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Kapitel 20




Leseprobe aus Drachenfedern Band II - Im Netz der Intrigen


Die Nachwirkungen des Anfalls am Morgen, noch ehe er richtig wach geworden war, beziehungsweise der Vision hielt noch lange an. Sebastian war vor Schreck aus dem Bett gefallen, als Jonas plötzlich gellend losgeschrien und um sich geschlagen hatte. Wie am Abend zuvor war er aufgelöst gewesen. Jonas besänftigte ihn abermals, erzählte etwas von einem krassen Albtraum und als er später mit ihm zum Frühstücken und schließlich zum Beach-Volley-Ball-Spielen an den Strand ging, schien es rasch vergessen zu sein.
Jonas saß am Tisch an der Strandbar und versuchte das Gesicht zu rekonstruieren, das er in seiner letzten Vision gesehen hatte. Es war ihm irgendwie bekannt vorgekommen, worauf er sich nach dem Spiel schließlich eine Serviette schnappte und mit Kugelschreiber das Gesicht skizzierte. Sein Bruder Sebastian hatte einen gleichaltrigen Jungen aus England kennen gelernt. Die beiden saßen nun am Rand der Strandbar, auf einer niederen Mauer und fachsimpelten über die neuesten Nintendo-Spiele – auf Englisch. Jonas staunte über seinen kleinen Bruder immer mehr.
Zwar ging dieser bereits in die achte Klasse Gymnasium und er war, wenn er den Worten seiner Mutter Glauben schenken durfte, kein schlechter Schüler. Dennoch war er nicht minder Stolz auf seinen Bruder, als die beiden auch noch anfingen, sich auf Englisch Witze zu erzählen.
Jonas kritzelte indessen weiterhin an dem Gesicht herum. Die dünne Papierserviette war kein gutes Zeichenmaterial und hin und wieder machte sein Kugelschreiber sogar kleine Löcher und Risse in das Papier. Zu seiner Erleichterung kam am Ende ein passables Porträt heraus. Der Mann, den er in der Vision gesehen hatte, als der Drache – Fäiram – den Kopf hochgerissen hatte, sah südländisch aus, mit finsteren Augen, einem dicken, schwarzen Schnurrbart und dunklen, wuscheligen Haaren und einem breiten, kantigen Gesicht.
„Hey!“, rief Sebastian und ließ sich auf den Stuhl neben Jonas fallen. „Was machst du denn da?“
Jonas schreckte hoch und musste sich erst mal gewaltsam in die Wirklichkeit zurückholen. Er sah flüchtig in die Richtung, wo die beiden Jungs zuvor gesessen hatten. „Wo ist dein neuer Freund abgeblieben?“
„Patrick fährt mit seinen Eltern in die Stadt. Vielleicht sehen wir uns später am Pool.“
„Ihr habt euch ja gut angefreundet.“
„Ja.“ Sebastian nickte. „Er kommt aus Birmingham. Das ist cool. Vielleicht mailen wir uns.“
„Gute Idee. Das schult dein Englisch.“
Wieder nickte Sebastian und beugte sich über die Zeichnung. „Das ist doch der Vogelhändler von gestern. Was willst du denn mit dem Kerl?“
Jonas blickte seinen Bruder überrascht an. „Wer?“
„Na, der Kerl, von dem Markt, der mir diesen Kakadu verkaufen wollte. Weißt du nicht mehr? Das ist glaube ich illegal, oder nicht?“
Jonas blieb beinahe die Spucke weg. Er hatte sich den Vogelhändler nicht genauer angesehen, hatte ihn auch nicht sonderlich interessiert. Dennoch war ihm sein Gesicht irgendwie im Unterbewusstsein haften geblieben. „Hast Recht!“, kam es über seine Lippen. Ein wichtiges Indiz, das ihn näher an Fäiram bringen konnte. „Danke!“, sagte er und lächelte glücklich. Sebastian hatte eigentlich wesentlich mehr verdient. „Willst du ein Eis?“
Sein Bruder schüttelte überraschend den Kopf. Früher hätte er dieses Angebot niemals ausgeschlagen. In ihm schien eine Veränderung einhergegangen zu sein. Vielleicht wurde er endlich erwachsen. „Nein. Spielen wir nochmal Beach-Volley-Ball?“
Jonas lachte leise. „Du sicherlich nicht. Du musst aus der Sonne, siehst aus wie ein Krebs. Was hältst du davon, wenn wir einen Ausflug in die Stadt machen?“ Und nach dem Vogelhändler suchen, fügte Jonas im Stillen hinzu. „Vielleicht finden wir ein tolles Souvenir für Mama.“
Sebastian wurde schlagartig rot im Gesicht. „Lieber nicht“, presste er mühsam hervor. „Jedenfalls nicht so was, wie wir gestern in dem Laden gesehen haben.“
Jonas musste lauthals loslachen. Als sie gestern noch ein wenig durch die Stadt gelaufen waren, hatten sie auch einige Souvenir-Läden besucht. In beinahe ganz Griechenland gab es in nahezu jedem Ramschladen diese antiken Darstellungen von Kriegern, mit ihrem überdimensionierten Penissen, auf allen erdenklichen Materialien. Sebastian war hochrot angelaufen, als er das gesehen hatte, und war fluchtartig aus dem Laden gestürmt.
„Da finden wir sicherlich noch etwas anderes“, besänftige er ihn kichernd, worauf sich sein Bruder sichtlich entspannte.

Nachdem sie über zwei Stunden den Markt auf- und abgelaufen waren – vergeblich – und Sebastian wegen seiner müden Beine immer lauter jammerte, setzten sie sich zum Abendessen in eine Taverne. Der Vogelhändler war mitsamt seiner Vögel nicht zu finden, ebenso wie ein passendes Souvenir für ihre Mutter.
„Weißt du“, sagte Sebastian und stopfte sich den Rest seiner Spagetti Napoli in den Mund und kaute erst einmal darauf herum, „dass uns schon die ganze Zeit ein Falke folgt?“
Durch Jonas ging ein Ruck. Natürlich! Er hatte sie schlicht und einfach vergessen.
„Schon möglich“, brummelte er ausdruckslos und stand auf. „Muss mal aufs Klo. Bin gleich wieder da.“ Damit eilte er davon. Zielstrebig marschierte er in den Innenbereich der Taverne, an den Toiletten vorbei und in eine dahinter liegende Gasse, in die ein Hintereingang führte. Dort blickte er sich um und tippte sich auf die Schulter. Es dauerte nicht lange, ehe ein Vogel heran geflattert kam und sich auf seine Schulter setzte. Augenblicklich stülpte sich Dunkelheit über ihn.
Als er die Augen aufschlug, stand nicht Tuniäir vor ihm, sondern jemand anderer.
Wie auch immer die Falken das machten, mit dem nach Häälröm holen, es war jedenfalls wesentlich angenehmer, als Fäirams Methode. Vielleicht war das die Lösung, dachte er hoffnungsvoll, bevor er in den oberen sauerstoffarmen Luftschichten noch öfter Gesundheit und Hirnzellen riskieren musste. Mit einem Kopfschütteln tat er diese Gedanken ab, konzentrierte sich auf sein ursprüngliches Vorhaben und händigte dem Mann die Zeichnung aus.
„Diesen Kerl habe ich bei Fäiram gesehen. Er ist Vogelhändler hier auf dem Markt. Sucht ihn und verfolgt ihn. Er wird euch sicherlich zu Fäiram führen.“
„Sehr wohl, verehrter …“, antwortete der Mann, verstummte abrupt, da er offensichtlich nicht wusste, wie er ihn anzusprechen hatte, „… Drachenritter“, fand er endlich das richtige Wort. Rasch verstaute er die Zeichnung in einer Innentasche seines Mantels und verneigte sich leicht. Als er seine Hand ausstreckte, zuckte Jonas zurück.
„Das ist zwar angenehmer, aber geht das auch anders. Es ist befremdlich, jedes Mal bewusstlos zu werden.“
„Verzeiht bitte. Für Menschen ist der Übertritt nicht anders möglich“, sagte er entschuldigend und streckte seine Hand aus, um Jonas zu berühren.
An der Wand der Seitengasse gelehnt, kam Jonas wieder zu sich und blinzelte verwirrt. Er hasste es, ein jedes Mal in die totale Umnachtung geworfen zu werden, obwohl dies wirklich die angenehmere Art und Weise darstellte. Wenn er sich vorstellte, wieder hoch oben einen Beinahe-Erstickungstod zu durchleben, nahm er lieber diese Ohnmachtsanfälle in Kauf. Er rappelte sich murrend hoch, klopfte den Staub von seiner Hose und ging zu seinem Tisch zurück, wo Sebastian wartete, jedoch mit leicht rötlicher, ungewöhnlich säuerlicher Miene.
„Was ist los? War ich so lange auf dem Klo?“ Er sah auf die Uhr. Es waren gerade mal fünf Minuten verstrichen. Zweimal in fünf Minuten bewusstlos, das musste erst mal jemand nachmachen. Er setzte sich und nahm die Eiskarte zur Hand. „Lust auf Nachtisch?“
„Nö“, gab Sebastian kurz angebunden von sich und drehte den Kopf zur Seite, um angestrengt auf die Flaniermeile vor der Taverne zu blicken.
„Auf was hättest du denn Lust?“
„Auf nix.“
Jonas sah ihn leicht schief an. Irgendetwas war zwischen jetzt und vor fünf Minuten geschehen. „Was ist los?“
„Nix!“, kam es knapp zurück.
„Jetzt sag schon, Basti.“
Sebastian drehte den Kopf zurück und starrte seinen Bruder finster an. Auf seiner Stirn hatte sich eine dicke Falte gebildet. „War's schön auf dem Klo?“, murrte er finster.
Jonas dämmerte es. „Bist du mir etwa gefolgt?“
Der kleine Kerl nahm einen tiefen Atemzug. „Was für eine Geheimagentennummer ziehst du eigentlich ab? Diese komischen Anfälle? Haben die was damit zu tun?“
„Du hättest mir nicht folgen dürfen.“
„Ich hatte ehrlich Angst um dich. Wenn du wieder so einen Anfall hast …“ Er kaute unruhig auf seiner Lippe herum. „Was ziehst du da eigentlich ab? Du gehst in die Gasse und bist von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Kurz darauf tauchst du ebenso plötzlich aus dem Nichts auf, liegst ohnmächtig in der Ecke. Da ist irgendwas oberfaul.“
„Es war nicht gut, mir zu folgen.“ Jonas geriet in Panik. Er wollte auf keinen Fall seinen kleinen Bruder mit in die Sache hineinziehen.
„Bist du Geheimagent? Agent J? Wie aus Men in Black?“ Die Worte klangen giftig, schwer beleidigt und enttäuscht.
Jonas konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Nein.“
„Wie konntest du dich in Luft auflösen?“
Es hatte kein Zweck, ihm irgendwelche Lügen aufzutischen. Jonas war noch nie im Lügen gut gewesen. Er hatte sich stets in seinen eigenen Fallstricken verheddert und war jedes Mal ordentlich auf die Nase gefallen. „Ich bin in eine andere Welt übergewechselt.“
Das weckte eindeutig Sebastians Interesse. „In was für eine andere Welt?“
Jonas legte das Buch seines Urgroßvaters auf den Tisch und tippte drauf. Das Buch gab er praktisch niemals aus der Hand und trug es selbst während dieses Ausfluges in den großen Oberschenkeltaschen seiner halblangen Kaki-Shorts mit sich herum. „In diese.“
Sebastian wollte danach greifen, Jonas zog es jedoch rechtzeitig weg und steckte es in seine Tasche zurück.
„Mithilfe des Buches?“, wollte der Junge wissen und blickte dem verschwindenden Buch hinterher.
„Nein. Mithilfe der Falken.“
„Der Falken?“ Der Junge blickte sich rasch um und suchte die Gegend ab. Natürlich war nun kein Falke mehr in der Nähe. Vermutlich hatten sich alle auf die Suche nach dem Vogelhändler gemacht.
„Warum tust du das?“, wollte Sebastian als Nächstes wissen.
„Ein Freund ist in Schwierigkeiten. Ich muss ihm helfen.“
„Und wie?“
„Indem ich ihn finde. Allerdings solltest du dir keine weiteren Gedanken machen. Genieße deinen Urlaub.“
„Warum hast du so komische Anfälle?“, wollte Sebastian wissen, dem dies offensichtlich keine Ruhe ließ.
Jonas schnaufte tief und verzog sein Gesicht zu einer ernsten Grimasse. „Ich müsste dich danach töten, wenn ich dir das erzähle.“
Das Gesicht des Jungen versteinerte sich augenblicklich und er setzte sich gerader. „Ach so“, machte er verlegen und kaute auf seiner Lippe herum. Sein Schreck schlug jedoch sofort wieder um und die beleidigte Miene von vorhin kehrte zurück. „Du verarschst mich nur.“
„Nein.“ Jonas bezweifelte, dass er ihm das glaubte. Es war auch ohnehin egal. Sebastian hatte damit nichts zu tun und sollte es eigentlich auch nie erfahren. Insgeheim verfluchte er zum wiederholten Male, dass er diese blöde Feder überhaupt angefasst hatte.
„Es ist aber nichts Schlimmes oder so?“, sagte Sebastian nach einer kurzen Pause, in der er offensichtlich darüber nachdenken musste.
„Nichts Schlimmes“, versicherte Jonas ihm.
„Wer ist dein Freund? Kenn ich ihn?“
Jonas lächelte milde, leicht gefährlich, wie ein Killer, der seinem Opfer gerade mitteilte, dass er nun gezwungen sei, ihm den Garaus zu machen. „Du solltest aufhören, Fragen zu stellen, sonst muss ich dich wirklich noch eliminieren.“
Sebastian verzog sein Gesicht und biss sich auf die Lippen. „Okay!“, gab er kleinlaut von sich.

Es dauerte beinahe zwei Tage, ehe sich auf dem Balkon vor dem Hotelzimmer ein Falke niederließ und einen spitzen Schrei ausstieß. Jonas war gerade im Badezimmer unter der Dusche, als sein Bruder hereinstürmte und ihm mitteilte, dass auf dem Geländer ein Falke kreischte. Dabei zwinkerte er vielsagend mit einem Auge. Jonas beeilte sich, sich abzutrocknen und anzukleiden und öffnete wenig später die Türe zum Balkon. Der Falke flog an ihm vorbei in das Zimmer, drehte eine enge Runde und setzte sich auf die Schulter. Sogleich stülpte sich Dunkelheit über ihn.
Jonas schlug die Augen auf und fand das Gesicht von Tuniäir direkt über sich.
„Habt ihr ihn gefunden?“, fragte er sogleich und schüttelte den Kopf, um den Rest der Benommenheit loszuwerden.
„Höchstwahrscheinlich“, entgegnete Tuniäir und half Jonas auf die Beine. Rasch nahm er seine Hände von ihm und legte sie auf seinen Rücken. Steif blieb er vor ihm stehen, förmlich und zurückhaltend, in glänzenden Schuhen und einem eng anliegenden rotbraunen Mantel, dessen Schnitt dem von Fäiram sehr ähnlich sah. „Wir haben den Mann gefunden, den du in deiner Vision erkennen konntest, und sind ihm gefolgt. Etwas nördlich von deiner Behausung befindet sich eine Gebirgskette. Dort glauben wir das Versteck ausfindig gemacht zu haben. Wir Falken sind jedoch nicht in der Lage, den Prinzen zu befreien.“
„Er ist wirklich hier in Griechenland? Was wollte Fäiram hier?“
„Ich schätze, er war auf der Suche nach dir.“
Er hätte sich darüber freuen sollen, dass Fäiram nach ihm gesucht hatte, stattdessen konnte er lediglich Besorgnis aufbringen. „Sag mir, wo er ist. Ich fahre gleich dort hin“, erklärte sich Jonas augenblicklich bereit.
„Meine Falken werden dir den Weg zeigen.“
Da wäre allerdings ein weiteres Problem: Sebastian. Vermutlich würde er die ganze Nacht unterwegs sein. Aber eigentlich wäre sein Bruder alt genug, um mal eine Nacht allein zu sein, sagte er sich und wischte den Gedanken beiseite. „Okay, lass uns losziehen und verliebte Drachen retten.“
Tuniäir verzog leicht das Gesicht. Er hatte zwar seinen Kopf schnell zur Seite gedreht, damit es Jonas nicht sehen konnte, jedoch nicht schnell genug, um es gänzlich zu verbergen.
„Wenn er wohlbehalten in Häälröm zurück ist, sollten wir ein ernstes Gespräch mit ihm führen“, sagte Jonas, dem das schmerzvolle Gesicht nicht entgangen war. „Er muss wissen, dass du ihn liebst.“
„Genau wie du“, sagte ihm Tuniäir finster auf den Kopf zu. „Anderenfalls würdest du dich nicht bereiterklären, ihm zu helfen.“
„So was nennt man Freundschaftsdienst. Außerdem ist er mir noch eine Erklärung schuldig.“
„Gehört Lügen zu den gängigen Tugenden der Menschen?“
Jonas starrte ihn baff an, erholte sich jedoch rasch von dem Schreck über diese offene Behauptung. „Aber offenbar zu denen aus Häälröm.“
„Ich habe nie behauptet, dass ich es nicht tue.“
„Ich auch nicht“, gab Jonas ebenso entschieden zurück und fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar. Eine absolut mechanische Bewegung, die er ausführte, ohne darüber nachzudenken oder sie bewusst wahrzunehmen. Tuniäir tat dies jedoch. Seine Schultern zuckten, als er ihn dabei beobachtete.
„Wir werden wohl ein ernstes Gespräch zu dritt führen müssen“, bemerkte Jonas, um den Moment zu überspielen. „Und nun bring mich wieder zurück. Ich muss mich auf die Socken machen.“
Tuniäir sah ihn mit leicht schiefem Blick an und entschied offenbar, nicht weiter nachzufragen. Er hob seine Hand und legte sie ihm auf die Schulter. Augenblicklich fiel er abermals in die inzwischen gewohnte Dunkelheit.
Er kam im Hotelzimmer wieder zu sich. Der Falke flog gerade zur Balkontüre heraus. Sebastian hatte Jonas aufgefangen und ließ ihn nun vorsichtig auf den Boden gleiten.
„Echt cool!“, grinste er begeistert. „Wie aus Star Trek. Wie fühlt sich dieses Beamen an?“
Jonas stöhnte. „Beschissen.“ Er fasste sich an den Kopf und schüttelte die Benommenheit von sich. „Davon bekomme ich Gehirnkribbeln.“ Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und blieb noch eine Weile liegen, bis seine Sinne alle ordnungsgemäß zu ihm zurückgekehrt waren, ehe er sich aufraffte und nach den Autoschlüsseln suchte.
„Ich muss weg. Kommst du alleine klar?“
„Wo willst du hin? Darf ich mitkommen?“
Jonas hielt inne und starrte ihn an. „Kommt gar nicht infrage. Du bleibst hier.“
„Ich will aber mit.“ Sebastian stellte sich mit trotziger Miene an die Türe.
„Basti!“ Jonas schnaufte kurz durch. „Auf gar keinen Fall! Mama schneidet mir die Eier ab, wenn dir was passiert.“
„Hast du wirklich Angst um mich, oder nur um deine Eier?“
Jonas verschlug es die Sprache. Er starrte ihn mit großen Augen an. „Basti!“, schnaufte er laut. „Ich habe Angst um dich“, bekräftigte er ihm und betonte das letzte Wort. „Es kann gefährlich werden. Ich weiß nicht, was mich dort erwartet. Das Letzte, das ich will, ist, dass dir was passiert. Das geht allein mich etwas an und …“ Er verstummte. Sebastian brauchte nicht zu erfahren, dass er einen Mann liebte.
„Und Fäiram?“, beendete Sebastian den unvollendeten Satz.
Jonas fiel ein weiteres Mal die Kinnlade herunter. Er konnte seinen kleinen Bruder nur noch fassungslos anstarren. „Woher …“, stammelte er. „Woher hast du diesen Namen?“
„Von dir. Du stöhnst ständig im Schlaf. Fäiram … Fäiram … Oh! Fäiram“, äffte Sebastian seinen im Schlaf stöhnenden Bruder nach und räkelte sich dabei lasziv. „Ist das deine Freundin? Das klingt ausländisch. Wer ist das?“
„Am besten, du vergisst das schnell wieder. Du bleibst hier. Basta!“
„Nichts Basta!“, widersprach der Junge trotzig. „Ich will dir helfen.“
„Das hatten wir schon mal“, erinnerte ihn Jonas genervt. „Du könntest verletzt werden.“
„Ich lass mich von dir nicht aufs Abstellgleis schieben. Ich komme mit, oder ich rufe Mama an.“
„Mit Drohungen kommst du auch nicht weiter.“ Jonas stopfte die Autoschlüssel in seine Hosentasche und griff nach seiner Jacke. Im Gebirge könnte es kalt werden. Vor allem in der Nacht.
„Du bist in letzter Zeit echt komisch“, jammerte Sebastian. „Du machst dich nicht mehr über mich lustig und nennst mich nicht mehr Fettbacke. Du siehst so traurig aus, als hättest du Liebeskummer. In der Nacht stöhnst du so, dass man echt denken kann, dir geht da grad was ab. Und diese merkwürdigen Anfälle … Ich habe Angst um dich, Joni! Irgendwas ist mit dir und ich möchte dir helfen.“
Jonas musste einige Male tief durch schnaufen. Schließlich legte er den Arm um seinen Bruder und zog ihn an sich. „Ich liebe dich auch, Basti. Aber das ist echt …“
„Du tust es schon wieder“, unterbrach ihn der Kleine erzürnt.
„Was?“
„Du nennst mich nicht Fettbacke.“
Diesmal musste Jonas schmunzeln und zog ihn abermals an sich. „Wenn dir das so gefällt, Fettbacke. Ich kann dich aber trotzdem nicht mitnehmen. Es wird vermutlich sehr gefährlich. Sie haben meinen Freund gefangen und quälen ihn. Die gehen mit kleinen Jungs sicherlich nicht zimperlich um.“
„Wo ist hier ein kleiner Junge?“, hielt Sebastian hoffnungsvoll dagegen.
„Na du, Fettbacke.“ Jonas boxte seinem kleinen Bruder leicht in die Speckröllchen. „Du wartest hier schön auf mich.“
„Das kannst du vergessen.“
„Basti!“ Jonas stöhnte auf. „Bitte!“
„Bitte!“, flehte nun auch Sebastian.
Draußen auf dem Balkon kreischte der Falke ungeduldig.
„Ich komm mit!“, rief der Junge sogleich.
Jonas stöhnte laut, warf den Kopf in die Luft und klopfte seinem Bruder etwas fester auf die Schulter. „Also gut. Du bleibst aber brav im Wagen und tust genau, was ich sage.“
„Okay!“, rief der Junge freudig und machte einen Sprung in die Luft.
„Mama wird mir die Eier abschneiden, wenn sie das erfährt.“
„Muss sie ja nicht.“
„Spätestens dann, wenn du mit irgendeiner Schramme nachhause kommst, oder dir womöglich noch was Ernsteres passiert“, wusste Jonas.
„Dann kannst du meine haben“, krähte Sebastian fröhlich und schnappte sich seine Jacke.
Jonas musste losprusten. Das war zwar ein mehr als großzügiges Angebot, jedoch unmöglich. „Komm endlich, Fettbacke“, lachte er und schob den Jungen zur Türe hinaus.
Was würde der für Augen machen, wenn er den Freund sah. Jonas hoffte jedoch, dass er ihn noch vor Sebastians Augen befreien und fortschaffen konnte.

Impressum

Texte: Ashan Delon (C) 2012
Bildmaterialien: Mel Finjon, FWZ-Verlag
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2012

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