteinganges zur Seite, in der seine Gruppe untergebracht worden war.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, weil ich Julien, der am Eingang liegen sollte, mit einem unwirschen Ruf wecken wollte, doch als Romans Taschenlampe ins Innere leuchte, hielt ich in einer Schrecksekunde den Atem an. Mein Herz pochte plötzlich wie wild. Ich brauchte einen Moment, ehe ich mich wieder unter Kontrolle brachte, und folgte dem durch das Zeltinnere hetzende Lichtkegel.
Das Zelt war leer.
Die Schlafsäcke lagen in einem wilden Durcheinander auf dem Boden. Die Rucksäcke der Kinder wahllos verstreut. Ihr Inhalt über den ganzen Boden verteilt. Die Feldbetten der Leiter umgekippt. Alles sah so aus, als seien die Insassen des Zeltes Hals über Kopf geflüchtet.
Ich entriss Roman die Taschenlampe und leuchtete den Boden vor dem Zelt ab.
„Was zum Henker ist hier passiert?“, keuchte Roman ebenso erschrocken.
„Da hat sich jemand sehr viel Mühe gegeben“, gab ich wenig beeindruckt von mir. Es war schließlich Halloween.
Ich suchte den weichen Waldboden nach Spuren ab. Mehrere Schuhe hatten Abdrücke hinterlassen, die Richtung Wald führten. Ich folgte ihnen.
Ein eisiger Wind rauschte über die Lichtung hinweg, in der wir unser Lager aufgebaut hatten. Die Kälte nahm von mir noch mehr Besitz. Ich zog den Reißverschluss bis zum Kinn und folgte der Spur in den Wald.
Doch kaum hatten wir uns von der absoluten Finsternis des nächtlichen Waldes einnehmen lassen, krachte es hinter uns auf der Lichtung und die Schreie mehrerer Kinder hallten durch die Nacht. Mein Blut gefror.
Ich wirbelte herum und rannte zurück. Roman nur wenige Schritte hinter mir. Wir hatten den Rand der Lichtung noch nicht ganz erreicht, als die Schreie ebenso plötzlich verstummten, wie sie ertönt waren. Ich beschleunigte meinen Schritt.
Zum Henker nochmal! Wer auch immer sich diesen Scherz ausgedacht hatte, die Kinder hatten damit nichts zu tun.
So schnell ich konnte, überquerte ich den Versammlungsplatz und hetzte in die Richtung, aus der ich die Schreie glaubte vernommen zu haben. Meine Stiefel fraßen sich in den weichen Boden, als ich abrupt abbremste. Karls Zelt war in sich zusammengeklappt. Die Schlafsäcke der in aller Eile geflüchteten Kinder lagen teils vor dem Zelt, teils noch innen. Mehrere Füße, auch nackte, hatten den Boden vor dem Zelt zerwühlt. Die Spuren führten in alle Richtungen davon. Ich entdeckte auch eine langgezogene Spur, wie von dahinschlurfenden Füßen.
Zum ersten Mal verursachte mir dieser Anblick eine wirkliche Gänsehaut des Grauens. Da muss sich jemand in der Tat sehr viel Mühe gemacht und auf sämtliche Details geachtet haben.
Diese schlurfende Spur sollte ein Indiz dafür sein, dass hier der Kürbismann am Werk gewesen war.
Zum Glück glaubte ich nicht daran und so verflüchtigte sich das eisige Grauen in mir rasch wieder.
„Was geht hier vor?“, keuchte Roman. Seiner Stimme war deutlich anzuerkennen, dass ihm der Arsch auf Grundeis ging.
Ich lächelte nur milde und schüttelte den Kopf. „Ein Meisterstück der Halloween-Kunst“, gab ich wenig beeindruckt von mir. „Der Kerl ist wirklich gut.“
„Der Kürbismann?“
Auch ohne Taschenlampenlicht erahnte ich den erschrockenen Ausdruck in Romans bleichem Gesicht.
„Verdammt, Roman!“, schimpfte ich. „Da will uns jemand ins Bockshorn jagen, und zwar gründlich. Aber ohne mich.“ Ich drehte mich um und leuchtete mit der Lampe in alle Richtungen.
„Und wenn er es doch war?“
Ich knurrte missmutig. „Machst du dir jetzt wegen einem guten Streich in die Hose, du Weichei?“ Ich schnaufte laut. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein Schlappschwanz bist. Reiß dich zusammen!“ Ich knuffte ihm hart in die Seite. „Nun komm schon! Wir müssen ihn finden und aufhalten, noch ehe er noch mehr kleine und größere Jungs in Angst und Schrecken versetzt.“
Ich suchte den Boden nach weiteren Hinweisen ab, als auf der anderen Seite des Lagers plötzlich ebenso Tumult und Schreie ertönten.
Augenblicklich setzten wir uns in Bewegung. Doch wir kamen wieder zu spät. Diesmal war Hinrichs Lager dran gewesen. Gleich drei Zelte lagen nahezu flach auf dem Boden, deren Inhalt wahllos verstreut. Die Schlafsäcke, Matten, Schuhe, Jacken und Rucksäcke bis an den nahen Waldrand verteilt. Die vor den Zelten gestandenen Biertischgarnituren umgeworfen, sämtliche Halloween-Dekorationen heruntergerissen. Sogar Teile von Kostümen lagen zwischen den Sachen, zerrissen, zerknittert, zertrampelt.
Und ich entdeckte noch etwas – etwas Dunkles, Schleimiges, das sich unangenehm glitschig anfühlte, als ich es vorsichtig mit der Fingerkuppe berührte.
„Ist das … Blut?“ Romans Stimme wurde bei jedem Wort erbärmlicher. Bei dem letzten war sie nur noch ein jämmerlicher, kläglicher Laut.
Ich schnaufte. Leider konnte ich menschliches Blut nicht von Theaterblut unterscheiden. Und schon gar nicht in der Dunkelheit. Es war definitiv eine schlierige Flüssigkeit, die in kleineren und größeren Tropfen über dem Boden verteilt war. An einem Baumstamm entdeckte ich noch mehr davon, verschmiert, als hätte sich dort eine blutige Hand abgestützt.
Ein weiteres Mal rann der eisige Schauer durch mich hindurch. Ich drängte ihn vehement zurück. Verdammt nochmal, es war ein harmloser Streich. Von jemandem, der sein Handwerk offensichtlich ziemlich gut verstand. Was mir bei dieser ganzen Sache jedoch überhaupt nicht gefiel, war die Tatsache, dass dieser Jemand die Kinder miteinbezogen hatte.
Unter ihnen waren auch Sechsjährige, die sicherlich bereits vor Angst die Hosen voll hatten. Und wo waren die anderen Leiter? Wo war Hinrichs? Lothar? Wohin war Karl und vor allem, wohin war Julien geflüchtet? Waren sie überhaupt geflüchtet? Oder steckten alle unter einer Decke?
Ich wirbelte herum und machte mich schnurstracks zu Lothars Zelt auf.
Gerade hatte ich die Zeltwand geöffnet und leuchtete ins Innere, da krachte es irgendwo im Wald, als sei jemand auf einen trockenen Ast getreten. Rasch ließ ich den Lichtkegel durch das Zeltinnere huschen, nur um zu erkennen, dass es leer war, genauso wie Juliens. Sämtliche Schlafsäcke verstreut, als seien die Kinder aufgeschreckt wie Hühner aus ihren Betten gefahren und davongelaufen.
„Da kommt jemand“, keuchte Roman und stieß mich sacht an.
Ich drehte mich um. Schwindel erfasste mich, als ich die Gestalt erkannte, die sich aus der Dunkelheit schälte und in den Strahl der Taschenlampe kam – Julien.
Der lange, dunkle Seidenumhang, der sich bei jedem Schritt aufbauschte und ihm ein noch bedrohlicheres Aussehen verpasste, verriet ihn. Doch diesmal marschierte er nicht erhobenen Hauptes und stolzen Schrittes heran, sondern hinkte, schleppte sich förmlich Schritt für Schritt näher. Ich setzte mich in einem Reflex in Bewegung. Noch bevor ich ihn erreichen konnte, kippte er in sich zusammen. Ich hechtete förmlich näher, erreichte ihn jedoch nicht mehr rechtzeitig. Er fiel haltlos auf den Boden, wie ein Ballon, aus dem plötzlich die Luft entwichen war.
Ich warf mich neben seiner zusammengesunkenen Gestalt auf die Knie, ließ die Taschenlampe fallen, packte ihn an den Schultern und drehte ihn zu mir herum. Roman nahm die Lampe wieder auf und leuchtete Julien ins Gesicht.
Sofort schoss ein greller Blitz durch mich hindurch, als ich sein blut verschmiertes Gesicht sah. Ein roter Rinnsal rann ihm aus dem Mundwinkel. Sein Atem ging keuchend. Sein Pulsschlag flatterte unruhig. Die leuchtenden, grünen Augen hinter müden, erschöpften Lidern versteckt.
„Was ist passiert?“, wollte ich wissen.
Julien öffnete die Lippen. Der Rinnsal aus dunkler Flüssigkeit wurde stärker. Ich biss mir auf meine Lippen, beinahe zerfressen von Sorge.
„Julien …?“
„Ich …“, keuchte er halb bewusstlos. „… wollte sie noch retten … zu spät.“ Er sank leicht in sich zusammen.
„Julien!“ Ich zog ihn näher an mich ran, presste seinen zitternden Körper enger an meine Brust. Seine Lider flatterten, als er offenbar mühsam die Augen öffnen wollte, um mich anzusehen. Der flehende Blick tat mir in der Seele weh. „Wer war das, Julien? Wer war das?“
„Kürbis … mann“, entkam es seinen Lippen, mühselig und kraftlos.
Ich war mir im ersten Moment nicht sicher, ob er mich damit meinte, oder tatsächlich den Kürbismann, von dem er heute am Lagerfeuer erzählt hatte.
Scheiße, es war doch nur eine harmlose Gruselgeschichte. Es gab keine Geister, Untote und schon gar keinen zum Leben erwachten Kürbis, der sich grausam an der Menschheit rächte.
Seine Hand kam hoch, langsam und von der Kraftanstrengung zitternd, und berührte mich an der Wange. Ich schloss für einen Augenblick die Augen, ließ mich gänzlich in diese Berührung fallen.
„Rette sie!“, hauchte er kraftlos. „Rette … die Kinder!“ Dann war die Berührung weg. Sein Körper sackte schwer in meine Arme.
„Julien!“, schrie ich voller Angst. Ich legte ein Ohr auf seinen Brustkorb. Sein Herz schlug langsam, ganz langsam und gleichmäßig, in tiefer Ruhe versunken. Er war bewusstlos. Gott sei Dank. Er lebte noch. Für einen Moment wich der Schrecken der Nacht zurück und machte der Erleichterung darüber, dass er noch am Leben war, Platz. Ich zog Julien an mich, schlang meine Arme um ihn, drückte mein Gesicht an seinen warmen Hals und nahm einen tiefen Atemzug seines ganz eigenen Duftes. In mir baute sich ein unangenehmes Gefühl auf. Mir war, als hätte ich etwas verloren, noch ehe ich es gänzlich für mich gewinnen konnte. Verzweiflung, Trauer und Wut drohten, mich zu erfassen.
In meinen Augen begann es, zu brennen. Doch tapfer unterdrückte ich den Impuls, loszuheulen.
„Verfluchte Scheiße!“ Ich presste ihn noch fester an mich und suchte Romans Blick, der neben mir hockte, stumm, bleich mit offenem Mund, unfähig irgendetwas zu sagen oder zu tun.
„Was geht hier eigentlich vor!“, fuhr ich ihn an und holte ihn damit aus seinem Schock. Roman zuckte zusammen und starrte mich entgeistert an. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf.
„Der Kürbismann“, keuchte er verstört.
„Scheiße, es gibt keinen Kürbismann!“, bellte ich wütend zurück. „Welches Arschloch denkt sich so was aus? Wer ist das? Sag's mir!“
Roman schüttelte nur abermals den Kopf. Sein Gesicht war wie versteinert.
„Verflucht!“ Ich schob den besinnungslosen Julien vorsichtig zur Seite, sodass ich einen Arm frei bekam, um das Handy aus meiner Tasche zu angeln. Ich musste die Polizei rufen, den Notarzt, die verdammte Kavallerie, damit sie den Verrückten einfingen und ihn hinter Gitter brachten. Nicht nur, dass er kleine Kinder verschreckte, er wurde nun offensichtlich auch noch gewalttätig. Ich hielt das Telefon hoch und wollte die Notrufnummer wählen, doch es piepte kläglich, da es hier mitten im Wald keinen Empfang hatte. Das hatte ich ganz vergessen. Der nächste Sendemast war zu weit entfernt. Deswegen gab es in der Holzhütte das Nottelefon.
Ein weiteres Mal fluchte ich ungehemmt. Vorsichtig legte ich Julien auf dem Boden ab.
„Bleib bei ihm. Ich geh zur Hütte und rufe die Polizei. Bin gleich wieder da!“
Roman zuckte zusammen, sah erschrocken zu mir hoch, da ich mich bereits aufgerichtet hatte, und nickte schließlich.
Ich wirbelte herum. Mein Blick fiel auf die zerstörten Kürbisse, deren Überreste nun überall zwischen den Utensilien verstreut lagen. Dort sollte eigentlich noch die letzte Laterne stehen, meine, als einzige von den Vielen, die wir heute Nachmittag geschnitzt hatten, als Letzte von ihnen, diejenige, die der mysteriöse Unbekannte aus noch unbekannten Gründen übrig gelassen hatte.
Sie war nun ebenfalls in Stücke geschlagen.
Diesmal wollte der eisige Schauer nicht weichen. Ich schluckte hart und spornte mich zur Eile an. Ich musste verdammt nochmal so schnell wie möglich die Polizei rufen, ehe das Ganze in einer einzigen Katastrophe ausartete. Wer auch immer dafür verantwortlich war, er musste dafür bezahlen. Allein schon dafür, dass er Hand an Julien gelegt hatte.
Ein merkwürdiges Geräusch in meinem Rücken ließ mich wieder abrupt anhalten und herumwirbeln. Kaltes Entsetzen machte sich in mir breit. Es war ein ersticktes Gurgeln gewesen. Ein heißerer Schrei, unterbunden, noch ehe er die Kehle verlassen konnte. Als ich mich umdrehte, waren Roman und Julien verschwunden.
Spurlos verschwunden.
Weg.
Die Taschenlampe lag noch dort, wo beide gewesen waren und beleuchtete einen nahe am Boden entlang streichenden Lichtstreifen. Der Boden dort war aufgewühlt und etwas glänzte im Schein des pastellfarbenen Lichtes. Als ich langsam näher trat und es mir eingehender besah, erkannte ich es als dunkle Flüssigkeit, dick und zäh in den Waldboden einsickernd.
Blut!
Wessen?
Romans?
Oder gar Juliens?
Allmählich bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun.
Ich blickte mich um.
Es war beinahe totenstill. Der eisige Herbstwind säuselte durch die Wipfel der Tannen. Im Unterholz knackte und knisterte es leise vom geschäftigen Treiben vielfüßiger Nachtinsekten.
Von irgendwo drang der Schrei eines weit entfernten Kauzes.
Mir wurde entsetzlich kalt.
Ich war offenbar der Einzige, der von dem Massaker durch eine vermeintlich zum Leben erweckte Gruselgestalt verschont blieb.
Warum ich?
Weil ich mich an Halloween regelmäßig als Kürbismann verkleidete?
Sah er in mir wirklich einen Verbündeten, wie Roman vorhin erwähnte?
Aber warum war nun auch meine Kürbislaterne zerstört?
War ich als Nächster dran?
Ich wich langsam zurück, in Richtung der Holzhütte. Ich musste unbedingt das Telefon erreichen und die Polizei rufen. Ein Wahnsinniger trieb hier sein Unwesen. Ob leibhaftig gewordene Gruselgestalt oder krankhaft getriebener Mensch, damit musste endlich Schluss sein!
Eine kleine Hoffnung gab es noch. Julien hatte gesagt, dass ich die Kinder retten solle. Sie waren offenbar noch am Leben. Ich musste so schnell wie möglich Hilfe holen und sie vor einem grausigen Schicksal bewahren.
Nach ein paar Schritten wirbelte ich herum und rannte so schnell ich konnte Richtung Holzhütte.
Dumpfe Schritte hinter mir alarmierten mich zusätzlich und spornten mich zu einem noch schnelleren Lauf an. Der Kürbismann war mir dicht auf den Fersen. Ich machte mir nicht die Mühe, mich umzusehen und zu vergewissern, ob ich Recht hatte.
Ich wusste es.
Der Kürbismann.
Nur noch wenige Schritte und er hatte mich eingeholt.
Mein Herz klopfte heftig in meiner Brust. Für mich gab es nur noch ein Ziel. Die rettende Holzhütte.
Ich erreichte sie leider nicht mehr. Denn auf dem Weg blieb ich mit dem Fuß an irgendetwas hängen, etwas, das nahe am Boden zwischen zwei Zeltstangen gespannt war. Ich stolperte, fiel der Länge nach hin und schlug mit dem Kopf hart auf den Boden auf, sodass ich für einen Moment leicht benommen war. Das Stroh in meinem Kostüm bewahrte mich vor weiteren Blessuren, die dieser Sturz aus vollem Lauf hätte verursachen können. Geistesgegenwärtig warf ich mich herum. Ich wusste instinktiv, dass sich sogleich jemand auf mich werfen würde. In der Finsternis der Nacht erkannte ich nur einen Schatten, der auf mich zuflog. Ich riss die Arme hoch, versuchte, meinen Kopf zu schützen, vor den vermeintlichen Schlägen, die mir der Kürbismann zuteil werden ließ, als letzter von allen. Als einziger Überlebender eines blutigen Massakers.

Aber nicht mehr lange.

Jetzt war ich an der Reihe.

Ein Gewicht stülpte sich schwer auf mich. Für einen Moment dachte ich noch an Gegenwehr, mich wild um mich schlagend unter dem massiven Körper herauszuwinden, doch als mir das Gewicht fast die Luft zum Atmen nahm, gab ich es auf.
Heißes Keuchen drang an mein Ohr. Mein Herz schlug wie wild. Ich hielt den Atem an, in Erwartung meiner letzten Sekunde.


„Guten Abend, Mister Kürbismann“, raunte eine mir sehr bekannte Stimme ganz nahe an meinem Ohr.

Das war jetzt nicht wahr ... !?

Mit einem empörten Zischen warf ich das Gewicht von mir und robbte mich rücklings unter ihm heraus.
„Verdammtes Arschloch!“, keifte ich wütend.
„Fröhliches Halloween“, kreischten im nächsten Moment begeistert zahlreiche kindliche Kehlen. Rings um mich flammten über hundert Taschenlampenlichter auf und zeigten allesamt auf mich.
Vor mir saß Julien, mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und noch immer mit blut verschmiertem Gesicht. Hinter ihm Roman, mit einem noch viel breiterem Grinsen, welches mir genau Aufschluss darüber gab, auf wessen Mist das Ganze gewachsen war.
Laut stöhnend ließ ich mich rücklings auf den Boden fallen, während die Jungpfadfinderschaft in einem begeisterten Kreischen ausbrach.

Verdammt nochmal, hatten sie mich drangekriegt.



Sie hatten es tatsächlich geschafft, dass mir ordentlich die Muffe ging.
„Hat ganz schön lange gedauert!“, rief Roman durch den Lärm der begeisterten Kinder hindurch, beugte sich über mich und grinste mir direkt ins Gesicht.
„Das wirst du bitter bereuen“, grollte ich böse. Mein Herzschlag hatte sich noch nicht gänzlich beruhigt. In meinen Adern floss noch immer pures Adrenalin, das die Todesangst in meinen Körper gepumpt hatte. Und zur Sicherheit sollte ich mir auch noch frische Unterwäsche anziehen.
Julien beugte sich ebenfalls näher. Sein schadenfrohes Grinsen war einem freundlichen Lächeln gewichen. Es passte ebenso nicht zu dem Severus Snape, wie das Theaterblut oder das freche Grinsen von vorhin.
Ich erwiderte den stechenden Blick seiner leuchtenden, grünen Augen, atemlos und noch immer ergriffen von dem Schreck, den mir die ganze Schar eingeflößt hatte. Einige tiefe Atemzüge lang starrten wir uns einfach nur an. Dann senkte Julien den Blick und verzog seine Mundwinkel zu einem enttäuschten Schmollen.
Erst jetzt erkannte ich, warum er mich in die Hütte gelockt und geküsst hatte. Wann genau Roman diese Aktion geplant hatte, blieb mir sicherlich für immer verborgen. Ich erkannte jedoch in diesem Moment, dass mir Julien mit dem Kuss zu verstehen geben wollte, dass er mich mochte und an mir interessiert war.
Ich gab mich dem spontan in mir aufschießenden Impuls hin, zuckte hoch, vergriff meine Finger in seinem Umhang und zerrte ihn zu mir herunter, um ihm einen Kuss aufzuzwingen, so wie er es in der Hütte mit mir gemacht hatte. Er keuchte zunächst erschrocken auf, doch dann lockerte sich seine Gegenwehr und er ließ sich auf mich ziehen. Die dicke Lage Stroh in meinem Vogelscheuchenkostüm dämpfte seinen Sturz und sorgte dafür, dass er weich fiel. Seine schlanken Finger umfassten mein Gesicht und hielten mich fest an sich gepresst.
Jemand warf den schwarzen Umhang über uns, sodass wir uns in aller Ruhe küssen und ich mir die Genugtuung für das holen konnte, was mir angetan worden war.


Fröhliches Halloween!

Impressum

Texte: Ashan Delon (c) 2012
Bildmaterialien: marshe13/morguefreePhotos
Lektorat: Randy D. Avies
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

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