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Sommergewitter





„Was ist nu?“
Karls Stimme hallte durch den langen Flur bis zu mir in mein Zimmer, wo ich es mir wegen des miesen Wetters draußen vor meinem Fernseher bequem gemacht hatte. An rausgehen und etwas zu Essen besorgen, war bei diesem Wolkenbruch, der nun schon geschlagene zwei Stunden anhielt, nicht zu denken. Keine Chance.
Ich antwortete nicht und stellte stattdessen den Fernseher lauter. Die Soap, in die ich mehr oder weniger aus Versehen geraten bin, interessierte mich eigentlich nicht. Ich beließ es jedoch bei dem Sender und ließ die schönen, adretten Menschen, die sich in unmöglichste Seelenkrisen stürzten, auf mich einrieseln. Ich war von einer anstrengenden Arbeitswoche fertig und wollte mich nur noch einlullen lassen; und vermutlich auf meinem geliebten knallroten Ikea-Sofa einschlafen – was nicht zum ersten Mal passieren würde.
Nicht einmal zum fotografieren, einem langjährigen Hobby, das ich in letzter Zeit jedoch eher ziemlich vernachlässigte, konnte ich mich aufraffen. Dabei zuckten beeindruckende Blitze über den Himmel, die sicherlich wunderbare Aufnahmen hätten ergeben können.
Mir war nach herumlümmeln und wegdösen zumute. Die laute Stimme aus dem Flur war jedoch anderer Meinung.
Sie gehörte Karl, meinem Mitbewohner in unserer Zweier-WG. Als wir vor zwei Jahren bei einem zufällig gleichzeitig stattfindenden Termin die Wohnung besichtigten und feststellen mussten, dass sie zwar super, toll, ideal und wunderschön, jedoch für unser jeweiliges Budget viel zu teuer war, hatten wir uns spontan entschlossen, uns zusammenzutun und sie gemeinsam zu mieten. Obwohl wir allein schon vom Aussehen her nicht unterschiedlicher sein konnten, fanden wir uns bereits bei dieser Besichtigung sympathisch, jedoch nicht auf einer sexuellen Art.
Karl stand zwar genauso auf Jungs wie ich und hatte mir bereits bei unserem ersten Aufeinandertreffen von seinem Freund Max erzählt, jedoch war zwischen uns nie mehr als gute Freundschaft entstanden. Karl war zu meinem Bruder geworden, stand parat, wenn ich jemanden zum quatschen brauchte und baute mich auf, wenn ich mal absolut down war. Wir ergänzten uns super und meisterten Haushalt und alles was zu einer eigenen Bude gehörte grandios.
Nur bezüglich des Inhaltes unseres gemeinsamen Kühlschrankes, wer ihn wann und vor allem mit was aufzufüllen hatte, gab es hin und wieder kleine Diskussionen. Karl war eher der Fast-Food-Typ, konnte sich mühelos von kalter Pizza und fetten Hamburgern ernähren, was man ihm gut an seinem kleinen Bäuchlein ansehen konnte, während ich eher auf Bio, Gemüse und all die gesunden Sachen stand, die einem die Verdauung und das Leben erleichterten. Außerdem fühlte ich mich im Supermarkt nicht wirklich wohl. Mich überforderte das Angebot, sodass ich lieber in kleinen Reformhäusern einkaufen ging, in denen ich der Verkäuferin nur sagen musste, was ich die nächsten Tage zu essen gedachte und sie füllte für mich den Einkaufskorb, und ich brauchte nur noch zu bezahlen.
„Eri!“, donnerte es durch den Flur bis zu mir und ich stöhnte ärgerlich. Ich hasste es, wenn er mich so nannte. Ich hieß Erik. E-R-I-K, mit k am Schluss und nicht anders. Demonstrativ schwieg ich und wartete ab.
Erwartungsgemäß erschien er in meiner Türe und baute sich verärgert auf. „Sitzt du auf den Ohren? Mach die Glotze leiser.“
Ich stellte den Ton tatsächlich leiser, aber nicht, weil mich Karls barscher Ton einschüchterte, sondern, weil mich der allgemeine Geräuschpegel nervte. Von draußen polterte das Sommergewitter herein und der Fernseher plärrte mit einem wütenden Karl um die Wette. Das war etwas zu viel für meine von einem stressigen Arbeitstag überforderten Ohren.
„Fährst du jetzt was einkaufen?“ Seine Augen funkelten wütend. Ein Zeichen, dass ich auf Hab-Acht-Stellung gehen sollte. Wenn Karl wütend war, konnte schon mal etwas zu Bruch gehen. Zum Glück war er nur selten wütend auf mich. Nur wenn der Kühlschrank leer war und ich vergessen hatte, an dem Wochenende, an welchem ich mit einkaufen dran war, etwas dagegen zu unternehmen.
„Muss das jetzt sein?“, seufzte ich verzweifelt. „Draußen schüttet es wie aus Kübeln.“
„Ich hab dich heute morgen schon dran erinnert, dass du das nach der Arbeit erledigen sollst“, erinnerte er mich. „Du bist dieses Wochenende dran. Also hiev deinen Arsch in die Höhe und geh was holen. Ich hab Hunger.“
„Was soll ich denn schon groß einkaufen? Du fährst doch morgen eh mit Max in die Berge.“
„Und wovon willst du die zwei Tage leben? Von Luft und Liebe?“ Karl schnaufte entnervt. „Ich hab Hunger!“, wiederholte er mit Nachdruck. „Und du bist dran. Schieb deinen Arsch gefälligst vor die Türe und hol was. Von mir aus, auch von dem Bäcker um die Ecke, bei dem du so gerne einkaufst. Der hat doch auch Sandwiches mit leckeren Schnitzeln. Los mach schon!“
Ich stöhnte laut und genervt, warf die Fernbedienung neben mich auf mein rotes Sofa und ließ den Kopf auf die Rückenlehne sinken. „Es schüttet“, wagte ich einen weiteren Versuch, mich aus dieser Sache rauszuwinden. „Kannst du dir nicht einfach was bestellen?“
„Eri!“, gab Karl mit mahnendem Tonfall von sich und stemmte die Fäuste in die Hüften. Ich unterdrückte das ärgerliche Stöhnen, weil sich Karl einfach nicht merken wollte, wie ich richtig hieß. Ihn nur Kar zu nennen, würde mir nicht einmal im Traum einfallen. „Wir brauchen auch noch Milch für den Frühstückskaffee und Brot und Semmeln. Sonst wird es morgen ein sehr dürftiges Frühstück. Und du weißt genau, was passiert,wenn ich meinen Kaffee ohne Milch trinken muss.“
„Dir täte es nicht schlecht, wenn du auch mal auf deine fette Milch im Kaffee verzichtest“, maulte ich, mit Blick auf seine leicht rundliche Figur. „Jetzt muss ich in dieses Sauwetter raus, nur weil du deinen Stoffwechsel nicht unter Kontrolle hast.“
„Du wirst schon nicht zerfließen“, gab Karl brüskiert von sich. „Hättest du es nach der Arbeit erledigt, wo es noch nicht so geregnet hat, hättest du dir das Ganze ersparen können.“
Ich knurrte verärgert. Mein Magen auch. Denn seit heute Mittag, als ich ihm verkochtes Blumenkohlgratin und Vanillepudding mit Pappmascheegeschmack aus unserer Firmenkantine angetan hatte, hatte er noch nichts anderes bekommen.
„Siehst du!“, kommentierte Karl das hörbare Grummeln meines Bauches.
Ich seufzte resigniert. Wenn mein eigener Körper schon gegen mich intrigierte, blieb mir wohl nichts anderes mehr übrig.
„Nur wenn du mich fährst“, fiel mir gerade noch genialerweise ein. Karl besaß ein Auto und einen Parkplatz in der Tiefgarage unter dem Haus, weil seine Arbeitsstätte weit außerhalb der Stadt lag. Meine Firma befand sich beinahe um die Ecke. Ich konnte jeden Morgen zu Fuß gehen, oder die zwei Stationen mit der Straßenbahn fahren, je nachdem, wonach es mir war und wie zeitig ich dran war. Ein Auto war unnötig. So überließ ich Karl den zur Wohnung gehörenden Parkplatz, mit der Auflage, mich auch hin und wieder zu chauffieren.
Zu meiner Überraschung nickte Karl, wandte sich um und brachte auch schon seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche hervor. Im Gegensatz zu mir, der den Weg vom Auto zum Laden und zurück im strömenden Regen zurücklegen müsste, blieb Karl bei diesem Ausflug trocken. Außerdem schien er erkannt zu haben, dass ich mich damit eher dazu überreden lassen konnte, die kuschelige Wohnung zu verlassen und etwas Magenfüllendes zu besorgen.
Seufzend hievte ich mich aus meinem Sofa, schlüpfte in meine Regenjacke und meine Schuhe, schnappte mir noch mein Portemonnaie und verließ hinter Karl die Wohnung. Da meine Jeans für den dicken Geldbeutel zu eng war und meine Regenjacke keine Taschen besaß, behielt ich den Lederbeutel in der Hand und folgte Karl die Treppen hinunter in die Tiefgarage.
„Wann machst du endlich dieses lächerliche Ding ab?“, fragte er mich, während er seinen alten, leicht verbeulten roten Golf aufschloss und mir die Türe öffnete, da der Wagen so alt war, dass er keine Zentraltürverriegelung besaß.
Mit einem amüsierten Blick auf meinen Anstecker mit dem Aufdruck „Ich bin schwul. Na und?“, den ein leuchtender Regenbogen krönte, verzog ich meine Lippen nicht nur aus melancholischen Gründen zu einem Grinsen. Dieser Button an meiner Regenjacke war fast jedes Mal Anstoß einer Diskussion mit Karl, denn er mochte ihn nicht. Und jedes Mal, wenn mich mein Mitbewohner drauf ansprach, musste ich an die Gelegenheit denken, bei welchem ich ihn erhalten hatte: Eine Open-Air-Gay-Party vor fast einem Jahr, die im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen war. Ich mit einem absolut scharfen Kerl im Dauerregen. Einen ganzen Tag und eine Nacht lang waren wir unzertrennlich gewesen, hatten stundenlang eng umschlungen getanzt und waren sogar ein paar Mal in eines der für spezielle Zwecke bereit gestellten Zelte verschwunden. Zum Abschied schenkte er mir diesen Button, der seither an meiner Regenjacke hing.
„Was soll damit sein?“, fragte ich unschuldig.
Karl schnaufte hörbar. „Da kannst du dir gleich das Wort Schwul auf die Stirn tätowieren lassen.“ Er ging um das Auto herum, schloss die Fahrertüre auf und setzte sich hinter das Lenkrad. Ich öffnete grinsend die Beifahrertüre und ließ mich auf den Sitz daneben sinken.
„Vielleicht würdest du eher einen Freund finden, wenn du das nicht so offen zur Schau tragen würdest“, fuhr er fort, während er den Wagen anließ, rückwärts aus dem Parkplatz heraus fuhr und in Richtung Ausgang lenkte. „Sieh dich mal an. Dir quillt es doch schon fast aus jeder Pore raus. Du rennst dir jeden Sonntag Morgen jede Fettzelle einzeln aus dem Körper, ernährst dich nur von Vogelfutter und Hippiekost und brauchst im Bad länger als diese aufgedrehte Katzenblondine aus dem Fernsehen.“ Er schaltete den Scheibenwischer auf höchste Stufe, als er aus der Tiefgarage herausfuhr und sich in den Feierabendverkehr einfädelte.
„Wenn ich dir nicht mehr gefalle, kannst du ja mit mir Schluss machen“, gab ich leicht pikiert zurück.
„Süßer, du weißt genau, dass ich von dir abhängig bin“, konterte Karl ebenso. Wir waren in unser altes Spiel verfallen, uns zu kappeln wie zwei Eheleute. „Jetzt mal im Ernst, Erik. Ein paar Gramm Fett mehr auf deinen Rippen täten dir nicht schlecht. Du trägst eine kleinere Kleidergröße als Max' zehnjähriger Neffe. Und deine Hosen sind so eng, dass es mir allein schon bei dem Anblick an meinen eigenen Eiern schmerzt. Du solltest dir wirklich mal Gedanken darüber machen, ob diese ganze Natur-Gesundheit-Sache wirklich so gut ist.“
Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und sah den Regentropfen auf der Seitenscheibe hinterher. „Solange ich mich wohl fühle dabei.“
„Und was wenn nicht? So dürr wie du bist, hast du keinerlei Reserven.“
Auch wenn mich dieses leidige Thema, dass Karl immer wieder zur Sprache brachte, allmählich nervte – so gut er es auch meinte -, ich musste unwillkürlich lachen. „Oh, Karl. Du brauchst dir keine Sorgen um mich machen. Ich bin erst zweiundzwanzig und habe das ganze Leben noch vor mir. In meiner Ausbildung läuft es bestens. Mir geht es prima. Ich fühle mich sauwohl in meiner Haut. Was brauche ich einen Mister Perfect.“ Ich betrachtete ihn von der Seite. Wenn Karl seine Kiefer aufeinander presste und mit den Backenzähnen knirschte, hatte er wirklich etwas auf dem Herzen. „Was ist los?“, erkundigte ich mich daher. War etwas mit Max und ihm passiert? „Hat dein Max jetzt bei dir den Vaterkomplex ausgelöst, oder was?“
Karl lachte kurz auf und presste dann wieder seine Kiefer aufeinander, bevor er langsam den Kopf schüttelte. „Ich seh dich immer, dein Gesicht, wenn Max und ich im Wohnzimmer rummachen. Da denke ich mir immer, dass du verdammt einsam sein musst.“
Diesmal lachte ich kurz und beugte mich zu ihm rüber. „Du bist richtig niedlich, wenn du großer Bruder spielt“, flötete ich zuckersüß.
Ein Knurren entkam ihm, während er den Golf in eine Parklücke am Straßenrand bugsierte und den Motor abstellte. Der Regen prasselte heftig auf das Wagendach. Die Lautstärke im Inneren des Autos hatte sich nach dem Abstellen des Motors nicht wirklich verringert.
Er drehte sich zu mir. „Mir ist es ernst. Du brauchst jemanden, der dein Herz betörst, genauso wie das Teil zwischen deinen Beinen, das du mit deinen knallengen Hosen zusammenquetschst.“
„Wage es ja nicht, mich mit irgendjemandem verkuppeln zu wollen“, drohte ich. So etwas konnte ich gar nicht haben.
„Was ist mit dem Kerl vom letzten Jahr, den du auf diesem Open-Air kennengelernt hast?“, schien Karl meine Warnung als Aufforderung aufgefasst zu haben.
Ich schnaufte laut. „Das war nicht Mister Perfect, eher Mister günstige Gelegenheit.“ Wir hatten uns ein paar Tage danach zusammentelefoniert und getroffen, jedoch ziemlich schnell gemerkt, dass der gewisse Funke nicht mehr vorhanden war. Es ging nicht ohne das flippige Flair der ausgelassenen Party. „Ich komm schon klar, Karl. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich konzentriere mich auf meine Ausbildung. Das ist im Moment wichtiger.“ Ich beugte mich vor und hauchte ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, bevor ich den Schminkspiegel der Beifahrerseite runterklappte, mein Aussehen kurz überprüfte und an ein paar Haarsträhnen herumzupfte.
„Oh, Gott!“, stöhnte Karl und ließ seine Stirn auf das Lenkrad fallen. „Mach, dass du endlich rauskommst, du Barbie.“
Ich lachte amüsiert, schlug die Kapuze meiner Regenjacke über den Kopf, nahm den Geldbeutel in die Hand, den ich während der kurzen Autofahrt zwischen meine Schenkel geklemmt hatte, öffnete die Türe und sprang in den heftigen Regen hinaus.
Den Laden, den Karl zuvor so leichthin als Bäcker bezeichnet hatte, war eigentlich ein Naturkost-Supermarkt, der neben zahlreichen abgepackten Waren auch Frischware wie Wurst, Käse, Fisch und Fleisch und auch frisch zubereitete Backwaren Snacks anbot. Letzteres vermutlich wegen der unmittelbaren Nähe zur Berufsschule. Der Supermarkt befand sich rund fünf Minuten Fußmarsch von unserer Wohnung entfernt, mit dem Auto sogar weniger als drei. Da wir von dort stets die warmen Sonntagssemmeln holten, hatte er von Karl rasch den Titel Bäcker erhalten. Die Sandwichs, die Karl vorgeschlagen hatte, bestanden wie alles aus dem Sortiment aus kontrollierter Bio-Qualität. Trotz Vollkorntoast, Bio-Hähnchen und ebensolchem Salat, Soße und anderen Zutaten, schmeckten sie Karl. Zugeben würde er es jedoch nie offen. Mir war die Senfsoße zu scharf, weswegen ich mir stets extra welche ohne diese geschmacksnervenkillende Zutat zubereiten ließ. Die Verkäuferin hinter der Theke kannte mich bereits.
Ich schüttelte das Regenwasser von meiner Jacke, als ich den Supermarkt erreichte, nahm einen der Einkaufskörbe, eilte durch die Reihen und sammelte ein, was Karl vorhin erwähnt hatte. Neben den Sandwichs Milch für seinen geliebten Morgenkaffee. Aufbackbrötchen, weil die Supermarkt-eigene Backwaren-Abteilung so kurz nach sechs Uhr bereits leer geräumt war und noch ein paar andere Sachen, die mir das Wochenende angenehmer machen sollten. Karl würde am nächsten Morgen früh Richtung Berge aufbrechen, sodass ich lediglich etwas für mich besorgen musste. Den gut gefüllten Einkaufskorb leerte ich auf dem Förderband der Kasse aus, bezahlte und packte alles in die bereit gestellte Papiertüte.
Als ich zum Ausgang kam und sich die Türe vor mir auftaten, um mich in die unwirtliche Welt hinauszulassen, zögerte ich. Denn inzwischen war der Regen noch heftiger geworden. Dicke, fette Tropfen platschten vom Himmel und überfluteten den Gehweg vor dem Supermarkt, wo das Wasser beinahe Knöcheltief stand. Die Rinnsale der Straßen liefen über. Große Pfützen bildeten sich in Senken und Löchern. Es waren gut zehn Meter vom Ausgang bis zum Straßenrand, wo Karls knallroter Golf zwischen einem dunkelroten BMW und einem schwarzen Van parkte. Dennoch würde ich klatschnass dort ankommen.
Die Papiertüte an meinen Bauch gepresst, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, marschierte ich los. Ich konnte kaum den Weg sehen. Es waren ja nur knapp zehn Meter bis zu Karls Wagen. Den würde ich trotz Sturzbach auch blind und ohne Navi schaffen.
Am Wagen angekommen, riss ich die Türe auf, ließ die Tüte nebst Geldbeutel in den Fußraum der Beifahrerseite fallen, mich selbst auf den Sitz plumpsen und warf schnell die Türe hinter mir zu.
„Sauwetter! Lass uns schnell nach Hause fahren“, schimpfte ich, während ich das Wasser von der Jacke schüttelte.
„Gern. Wenn ich wüsste wohin“, kam es von der Seite.
Ich stutzte.
Das war so gar nicht Karls tiefe Bassstimme. Die hier klang einen Tick heller, weicher, angenehmer. War ich im falschen Film?
Ich hob langsam den Kopf und sah den Kerl, der auf dem Fahrersitz saß, unter meiner tropfnassen Kapuze heraus an. Er sah Karl so was von gar nicht ähnlich. Auch das Auto, in welchem ich nun saß, war nicht das von Karl.
Ich war nicht nur im falschen Film, ich saß im falschen Auto.
Mein Kopf fuhr herum. Hinter uns stand der rote Golf. Selbst durch den dichten Regen und dem dicken Schleier zweier Regenüberfluteter Autoscheiben konnte ich Karl sehen, wie er sich gerade vor Lachen wegschüttete.
Oh, verdammte Scheiße!
Kochendes Blut schoss in mein Gesicht. Es brannte lichterloh vor Scham.
Meine Tüte schnappen, ein hastiges „Tschuldigung!“ murmeln, Türe aufreißen und aus dem Wagen hechten, war beinahe ein einziger Impuls. Im nächsten saß ich bereits neben Karl, der kurz vor einem Lachkollaps stand. Mein Mitbewohner war nicht imstande los zu fahren, so sehr ich ihn auch darum bat.
Stattdessen krümmte er sich vor Lachen, pinkelte sich wahrscheinlich auch gerade in die Hose vor Vergnügen. Ich grummelte immer lauter und als er sogar zu kieksen anfing, hieb ich ihm heftig in den Oberarm. Dies würde morgen vermutlich ein hässlicher blauer Fleck werden und ich durfte mir von Max sicherlich etwas anhören, doch das war mir egal.
Mein Gesicht brannte vor Verlegenheit und niemand wollte mich erlösen oder gar trösten. Am allerwenigsten Karl, der sich nicht mehr einkriegte vor Lachen.
Weder Karl noch der andere Fahrer fuhren los. Ich war hilflos vor Scham, und Karl rutschte in seinem Lachkollaps beinahe unter das Lenkrad. Immer wieder hieb ich ihm in den Arm. Er kommentierte das mit einem noch heftigerem Lachanfall.
Als sich der Andere in dem BMW vor uns sogar zu uns umdrehte, überflutete ein weiteres Mal kochend heißes Blut mein Gesicht und ich musste an mich halten, nicht in den Fußraum zu sinken. Durch die beiden Regenschleier und dem dichten Regen konnte ich sein Gesicht nicht sehen, lediglich eine verschwommene Fläche. Dennoch glaubte ich den Blick direkt auf mir zu spüren, den er mir durch den Gewitterregen zuwarf. Ein Blick, der sich tief in mich hineinfraß und eine weitere Welle aus brennender Scham über mich hinwegrasen ließ.
Scheiße!
Was mochte der Typ von mir denken?
Ich wünschte inständig, der Kerl würde endlich losfahren, oder auch Karl kam endlich von seinem Trip herunter und erlöste mich. Doch keiner von beiden hatte Erbarmen mit mir. Karl kringelte sich noch immer vor Lachen und der BMW schien auf jemanden zu warten.
In dem Augenblick, als ich das gedacht hatte, hastete eine junge Frau, die an der Kasse hinter mir in der Schlange gestanden hatte, zum anderen Wagen und stieg schnell ein. Ich wagte es nicht, durch die Scheibe zu sehen und starrte angestrengt zwischen meine nassen Schuhe auf den Boden. Höchstwahrscheinlich erzählte er ihr gerade brühwarm, dass sich ein absoluter Volltrottel gerade aus Versehen in sein Auto gesetzt hatte und schüttete sich ebenso vor Lachen weg, wie Karl.
Wenn mein schadenfreudiger Mitbewohner doch nur endlich losfahren würde. Doch der war noch immer mit seinem Lachkrampf beschäftigt, und ich hieb ihm noch einmal auf den Oberarm.
Schier grenzenlose Erleichterung überflutete mich schließlich, als endlich die Lichter des anderen Wagens angingen, der Blinker aufleuchtete und er endlich wegfuhr.
Karl grölte noch immer vor Lachen und riss zwischen seinen halben Erstickungsanfällen derbe Witze über mich und mein Versehen.
„Hör endlich auf und fahr los!“, fuhr ich ihn schließlich wütend an.
Noch immer grölend vor Lachen, schien er endlich ein Erbarmen mit mir zu haben, warf den Motor an und fuhr los. Den ganzen Weg über kicherte und feixte er unentwegt weiter, sodass ich ihn bald wütend anbrüllte, er solle endlich die Klappe halten. Zu meinem Leidwesen war es noch den ganzen Abend Gesprächsthema. Mir war der Hunger auf Senfsoßenlose Sandwichs gründlich vergangen.
Verdammt nochmal! Wie konnte mir das passieren?
Ich war so froh, dass der Kerl in dem BMW es so locker aufgenommen hatte und mich mit einem breiten Grinsen und einem frechen Spruch empfing. So war es noch einmal glimpflich ausgegangen. Ich ärgerte mich jedoch immer mehr über Karl, den diese Angelegenheit einfach nicht los ließ. Immer wieder fing er zu lachen an, rief sogar Max an, um ihm von diesem Erlebnis zu erzählen, worauf er ein weiteres Mal – bestimmt zum hundertsten Mal an diesem Abend – einen Lachkollaps erlitt. Irgendwann knallte ich wütend meine Zimmertüre zu und warf mich ins Bett.
Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
Diesen Spruch bekam ich nun brühwarm serviert, ohne Senfsoße.

Am nächsten Morgen knallte eine Türe ins Schloss und ich fuhr aus meinem Schlaf. Ich hörte Karls tiefen Bass, der sich lautstark mit seinem Freund Max unterhielt, ihn fragte, ob er dies oder jenes eingepackt hatte.
Ich sah auf die Uhr. Es war fast neun Uhr und eigentlich wollten die beiden schon längst unterwegs sein. Vermutlich hatte er verschlafen oder wurde von allen möglichen Gegebenheiten aufgehalten. Karl halt, dachte ich amüsiert. Keine Disziplin und keinen Plan.
Ich schwang meine Beine aus dem Bett, warf mich in eine Jogginghose und trat auf den Flur.
Sofort als Karl mich erblickte, fing er wieder an zu Kichern. Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu, worauf er die Lippen zusammenkniff und sich wieder seinem Rucksack widmete.
Müde schlurfte ich in die Küche, goss mir schwarzen Kaffee in eine Tasse und wollte mich zurück in mein Bett verkrümeln. Es war Wochenende und ich hatte bald die Wohnung für mich allein. Zeit um ausgiebig zu chillen und noch einmal bis nach Mittag die Kissen zu drücken. Nach Joggen war mir nicht zumute.
„Was machst du heute?“, erkundigte sich Karl interessiert.
„Warum? Willst du mit?“ Ich machte mir nicht die Mühe, mich nach ihm umzudrehen, sondern marschierte weiter in Richtung Zimmer.
„Wir fahren bald. Vielleicht kannst du ein wenig raus gehen, dich verabreden.“
Karl, dachte ich seufzend. Ganz der Papa. In letzter Zeit ging er mir wirklich auf die Nerven. War irgendetwas? Mit ihm und Max?
Ich blieb stehen, drehte mich um und beäugte ihn misstrauisch.
Karl zuckte nur mit den Schultern und widmete sich wieder seinem Rucksack, stopfte eine dunkelblaue Regenjacke hinein, ohne sie ordentlich zusammenzulegen. Ich seufzte abermals leise.
Aber er hatte irgendwie recht. Für das Wochenende war wunderschönes Wetter angesagt. Nach dem heftigen Gewitter vom gestrigen Tag, würde die Luft rein und klar sein. Es würde herrlich sein, durch den Park spazieren zu gehen oder mit der Kamera bewaffnet dem Zoo einen Besuch abzustatten – eines meiner Lieblingsbeschäftigungen, wenn ich etwas Zerstreuung brauchte. Ich hatte schon lange nicht mehr fotografiert.
Kurzerhand entschloss ich mich, für heute einen Ausflug zu unternehmen, mit Fotoapparat bewaffnet, die Gegend erkunden und Land, Leute und neugeborene Zoo-Insassen ablichten. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, warf mir rasch die Jogginghose über und sammelte meine Utensilien zusammen.
Kamera hatte ich bald gefunden. Ich überprüfte den Füllstand von Batterie und Datenkarte, da ich sie schon länger nicht mehr benutzt hatte, schob sie in ihre Tasche zurück und suchte nach meinem Geldbeutel.
Eine Suche, die sich jedoch als äußerst schwierig entpuppte, denn das Ding ließ sich nicht auffinden. Dabei hatte ich sie doch erst gestern in den Händen gehalten, als ich vom Supermarkt zurückgekommen war. Wo also, hatte ich sie hingelegt, nachdem wir in die Wohnung zurückgekehrt waren?
Ich drehte beinahe jedes Teil meiner Einrichtung um, durchwühlte sämtliche Schubladen und Regale, suchte sogar unter den Laken und unter der Matratze meines Bettes, es blieb jedoch verschwunden.
Wo zur Hölle hatte ich es gelassen?
Ohne Geld würde mich die Dame an der Zookasse nicht einlassen, wusste ich. Sie kannte mich zwar schon, verlangte jedoch trotz allem den Eintritt. Außerdem befanden sich in meiner Geldbörse meine ganzen Ausweise und EC-Karten. Somit war es mehr als notwendig, dass ich dieses vermaledeite Ding fand.
Ich wühlte ein weiteres Mal sämtliche Möglichkeiten durch, jedoch vergeblich.
Vielleicht hatte ich sie in der Küche gelassen, als ich den Einkauf ausräumte, dachte ich hoffnungsvoll und verließ mein Zimmer.
Karls Stimme hallte durch den Flur. Er sprach mit jemandem, jedoch in einem seltsamen Ton. Keinem, in welchem er mit Max sprechen würde. Ich trat in die Küche und blieb wie angewurzelt stehen.
Da stand eben jener Kerl, in dessen Wagen ich mich gestern versehentlich gesetzt hatte. In seinen Händen hielt er meine Geldbörse.
Augenblicklich lief ich knallrot an und senkte schnell den Kopf.
„Hi, Eri“, flötete Karl, kam zu mir und schob mich unserem Gast näher. Ich weigerte mich, verkrallte förmlich meine nackten Zehen in den Boden. Ich hatte noch keine Zeit gefunden, mich richtig anzuziehen. Noch immer trug ich nur die Jogginghose am Leib. „Du hast Besuch“, fuhr er fort, ein Lachen in seiner Stimme.
„Morgen“, grüßte der andere. „Ich glaube, das gehört dir.“ Er hielt mir mein Portemonnaie hin und lächelte mich freundlich an. Sein Blick wanderte über meinen nackten Oberkörper, über die weite Jogginghose bis hin zu meinen bloßen Füßen. Ich kam mir in diesem Moment so offen und verletzlich vor und wünschte mir inständig, dass ich mir noch wenigstens ein T-Shirt übergeworfen hätte. Plötzlich schossen mir auch Karls Worte in den Sinn, dürr, hager, ohne Reserven – absolut unattraktiv.
Meine Hand wollte sich nicht bewegen, um sie ihm abzunehmen. Ich war total verkrampft.
„Das ist Rick. Richard“, fügte Karl sogleich an. „Scheint, als hätte euch das Schicksal zusammengeführt, Eri.“
Ich knurrte verhalten. Mir war die Angelegenheit so etwas von peinlich. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. „Ich heiße Erik“, brummelte ich missmutig. Die Zurechtweisung hatte eigentlich Karl gegolten. Ich sah dabei jedoch den Kerl an, der unsicher, jedoch noch immer freundlich lächelte.
„Kaffee?“, fragte Karl den fremden Mann und drückte ihm einfach eine gefüllte Tasse in die Hand, die dieser mit einem Nicken annahm.
Mit der Tasse in der einen und der Geldbörse in der anderen, stand er noch immer vor mir, wusste selbst nicht genau, wie er sich nun verhalten sollte.
„Wir gehen dann mal“, rief Karl, klopfte mir auf die Schulter und verließ mit Max die Küche.
Ich hätte ihn umbringen können.
„Ähm … hier“, versuchte es Rick – Richard – noch einmal, mir mein Eigentum zu überreichen. Endlich schaffte ich es, meine Hand danach auszustrecken und es mir zu nehmen. Dabei streiften meine Finger unabsichtlich seine. Oder hatte er seine Finger absichtlich bewegt, damit sie sich berührten, sobald ich danach griff?
Ich sah ihn an. Ein Lächeln drang mir angenehm entgegen. Ich entspannte mich ein wenig.
„Richard Michalsky“, stellte er sich selbst vor.
„Erik Brandner“, antwortete ich brummelig.
„Ich weiß.“ Wieder begegnete mir dieses freundliche Lächeln.
„Entschuldigung, wegen gestern“, presste ich hervor. „Ich hab nicht gesehen, dass …“ Ich verstummte, als die Scham wieder emporschnellte und ich bemerkte, wie die Röte abermals in mein Gesicht einschoss.
„Kein Problem, war eine nette Begegnung.“ Er setzte die Tasse an seine Lippen und trank einen Schluck, während er mich über den Rand hinweg weiterhin musterte.
Ein weiteres Mal kam ich mir gläsern und durchscheinend vor. Er konnte an meinen deutlich sichtbaren Knochen sicherlich kein Gefallen finden, sagte ich mir. Womöglich fand er mich sogar abstoßend.
Was für ihn auf keinen Fall zutraf.
Mir war gestern schon aufgefallen, dass er das gewisse Etwas besaß. Seine Augen strahlten etwas aus, was jede einzelne Faser in mir aufzustellen vermochte und ein Prickeln entfachte, dass nur allzu schnell in größere, intensivere Gefühle umschlagen konnte. Seine Stimme hatte mich bis in meine Träume verfolgt, in welchen ich neben ihm in seinem Wagen saß und er mich wieder so nett und freundlich anlächelte, wie in diesem Moment. Ein Lächeln, das dieses Prickeln nur noch verstärkte.
Und wenn ich seine Statur so betrachtete, musste ich feststellen, dass auch an ihm kein Gramm Fett zu viel saß. Vermutlich trieb er ebenfalls viel Sport oder ernährte sich wie ich gesund. Was vermutlich erklärte, warum er vor dem Bio-Supermarkt gestanden hatte.
„Meine Schwester fand dein Portemonnaie. Ich hielt es für angebracht, es dir zurückzubringen.“
„Danke“, gab ich knapp von mir. Meine Stimme klang heißer und verbraucht.
Er nippte abermals an seinem Kaffee und beobachtete mich wieder eingehend. Wir standen uns gegenüber, in unserer Küche, wussten nicht, was wir als nächstes tun sollten. Händeringend suchte ich nach einem Ausweg aus dieser Situation, diesem ehernen Schweigen, das sich zwischen uns mehr und mehr ausbreitete. Er sah wirklich nett aus und wenn ich ihn unter anderen Umständen kennengelernt hätte, wäre vielleicht sogar etwas aus uns geworden, dachte ich verzweifelt.
„Er geht auf die Open-Air-Gay-Party“, tönte Karls donnernde Stimme von Flur her, als sah er sich dafür verantwortlich die Situation retten zu müssen. „Vielleicht solltet ihr euch da verabreden.“
Ich zischte wütend in seine Richtung. Wenn er nicht bald die Klappe hielt, würde ich ihn wirklich noch umbringen. Abgesehen davon … wie lange war der Kerl schon hier, um von Karl dessen halbe Lebensgeschichte aus der Nase gezogen zu bekommen.
„Gehst du auch hin?“, wollte Richard wissen. „Ich war letztes Jahr schon dort. War extrem nass gewesen, jedoch sehr interessant.“
Ich betrachtete ihn musternd. Der Kerl vom letzten Jahr war es definitiv nicht.
Verwirrt zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Hättest du Lust, mit mir dort hinzugehen?“ Seine Frage klang aufrichtig, und es fehlte ihm auch der anzüglichen Klang. Er schien einfach nur eine nette Gesellschaft für die Party zu suchen. Aber warum brachte er die Sprache auf diese Party?
Eigentlich hatte ich mich dazu entschlossen, dieses Jahr nicht hinzugehen, um mir eine weitere Enttäuschung zu ersparen. Ich hatte zwar meinen Spaß gehabt und hatte mich auch wirklich nicht beschweren können. Ich war gänzlich auf meine Kosten gekommen, doch die Enttäuschung, dass wir nicht zueinander passten, saß noch immer in meinen Gliedern. Eine weitere Erfahrung dieser Art wollte ich mir tunlichst ersparen.
„Wie kommst du darauf, dass ich …?“ Ich biss mir auf die Lippen. Karl hatte mir schon mehrmals gesagt, dass man mir meine sexuelle Ausrichtung weithin ansehen konnte.
„Dein Sticker“, erklärte Richard. „An deiner Jacke, gestern. Und da dachte ich mir … Ich bin letztes Jahr alleine dort hingegangen, in der Hoffnung, jemanden kennenzulernen.“ Er blickte etwas betreten zu Boden, bevor er leise seufzte und sich dann wieder einen Schluck Kaffee gönnte. „Ich wollte eigentlich dieses Jahr nicht mehr hingehen. Aber als ich deinen Sticker sah … und dann deine Geldbörse in Händen hielt … dachte ich mir … na, ja, ein Wink des Schicksals. Vielleicht könnten wir doch gemeinsam, einfach so, unverbindlich, ohne Verpflichtung.“
Unwillkürlich musste ich lächeln und nickte schließlich. „Okay.“
Er nickte ebenfalls und nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse. „Was machst du heute noch so?“
Ich sah ihn verwundert an und zuckte mit den Schultern. „In den Park gehen oder in den Zoo.“
„In den Zoo?“ Er sah mich leicht schief an.
Verunsichert nickte ich. Große Männer, die in den Zoo gingen und wie kleine Kinder an den Gitterstäben hingen, um putzige Welpen anzugaffen. Daher schob ich rasch ein „Fotografieren“ hinterher.
„Zoo klingt gut“, ging er überraschend darauf ein. „Wenn du willst, kann ich dich hinter die Kulissen führen, dort wo kein normaler Besucher hinkommt. Das gibt bestimmt gute Aufnahmen.“
Jetzt war ich derjenige, der ihn mit einem fragenden Blick schief ansah.
„Ich arbeite dort“, erklärte er knapp und verbarg sein Lächeln hinter der Tasse.
Ich nickte nur. Welch ein Zufall.
„Warum?“, fragte ich und räusperte mich verhalten. „Warum willst du mit mir auf die Gay-Party … und in den Zoo?“
Er lächelte schüchtern. „Wie dein Freund sagte: Ein Wink des Schicksal.“ Abermals nippte er kurz an seinem Kaffee. „Gerade im selben Moment, als du dich in den Wagen gesetzt hast, dachte ich an diese Party und entschloss mich, dieses Jahr nicht hinzugehen. Im Jahr davor hatte ich mich kurz vorher von meinem Freund getrennt und dachte, dort könnte ich auf andere Gedanken kommen und jemanden neuen kennenlernen. Ich bin in meinem Job viel eingespannt und habe manchmal keine Lust, noch auf Pirsch zu gehen.“ Er stellte seine Tasse einfach hinter sich auf die Arbeitsfläche neben die Kaffeemaschine und kehrte zu mir zurück. „Als du dich einfach in meinen Wagen gesetzt hast, fiel mein Blick sofort auf diesen Regenbogen-Anstecker. Und als mir meine Schwester das Portemonnaie in die Hand drückte, das sie im Fußraum meines Wagens gefunden hatte, dachte ich mir, das kann nur irgendein Zeichen sein. Versteh mich nicht falsch. Ich steh nicht so unbedingt auf dieses esoterische Zeugs, aber es passte alles irgendwie zusammen.“ Er schob seine Hände, mit denen er anscheinend nun nichts mehr anzufangen wusste in die Vorderseiten seiner eng um die schmalen Hüften sitzenden Jeans. Dabei spannte er die Hose im Schritt, worauf mein Blick wie gebannt von dieser Stelle angezogen wurde.
Ich riss mich mit einem lautlosen Räuspern von diesem Anblick los und fixierte meinen Blick auf einen Punkt hinter Richard.
„Was haben wir zu verlieren?“, fragte er und sah mich herausfordernd an. „Eine ungewöhnlichere Art, jemanden kennenzulernen, als diese gibt es wohl nicht.“ Seine Mundwinkel zogen sich zu einem breiten, frechen Lächeln, das ich prompt erwiderte. „Abgesehen davon, hättest du ruhig sitzen bleiben können. Ich hätte dich gerne nach Hause gefahren.“
„Ich war mit Karl …“ Ich verstummte, als die Erlebnisse vom gestrigen Abend zurückkehrten und ich gegen einen neuerlichen Anfall von Scham ankämpfen musste.
„Kümmert euch nicht um mich!“, tönte es vom Flur her.
Ich knurrte wütend, während Richards Grinsen breiter wurde und schließlich sein Lachen in einem abgewürgten Prusten unterdrücken musste.
Kurz entschlossen drehte ich mich um, beugte mich in den Flur und rief: „Max, wenn du ihn nicht sofort hier raus schaffst, seh ich mich noch imstande, ihm den Hals umzudrehen.“
„Dein Freund macht sich nur Gedanken um dich“, bemerkte Richard, als ich zurückkehrte.
„Mitbewohner“, korrigierte ich, als ich den gewissen Tonfall erkannte hatte, mit welchem er das Wörtchen „Freund“ bedacht hatte, und fragte mich ein weiteres Mal, wie lange er schon hier war und was Karl ihm alles von mir erzählt haben konnte. Vermutlich hatte mein übereifriger Mitbewohner die Gelegenheit beim Schopf gepackt, noch bevor sie sich zu einer solchen hatte entwickeln können, um mich förmlich an den Mann zu bringen.
Eines stand jedoch fest: Richard war eindeutig an mir interessiert. Die extrem kurze Kennlernrunde in seinem Wagen hatte ausgereicht, um ihn auf mich aufmerksam zu machen.
Anscheinend gefiel ihm auch, was er bei unserer zweiten Begegnung zu sehen bekommen hatte. So knochig, dürr und unansehnlich, wie Karl fand, schien ich doch nicht zu sein.
Vielleicht würde es doch kein so einsames Wochenende werden, sagte ich mir plötzlich zuversichtlich. Und vielleicht würde meine Begleitung zur Gay-Party auch noch für danach bleiben. Dagegen hatte ich nichts. Ganz im Gegenteil. Der Gedanke gefiel mir außerordentlich gut.
„Ich zieh mich an und hole noch meine Kamera. Dann können wir gehen“, willigte ich ein und erwiderte das glückliche Lächeln.
Richard war einen gewagten Versuch eingegangen, musste ich anerkennend und auch in gewisser Weise beeindruckt feststellen. Es hätte auch gehörig nach hinten losgehen können. Dabei hätte es auch ganz anders kommen können. Ich hätte hetero, vergeben oder schlichtweg nicht interessiert sein können. Das Risiko schien es ihm wert zu sein. Aber wenn ich nicht so tollpatschig gewesen wäre, wäre es gar nicht erst dazu gekommen.
Wozu lächerliche Regenbogen-Anstecker alles gut sein konnten.

Sommergewitter - the other side




Eigentlich war es ja ganz schön gewesen, auch wenn meine Hoffnungen überhaupt nicht erfüllt worden waren. Irgendwie war es etwas besonderes gewesen, auch wenn ich mir dabei einen verdammten Schnupfen geholt hatte.
Ob ich dieses Jahr wieder auf die Open-Air-Gay-Party gehe … ?
Ich glaube nicht.
Ich meine damit, es hat mir schon gefallen – irgendwie, obwohl ich die meiste Zeit alleine war und nicht mit irgendeinen heißen Typen in eines der Darkroom-Zelte verschwinden konnte. Es hatte nicht geklappt – irgendwie.
Dennoch dachte ich mit Wehmut an diese Party-Nacht zurück.
Vielleicht war ich auch einfach nur noch zu wund gewesen – ich meine damit mein Herz. Nicht falsch verstehen. Wenige Tage vor der Party, auf die wir eigentlich gemeinsam gehen wollten, war Schluss mit uns beiden. Mit meinem Freund Siggi und mir.
Der Ofen war schon längst aus. Er regte sich ständig darüber auf, dass ich als Tierpfleger auch mal Nachts in den Zoo gerufen wurde. Und ich meckerte mindestens ebenso oft darüber, dass er faul geworden war, nur noch vor dem Fernseher hocken und sich einen Gay-Porno nach dem anderen reinziehen wollte.
Siggi war einfach nicht mehr meine Welt geworden. Und ich vermutlich seine nicht mehr.
Jedenfalls war ich drei Tage vor der Party plötzlich solo und wusste nicht mehr, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte, die mir neben meinem Job übrig blieb. Ich bin trotzdem auf die Party gegangen, nur um auf andere Gedanken zu kommen und vielleicht einen netten Typen kennenzulernen. Und vielleicht hatte ich zu wenig Erwartungen gehabt, denn außer ein paar angenehmen Bekanntschaften, war nichts dabei rausgekommen.
Jetzt saß ich in meinem Wagen, im strömenden Regen eines heftigen Sommergewitters und dachte darüber nach, was ich mit mir anfangen sollte.
Ich sehnte mich nach Nähe, nach jemanden, um den ich einen Arm legen konnte und der sich im Bett an mich kuschelte. Obwohl ich mir Gegenteiliges einzureden versuchte, mir selbst suggerierte, dass ich derartigen Stress gar nicht brauchte, fehlte mir die Gesellschaft eines Mannes an meiner Seite.
Mein Blick glitt aus dem Seitenfenster zu dem Bio-Supermarkt, durch dessen Eingangstüren meine Schwester vor wenigen Minuten verschwunden war und hoffte, dass sie bald zurückkam. Das Gewitter hatte dafür gesorgt, dass es spürbar kälter geworden war. Es sollte nur ein einfaches Sommergewitter sein, hatte der Wetterbericht gesagt. Für den nächsten Tag war wieder strahlender Sonnenschein und tropische Temperaturen angesagt worden.
Ich machte mir jedoch mehr Sorgen um meine Schützlinge im Zoo, die das heftige Krachen eventuell erschrecken könnte und schielte schon nach meinem Telefon.
Ob ich einen Anruf oder eine SMS verpasst hatte, weil ich derart in Gedanken versunken war?
Ich bin ein Grübler, da hat meine Schwester schon recht. Ich machte mir schon immer zu viele Gedanken und redete mir Dinge schön, oder gar etwas ein, das einfach nicht sein konnte.
Dasselbe war mir auch mit der Party passiert. Da hatte ich fest damit gerechnet, dass ich nicht alleine nach Hause gehen würde.
Das würde mir aber kein zweites Mal passieren. Dieses Jahr würde die Party ohne mich stattfinden. Ich sollte mich besser um meine Tiere kümmern, die meinen Einsatz besser zu würdigen wussten, als so mancher Zweibeiner.
Der Regen wurde lauter und er prasselte nun beinahe ohrenbetäubend laut auf das Dach meines Wagens. Ich hoffte nur, dass es nicht auch noch zu hageln anfing, denn Beulen in meinem neuen BMW gefielen mir gar nicht.
Das Auto … das war auch so ein Ding, das ich mir als Ersatz für Zweisamkeit zugelegt hatte. Der Effekt hatte jedoch nur ein paar Wochen angehalten. Dann wünschte ich mir, der Platz neben mir würde besetzt sein.
Ich seufzte tief, legte den Kopf an die Nackenstütze und hoffte, dass meine Schwester Amelie bald zurückkam. Sie wollte ja alleine gehen, allein durch den dichten Regen stapfen und noch schnell etwas holen, bevor der Laden schloss. Dass es „mein“ Laden war, wie sie sarkastisch bemerkt hatte, weil ich dort oft einkaufen ging, störte sie diesmal nicht im Geringsten. Er einfach näher und sie hatte keine Lust, ans andere Ende der Stadt zu dem großen Einkaufstempel mit den hellerleuchteten Cafés und Minishops zu fahren. Es war ja auch ein ziemliches Sauwetter und für die paar Sachen, würde er schon genügen.
Ich war fast gewillt gewesen, ihr den Gefallen nicht zu tun, sie mal schnell zu „meinem“ Laden zu fahren. Sie hatte ihn nicht verdient. Dafür war sein Angebot zu kostbar und erlesen, um einfach zu „genügen“. Immerhin gab es dort kontrollierte Bio-Qualität und die Angestellten waren sehr freundlich und zuvorkommend und selbst nach einem zwanzig Stunden-Tag noch mit einem Lächeln zu sehen. Es musste glücklich machen, dort zu arbeiten, hatte ich stets für mich selbst festgestellt, wenn mich die Kassiererin selbst noch kurz vor Ladenschluss mit einem breiten Lächeln und einem netten Spruch empfing.
Schon genügen …
Ich schnaubte protestierend. Vielleicht sollte ich einfach wegfahren und sie im Regen nach Hause gehen lassen.
Aber was machte ich jetzt mit der Gay-Party …?
Sollte ich nun hingehen oder nicht?
Reizen würde es mich schon. Es war trotz aller Enttäuschung ein ganz netter Abend gewesen, mit netten Gesprächen und netten Bekanntschaften, die sich allerdings verloren hatten, noch ehe der Abend gelaufen war.
Hatte ich dieses Jahr vielleicht mehr Glück?
Ich horchte in mein Herz und fühlte, ob es noch immer so wund war, wie letztes Jahr. Es war wund, aber nicht mehr von den Reibereien mit Siggi, sondern von meiner Einsamkeit.
Denn einsam, das musste ich mir eingestehen, war ich wirklich.

Plötzlich wurde die Autotüre aufgerissen. Eine fremde Person, die definitiv nicht Amelie war, warf eine volle Einkaufstüte in den Fußraum, ließ sich schwer in den Sitz plumpsen und knallte schnell die Türe hinter sich zu.
„Sauwetter! Lass uns schnell nach Hause fahren“, stieß er gehetzt aus, während er das Wasser von der tropfnassen Regenjacke schüttelte und gedachte, es sich in dem Sitz bequem zu machen.
Ich war einen Moment absolut perplex. Offenkundig handelte es sich hierbei um ein Versehen. Mein Blick glitt hastig über die Person, die sich erdreistet hatte, sich ungefragt in meinen Wagen zu setzen und mir mit den nassen Sachen Sitzpolster und alles zu versauen. Zuerst keimte Verärgerung über diese Unverschämtheit in mir auf, doch als mein Blick einen kleinen Anstecker an der nassen, dunkelvioletten Regenjacke entdeckte, verstarb dieses Gefühl augenblicklich.
Ich kannte den Anstecker.
Ein knallbunter, in leuchtenden Farben dargestellter Regenbogen über einem sehr dreisten Spruch. Einen solchen Button hatte ich letztes Jahr auf der Open-Air-Party geschenkt bekommen, ihn jedoch auf dem Nachhauseweg in einen Mülleimer geworfen, weil ich ihn schlichtweg lächerlich fand.
Ich bin schwul … Na und?
Das war ich zwar auch, aber deswegen trug ich es nicht offen zur Schau. Ich gehörte nicht zu denjenigen, die ihre Gesinnung mit einem Leuchtreklameschild auf der Stirn jedem unter die Nase hielten. Diesen Kerl, der sich aufgrund des Wetter vermutlich lediglich verlaufen oder in der Autotüre geirrt hatte, schien es nicht zu stören, dass man es ihm dank des Buttons weithin ansehen konnte.
Aber auch ohne dieses Leuchtschild hätte die Vermutung nahe liegen können, dass er anders war. Die Regenjacke verhüllte zwar viel von seiner schlanken Gestalt, doch die Beine waren frei. Sie stecken in eng anliegenden Jeans, die von der Nässe fast schwarz wirkten. Ich erlag beinahe der Versuchung, meine Hand auf die Oberschenkel zu legen, um ihnen etwas von der Unannehmlichkeit zu nehmen, die eine nasse Hose mit sich brachte.
„Gern. Wenn ich wüsste wohin“, gab ich von mir, konnte das Lachen, das sich in mir ausbreitete nicht gänzlich verbergen.
Endlich schien es dem Typen zu dämmern. Sein Kopf kam langsam hoch. Unter der tropfenden Kapuze drang mir ein absolut erschrockenes, jedoch recht ansehnliches Gesicht entgegen. Seine dunklen Augen weiteten sich beinahe schlagartig, als er das Ausmaß begriff, in das er sich hineinmanövriert hatte. Die Beleuchtung im Inneren des Wagens war gedämpft, da der Motor ausgeschaltet war und das spärliche, vom dichten Regen zusätzlich gedämpfte Licht der Supermarkt-Beleuchtung nicht bis zu uns durchdrang. Dennoch konnte ich erkennen, wie sein Gesicht knallrot anlief, nachdem er hektisch den Kopf zur Rückscheibe gedreht hatte, um offensichtlich dort nach jemandem zu sehen.
Wenn es mir nicht schon vorher klar gewesen wäre, stand nun für mich definitiv fest: Er hatte sich aus Versehen in den falschen Wagen gesetzt.
Ich konnte mein Lachen kaum noch unterdrücken.
Noch ehe ich mich unter Kontrolle bringen, ihn besänftigen oder auch nur irgendetwas Weiteres erwidern konnte, murmelte er ein hektisches „Tschuldigung“, schnappte sich seinen Einkauf und war schon wieder aus dem Wagen verschwunden.
Sehnsüchtig und traurig sah ich ihm hinterher, schalt mich jedoch sogleich dafür.
Mann, war ich bereits so notgeil, dass ich jedem Arsch hinterher starrte?
Obwohl … Der Kerl war es wert.
Die großen, dunklen Augen prägten sich sofort in mein Gedächtnis ein. Die Lippen, von der Kälte und der Nässe des Gewitters leicht bläulich, vor Entsetzen leicht geöffnet. Viel hatte ich von ihm nicht erkennen können. Für eine ausgiebige Musterung war der Augenblick einfach zu kurz gewesen. Zudem hatte die weite Regenjacke viel von seinem Körper verdeckt. Doch die Beine in diesen eng anliegenden Jeans …
Meine Gedanken wanderten bereits schon wieder weiter und stellten sich den Hintern vor, der in diesen engen Jeans stecken musste. Er konnte einfach nur hinreißend und absolut knackig aussehen. Genauso wie der Kerl selbst. Ich rief mir sein Gesicht in Erinnerung. Er war wirklich hübsch, ein klein wenig zu mädchenhaft, doch das passte irgendwie zu ihm. War da auch eine Strähne seines Haars gewesen, genauso dunkel wie seine Augen, die ihm feucht und klamm ins Gesicht gefallen war. Ich hatte Regentropfen auf den Wangen glitzern sehen. In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte sie wegwischen können, mir wäre die Zeit geblieben, die Kapuze von seinem Kopf zu streifen und mir den Typen genauer anzuschauen.
Oh Mann!
Ich hieb meinen Hinterkopf gegen die Nackenstütze und knurrte laut.
Es war wirklich Zeit, dass ich mir jemanden suchte. Das war ja nicht mehr auszuhalten.
Tickte meine biologische Uhr denn so laut, oder war das mein Herz, dass sich nach Wärme und Liebe sehnte.
In einem Anfall von Bedauern, drehte ich mich im Sitz um und suchte ihn. Hinter meinem Wagen stand ein alter, roter Golf mit zwei Personen. Ich konnte sie durch den Regenschleier nicht genau erkennen, dennoch glaubte ich, dass die Person auf dem Beifahrersitz jene war, die für gerade mal für eine Minute auf dem Sitz neben mir gesessen hatte.
Sollte ich nun aussteigen und zu ihm gehen?
Was sollte ich ihm sagen?
Es war ihm doch schon peinlich genug.
Das war keine billige Anmache gewesen. Sondern ein echtes Missgeschick, eines, das für gewöhnlich nur anderen Leuten passierte und über das man – seine Schadenfreude bis ins Letzte auskostend – herzlich lachen konnte.
Aber Schadenfreude war es nicht, dass ich in diesem Moment empfand. Eher Mitleid.
Ich wollte zu ihm, ihm irgendetwas sagen. Dass er sich keine Gedanken zu machen braucht. Es war nichts passiert.
Doch dann fiel mir ein, dass er nicht alleine im Wagen saß.
Neben ihm war jemand gewesen.
Sein Freund?
Höchstwahrscheinlich. Vielleicht sogar hundertprozentig. Denn solch ein Kerl wie dieser eben … dass er alleine durchs Leben lief, konnte einfach nicht sein. Dafür sah er zu umwerfend aus, zu verführerisch, zu lecker. Das hatten sicherlich auch schon andere Kerle vor mir gesehen und ihn sich geschnappt.
Der Kerl neben ihm.
Ich drehte mich wieder zurück.
Verdammt.
Es hätte so schön sein können.
Träume durfte man doch haben. Oder?

Die Türe ging ein weiteres Mal auf und Amelie ließ sich mit einem lauten Schnaufen in den Sitz fallen. „Hi“, grüßte sie mich und stellte ihre Einkaufstüte in den Fußraum zwischen ihre Beine.
Ich brachte nur ein Krächzen zustande.
„Was ist los?“, erkundigte sie sich interessiert und musterte mich eingehend.
Ich räusperte mich. „Nichts. Hast du alles bekommen, was du wolltest?“
„Nur das Nötigste“, nickte sie. „Ich geh morgen sowieso einkaufen. Nun fahr schon. Ich will zu Hause sein, ehe die Sendung anfängt.“
Ich knurrte verhalten, ließ den Motor an und fuhr los.
Und ließ damit meine Chance hinter mir.
Es wäre so schön gewesen, wenn …
Nicht darüber nachdenken, sagte ich mir auf dem Heimweg immer wieder wie ein Mantra vor, um irgendwann selbst daran glauben zu können. Wie ich den relativ kurzen Weg vom Bio-Supermarkt bis zu Amelies Wohnung absolviert hatte, war mir nicht in Erinnerung haften geblieben, denn ich musste die ganze Zeit an den Kerl denken. Seine großen, dunklen Augen drängten sich immer wieder vor mein geistiges Auge und ich musste immer wieder darum kämpfen, nicht zu grinsen.
„Hey, Rick!“, rief Amelie, als ich den Wagen an den Straßenrand geparkt hatte und darauf wartete, dass sie ausstieg. „Gehört er dir?“ Sie hielt einen schwarzen Ledergeldbeutel hoch, betrachtete ihn fragend und reichte ihn mir rüber.
Mein Herz beschleunigte sich augenblicklich.
Nein, er gehörte nicht mir. Ich wusste jedoch ganz genau, wem er gehörte.
„Hab heute Nachmittag einen Kollegen heimgefahren“, log ich, nahm das Portemonnaie und presste es an mich. Amelie wusste, dass ich schwul war. Wir hatten auch keine Geheimnisse voreinander. Doch dieses wollte ich vorerst noch vor ihr verbergen, denn wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hätte, hätte ich ihr in allen Einzelheiten erzählen müssen, was vorgefallen war – und das wollte ich nicht.
Nicht jetzt, nicht nachdem mir die Chance ein zweites Mal geboten worden war.
Sie nickte nur, klemmte sich die Tüte vor die Brust, stieg aus und ging davon.
Erleichtert fuhr ich zu mir nach Hause, um mich in meine Küche zu setzen, den Geldbeutel vor mir auf den Tisch zu legen und ihn erst einmal ratlos anzustarren.
Ich traute mich nicht, ihn zu öffnen.
Denn dann, wusste ich, würde ich alles über ihn erfahren: seinen Namen, wie alt er war, wo er wohnte. Womöglich trug er sogar Fotos von sich und seinem Freund in seiner Brieftasche herum. Ein schmerzhafter Wermutstropfen, den ich mir ersparen wollte.
Es drängte mich jedoch danach, zu erfahren, wer er war. Ich wollte seinen Namen wissen.
Doch sobald ich meine Hand an das schwarze Leder legte, keimte auch sogleich der Gedanke auf, Verbotenes zu tun oder noch Schlimmer: Fotos von ihm und seinem Freund vorzufinden.
Das konnte ich nicht ertragen.
Ach, verdammt!
Was machte ich mir eigentlich Hoffnungen.
Es war ja gar nichts geschehen. Absolut nichts!
Er war sogar sofort ausgestiegen und zu seinem Freund in den anderen Wagen gestiegen. Vermutlich stritten sie jetzt über das kleine Versehen. Wahrscheinlich würden sie sich dann danach versöhnen, zusammen ins Bett sinken und sich lieben.
„Verflucht!“, schimpfte ich laut und schob die Börse von mir. Ich hatte nicht das Recht, mich in dieses Leben zu drängen. Es stand mir nicht zu, eine intakte Beziehung zu zerstören.
Ich sprang auf meine Beine und lief einige Male in der Küche auf und ab wie ein nervöser Tiger. Mir war jedoch bewusst, dass ich ihm die Geldbörse zurückbringen musste. Denn genauso wie ich kein Recht hatte, mich einzumischen, besaß ich auch nicht das Recht, dieses kleine Stückchen Leben von ihm zu behalten.
Ich musste es ihm zurückgeben … was bedeutete, dass ich ihm noch einmal begegnen musste.
Aber wie konnte ich es ihm zurückgeben, wenn ich nicht wusste, wer er war und wo ich ihn finden konnte?
Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Börse zu öffnen und nachzusehen.
Mit weichen Knien und zitternden Fingern, nahm ich das Lederstück in die Hand, legte vorsichtig die Fingerspitzen an die Kanten und schlug es auf.
Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht hatte, das mich erwarten würde. Als ich es aufschlug, sah ich nur EC-Karten, den oberen Rand eines Personalausweises und ein ausgebeultes Münzfach. Meine Finger wurden klamm, als ich den Ausweis mit den Fingerspitzen aus seinem Fach zog.
Ich widerstand der Versuchung, meine Augen zu schließen.
Aber ich wollte mich nicht davor verschließen. Jede Faser meines Körpers sehnte sich danach, endlich zu erfahren, wer der Kerl war.
In mir brannte es lichterloh nach dieser Information.
Erik Matthias Brandner.
Mein Herz klopfte bis zum Hals.
Zweiundzwanzig war er und wohnte nur ein paar Häuserblocks von mir entfernt. Ich kannte die Straße. Ein Arbeitskollege hatte dort gewohnt, ehe er mit seiner Freundin zusammengezogen war.
Ich öffnete das Geldscheinfach und warf einen Blick hinein. Außer Geldscheinen und ein paar Einkaufsbons von dem Bio-Supermarkt befand sich nichts weiter darin. Kein Foto, kein eng zusammengefalteter Liebesbrief seines Freundes.
Ich musste über mich selbst lachen, weil ich fest damit gerechnet hatte, irgendeinen Beweis dafür zu finden, dass er in einer Beziehung lebte. Nachdem er den Button so auffällig an seiner Brust trug, hatte ich förmlich erwartet, auch hier etwas zu finden.
Doch der Geldbeutel wirkte irgendwie aufgeräumt. Nur das, was sich in einer Geldbörse zu befinden hatte, war auch darin enthalten.
Wie in meiner, musste ich mir selbst eingestehen. In meiner befand sich ebenfalls kein Foto. War er etwa doch nicht liiert?
Ich öffnete das Münzfach und warf ebenfalls einen Blick hinein. Neben jede Menge Kleingeld entdeckte ich dort eine dünne dunkelblaue SD-Karte. Mir fiel der Geldbeutel beinahe aus den Händen.
Keuchend krallte ich meine Finger in das Leder, wühlte in den Münzen herum und brachte die kleine Kunststoffkarte zum Vorschein.
Sollte ich … ?
Durfte ich … ?
Verflucht! Ich war schon so weit in sein Leben vorgedrungen, was machte es aus, wenn ich in seinen privaten Bildern herumschnüffelte. Er musste es ja auch nicht erfahren.
Doch bevor ich das kleine Ding endgültig in den winzigen Schlitz an meinem Laptop stecken konnte, meldete sich mein Anstand.
Ich hatte kein Recht dazu.
Was auch immer ich auf dieser Datenkarte vorfinden würde, es gehörte nicht mir.
Der Kerl – Erik Matthias Brandner – war ein absolut Fremder. Er kam mir jedoch bereits so vertraut vor, dass ich versuchte, mein schlechtes Gewissen nieder zu würgen.
Was war schon dabei, wenn ich mir ansah, was sich auf dieser Karte befand.
Bilder, Daten, seine ganze Lebensgeschichte …
Mein Herz schlug bis zum Hals, als der Computer die Daten einlas und wenig später das erste Bild auf meinem Bildschirm aufpoppte.
Zu meiner Überraschung eine Fotografie von Hilde. Ich erkannte die große, graugrüne Schildkröte mit dem hellen, blauen Fleck auf der Oberseite des Panzers sofort. Der blaue Fleck stammte von dem Desinfektionsspray, das ihr der Tierarzt letztes Jahr wegen einer Verletzung im Panzer draufsprühen musste. Das nächste Foto zeigte unsere Elefanten, dann kamen neugeborene Tiger und noch mehr der Tiere im Zoo. Auch einige Aufnahmen von Zoo-Besuchern, Eltern mit ihren Kindern, die vor den Käfigen standen und ihre Nasen platt drückten, Passanten, die sich in dem großen Café in der Mitte des Zoos in der Sonne aalten. Als nächstes kamen einige Landschaftsaufnahmen, die Gegenden außerhalb der Stadt, jedoch auch welche in der Innenstadt. Ich erkannte es anhand einer Baustelle, die letztes Jahr den Verkehr zum Stocken gebracht hatte.
Erik Matthias Brandner fotografierte also gerne.
Ich klickte mich durch die Bilder, auf der Suche nach Erik selbst oder nach Personen, die er öfter ablichtete. Irgendwann, ziemlich am Schluss der Liste erkannte ich einen Mann, eng umschlungen mit einem anderen. Das Bild war eindeutig, die beiden gehörten zusammen. Doch keiner von beiden war Erik.
Ich konnte auch kein Bild finden, mit nur einem Mann, der den Fotografen verliebt ansah oder sich für ihn in Pose rückte.
Nichts. Niemand.
War er doch allein, wie ich?
Allerdings waren die Aufnahmen schon etwas älter. Ich kontrollierte das Datum der Dateien. Letztes Jahr.
Rasch zog ich die Datenkarte aus dem Schlitz und legte sie in das Münzfach zurück. Plötzlich fühlte ich mich schlecht, als hätte ich Unrecht getan, als hätte ich etwas Böses angestellt.
Was ich auch getan hatte. Ich hatte einen Blick in sein Leben geworfen, ein Blick, der mir nicht zustand.
Rasch schloss ich die Börse wieder und entschloss mich, sie gleich morgen früh zurückzubringen. Er würde sie sicherlich bereits vermissen.

Am nächsten Morgen, kurz vor neun – ich konnte es einfach nicht mehr länger aushalten – stand ich nun vor seinem Haus. Einer dieser Mehrfamilienhäuser, erst vor kurzem gründlich saniert, mit jede Menge Grün drumherum, ruhig und idyllisch gelegen. Ich sah mich nervös um. Ich wusste selbst nicht, warum ich plötzlich daran dachte, dass er irgendwo in der Nähe stehen und mich beobachten musste. Es war für Samstag noch recht früh und wahrscheinlich holte ich ihn aus dem Bett.
Oder war schon längst weg, auf Tour, arbeiten oder sonst wo?
Vielleicht machte ich mir aber auch nur wieder zu viele Gedanken.
Meine Finger zitterten, als ich die Klingel drückte, auf welcher nicht nur der Name Brandner stand, sondern auch noch Mühlegg. Also lebte er doch in einer Beziehung.
Ich hatte jedoch schon die Klingel gedrückt und konnte daher nicht mehr zurück. Zumindest musste ich das Portemonnaie abliefern. Das war ich ihm schuldig.
„Ja?“, kam es aus dem Lautsprecher neben den Klingelknöpfen.
„Ich bin Richard Michalsky. Spreche ich mit Erik Brandner? Ich habe hier die Geldbörse, die er … Sie gestern in meinem Wagen vergessen haben?“ Meine Stimme zitterte und ich hoffte, dass es die Gegenstelle nicht mitbekam.
Der Türsummer ging an und die Haustüre ging einen Spalt auf. „Komm rauf. Dritter Stock, rechts.“
Die Stimme war tief und dunkel, klang überhaupt nicht nach dem Typ von gestern. Aber da hatte ich auch nicht mehr als ein gemurmeltes „Tschuldigung“ zu Hören bekommen.
Es gab einen Aufzug. Ich nahm trotzdem die Treppe, denn ich war zu nervös, um still stehen zu bleiben. Entsprechend leicht außer Atem kam ich im dritten Stock an. Eine der drei Wohnungstüren stand einen Spalt breit auf. Ich drückte sie ein klein wenig weiter auf und schob meinen Kopf hinein.
„Hallo?“
„Komm rein!“
Plötzlich stand ein Kerl vor mir und grinste mich breit an. Auch wenn ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte und auch durch den Regenschleier so gut wie nichts hatte erkennen können, so wusste ich, dass das der Kerl war, der in dem roten Golf gewartet hatte. Es war auch der Kerl von den Fotos, der mit einem anderen Mann im Arm mit der Linse kokettiert hatte. Das lebende Pendant des anderen Mannes kam auch sogleich in den Flur und gesellte sich zu ihm, den Arm um dessen Schultern legend.
„Hi! Karl“, grüßte der Erste sogleich und streckte mir mit einem Grinsen die Hand entgegen. Ich schlug ein, etwas verwirrt und unsicher, da ich nicht so recht wusste, wie ich die Situation zu deuten hatte.
„Hi! Richard … Rick“, antwortete ich und wollte ihm schon das Portemonnaie in die Hand drücken. Meine Hand zuckte bereits, doch Karl drehte sich kurz nach dem Anderen um.
„Das ist Max, mein Freund.“ Karl entblößte zwei Reihen weißer Zähne, als er beinahe von einem Ohr zum anderen grinste. „Du bist also der Kerl in dem BMW.“
Ich nickte unsicher. „Ja … Ich … hier“ Ein weiterer Versuch, rasch das fremde Eigentum loszuwerden und schnell zu verschwinden, doch Karl schien keinerlei Interesse an der Börse zu haben.
Vermutlich, weil es nicht seine war.
„Wir wollten gerade frühstücken“, plauderte Karl weiter, drehte sich um und schob Max, seinen Freund, in die Küche.
Ich blieb einen Moment perplex stehen, ehe ich mich entschied ihm einfach zu folgen. Er hatte mich zwar weder eingeladen, noch aufgefordert zu gehen, so interpretierte ich diese Aussage kurzerhand als Einladung. In der Küche blieb ich jedoch wieder stehen und sah mich flüchtig um.
„Bist du schon mal auf einem Open-Air-Event gewesen?“, erkundigte sich Karl unvermittelt und sah mich fragend an.
Ich schluckte hart. Nicht nur, dass mit dieser Frage sofort die Erinnerungen an letztes Jahr zurückkehrten, war ich über diese persönliche Anrede etwas überrascht. Überhaupt benahm sich Karl äußerst direkt, eine Art, die ich nicht gewohnt war und mich erst einmal sprachlos werden ließ.
„Ja … letztes Jahr … auf der …“ Ich verstummte. Ich musste ja nicht gleich jedem ans Bein binden, dass ich schwul war. Obwohl … Max und Karl waren es ja ziemlich offenkundig auch und wer wenn nicht die beiden, würde mich besser verstehen können. „Gay-Party“, schloss ich meinen Satz schließlich doch wie vorgesehen ab.
„Aha“, machte Karl und zwinkerte mir zu. „Gehst du dieses Jahr wieder hin?“
„Ähm ... ja ... vielleicht … ich weiß nicht.“ Ich wusste nicht so recht, wie ich das Verhalten dieses Mannes interpretieren sollte. Mich überkam das unbestimmte Gefühl, dass er mich anmachen wollte, aber das vor den Augen seines Freundes, erschien mir doch etwas zu suspekt. Zudem der andere überhaupt nicht eifersüchtig reagierte. Also irgendwas lief hier schief.
Doch was nur?
Hatte ich irgendein Signal übersehen?
Plötzlich hörte ich das leise Geräusch nackter Füße auf dem Laminatboden des Flurs und ich drehte mich um. Es dauerte auch keine weitere Minute, bis Erik in die Küche kam und sich mein Herzschlag augenblicklich verdoppelte.
Mir blieb bei seinem Anblick beinahe die Spucke weg.
Als sich unsere Blicke trafen, versteifte er sich sofort. Sein Gesicht wurde erst kreidebleich, dann färbte es sich rötlich. Er konnte sich demnach noch an mich erinnern, auch wenn ihm diese Begegnung peinlich gewesen zu sein schien. Kein Wunder.
Sein Auftritt wäre etwas für Pleiten, Pech und Pannen gewesen.
Mir blieb in dieser Schrecksekunde jedoch die Zeit, meinen Blick über ihn schweifen zu lassen. Er trug legere hellgraue Jogginghosen, ansonsten nichts. Barfuß und mit blankem Oberkörper stand er nun vor mir und starrte mich in beinahe demselben Entsetzen an, das ihm gestern bei seiner Erkenntnis in die Glieder gefahren war. Er war schlank, nicht unbedingt mager, jedoch konnte man den Knochenbau unter seinen Muskeln erkennen. Das dunkle Haar fiel ihm wirr ins Gesicht. Seine Augen hatten sich ähnlich geweitet wie gestern und seine Lippen, diesmal leuchtend rot und voll, öffneten sich leicht.
Mein Blick blieb einen Moment auf seinen Lippen haften. Gerne hätte ich meine drauf gedrückt und eine kleine Kostprobe davon genommen.
Rasch schob ich diesen Gedanken beiseite.
Träum weiter, Rick, schalt ich mich. So ein Kerl wie der, war sicherlich nicht an dir interessiert. Dafür sah er einfach zu gut aus.
„Hi, Eri“, flötete Karl, zerriss damit das Schweigen, dass sich in der Küche breit gemacht hatte, setzte sich in Bewegung und stellte sich hinter Erik, um ihn näher an mich heranzuschieben. Erik zeigte sich jedoch widerspenstig, fast so als hätte er seine Zehen in den Boden gekrallt. „Du hast Besuch.“ Karls Stimme ein einziges Lachen.
Ich gab mir einen Schubs. „Morgen“, grüßte ich freundlich und hielt ihm das Portemonnaie hin. „Ich glaube, das gehört dir.“ Ich konnte mich nicht zurückhalten, ihn ein weiteres Mal mit einem eingehenden Blick zu mustern. Er sah einfach zu scharf aus. Oh Mann, wie gerne würde ich meine Zunge in dem kleinen Bauchnabel versenken.
Erik schien sich unter meinem Blick nicht wohl zu fühlen. Er schien sich regelrecht verkrampft zu haben. Ich zwang mich dazu, wegzusehen, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, was mir jedoch gründlich misslang.
„Das ist Rick. Richard“, meldete sich Karl wieder zu Wort, als sich erneut Schweigen eingestellt hatte. „Scheint, als hätte euch das Schicksal zusammengeführt, Eri.“
Erik stieß ein grummeliges Knurren aus.
Ich war mir immer noch nicht sicher, wie ich das seltsame Verhalten von Karl einschätzen sollte. Wollte er uns beide etwa verkuppeln?
„Ich heiße Erik“, gab eben jener brummelig von sich. Obwohl er mich dabei ansah, war ich mir sicher, dass dieses missmutige Brummeln Karl gegolten hatte. Ich versuchte mich weiterhin in einem freundlichen Lächeln. Allmählich wurde auch mir die Angelegenheit etwas zu mulmig.
„Kaffee?“, fragte mich Karl drückte mir einfach eine gefüllte Tasse in die Hand. Überrumpelt nahm ich sie mit einem Nicken an.
Mit der Tasse in der einen und der Geldbörse in der anderen Hand, wusste ich jetzt immer noch nicht so wirklich, wie ich mich verhalten sollte. Es knisterte irgendwie zwischen uns. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob vor drohendem Unheil, oder vor Anspannung. Irgendwas lief hier nicht so wie die Übergabe einer vergessenen Geldbörse normalerweise stattfinden sollte.
„Wir gehen dann mal“, rief Karl, klopfte Erik auf die Schulter und verließ mit Max die Küche. Ihm folgte ein giftiger Blick aus den dunklen Augen Eriks.
Ein weiterer Versuch. „Ähm … hier.“ Irgendwie musste es mir gelingen, die Situation in Bahnen zu lenken, die ich kontrollieren konnte. Ich hielt Erik sein Eigentum entgegen. Er zögerte, streckte aber dann doch seine Hand aus und nahm sie. Als sich seine Finger um das Leder legten, konnte ich mich nicht zurückhalten und verschob meine Finger leicht, sodass sie die seinen streiften. Ein wohliges Gefühl ging von dieser Berührung aus.
Wir sahen uns an. Mir war, als hatte er meine Absicht erkannt. Ich musste gegen meinen ansteigenden Blutdruck ankämpfen. Jetzt nur nicht rot werden. Das machte mich doch total lächerlich.
Ich überspielte es mit einem Lächeln.
„Richard Michalsky“, stellte ich mich vor, um meine wild durcheinander wirbelnden Gedanken wieder einigermaßen in geordnete Bahnen zu zwingen und mich von dem kribbelnden Gefühl abzulenken, die diese flüchtige Berührung in mir ausgelöst hatte.
„Erik Brandner“, antwortete er.
„Ich weiß.“ Verdammt! Fiel mir denn nichts besseres ein? Natürlich wusste ich seinen Namen. Sonst wäre ich ja nicht hier. Lächeln, sagte ich mir. Du machst dich gerade zum Affen.
„Entschuldigung, wegen gestern“, kam es leicht gepresst von Erik. „Ich hab nicht gesehen, dass …“ Er verstummte abrupt. Seine Wangen färbten sich wieder rötlich, was seine Lippen noch mehr zur Geltung brachte.
Ein Kuss …, war mein einziger sehnsüchtiger Gedanke. Ein einziger Kuss.
„Kein Problem, war eine nette Begegnung“, presste ich stattdessen mühsam hervor, um mich von meinen Gedanken abzubringen. Warum sollte Erik so etwas zulassen? Außerdem war er sicherlich vergeben und … Ich seufzte innerlich und versenkte den Rest meiner Gedanken in einem Schluck Kaffee, konnte mich jedoch nicht davon abbringen, ihn weiterhin zu mustern.
Wenn er nicht so verboten gut aussehen würde …
Ich bemerkte allerdings auch, dass er mich ebenfalls musterte. Seine Augen folgten meiner Statur von meinem Gesicht bis zu meinen Füßen, so wie ich ihn vorhin förmlich gescannt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich seinen Blick richtig einschätzen konnte. Erst dachte ich, er betrachtete mich nur abfällig, suchte an mir ein Kriterium, an welchem er sich stoßen konnte. Dann wurde sein Blick weicher. Ich hoffte inständig, dass ihm gefiel was er sah und beglückwünschte mich insgeheim, dass ich eine ganze halbe Stunde vor dem Kleiderschrank verbracht hatte und offensichtlich die richtigen Klamotten rausgesucht hatte. Amelie bezeichnete mich hin und wieder als Tussie, die im Bad länger brauchte, als jedes Modell. Dabei war ich nicht einmal annähernd so blond, höchstens Dunkelblond. Mir war eben wichtig, wie ich aussah und wie ich auf andere wirkte.
Meine Wirkung auf Erik war mir heute Morgen extrem wichtig gewesen, obwohl ich keineswegs voraussagen konnte, in welche Richtung es gehen würde. Das wusste ich noch nicht einmal bis zu diesem Moment.
Aber offensichtlich schienen wir wenigstens eine Gemeinsamkeit zu haben – den Bio-Supermarkt. Achtete er ebenso auf seine Ernährung? Wie war es mit Sport? So wie die strammen Muskeln auf seinem Bauch aussahen, war ihm die Leibesertüchtigung nicht ganz fremd.
Ich ertappte mich abermals dabei, wie ich seinen Bauch anstarrte und mir im Geiste ausmalte, wie ich meine Zungenspitze in diesen süßen Bauchnabel steckte. Es war wie ein Drang, gegen den ich schwerlich ankam.
„Meine Schwester fand dein Portemonnaie. Ich hielt es für angebracht, es dir zurückzubringen“, sagte ich rasch, um mich aus diesen Gedanken zu reißen. Mensch, Rick, reiß dich zusammen.
„Danke“, kam es knapp von ihm. Seine Stimme klang heißer und verbraucht.
So hätte eigentlich meine klingen müssen. Ich fühlte mich ausgelaugt. Die neuerliche Begegnung mit Erik zehrte an mir.
Ich versenkte mich abermals in meinen Kaffee. Schweigen hatte sich ein weiteres Mal zwischen uns ausgebreitet. Schwere Sekunden und Minuten, in denen keiner von uns wusste, was er als nächstes sagen sollte. Wie pupertäre Teenager standen wir uns gegenüber, kämpften gegen unsere Röte und unsere Nervosität.
Bei Erik war es vermutlich eher die Erinnerung an den peinlichen Vorfall. Ich für meinen Teil würde heute Nacht nicht ruhig schlafen können, ohne ständig an ihn zu denken.
„Er geht auf die Open-Air-Gay-Party“, tönte Karls donnernde Stimme vom Flur her. Er schien der Meinung zu sein, uns beide aus dieser Situation retten zu müssen. „Vielleicht solltet ihr euch da verabreden.“
Erik zischte wütend in seine Richtung und schenkte mir einen entschuldigenden Blick.
Ich packte die Gelegenheit beim Schopf. „Gehst du auch hin?“, wollte ich wissen. „Ich war letztes Jahr schon dort. War extrem nass gewesen, jedoch sehr interessant.“
Er musterte mich prüfend, als schien er mir von meiner Stirn ablesen zu wollen, ob ich meine Frage aufrichtig meinte und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Hättest du Lust, mit mir dort hinzugehen?“ Diese Frage brannte förmlich auf meiner Zunge. Als ich sie ausgestoßen hatte, wunderte ich mich über mich selbst, woher um alles in der Welt ich den Mut aufbrachte, ihn so etwas zu fragen. Erik ging doch nicht mit mir dort hin. Mit jedem anderen, aber nicht mit mir.
Mit äußerst bangem Gefühl erwartete ich die Antwort.
„Wie kommst du darauf, dass ich …?“ Erik presste die Lippen aufeinander. Es schien ihm peinlich zu sein.
Woher ich wusste, dass er schwul war? Oder dass er mit mir dorthin gehen wollte. Ich entschied mich für Ersteres, da mir die Antwort darauf leichter fiel.
„Dein Sticker“, erklärte ich daher. Mein Herz klopfte bis zum Hals. „An deiner Jacke, gestern. Und da dachte ich mir … Ich bin letztes Jahr alleine dort hingegangen, in der Hoffnung, jemanden kennenzulernen.“ Verlegenheit machte sich in mir breit. Ich hörte mich erbärmlich an. Mitleid war das Letzte, das ich wollte. Ich versuchte, dieses Gefühl mit einem weiteren Schluck Kaffee hinfort zu spülen. „Ich wollte eigentlich dieses Jahr nicht mehr hingehen. Aber als ich deinen Anstecker sah … und dann deine Geldbörse in Händen hielt … dachte ich mir … na, ja, ein Wink des Schicksals. Vielleicht könnten wir doch gemeinsam, einfach so, unverbindlich, ohne Verpflichtung.“
Ich traute kaum meinen Augen, als er lächelte und schließlich nickte. Sein „Okay.“ überhörte ich fast, so laut klopfte mein Herz.
Er hat zugesagt, musste ich mir noch einmal gedanklich vorsagen. Er will mit dir auf diese Party gehen. Freude machte sich in mir breit. War er vielleicht doch an mir interessiert?
Sollte ich einen weiteren Schritt wagen?
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
„Was machst du heute noch so?“, fragte ich, nachdem ich mir mit einem weiteren Schluck Kaffee förmlich Mut angetrunken hatte.
Ein verwunderter Blick traf mich und ein Schulterzucken. „In den Park gehen oder in den Zoo.“
„In den Zoo?“ Ich konnte es kaum fassen.
Natürlich … Die Fotos von all den Tieren. Er ging gerne in den Zoo, um die Tiere zu fotografieren. Mein Herz machte einen Sprung.
Er nickte und schob noch rasch ein „Fotografieren“ hinterher.
„Zoo klingt gut“, ging ich erleichtert darauf ein. Das war mein Metier. „Wenn du willst, kann ich dich hinter die Kulissen führen, dort wo kein normaler Besucher hinkommt. Das gibt bestimmt gute Aufnahmen.“
Sein fragender, misstrauischer Blick ließ mich fast einen Rückzieher machen.
„Ich arbeite dort“, beeilte ich mich rasch zu sagen und versteckte meine Verlegenheit hinter meiner Tasse.
Er nickte abermals. Die Erklärung schien ihn besänftigt zu haben.
„Warum?“, wollte er wissen und räusperte sich verhalten. „Warum willst du mit mir auf die Gay-Party … und in den Zoo?“
Abermals keimte Verlegenheit in mir auf. Ich lächelte schüchtern. „Wie dein Freund sagte: Ein Wink des Schicksals.“ Ich brauchte noch einen Schluck Kaffee, um weiterreden zu können. Es war schwer, mich ihm zu öffnen. Er war immerhin ein Fremder, und ich war mir immer noch nicht sicher, wie er auf mich reagieren könnte. „Gerade im selben Moment, als du dich in den Wagen gesetzt hast, dachte ich an diese Party und entschloss mich, dieses Jahr nicht hinzugehen. Im Jahr davor hatte ich mich kurz vorher von meinem Freund getrennt und dachte, dort könnte ich auf andere Gedanken kommen und jemanden neuen kennenlernen. Ich bin in meinem Job viel eingespannt und habe manchmal keine Lust, noch auf Pirsch zu gehen.“ Ich stellte meine Tasse einfach hinter mir auf die Arbeitsfläche neben die Kaffeemaschine und kehrte zu ihm zurück. Ich hatte genug Kaffee intus und war bereits nervös genug. „Als du dich einfach in meinen Wagen gesetzt hast, fiel mein Blick sofort auf diesen Regenbogen-Anstecker. Und als mir meine Schwester das Portemonnaie in die Hand drückte, das sie im Fußraum meines Wagens gefunden hatte, dachte ich mir, das kann nur irgendein Zeichen sein. Versteh mich nicht falsch. Ich steh nicht so unbedingt auf dieses esoterische Zeugs, aber es passte alles irgendwie zusammen.“ Ich schob meine Hände, mit denen ich plötzlich nichts mehr anzufangen wusste, nachdem ich mich nicht mehr an der Tasse festhalten konnte, in die Vorderseiten meiner Jeans. Sein Blick wanderte nach unten, zu dieser Bewegung und blieb einen Moment dort haften.
Glotzte er mir etwa auf den Schritt?
An was dachte er gerade, während seine Augen wie gebannt dort verharrten?
Noch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, riss er sich los und sah irgendwie an mir vorbei. Ich widerstand der Versuchung, mich umzudrehen und nachzusehen und überspielte es einfach.
„Was haben wir zu verlieren?“, fragte ich daher und sah ihn herausfordernd an. Wenn ich seinen Blick richtig gedeutet hatte, dann schien der Anblick meines Schrittes nicht ungerührt an ihm vorbei gegangen zu sein. „Eine ungewöhnlichere Art, jemanden kennenzulernen, als diese gibt es wohl nicht.“ Ich versuchte mich in einem breiten, frechen Lächeln, das er prompt erwiderte, welches ich ebenso prompt als Aufforderung ansah, noch einen Schritt weiter zu gehen. „Abgesehen davon, hättest du ruhig sitzen bleiben können. Ich hätte dich gerne nach Hause gefahren.“
„Ich war mit Karl …“ Er verstummte verlegen.
„Kümmert euch nicht um mich!“, tönte es plötzlich vom Flur her.
Erik kommentierte dies mit einem wütenden Knurren. Ich musste an mich halten, nicht loszuprusten. Denn endlich hatte ich Karls Absicht erkannt: Er wollte uns tatsächlich miteinander verkuppeln. Anders konnte ich seine Bemerkungen und Kommentare nicht mehr deuten. Was wiederum bedeutete, dass Erik solo war und Karl offenkundig der Meinung, diesen Zustand endlich beenden zu müssen.
Glück beseelte mich. Mein Herz klopfte wieder lauter. Mein ganzer Körper bebte erwartungsvoll.
Erik drehte sich um, beugte sich in den Flur und rief: „Max, wenn du ihn nicht sofort hier raus schaffst, seh ich mich noch imstande, ihm den Hals umzudrehen.“
„Dein Freund macht sich nur Gedanken um dich“, bemerkte ich, um das eigentümliche Verhalten zu rechtfertigen, konnte mich jedoch nicht zurückhalten, eine gewisse Betonung auf das Wort „Freund“ zu legen. Mich verlangte es nach Gewissheit. Auch wenn es offensichtlich war, so wollte ich es dennoch aus seinem eigenen Mund hören.
„Mitbewohner“, korrigierte Erik zu meiner Erleichterung, noch immer leicht mürrisch wegen Karls Einmischung.
Wir standen uns noch einen Augenblick schweigend gegenüber, doch das Eis war irgendwie gebrochen. Zumindest bei mir. Zuversicht erfasste mich. Wenn ich mich jetzt nicht mehr absolut dumm anstellte, würde es vielleicht etwas werden mit uns.
„Ich zieh mich an und hole noch meine Kamera. Dann können wir gehen“, willigte er schließlich ein.
Ich konnte mein glückliches Lächeln nicht unterdrücken. Er erwiderte es, worauf mein Herz abermals einen deftigen Hüpfer machte und anschließend bis hoch zu meinem Hals klopfte. Sicherlich war die heftig pochende Schlagader an meinem Hals deutlich zu sehen.
Erik drehte sich mit einem Nicken um und verließ die Küche.
Ich blieb zurück, wusste nicht so recht, was ich nun tun sollte und folgte ihm einen Augenblick später bis an die Türe zum Flur. Unsicher sah ich in die Richtung, in die er verschwunden war. Dort zweigten mehrere Türen ab. In eine von ihnen musste Erik gegangen sein.
„Die letzte rechts“, ertönte eine tiefe Stimme ganz in meiner Nähe. Ich fuhr herum und befand mich beinahe Auge in Auge mit einem breit grinsenden Karl.
„Machst du das beruflich?“, konnte ich mich nicht zurückhalten, auch nicht den beißenden Hohn in meiner Stimme. Er ließ sich nicht davon beirren und grinste mich unverwandt an. Sein Blick glitt an mir vorbei, den Flur entlang, dort wo Eriks Zimmertüre lag.
Ich konnte doch nicht einfach so zu ihm gehen und ungefragt eintreten? Das war dann doch eindeutig etwas zu viel des Guten. So gut es Karl auch meinte mit seinen Andeutungen, aber das konnte ich nicht.
So weit waren wir noch nicht.
Ich setzte mich trotzdem in Bewegung, ging langsam und zögerlich auf die Türe zu, die weit geöffnet nur darauf zu warten schien, dass ich eintrat, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen.
So weit waren wir wirklich noch nicht.
Mein Eindringen in seine ganz persönlichen vier Wände wirkte auf ihn sicherlich unverschämt und herausfordernd.
Neugierig warf ich ein Blick in sein Zimmer und entdeckte Erik, der gerade in seine Hose geschlüpft war und den Reißverschluss hochzog, diese knallenge Jeans, die ihm an den Leib geschneidert schien. Sie schmiegte sich galant an seine Formen, versteckte nichts, aber auch gar nichts. Sein wohl geformter Hintern kam darin so gut zur Geltung, dass ich unwillkürlich den Atem anhalten musste.
Er drehte sich um und entdeckte mich auf der Türschwelle stehen. Von seiner Hand baumelte ein pfirsichfarbenes T-Shirt herunter. Er ließ die Hand sinken und sah mich stumm an.
Wie vorhin war ich erneut fasziniert von ihm. Seine blanke, haarlose Brust reckte sich ein wenig, als er sich meines Blickes bewusst wurde. Die andere Hand kam hoch und strich sich unsicher die Haare aus dem Gesicht, erreichte mit dieser unkontrollierten Handlung jedoch nichts. Sie fielen ihm wieder zurück.
Gerne hätte ich mein Glück versucht und sie ihm zurückgestrichen, oder zumindest festgehalten, damit sein Blick nicht durch widerspenstige Haare behindert werden konnte.
Seine Lippen öffneten sich ein wenig. Es kam jedoch kein Laut hervor.
Verlockend sahen sie aus. Meine Beine zuckten, wollten sich ihm nähern. Doch mein Anstand gebührte mir, tunlichst stehen zu bleiben.
Es war Erik, der sich plötzlich in Bewegung setzte und näher kam, bis er nur noch einen Schritt von mir entfernt war. Mein Puls raste vor Anspannung, als er nun so nahe vor mir stand, dass ich nur noch meine Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. Ich bewegte mich jedoch nicht.
Seine dunklen Augen bohrten sich in mich. Ich versank förmlich in ihnen.
Erik kam noch näher. Noch immer das Shirt in der Hand. Ich widerstand der Versuchung zurückzuweichen, denn ich wollte nicht weg aus dieser Position, diese Nähe. Ich wollte die Lippen küssen, wollte mir eine kleine Kostprobe davon gönnen und endlich wissen, ob er so gut schmeckte, wie er aussah.
Ich besaß jedoch nicht den Mut dazu, die Initiative zu ergreifen.
Vielleicht wollte er das auch gar nicht. Vielleicht war er nur nahe heran gekommen, um mich aus seinem Zimmer zu werfen.
Als er noch näher herankam, bis unsere Gesichter nur noch eine Handbreit trennte, warf ich meine Befürchtungen im hohen Bogen über Bord.
Er wollte mich, sagte ich mir hoffnungsvoll.
Erik war verharrt, als schien er abzuwarten. Als schien nun er derjenige zu sein, der sich nicht mehr weiter traute. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er auf mich wartete. Dass er auf eine Erlaubnis wartete, noch näher zu kommen oder auf eine Reaktion von mir. Mit dieser Erkenntnis gelang es mir endlich, mich aus meiner Starre zu lösen.
Ich schob mein Kinn näher an ihn heran. Unsere Lippen berührten sich schon fast.
„Darf ich?“, hauchte ich.
„Worauf wartest du?“, kam es ebenso zurück.
Einen Augenblick später durfte ich auch schon den Geschmack seiner Lippen kosten. Warm und weich, legten sie sich auf mich, schmiegten sich an mich. Sie schmeckten nach Kaffee aber auch nach etwas anderem. Süß und bitter zugleich. Brennend und so mild wie Vanillecreme. Einfach lecker.

Impressum

Texte: Ashan Delon (C) 2012
Bildmaterialien: Joujou pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2012

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