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Kapitel 1





Leseprobe aus dem Band 1 "Schicksalhafte Begegnung"


Es war einer dieser Tage, die man am liebsten im Freibad oder an einem See verbrachte. Die Klimaanlage im Büro schaffte es kaum, die Luft auf die zum arbeiten angenehmen zwanzig Grad herunter zu kühlen. Bereits am Mittag klebte jedem Mann das Hemd am Leib und jeder Frau rannen kleine Schweißtröpfchen zwischen ihre Brüste. Jonas verbrachte wie viele andere aus den umliegenden Büro- und Geschäftshäusern seine Mittagspause unter einem Baum im englischen Garten im Herzen von München.
Seit zwei Tagen brütete er über einen Werbeslogan für eine neue Zahnpasta und hoffte hier draußen einen klaren Kopf und neue Eindrücke zu bekommen. Sein Notebook lag aufgeklappt auf seinen Knien, während er per Surf-Stick im Internet nach bereits bekannten Sprüchen für Zahncreme forschte. Unter dem Nachbarbaum saß eine weitere Gruppe von Geschäftsleuten, die angeregt über notwendige Sparmaßnahmen bei irgendwelchen Projekten diskutierten, die Jonas nicht näher erfahren wollte. Es war schwer, nicht zuzuhören, denn die Unterhaltung wurde hin und wieder recht laut und lenkte ihn ein ums andere Mal von seinen eigenen Gedanken ab. Etwa zehn Meter entfernt lag ein junges Pärchen auf einer Decke, innig in einen langen Kuss vertieft. Neben ihnen stand ein tragbares Radio, das nicht gerade leise die neuesten Charts trällerte. Immer wieder ertappte sich Jonas dabei, wie er sie mit belustigtem Interesse beobachtete.
Eben gab der Sprecher die aktuellen Lokalnachrichten durch. Er sprach von einem Zusammenstoß einer Cessna letzter Nacht mit einem großen Vogel über Grünwald. Der Pilot musste notlanden. Personen wurden keine verletzt. Beim Sachschaden schaltete Jonas seine Aufmerksamkeit ab. Er musste sich auf Zahnpasta konzentrieren und schloss für einen Moment die Augen, um sich in sein Badezimmer zu versetzen. Dort war es wenigstens kühler als hier, wo der Wind genauso sparsam über die Grünfläche wehte, wie das Budget der Nachbargruppe.
Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein kurz geschnittenes, blondes Haar und schnaufte tief durch. In seinem Nacken stand erneut der Schweiß, obwohl er ihn bereits vor wenigen Minuten mit der flachen Hand weggewischt hatte. Sehnsüchtig wünschte er seinen Urlaub herbei, auf den er allerdings noch fünf Wochen warten musste, oder wenigstens einen Platz im Freibad oder einer Kühlhalle. Blindlings angelte er nach der Wasserflasche neben sich, die inzwischen so warm wie die Umgebung war, und trank einige Schlücke. Dabei fiel sein Blick auf eine Gruppe Jugendlicher, die offensichtlich großen Spaß beim Fußballspielen besaßen. Gedankenverloren beobachtete er den ausgelassenen Haufen eine Weile, ehe er sich an seinen PC zurückrief.
Sein Handy klingelte und er ging seufzend ran. Es war sein Arbeitskollege Hans, der ihn über die Ergebnisse seiner letzten Präsentation informierte. Die Angelegenheit mit dem neuen Schokodrink lief nicht so gut. Der Kunde hatte sich offenbar eine andere Strategie vorgestellt. Daher musste sich Jonas jetzt wirklich auf Zahncreme konzentrieren und hoffen, dass er für die Agentur wenigstens diesen Auftrag an Land ziehen konnte.
Zwei junge Frauen flanierten in ein Gespräch vertieft unweit an ihm vorbei. Beide ungefähr Anfang Mitte zwanzig, wie er selbst. Eine mit schwarzem Jeans-Minirock, engem schwarzen Top und kurzen, schwarzen Haaren, aus denen einige lila Strähnen heraus leuchteten. Die Andere, mit blonder, langer Barbiemähne, ebensolcher Figur, sinnlichen roten Lippen und strahlenden blauen, adrett geschminkten Augen, in ein geblümtes, bei jedem Schritt leicht flatterndes Sommerkleid gehüllt, das ihre ansehnlichen Formen reizvoll in Szene setzte. Die könnte ihm gefallen, dachte er bei sich und malte sich in Gedanken bereits aus, wie sie auf seinem Sofa lag und er von ihren üppigen Knospen naschte. Jonas beobachtete die beiden interessiert, bis er bemerkte, dass die Blonde ihrerseits ihn musterte, während ihre Freundin unentwegt weiter plapperte und dabei mit den Händen gestikulierte, als wollte sie ihre Rede noch in Zeichensprache übersetzen. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte. Er lächelte zurück. Ihr Lächeln wurde etwas breiter, seines ebenfalls. Sie hielt jedoch nicht an, als sie in einer Entfernung von weniger als zwei Metern an ihm vorüber spazierten. Stattdessen schob sie den Strohhalm ihres Smoothies zwischen ihre Lippen und drehte den Kopf in Richtung ihrer Freundin.
Seufzend sah ihnen Jonas noch einen Augenblick hinterher, in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht noch einmal zu ihm umdrehte. Sie tat ihm diesen Gefallen jedoch nicht und verschwand aus seinem Blickfeld.
Eine kleine Brise ließ die Blätter in den Bäumen rascheln und wirbelte die Papierfetzen und Überreste von Essenspausen über die leicht verwelkte und durch Hitze ausgetrocknete Rasenfläche. Jonas hob den Kopf und genoss den seichten Wind, der den Schweißfilm in seinem Nacken trocknete und ihm einen angenehm kühlen und erfrischenden Schauer verursachte.
Etwas Dunkles flatterte neben trockenen Blättern von dem Ahornbaum über ihm herunter und landete ein paar Meter neben ihm in einem Fleck aus trockenem, blassem, grünem Gras. Jonas hatte dem wirbelnden, dunklen Etwas fasziniert hinterher gesehen. Sein Blick verharrte abwartend auf der Stelle, aus welchen Gründen auch immer. Er wusste es selbst nicht. Vielleicht wartete er darauf, dass es sich erhob und davonflog, oder dass der Wind es zu einer anderen Stelle trug. Es blieb jedoch dort liegen. Neugierig geworden, legte Jonas den PC zur Seite, hievte sich auf die Beine und begab sich zu der trockenen Stelle im Gras.
Überrascht entdeckte er dort eine schwarze, glänzende Feder, eine Adlerfeder vielleicht, etwa so lang wie sein Unterarm, mit dickem, hartem, verknöchertem Kiel. Er hob sie hoch und betrachtete sie aufmerksam. Sie war schwerer als Federn normalerweise waren, was vermutlich von dem ungewöhnlich dicken und massiv wirkenden Kiel und den verhältnismäßig dicken, haarigen Federn herrührte. Jonas drehte die Feder nach allen Richtungen, um sie eingehend und neugierig zu mustern. Für einen kurzen Moment keimte in seiner Erinnerung die Warnung wegen Vogelgrippe auf, die vor wenigen Monaten durch alle Medienkanäle gingen. Das war zwar schon einige Zeit her, dennoch hatte er es bislang vermieden, irgendetwas anzufassen, was mit lebenden Vögeln zu tun hatte. Diese ungewöhnliche Feder hatte seine Aufmerksamkeit jedoch so sehr gefesselt, dass er gegen seine eigenen Prinzipien verstieß. Welcher Vogel diese Feder auch immer verloren hatte, sie war außergewöhnlich und sicherlich ein einzigartiger Fund. Wenn er Zeit hatte, musste er sich im Internet auf die Suche nach der Art des Vogels machen, der sie verloren hatte.
Plötzlich fielen ihm die Nachrichten wieder ein, die von dem Zusammenstoß berichtet hatten. Was für ein großer Vogel musste es gewesen sein, der sich mit derartig langen und schweren Federn schmückte und offenbar damit auch noch fliegen konnte.
Trotz allem entzückt über seinen Fund, legte er die Feder in seine Notizmappe und kehrte zurück zu seinem Computer, um wieder über Zahncreme und dessen klugen Sprüchen nachzudenken.

Nach dem heißen anstrengenden Freitag Nachmittag im Büro, in welcher die Klimaanlage immer noch nicht erwartungsgemäß arbeitete, freute sich Jonas schon auf ein geruhsames Wochenende, voller Ausruhen, Faulenzen, Fernsehen und Herumlümmeln und vielleicht sogar Schwimmen gehen. Als es am späteren Nachmittag gegen vier Uhr an seiner Wohnungstüre klingelte, dachte er sich nichts dabei und öffnete frohgelaunt. Seine gute Laune verflüchtigte sich jedoch schlagartig, als er seine Mutter im Treppenhaus stehen sah. Sie schob seinen kleinen, leicht rundlichen, ständig nimmersatten Bruder Sebastian, mit seinen strohblonden, stets zerzausten Locken und seinem immerwährenden frechen Grinsen in die Wohnung und eine dicke Reisetasche hinterher.
„Ähm … was soll das?“, fragte Jonas verwirrt und sah beide abwechselnd an.
„Du hast es versprochen“, gab die Mutter etwas genervt von sich und bedachte ihren erwachsenen Sohn mit einer strafenden Musterung.
„Wann soll ich das gemacht haben?“ Jonas erwiderte ihren Blick mit unwissender Verzweiflung und suchte dennoch in seinem Gedächtnis nach etwas Derartigem.
„Als ich dich vor zwei Wochen darum gebeten hatte.“
Wage klingelte etwas in Jonas' Hinterkopf und er schnaufte resigniert. „Ach, Mama!“, jammerte er schließlich. „Basti ist schon dreizehn. Er ist alt genug, dass er auch mal ein Wochenende allein zu Hause bleiben kann.“
Seine Mutter verzog ihre Mundwinkel zu einem spöttischen, andererseits auch wissenden Schmunzeln. „Alt genug schon, jedoch nicht vernünftig genug. Viel Spaß ihr beiden. Bis Sonntag um vier.“ Sie wirbelte herum und eilte mit wehenden Haaren und Rock durch das Treppenhaus davon.
Wütend warf Jonas die Wohnungstüre zu, knurrte einen verhaltenen Fluch und drehte sich um – und wäre beinahe auf seinen kleinen Bruder geprallt, der mit einem gewohnten, selbstgefälligen, frechen Grinsen zu ihm aufblickte.
„Hast du Pizza?“, krähte er frech.
Jonas knurrte. „Nein, hab ich nicht. Bestell dir eine.“ Damit dampfte er an ihm vorbei und verzog sich ins Badezimmer.
„Salami mit Knoblauch für dich“, krähte ihm Sebastian begeistert hinterher.
„Oh-ne!“, blaffte Jonas wütend zurück und knallte die Badezimmertüre zu, um sich schmollend auf die geschlossene Klobrille fallen zu lassen.
Verdammt nochmal! Er hatte glatt vergessen, dass seine Mutter an diesem Wochenende mit einer Kurfreundin ein Wellness-Wochenende in Bad Füssing verbringen wollte. Notgedrungen hatte er sich als Monsteraufsicht bereit erklären müssen, da sein untreuer Vater zum wiederholten Male keine Zeit oder keine Lust besaß, sich um seinen Nachwuchs zu kümmern. Seine Mutter war nach der Scheidung alleinerziehend, verzichtete jedoch nicht gänzlich darauf, sich hin und wieder einen Luxus zu genehmigen. Jonas gönnte es ihr von Herzen, allerdings nicht an diesem Wochenende, wo er sich so sehr nach Einsamkeit gesehnt hatte.
Es würde ein verdammt langes und anstrengendes Wochenende werden.
Er betätigte die Klospülung, ohne irgendwas hineingesetzt zu haben und kehrte zurück. Sein Bruder hatte es sich indessen auf dem Sofa bequem gemacht und zappte sich durch das Fernsehprogramm. Bei einer Wiederholung von Spongebob blieb er hängen.
Während dessen angelte sich Jonas ein Bier und eine Limo aus dem Kühlschrank in der Küche und setzte sich zu seinem Bruder, wo er dem kleinen gelben Schwamm nur mäßig folgen konnte und drückte seinem ungewollten Gast die Limo in die Hand. Knapp eine halbe Stunde später erschien der Pizzabote und die beiden Brüder verdrückten ihr Abendessen während einer weiteren Folge der albernen Meerestiere. Zu seiner Erleichterung, Salami ohne Knoblauch, denn die Pizzeria kannte ihn inzwischen gut, oder Sebastian hatte sich vorhin lediglich einer seiner berüchtigten Scherze erlaubt.
Anschließend verzog sich Jonas an seinen Computer. Ihm war auf dem Klo ein genialer Spruch für seine Zahnpasta-Werbung eingefallen. Er wollte ihn aufschreiben, ehe er ihn vergaß. Sein Bruder kicherte über einen lächerlichen Scherz des Schwammes. Jonas stöhnte genervt auf und widmete sich wieder seinen Notizen.
Plötzlich stand Sebastian hinter ihm. Die Folge war vorbei und die Abspannmusik dröhnte aus dem Fernseher.
„Was machst du da?“, wollte sein Bruder neugierig wissen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Schulter blicken zu können.
Jonas knurrte und schubste den Kleinen mit einem Achselzucken von seinem Rücken weg. Sebastian schob sich zur Seite und widmete sich dem Durcheinander von Datenträgern, Notizen, Broschüren über Zahncremes und Mundhygiene und wühlte eine Weile darin herum, bevor er sich umdrehte und seinen Hintern gegen den Schreibtisch lehnte.
„Was machen wir morgen? Gehen wir ins Automobilmuseum?“
Jonas schnaubte leise. „Da waren wir schon zwanzigtausend Mal.“
Sebastian zuckte mit den Schultern. „Na und? Da ist es cool. Ich will mal Rennfahrer werden.“
Mit einem humorlosen Lachen kommentierte Jonas diese Aussage, ohne von seinem Textverarbeitungsprogramm aufzusehen. „Du? Mit deinem Fettbauch kommst du niemals hinter das Lenkrad eines Rennwagens.“
Sebastian ließ sich nicht davon beeindrucken. Er zuckte abermals mit den Schultern und verschwand in den Hintergrund.
Jonas' Aufmerksamkeit wurde von einem Werbespott über Zahnpasta abgelenkt, der nun über den Schirm der Flimmerkiste lief. Er hatte den Spott zwar schon schier unzählige Male gesehen, betrachtete ihn nun jedoch aufgrund der aktuellen Erfordernisse ein weiteres Mal, jedoch diesmal mit den akribischen Argusaugen eines Werbeprofis.
„Boah, cool! Was ist das?“, rief sein Bruder hinter ihm.
Jonas' Mundwinkel zuckten leicht. Er machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen und nachzusehen, was seinen Bruder nun schon wieder beeindruckt hatte. Es gab in dieser Wohnung viel, was er cool fand. „Leg es zurück“, gab er mechanisch zurück und widmete sich erneut dem Werbejingle.
„Ist das eine Adlerfeder? Die ist ja ganz hart. Ist sie aus Stahl?“
Ein schmerzhafter Blitz durchzuckte Jonas und er fuhr wutentbrannt herum. Seinen ungewöhnlichen Fund hatte er total vergessen. Sebastians bedenkenlose Neugier musste selbst vor seiner Notizmappe nicht haltgemacht haben.
„Leg das hin! Sofort!“, donnerte er, sprang von seinem Schreibtischstuhl und überwand die Distanz mit wenigen, langen, weit ausholenden Schritten, um seinem Bruder die Feder zu entreißen. Dieser bewies trotz seiner dicklichen Statur erstaunliche Reflexe und entzog ihm die Hand blitzschnell, ehe ihm das Fundstück abgenommen werden konnte. Jonas setzte sofort nach. Abermals zuckte Sebastians Hand rechtzeitig zurück, sodass der Griff ins Leere ging.
„Gib es her!“, rief Jonas wütend, packte den Jungen, zerrte ihn herum, um an die Feder in dessen Rücken zu kommen und versuchte es ein weiteres Mal, sie ihm zu entreißen. Mit überraschender Geschicklichkeit entwand sich Sebastian und wich breit grinsend zurück, die Feder triumphierend herumwedelnd.
„Du verdammter Bastard. Gib sie her!“ Jonas war kurz vor dem Platzen. Er stürzte sich auf seinen kleinen Bruder. Es entstand ein Gerangel und eine Jagd durch die ganze Wohnung, die irgendwann in der Küche endete, als Jonas ihn in die Lücke zwischen Kühlschrank und Zimmerecke drängte. Er streckte die Hand danach aus. „Gib sie her!“
Sebastian schüttelte breit grinsend den Kopf. „Hast du sie von deiner Süßen?“, rief er provozierend und mit einem schelmischen Blick, zog seine Lippen zu einer Kussschnute zusammen und machte das übertriebene Geknutsche nach, das Erwachsene seiner Meinung nach machten, wenn sie allein waren.
Jonas knurrte wütend und unternahm einen weiteren Versuch, ihm die Feder zu entreißen. Er erwischte den Ärmel des grünen Shirts seines Bruders und zerrte ihn heftig an sich, sodass das Gewebe entsetzt knirschte und sicherlich auch einige Nähte rissen. Erneut entstand ein Gerangel. Diesmal endete es jedoch abrupt, als im allgemeinen Handgemenge die Feder brach und sich die scharfkantigen Splitter am Federkiel tief in Jonas' Handgelenk bohrten.
Jonas schrie erschrocken auf. Sebastian ließ die Feder vor Schreck los.
„Verdammt!“, kreischte Jonas und zog den zerbrochenen Federkiel langsam aus seiner Haut, angelte auf der Anrichte nach der Rolle Küchenpapier und riss hektisch einige Blätter davon ab. Die Feder flatterte achtlos auf den Boden.
„Da läuft was raus“, sagte sein Bruder alarmiert.
Jonas sah auf den Boden, wo die Feder lag. Etwas Grünschwarzes, Zähflüssiges floss aus dem zerbrochenen Kiel und verteilte sich so langsam und quälend wie Blut auf dem weißen Fliesenboden der Küche.
„Verdammt!“, fluchte Jonas abermals und kämpfte gegen eine rasch aufwallende Panik an. Er drehte den Wasserhahn voll auf, tauchte einige der Tücher unter den harten Strahl und presste es gegen die Wunde. Knapp unterhalb der Einstichstelle drückte er auf den Arm und presste das Blut samt Flüssigkeit heraus, die eventuell eingedrungen sein könnte. Tatsächlich quollen zuerst dunkle, fast schwarze Blutstropfen hervor, die leise auf die weißen Kacheln platschten. Als nach einigen dicken, beängstigend dunklen Tropfen wieder leuchtend rotes Blut aus der Wunde quoll, sog er erleichtert die Luft ein.
„Verflucht nochmal!“, kreischte er, noch immer aufgebracht und rasend vor Wut. Er warf die Blutgetränkten Tücher in die Spüle und rollte sich hektisch neue von der Rolle, die prompt von der Arbeitsfläche herunterfiel und in die andere Ecke rollte, weitere Tücher entrollend. „Verflucht, Basti!“, fuhr er seinen kleinen Bruder an. „Warum kannst du nicht einer dieser normalen, kleinen Brüder sein, die still dasitzen und ihren großen Bruder anhimmeln?“
Sebastian sah ihn erschrocken an, offenbar entsetzt über die Heftigkeit, mit der sein Bruder die Verletzung getroffen hatte, und blickte schuldbewusst zu Boden.
„Tschuldigung“, gab er kleinlaut von sich.
Selbst wenn ihn sein kleiner Bruder die meiste Zeit nervte und er ihn am liebsten in die Hölle wünschte, wusste er jedoch genau, dass er ihn vermissen würde. Als Kleinkind war sein Bruder schwer an Keuchhusten erkrankt. Jonas hatte sich große Sorgen um ihn gemacht und war sogar in die Kirche gegangen, um eine Kerze für ihn anzuzünden. Abgesehen davon wusste er selbst nicht mehr, warum er wegen dieser blöden Feder einen solchen Aufstand gemacht hatte. Sie war nichts weiter als eine harmlose Vogelfeder.
Er seufzte leise und sein strenger, wütender Blick lockerte sich. „Es ist manchmal verdammt schwer, mit dir auszukommen“, sagte er wesentlich sanfter, warf die blutigen Tücher in die Spüle und wühlte in den Schubladen der Küche nach einem Pflaster. Zwischen Geschirrtüchern und Wischlappen fand er ein einzelnes Pflaster mit kleinen Kätzchen drauf. Mürrisch knurrend zupfte er dennoch die Schutzfolie mit den Zähnen ab und pappte die Kätzchen auf sein Handgelenk. Anschließend raffte er die blutigen Tücher zusammen, wischte die Tropfen vom Boden auf und warf alles zusammen mit der zerbrochenen Feder in den Mülleimer.

Irgendwann mitten in der Nacht erwachte Jonas und setzte sich verwirrt auf.
Sein Herz schlug schnell, so rasch, dass er die einzelnen Schläge kaum auseinanderzuhalten vermochte, geschweige denn sie zu zählen. Seine Glieder zitterten. Er schwitzte, obwohl ihm ein Kälteschauer nach dem anderen den Rücken hinunter jagte. Seine Hände waren eiskalt und schweißnass. Er keuchte nach Luft. Seine Lungen schrien nach Atem. Frostige Panik stieg in ihm hoch, eisig und brennend, heiß und verzehrend wie Feuer. Ein Feuer, das sich durch seinen gesamten Körper fraß und sich in seinem Unterleib sammelte. Zwischen seinen Beinen begann es prickelnd zu jucken und zu ziehen und sein Penis schwoll an. Eine äußerst seltsame Reaktion, sagte er sich irritiert.
Plötzlich schoss ihm eine Erkenntnis wie ein Blitz durch den Kopf – Blutvergiftung.
Verdammt nochmal!, fluchte er innerlich. Das Zeug aus der Feder hatte ihm vermutlich vielleicht sogar eine Vogelgrippe oder Schlimmeres verpasst. Solange er keine Ahnung hatte, was das für eine Feder gewesen war und in welcher Haut sie vorher gesteckt hatte, konnte alles möglich sein.
Sein Kopf flog zum Schlafsofa herum, dort wo sein kleiner Bruder auf dem Bauch und mit offenem Mund friedlich und leise schnarchte. Das Schlafsofa hatte er sich vor einiger Zeit angeschafft, als sein Bruder öfter einfach bei ihm abgeladen worden war und er wegen des unruhigen Jungen die ganze Nacht nicht hatte schlafen konnte.
Jonas sprang aus dem Bett, wühlte im Müll nach der zerbrochenen Feder, um sie den Ärzten in der Notaufnahme zur Analyse geben zu können, schnappte sich seine Autoschlüssel und eine Jacke, die er sich im Vorübereilen von der Garderobe pflückte und über seinen Pyjama zog und rannte auf die Straße zu seinem Wagen, um auf dem schnellsten Wege in das nächstgelegene Krankenhaus zu fahren. Er hatte Glück, nicht von einem Blitzer oder einer zufällig anwesenden Polizeistreife entdeckt zu werden, als er sämtliche Verkehrsregeln, rote Ampeln und Stoppschilder missachtend durch das nächtliche München raste.
Nachdem er relativ rasch an der Empfangstheke der Notaufnahme erfasst wurde, durfte er dennoch geschlagene zwei Stunden im Warteraum der Notaufnahme verbringen, ehe ein Arzt für ihn Zeit hatte. Dieser untersuchte ihn genauestens, reinigte und desinfizierte die Wunde, verpasste ihm eine Tetanusspritze und ein neues Pflaster – ohne süße Kätzchen – und nahm ihm sogar eine Ampulle Blut ab. Alle Ergebnisse und Untersuchungen, selbst die der Feder, brachten jedoch kein Ergebnis. Der Arzt beruhigte ihn, sprach von einer harmlosen Panikattacke, ausgelöst durch den Schreck als ihn die Feder stach. Nebenbei belehrte er ihn zudem über Panikattacken, welche in den letzten Jahren häufiger auch bei jüngeren Leuten, bedingt durch Stress und Mobbing vorkamen. Beruhigter kam Jonas gegen sechs Uhr morgens zurück nach Hause und fiel todmüde ins Bett. Diese ganze Aktion hatte ihn nicht nur zehn Euro Notaufnahmegebühr, sondern obendrein auch noch eine ganze Nacht Schlaf gekostet.
Es fiel ihm schwer, seinen kleinen Bruder nicht mit bloßen Händen umzubringen, als dieser gegen neun Uhr in der Früh in sein Bett sprang und ihn jäh und brutal aus dem Schlaf riss.
„Wann gehen wir ins Museum?“, krähte Sebastian munter, sprang auf dem breiten Bett herum und machte es unmöglich, dass Jonas wieder einschlafen konnte. Resigniert krabbelte er schließlich aus dem Bett und verbrachte einen dennoch vergnüglichen Tag mit seinem Bruder und jede Menge alter und neuer Autos.

Impressum

Texte: Ashan Delon
Bildmaterialien: Cover FWZ-Verlag/Mel Finjon
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2012

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