Das durfte er nicht vermasseln.
Unter gar keinen Umständen.
Connor schlenderte gedankenverloren durch die weihnachtlich geschmückte Fußgängerzone der Augsburger Innenstadt, ohne von der glitzernden und blinkenden Pracht um ihn herum auch nur ein kleines Stückchen mitzubekommen. Seine Gedanken kreisten fortwährend um eine Sache – die Einladung von Thore zu Heiligabend bei sich.
Es war schon Jahre her, dass er das letzte Mal wirklich richtig Weihnachten gefeiert hatte. Seit er aus seinem Zuhause geflohen war, das spießige Leben seiner Mutter hinter sich gelassen und auf der Straße ein eigenes wildes Leben begonnen hatte, gab es für ihn kein Weihnachten mehr. Die Feiertage verbrachte er meist irgendwo in einer Kneipe oder in den Betten zahlender Kunden. Es war für ihn stets ein lästiges Übel gewesen, Weihnachten zu feiern.
Schon als Kind hatte er es gehasst, wenn seine Mutter bereits Tage und Wochen zuvor die Wohnung in ein glitzerndes Winter-Wonder-Land verwandelt hatte und trotz Biergartentemperaturen im Dezember, die Fenster mit künstlichem Eis besprühte. Überall in der Wohnung verteilte sie Gestecke aus Stechpalmen und Tannenzweigen, die sie kunstvoll mit Christbaumkugeln, künstlichem Schnee, roten und goldenen Schleifen und Kerzenlichtern dekorierte. Den ganzen Tag trällerte von morgens bis abends aus dem CD-Player der Küche eine CD mit Weihnachtslieder. Zudem gab es Bereiche in der Wohnung, die er auf einmal nicht mehr betreten durfte. Verbote machten ihn schon von Klein auf stets neugierig, sodass er solche für sich eher als eine Aufforderung auffasste, der Sache auf den Grund zu gehen. Heimlich schlich er sich ins Schlafzimmer seiner Mutter, um in ihrem Kleiderschrank schließlich die Geschenke zu finden.
Außerdem zwang sie ihn dazu, stundenlang Weihnachtslieder auf seinem Keyboard zu üben, die er am Heiligabend dem festlich geschmückten und mit Lametta überladenen Baum vortragen musste. Zur Krönung des Ganzen, wurde er vor der Bescherung in die Badewanne gesteckt und ordentlich abgeschrubbt und musste anschließend eine Stunde und länger in sein Kinderzimmer eingesperrt ausharren, ehe endlich das kleine Glöckchen ertönte, das ihm mitteilte, dass das Christkind gekommen war und Geschenke gebracht hatte.
Zu diesem Zeitpunkt war ihm längst schon die Lust auf Weihnachten vergangen.
Sie hatte es wirklich geschafft, dass er Weihnachten zu hassen gelernt hatte und so empfand er weder Trauer noch Bedauern, eher sogar Erleichterung, als er sich später an der allgemeinen Weihnachtseuphorie nicht mehr beteiligen konnte – sei es aus Geldmangel, sei es aus Mangel eines warmen, wohligen Platzes, an den er sich vor der Kälte zurückziehen konnte oder an Interesse, an diese ungeliebten Kindheitserinnerungen anzuknüpfen.
Doch seit er Thore letzten November buchstäblich vor das Auto gelaufen war und dieser ihn eingeladen hatte, Heiligabend mit ihm zu verbringen, geriet dies alles ins Wanken.
Connor war in eine ziemliche Zwickmühle geraten. Noch immer hasste er diesen ganzen kitschigen Quatsch um das wohl größte Fest der Christen. Er war jedes Mal aufs Neue froh, wenn endlich die bunten Lichter, Weihnachtsdekos und Nikoläuse von den Straßen verschwunden waren und sich die Welt wieder normalisiert hatte.
Als kleines Kind hatte ihn noch das Glitzern der Lichter fasziniert. Er war stets mit der Nase an der Fensterscheibe geklebt, um draußen die Leuchtgirlanden der Nachbarn zu betrachten, die durch die dicke Schneedecke glitzerten und die Eiszapfen, die sich in langen Stalaktiten von den Regenrinnen hangelten zum Funkeln brachte. Damals hatte ihn der Zauber der Weihnacht noch voll in seinem Bann und er konnte es, wie alle Kinder in dem Alter, nicht mehr erwarten bis es soweit war. Wie sicherlich unzählige andere Kinder, spitzelte auch er verbotenerweise durch das Schlüsselloch, um den hell erleuchteten Weihnachtsbaum zu sehen und womöglich noch das Christkind zu erhaschen, bevor er zurück in den Himmel entwischte – etwas, was er heute niemals offen zugeben würde. Je älter er wurde, desto mehr verblasste diese Faszination und am Ende nervte es ihm nur noch. Am liebsten würde er sich in den paar Wintermonaten am liebsten in ein tiefes Loch vergraben und Winterschlaf halten und erst wieder an die Oberfläche zurückkehren, wenn die Frühlingssonne den grässlichen Schnee und mit ihm alle Erinnerungen an Weihnachten hinfort geschmolzen hatte.
Dennoch spazierte er gerne durch die weihnachtlich geschmückten Straßen. Denn es gab ihm ein wenig von dem Gefühl zurück, das ihm seine Mutter stets vermitteln wollte und gegen das er sich als Kind und später als rebellischer Jugendlicher vehement gewehrt hatte. Auch wenn er sich beharrlich gegen diese Art von Emotionen sträubte, etwas ganz tief in ihm drin, vermisste dieses gewisse Vertraute aus seinen Kindertagen.
Als Alleinerziehende hatte sie es wahrlich nicht leicht. Zudem machte er es ihr in seinen wilden Jugendjahren, in denen er gegen alles und jeden aufbegehrte zusätzlich um ein vielfaches schwerer. Für Connor war das spießige Leben seiner Mutter lediglich ein lästiges Gräuel gewesen, aus dem er sich, gänzlich in sein egoistisches Verhalten gefangen, zu befreien hatte. So manches Mal erweckte der alljährliche Fröhlichkeitszwang seiner Mutter auch den Verdacht in ihm, dass sie einen Ausgleich für das Fehlen eines Vaters, der sich noch vor Connors Geburt aus dem Staub gemacht hatte, schaffen wollte. Was es bedeutete, auf sich allein gestellt zu sein, hatte er relativ schnell erkannt, nachdem er sein Elternhaus verlassen hatte. Erst viel später, als er allein durch das nächtliche Augsburg wanderte, während alle anderen Menschen in ihren wohligen, beheizten Wohnungen mit ihren Lieben feierten, lernte er die Behaglichkeit eines Zuhauses zu schätzen. Doch da war es bereits zu spät.
In den Jahren, in denen er nun auf der Straße lebte, brachte er die Weihnachtszeit mehr und mehr mit der tödlichen Kälte des Winters in Verbindung. Frei wie ein Vogel zu leben, unverbindlich und auf niemanden angewiesen zu sein, war im Sommer recht lustig, doch im Winter, wenn die Temperaturen weit unter die Null Grad Grenze fielen, eine ziemlich harte Nuss. Mit Grauen dachte er daran, dass er an seinem ersten Winter außerhalb seines schützenden und warmen Elternhauses beinahe erfroren wäre. Zu seinem Glück fanden ihn ein paar Obdachlose rechtzeitig und nahmen ihn in ihre windige Behausung in einem alten verlassenen Fabrikgelände mit, wo sie ihn wieder aufpäppelten. Inzwischen hatte er gelernt, sich rechtzeitig zu wappnen und sich Orte zu suchen, an denen er die kalten Nächte verbringen konnte. Dabei waren ihm die Betten zahlender Kunden wesentlich lieber, als stinkende, rattenverseuchte Löcher in alten verfallenen Gebäuden, die ihm gerade noch ausreichend Schutz vor dem tödlichen Biss des Winters boten.
Ein harter Rempler an seiner Schulter brachte ihn jäh in die Gegenwart zurück.
„He, pass doch auf!“, rief ein Mann erbost, beide Hände voller prall gefüllter Einkaufstaschen und funkelte ihn wütend an.
Connor fauchte nur missmutig, drehte sich wieder um und schlenderte weiter die Annastraße entlang. Unter normalen Umständen hätte er diese Gelegenheit genutzt, um sich die Brieftasche des Mannes zu holen.
Was er wirklich nötig gehabt hätte, denn er war absolut pleite.
Genau das war sein Problem.
Thores Einladung hatte ihn in mehrerlei Hinsicht in Schwierigkeiten gebracht. Einerseits musste er über seinen eigenen Schatten springen und ein Fest feiern, dass er für sich bereits abgestempelt und aus seinem Leben verbannt hatte. Andererseits würde er Thore diesen Gefallen gerne tun, wollte jedoch nicht mit leeren Händen kommen. Obwohl er nun schon seit vielen Jahren kein Weihnachten mehr gefeiert hatte, wusste er doch noch genau, worum es bei diesem Fest wirklich ging.
Ein Fest der Freude und der Liebe. Ein Fest der Geschenke.
Man machte seinen Lieben Geschenke.
Aber wie sollte er Thore ein Geschenk machen, wenn ihm das nötige Kleingeld dazu fehlte? Am einfachsten wäre es gewesen, er hätte den Mann, den er eben aus Unachtsamkeit und Gedankenlosigkeit angerempelt hatte, einfach um seine Brieftasche erleichtert. Dazu hätte er jedoch rechtzeitig bei Sinnen sein und ihn vorher bemerken müssen. In dem Moment, wo ihn der Rempler aus seinen Gedanken gerissen hatte, war es allerdings bereits zu spät gewesen. Ihm war nicht die Zeit geblieben, den Mann zu beobachten und herauszufinden, wo sich die Brieftasche befand. Aufs grade Wohl einfach drauflos agieren, ging selten gut aus.
Eine der wenigen Male war das mit Thore gewesen.
Ein wahrer Glücksgriff. Er staunte noch heute über sich selbst, dass er nach dem harten Aufprall, der ihn tatsächlich für einen Moment aller Sinne beraubte, noch so geistesgegenwärtig gewesen war, wieder zur Besinnung zu kommen, sich aufzuraffen und die Lage zu peilen. Seine lang trainierten Fähigkeiten hatten sein Opfer in einem einzigen Impuls abgeschätzt und registriert, um auf gut Glück und blitzschnell in die Innentasche des Mantels zu fassen und tatsächlich die Geldbörse ans Tageslicht zu befördern. Da hatte er mehr Glück als Verstand gehabt. Das war eine spontane Reaktion gewesen, die aus persönlicher Erfahrung bei einer Erfolgsquote von fünfzig zu fünfzig, meist zu seinen Ungunsten ausging.
Doch als er die Brieftasche seines Opfers durchsuchte, das Foto des Führerscheines betrachtete und sich das Erlebnis noch mal durch den Kopf gehen ließ, brachte er es nicht mehr fertig, sich das Geld zu nehmen und den Rest der Brieftasche einfach zu entsorgen. All der andere Kram hätte ihm nichts gebracht, denn die Kreditkarten würden die polizeilichen Ermittler nur auf seine Spur bringen und mit dem Ausweis und dem Führerschein konnte er sich aufgrund der stark abweichenden Fotos nirgendwo durchmogeln.
Je länger er das Bild betrachtete, eines der wenigen, die nicht nach Verbrecherkartei aussahen, desto intensiver wurde ein gewisses Gefühl in ihm. Der Kerl, Thore Benjamin Groß, der ihn nun starr und unbeeindruckt von dem Passfoto anstarrte, war nicht einfach irgendein Kerl gewesen, dem er zufällig vors Auto gelaufen und den er um sein Schwerverdientes erleichtert hatte. Irgendwas war an dem Mann gewesen, das ihn nachhaltig berührte. Je länger und intensiver er das kleine Bildchen besah und sich jede einzelne Prägung des Gesichtes verinnerlichte, desto stärker wurde ein bestimmtes heißes Prickeln in ihm.
Connor wusste genau, was dies zu bedeuten hatte.
Seit er sich entschlossen hatte, seinen Körper einzusetzen, um in dieser Welt überleben zu können, kämpfte er gegen das sich verlieben an. In seiner Laufbahn als Stricher und Herumtreiber hatte er schon einige Kerle getroffen, bei denen er länger geblieben wäre, doch seine Vernunft und seine beinahe schon panische Reaktion auf zu feste Bindungen hatte ihn bislang stets davon abhalten können. Obwohl es durchaus den einen oder anderen Typen gegeben hatte, bei dem er länger als ein paar Stunden oder auch eine Nacht geblieben war, bestand er auf seinem vogelfreien Leben. Niemand konnte ihm Vorschriften machen oder ihm etwas verbieten. Niemand verlangte von ihm, seine Socken aufzuräumen oder sich an der Miete zu beteiligen.
Bis er auf Thore traf.
Mit ihm wurde dies alles auf einmal nichtig.
Thore war ihm inzwischen extrem wichtig geworden. Dieser Mann, der ihn von Anfang an irgendwie fasziniert und um den Verstand gebracht hatte, war einzigartig. Kein anderer Kerl hatte ihn bislang derart aus der Fassung bringen können. Dabei war ihr erstes Aufeinandertreffen nur ganz kurz gewesen und auch eher so, dass sie eigentlich Abneigung gegeneinander haben müssten. Bei dieser ersten Begegnung vor der Motorhaube des Wagens, als ihn noch der Schmerz des Aufpralls unbarmherzig im Griff hatte, sich seine Gedanken eher um sein Leben, als um den Mann neben ihm drehte, der aufrichtige Besorgnis zeigte, war es bereits um ihn geschehen. Schon da hatte der Ton des Fahrers irgendetwas in ihm angerichtet. War es dessen angenehme, melodiöse Stimme, die sich wie warmer Honig durch seine Gehörgänge bahnte oder die wirkliche Sorge um das Leben des Mannes, den er angefahren hatte? Oder einfach nur dessen Nähe?
Im selben Moment, als Connor vorgab zu stürzen und Thore ihn auffing, sich dessen Hände um seinen Leib legten und ihn stützten, wusste Connor auch, dass genau dies ein Fehler gewesen war. Anfänglich hatte er das aufkeimende Kribbeln in ihm als Reaktion auf den Unfall abgetan und einfach ignoriert. Als er jedoch von Thore aufgefangen und festgehalten wurde, spürte er dieses Kribbeln umso so deutlicher und brennender, sodass er seinen Entschluss, den unbedarften Mann um sein Geld zu erleichtern, beinahe aufgegeben hätte. Wenige Minuten später, als er einfach in die Nacht entschwand, klopfte er sich selbst gedanklich auf die Schulter und gratulierte sich für seine Geistesgegenwart, sämtliche Gefühle, Gedanken und Bedenken niederzuschmettern und nach der Beule in der Innentasche zu greifen. Erst im Nachhinein, als er Thores Brieftasche durchsuchte, hätte er sich dafür selbst den Hintern versohlen können.
Gab es Liebe auf den ersten Blick?
Oder einen Amor, einen unsichtbaren kleinen Engel, der Herzchenpfeile verschoss und damit zwei Menschen in Liebe verband?
Connor blieb mitten im Strom der geschäftig hin und her eilenden Menschen stehen und sah sich um. Weihnachten hielt die Altstadt, die Fußgängerzone und all die Menschen, die sich in ihnen bewegte voll in seinem Bann. Gänzlich mit sich selbst und den Wünschen ihrer Lieben versunken, hetzten sie von Kaufhaus zu Kaufhaus, um anschließend, mit einer prall gefüllten Plastiktasche mehr, wieder auf die Straße zu treten.
Eine eiskalte Böe fegte durch die hohe Gasse der uralten Gebäude und ließ ihn frösteln. Unförmige Schneemassen bedeckten das alte Kopfsteinpflaster, von unzähligen Füßen zu zahlreichen schmutzigen Haufen geformt. In der gestrigen Nacht war ein Schneesturm über die Stadt hereingebrochen, den Connor in seiner Lieblingskneipe verbrachte, sich an einem einzigen Glas Bier festhaltend, das er von seinem letzten Geld gekauft hatte. Wie viele Stunden er dort gesessen, auf das Ende des Schneesturmes gewartet und über Thores Einladung nachgedacht hatte, wusste er nicht mehr. Irgendwann in den frühen Morgenstunden, als der Wirt das Lokal schließen musste und ihn hinaus bat, war er in die eiskalte Morgenluft getreten und hatte fest gestellt, dass er in seiner Entscheidung kein Stück weiter gekommen war.
In seiner Verzweiflung überlegte er sogar, die allgemeine Hektik am letzten großen Einkaufstag vor Weihnachten für sich auszunutzen, einfach in ein Kaufhaus zu gehen und sich irgendwas klauen. Hauptsache, er kam nicht mit leeren Händen.
Aber genau das wollte er nicht.
Er wollte Thore nichts schenken, das er zuvor geklaut oder mit gestohlenem Geld bezahlt hatte. Er wollte ihm etwas wirklich Besonderes schenken. Etwas, was von Herzen kam.
Seine Mutter hatte ihm das wiederholt gepredigt, wenn seine Wünsche dem kargen Geldbeutel zum Trotz in immer höhere Dimensionen wanderten.
Aber dafür hätte er Thore besser kennen müssen.
Ihre erste Begegnung lag nun schon über einen Monat zurück. Seit dem hatten sie sich bereits einige Male getroffen, bei Thore Zuhause, wie auch in einem Café oder waren zusammen im winterlichen Dom-Garten, im nahen Siebentischwald spazieren oder ins Kino gegangen. Obwohl er es zwischen ihnen deutlich knistern gespürt hatte und er in seiner Anwesenheit stets kalte Hände und Schweißausbrüche bekam, ging es kaum voran. Zu seiner Verwunderung hatten auch noch nicht richtig miteinander geschlafen. An ihrem ersten Abend fielen zwar bereits die ersten Küsse über eine dampfende Pizza hinweg, aber mehr als küssen, streicheln, sich aneinander schmiegen, ihre Körper erforschen und ihre Erregung aneinander pressen war noch nicht gewesen. Wobei Connor sehr wohl bemerkt hatte, dass Thore über seine Tattoos entzückt war, besonders die Sonne um seinen Bauchnabel. Mit Schmunzeln dachte er an die Bezahlung für die Pizza, die sich Thore mit heißen Lippen geholt hatte. Wie er jeden einzelnen Strahl mit der Zunge abgefahren war und anschließend die Zungenspitze in den Bauchnabel gebohrt hatte, worauf Connor ein leises Seufzen entkam.
Er wäre für mehr bereit gewesen. Thore jedoch nicht. Denn er hatte aufgehört, nachdem er die Strahlen ein zweites Mal mit zarten Streicheleinheiten seiner Zungenspitze bedacht hatte – für das zweite Stück Pizza.
Dabei hatte er diese Zurückhaltung ganz und gar nicht erwartet.
Wie scharf Thore wirklich auf ihn war, hatte ihm dieser bereits selbst bewiesen, indem er sich als Spanner vor der Badezimmertüte betätigt hatte. Aufgrund der Dunkelheit, die im Flur herrschte, konnte Connor ihn nicht sehen. Dennoch wusste er rein instinktiv, dass sich dort jemand befand. Zudem war er durch ein leises Geräusch darauf aufmerksam gemacht worden.
Es hatte ihm gefallen, begutachtet und heimlich betrachtet zu werden, weswegen er sich provokativ und absichtlich ins rechte Licht rückte. Das hatte etwas Verruchtes und Anzügliches an sich gehabt und er genoss es in vollen Zügen. Er kannte seinen Körper und wusste, was er wert war und was er hervorrief. Thore wäre nicht der erste Mann gewesen, der ihn allein wegen seines Aussehens vom Fleck weg vernaschte. Die Tatsache, dass Thore ziemlich lang dort vor der Türe stehen blieb und ins Innere spitzelte, hatte ihm dies nur noch bestätigt. So war er mehr als überrascht gewesen, als sich dieser später zurückhielt und sich lediglich mit zaghaften Küssen und Streicheleinheiten zufrieden gab.
Ein derartiges Verhalten war auch für Connor neu. Er war es mittlerweile gewohnt, sogleich und ohne Umschweife zur Sache zu kommen, doch mit Thore klappte das irgendwie nicht. Er zwang ihm jedoch nichts auf, was dieser nicht wollte, oder ging ihm gar ungefragt an die Wäsche.
Wenn er eines kapiert hatte, dann dies: Für Thore gab es eine schier unüberwindliche Hemmschwelle. Dessen Reaktion auf sein unmoralisches Angebot hatte ihm dies mehr als deutlich gemacht. Thore wollte etwas ganz anderes von ihm, als all die Männer, denen er sich bislang hingegeben hatte.
Connor könnte sich noch heute dafür ohrfeigen, dass er so blöd gewesen war und Thore Dienstleistung gegen Geld angeboten hatte. Wie heiß war ihm vor Scham das Blut ins Gesicht geschossen, als Thore ihm den Geldschein voller Wut vor die Füße warf.
Ein über sich selbst erzürntes Knurren entkam ihm, als seine Gedanken zu diesem Augenblick zurückkehrten. Er stopfte seine Hände tiefer in seine Taschen und bog von der Annastraße in die Philippine-Welser-Straße ein, um sich in Richtung Christkindlesmarkt aufzumachen. Vielleicht konnte er in den engen Besuchermassen Beute machen oder Kunden aufreißen dachte er sich und blieb abrupt stehen.
Nein.
Nichts stehlen.
Keinen neuen Freier, der ihn abermals verprügelte, weil er kurz bevor es zur Sache kommen konnte, den Moralischen bekam. Das war ihm bereits einmal passiert – nie wieder.
Mit Gram dachte er daran zurück, als ihm im entscheidenden Moment plötzlich Thores Passfoto in den Sinn kam und sämtliche Erregung und Lust von ihm wich, wie aus seinem geplatzten Luftballon. Sein Kunde war wenig begeistert davon gewesen und hatte sich den Vorschuss mit ein paar harten Rechten wieder zurückgeholt. Seit diesem Erlebnis brachte es Connor nicht mehr fertig, sich mit anderen Kerlen einzulassen.
Ein kleiner Schritt in Richtung besserer Lebenswandel, aber auch ein gewaltiger Sprung zur vollkommenen Pleite. Bislang war es ihm stets gelungen, sich irgendwie durchzuschlagen, sich mit kleinen Diebstählen über Wasser zu halten, wenn er keine zahlungskräftigen Freier finden konnte. Doch seit er Thore begegnet war, erschien ihm dies alles als falsch und ungerecht.
Connor machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete regelrecht in die andere Richtung, eilte kurz vor einer Straßenbahn auf die Maximilianstraße, um in der engen, etwas weniger frequentierten Altstadt von Augsburg ein wenig Ruhe zu finden.
Neid überkam ihn, als er all die Leute in ihren schicken Wintermänteln und ihren prall gefüllten Taschen sah, die auf dem Weg an ihm vorüber eilten. Trotz ihrer abgehetzten Gesichter konnte er das glückliche und erwartungsvolle Strahlen in ihren Gesichtern erkennen, weil sie sich sicher waren, ihren Lieben einen Herzenswunsch zu erfüllen.
Und genau dies würde er ebenfalls gerne tun wollen. Thore einen Wunsch erfüllen, der ihn mit der Wärme erfüllte, die einen stets überkam, wenn man vor Freude weder ein noch aus wusste.
Wie lange war das schon her, dass er derartige Gedanken besessen hatte?
Schon so viele Jahre waren inzwischen ins Land gegangen, als er das letzte Mal in ähnlicher Weise über ein Geburtstagsgeschenk für seine Mutter nachdachte und sich beinahe verzweifelt alles in Erinnerung zu rufen versuchte, was sie jemals in dieser Hinsicht von sich gegeben hatte.
Er kannte Thore kaum, wusste von ihm nichts, außer dass er Buchhalter war und sich oft mit einem älteren Kollegen zoffte. Bei dem Gedanken an Thores Job musste er unwillkürlich schmunzeln. Er hätte ihn eher in die Kategorie leicht verrückter Verkäufer für ausgeflippte Klamotten gesteckt, auf keinen Fall zu trockenen Zahlenkolonnen. Wenn er lachte, ging Connor das Herz auf und in ihm wurde es warm und wohlig. Wenn er ihn mit seinen blaugrünen Augen anstrahlte, musste er unwillkürlich an eine blühende Sommerwiese unter wolkenlosem Himmel denken. Und wenn sich das kleine Kinngrübchen beim Lachen noch mehr ausbildete, konnte er kaum an sich halten. In ihm zuckte und verlangte es danach, es zu küssen und die Konturen abzufahren. Doch soweit waren sie beide noch nicht.
Mit Bedauern dachte er daran, dass er Thore gerne unbedarft und freizügig in den Arm nehmen und an sich pressen würde. Dass er ihn gerne nach Strich und Faden verführen und vor Lust schreien lassen würde. All seine Erfahrung würde er einsetzen, um Thore vor Verlangen vergehen zu lassen, bis er sich unter ihm wand und aufbäumte und um Gnade flehte.
Doch Thore entzog sich ihm jedes Mal, wenn Connor mehr zur Sache kommen wollte.
Zu seinem Leidwesen wusste er genau warum.
Und das war wohl sein größtes Problem.
Plötzlich traf ihn etwas am Kopf und er zuckte erschrocken zusammen.
Unweit von ihm, lehnte eine Leiter an einem Pfosten, auf dessen obersten Stufen ein älterer Mann stand, auf dem Kopf eine lächerliche rotweiße Weihnachtsmütze, deren Ende lustig über den Rücken des Mannes baumelnd regelrecht auf das Logo eines kleinen Elektrogeschäftes hindeutete, das sich auf dem Rücken der Jacke befand und vor dem Connor unversehens aufgehalten worden war. Mit der einen Hand klammerte sich der Mann am Pfosten fest, während er sich weit nach oben streckte, um mit der anderen das Ende einer Girlande an einem Haken einzuhängen, der nahezu unerreichbar für ihn am oberen Ende des Pfostens angebracht war.
Connor wollte schon einen Fluch in seine Richtung schicken, als sich der Mann halb zu ihm herumdrehte und ihn von seiner erhabenen Position mit schweißnassem und stark gerötetem Gesicht anblickte.
„Es tut mir aufrichtig leid“, keuchte der Mann und wankte leicht auf seiner Leiter, als er für einen Moment drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. „Der Schneesturm hat die Beleuchtung herausgerissen und ich versuche schon beinahe den ganzen Tag, es wieder zu reparieren. Aber allein ist das schier unmöglich. Immer wenn ich sie auf der einen Seite festmache, reißt sie auf der anderen wieder ab.“
Connors Blick wanderte von der Leuchtgirlande zu dem großen Loch in der Hauswand, wo der zweite Haken für die Befestigung saß, von der Gewalt des nächtlichen Sturmes gelockert und windschief in seinem Loch sitzend, und zog wenig zuversichtlich die Augenbrauen hoch.
Der Mann schob seine rote Weihnachtsmütze etwas aus der Stirn und wischte sich nachlässig den Schweiß weg. „Ich bin allein und dafür braucht man anscheinend zwingend zwei paar Hände. Mein Mitarbeiter hatte jedoch einen Skiunfall und ist nun für mehrere Monate außer Gefecht gesetzt. Und das kurz vor Weihnachten“, wandte er sich mit einem verzweifelten Schnaufen und mit beinahe flehendem Blick an Connor. „Wären sie vielleicht so freundlich, das andere Ende dort am Haken festzuhalten, damit ich es auf dieser Seite einhaken kann?“
Connor sah hoch.
Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit, denn auf einmal wusste er, was er Thore zu Weihnachten schenken konnte.
So nervös war er schon lange nicht mehr gewesen, als er seinen Finger auf den Klingelknopf neben Thores Namen drückte. Er zitterte nicht nur vor Kälte wie Espenlaub und zog seine dicke Jacke enger um seinen Leib. Nicht nur allein wegen des eisigen Windes und der Schneeflocken, die seit dem heutigen Nachmittag wieder vom Himmel rieselten, bebte sein Leib, als stünde er unter Strom. Die Sekunden, die der Bewohner brauchte, um zur Wohnungstüre zu gehen und den Türöffner zu drücken, kam ihm wie eine Ewigkeit vor und war die reinste Qual für Connor. Ungeduldig wippte er auf den dicken Sohlen seiner Stiefel vor und zurück und zählte insgeheim die Takte seines rasenden Herzens, bis es endlich an der Haustüre summte und er eintreten konnte.
An der obersten Stufe blieb er mit dem Absatz hängen und wäre beinahe auf den kalten Fliesenboden im Treppenhaus geknallt, wenn er sich nicht im letzten Moment noch gefangen hätte. Verflucht nochmal! Er musste sich endlich beruhigen. Er war bereits schon den ganzen Tag so aufgeregt und außer sich, denn es brannte ihn zu erfahren, was Thore zu seiner Überraschung sagen würde.
Unwillkürlich musste er an seine Mutter denken, die am Weihnachtstag beinahe nicht zu ertragen gewesen war, weil sie stets wie eine aufgedrehte Henne durch die Wohnung hastete und die letzten Vorbereitungen für den Heiligen Abend erledigte. Innerlich schmunzelnd sah er plötzlich in sich Parallelen zu ihr und konnte auf einmal nachvollziehen, warum sie so aufgeregt war.
Der Zauber der Weihnacht hatte schließlich doch noch eingefangen. Nach vielen Jahren, in denen er es beflissentlich und vehement ignoriert und von sich geschoben hatte, war nun auch er davon befallen. Auf einmal konnte er es gar nicht mehr erwarten, inmitten von Kerzenschimmer und Glockenklang vor einem reichhaltig geschmückten Baum zu sitzen, den Glanz der Lichter zu bewundern und sich bei einem Glas Glühwein tief in die Augen zu sehen.
Die Wohnungstüre ging auf im selben Moment, als Connor sich davor stellte und abermals die Klingel drücken wollte. Thore stand in der offenen Türe und lächelte ihn freudig an.
„Hey!“, sagte er und musterte seinen Gast mit sichtlicher Freude, ihn zu sehen.
Connor widerstand der Versuchung, an sich herunter zu sehen. Er wusste genau, er sah aus wie immer: Eine dick gefütterte Lederjacke, die schwarze Lederjeans mit der Seitenverschnürung, plumpe Springerstiefel und seine leicht verwahrloste Erscheinung. Thore hatte stets darüber hinweg gesehen und ihn dennoch freudig angelächelt.
„Hey!“, antwortete Connor, räusperte sich leise und musste dennoch kurz zu seinen Stiefeln blicken, um seine Verlegenheit zu verbergen. „Da bin ich“, brachte er mühsam hervor.
Thores Lächeln wurde breiter. „Ich seh es“, gab er mit einem leisen Kichern von sich und öffnete die Tür etwas weiter, um seinen Gast hereinzulassen.
Aus der Wohnung strömte der unwiderstehliche Duft von Gebratenem, süßem Backwerk und der zimtwürzigen Note von Duftkerzen. Connors Magen jubilierte grummelnd, als er die Gerüchte zu differenzieren und einzuschätzen wusste. Zumindest dieser Teil seines Körpers würde an diesem Abend gebührend zu seinem Recht kommen. Er unterdrückte ein belustigtes Schmunzeln und nahm die Einladung an, indem er über die Schwelle trat und ein paar Schritte in den Flur trat.
Als Thore die Türe schloss, schlüpfte er aus seinen nassen Stiefeln und schob sie auf die Seite.
„Wie kannst du bei dieser Saukälte ohne Strümpfe draußen rumlaufen?“, kommentierte Thore nicht zum ersten Mal Connors Angewohnheit, auf Socken zu verzichten.
„Reine Gewöhnungssache“, gab er zum wiederholten Male von sich. Es war schon beinahe ein übliches Willkommensritual, wenn er bei ihm zu Besuch war und die Stiefel auszog.
Er blieb stehen und wartete wie gewohnt die weitere Reaktion Thores ab. Anfangs hatte er Thore zu einem Begrüßungskuss in die Arme geschlossen, doch als ihm dessen allgemeine Zurückhaltung bewusst wurde, verzichtete Connor darauf. So standen sich die beiden Männer für einen Moment schweigend gegenüber und wussten nicht, was nun weiter geschehen sollte. Bis Thore sich mit einem Seufzen losriss und Richtung Wohnzimmer zeigte.
„Es ist schon alles bereit. Ich hoffe, du hast genügend Hunger mitgebracht.“ Er schob sich an Connor vorbei und ging in das angedeutete Zimmer.
„Hat man das eben nicht gehört?“, gab Connor flapsig von sich, um die eigene Unsicherheit zu überspielen, folgte Thore und blieb im Türstock stehen, als er den hell erleuchteten Weihnachtsbaum in der Ecke des Wohnzimmers stehen sah. Unwillkürlich musste er ein weiteres Mal an seine Mutter denken, die sich ebenso viel Mühe gemacht hatte, ein einfaches, simples Tannenbäumchen in ein Licht- und Glanzwunder zu verwandeln.
Fürwahr hatte Thore das ganze Wohnzimmer in ein Kerzenwunder verwandelt. Auf dem Tisch, auf den Regalen und sogar an den Wänden standen und hingen Kerzenleuchter, die ihr samtenes, flackerndes Licht verbreiteten und das ganze Zimmer in einen goldenen Schimmer tauchten. Aus der Stereoanlage ertönte auf dezenter Lautstärke Chris Rea mit seinem Driving home for chrismas und er musste unwillkürlich schmunzeln. Dieser Song war eines der Lieblingslieder seiner Mutter gewesen und lief mit einigen anderen den ganzen Tag als Dauerschleife. Er war froh, dass ihn Thore mit der klassischen Variante der weihnachtlichen Untermalung verschonte und stattdessen etwas moderneres wählte. Er wusste nicht, ob er sonst ausgehalten hätte und sein Vorhaben aufgab, bevor er es ausführen konnte. Connor schluckte hart und zog seine Jacke noch enger um seinen Leib, während er Thore dabei beobachtete, wie er die vier Kerzen eines Adventskranzes mit einem Streichholz anzündete.
„Setz dich. Das Essen ist gleich fertig“, gab Thore im munteren Plauderton von sich, während er eine Kerze nach der anderen anzündete.
Connor ließ seinen Blick über das Zimmer schweifen und blieb an ein paar Weihnachtspäckchen unter dem Baum hängen. Auch wenn er nichts derartiges erwartete, wusste er, dass mindestens eines davon für ihn bestimmt war. Sicherlich ein Großpack Socken, sagte er sich gerührt und amüsiert zugleich und trat näher.
Unwillkürlich ging sein Blick nach oben, dort wo er im Augenwinkel, an der Deckenlampe befestigt, einen grünen Büschel entdeckte. Ein Mistelzweig, erkannte er und musste unwillkürlich ein zweites Mal schmunzeln. Thore hatte sich wirklich sehr viel Mühe gemacht. Aber ob der Zweig seinen Zweck erfüllte und sie sich darunter küssen würden, bezweifelte er stark. Er glaubte nicht daran, dass Thore seine Zurückhaltung zu mehr als für einen flüchtigen Kuss aufgab.
Dennoch verpasste er sich einen innerlichen Ruck. Es gab nun kein Zurück mehr. Sein Entschluss stand fest. Er würde durchziehen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte.
„Thore …“, begann er zögerlich. „Ich … äh …“ Er schloss den Mund, als ihm bewusst wurde, dass er nicht imstande war, aus sich herauszupressen, was er sich den ganzen Tag lang bereit gelegt hatte. Er hatte es sich so einfach und leicht vorgestellt, doch nun, als es so weit war, brachte er es nicht fertig. Warum war es so schwer für ihn?
Weil er etwas ganz besonderes beschlossen hatte?
Weil er bereit war, für diesen Mann etwas zu tun, was er vor zwei Monaten niemals von sich gedacht hatte?
Thore richtete sich auf und drehte sich um, das brennende Streichholz in der Hand und blickte Connor fragend an. Eine seiner Augenbrauen wanderte verwundert nach oben, als er registrierte, dass sein Gast noch immer seine dicke Jacke trug.
Connor musste einen tiefen Atemzug nehmen, um all den Mut zusammenzuraffen, den er für sein Vorhaben brauchte. „Ich habe mir lange überlegt … Ich habe lange darüber nachgedacht, wegen heute Abend …“, presste er mühsam hervor und schalt sich für sein nervöses Gestammel. „Was ich dir schenken soll.“
Thores Lächeln wurde breiter. „Du brauchst mir nichts zu sch …“ Er fluchte plötzlich und schüttelte seine Hand, als ihm das brennende Streichholz die Finger versengte.
Connor war mit wenigen Schritten bei ihm, schnappte sich die Hand und hielt sie fest, als wollte er ihr Trost und Heilung schenken.
„Thore, ich …“, begann er zögerlich und suchte dessen Blick, bannte die leuchtenden grünblauen Augen förmlich an sich. „Ich weiß, du magst mich.“ Connor knurrte innerlich. Er hörte sich an wie ein verdammter Idiot. Wo waren all die klugen Worte geblieben, die er sich zurecht gelegt hatte?
„Und ich mag dich“, fügte er daher schnell hinzu. „Mein Leben ist nicht mehr dasselbe, seit ich dir begegnet bin. Seit ich dir vor das Auto gelaufen bin.“
„Und seit du mir die Brieftasche geklaut hast“, murmelte Thore leise, mit einem schelmischen Glitzern in den Augen.
Dies brachte Connor ein wenig aus dem Konzept. Er fing sich jedoch sogleich wieder und drückte Thores Hand fester. „Ich habe lange überlegt, was ich dir schenken soll.“
Thore schnaufte laut. „Du brauchst nicht …“
Doch Connor unterbrach ihn sogleich, indem er einen Finger hob und ihn auf dessen Lippen legen wollte. Bevor er ihn jedoch berühren konnte, zog er ihn wieder zurück und ließ ihn sinken. „Ich habe über mich nachgedacht und über uns. Es ist mir nicht entgangen, dass du ein Problem mit meinem Lebenswandel hast. Du hältst dich zurück. Dabei hättest du gerne mehr.“ Er blickte ihm tief in die Augen, die ihn an die Sommerwiese, an deren Horizont sich der wolkenlose Himmel erstreckte, erinnerte und musste das aufkeimende heiße Prickeln unterdrücken, das sich in seinem Inneren aufbäumte. In ihm bebte es vor Nervosität und er hoffte, dass Thore dies nicht mitbekam. Trotzdem war er nicht bereit, die Hand loszulassen. Sie spendete ihm den Mut, den er brauchte, um zu tun, wozu er sich entschlossen hatte. Sie gab ihm die Zuversicht, dass sein Vorhaben nicht in einem Fiasko endete.
Thores Finger hatten leicht gezuckt, als Connor dessen Abneigung gegen die Art und Weise ansprach, mit der er seinen Lebensunterhalt verdiente. Seine Mundwinkel zuckten nervös. Für Connor war dieses Zucken eine Bestätigung seiner Vermutung.
„Ich hätte auch gerne mehr. Mehr von dir und deinem Leben. Das geht jedoch nicht, so lange …“ Mit einem weiteren innerlichen Ruck, ließ er es schließlich aus sich herausplatzen. „Daher habe ich beschlossen, es für dich aufzugeben.“ Er ließ Thores Hand los, trat einen Schritt zurück, zog den Reißverschluss seiner Jacke herunter und warf sie sich über die Schultern. Zum Vorschein kam der nackte Oberkörper, umschlungen von einer dünnen Lichterkette, an der kleine, bunte LED-Lichter glitzerten.
Thores Augen weiteren sich augenblicklich und konnten sich nicht von diesem Anblick losreißen. Vollkommen überrascht und überwältigt, war er lediglich dazu imstande, den Anderen anzustarren.
„Ich hab einen Job“, berichtete Connor weiter. „Es ist nur ein Aushilfsjob und auch noch gar nicht sicher, ob er mich übernehmen kann oder will. Das kommt ganz darauf an, wie ich mich die nächste Zeit mache. Ich hatte gehofft, dass du mir dabei ein wenig helfen kannst. Mein Boss ist ein echt netter Kerl. Und ich habe ihn auch nicht lange überreden müssen, mich zu nehmen.“ Er deutete auf die Girlande um seinen Oberkörper. „Das ist sozusagen ein Vorschuss auf mein erstes Gehalt oder besser gesagt ein Dankeschön für die erste Hilfe.“ Die verschieden farbigen LED-Lichter zauberten bunte Farbkreise auf dem nackten Oberkörper, ließen die kleinen, silbernen Ringe um die Brustwarzen glitzern und rückten das Sonnentattoo um den Bauchnabel ins rechte Licht. Thore konnte ihn nach wie vor nur entgeistert und mit großen Augen anstarren.
„Für dich ändere ich mein Leben“, gestand Connor und musste sich räuspern. Thores Schweigen verursachte ihm Unbehagen und ließ die kalte Angst an seinem Entschluss kitzeln. Er hatte sich das so großartig vorgestellt, so befreiend und überwältigend. Aber diese Reaktion überraschte und verunsicherte ihn absolut. Als wollte ihn das Schicksal noch zusätzlich verhöhnen, klangen nun die ersten Töne eines neues Liedes an. The Power of Love von Frankie goes to Hollywood. Davon konnte Connor in diesem Moment allerdings herzlich wenig spüren. Dennoch war er nicht gewillt, aufzugeben. Instinktiv wusste er es jedoch bereits seit ihrer ersten Begegnung. Mehr als einen Monat hatte er gebraucht, um es zu einzusehen.
„All das hier …“, fuhr er entschlossen fort und deutete mit einer kleinen Handbewegung und einen flüchtigen Blick auf sich und die leuchtende Lichterkette. Seine Stimme kippte leicht, als Thore noch immer schwieg. „… gibt es nur noch für dich. Das ist mein Weihnachtsgeschenk an dich. Mich.“
Thores Brustkorb bewegte sich heftig. Sein Atem ging rasch. Seine Augen wanderten unruhig zwischen Connors Gesicht und der glitzernden Girlande hin und her, als traute er dem eben Gehörten nicht so recht. Wie zur Salzsäule erstarrt, mit großen Augen, war er zu keiner Bewegung, geschweige denn zu einer Bemerkung fähig.
Verunsichert von Thores Erstarren ließ Connor den Kopf sinken und sog hörbar die Luft ein. Er hatte gehofft, mit dieser albernen Lichterkette an diesen besonderen Zauber, der so viele Menschen einfing, anknüpfen und seine Absicht noch unterstreichen zu können. Es war offensichtlich gewaltig nach hinten losgegangen. „Eine blöde Idee. Ich weiß“, murmelte er enttäuscht, mit den Gedanken schon bei der Flucht aus der Wohnung. „Aber ich wollte dir was ganz Besonderes …“
Eine Bewegung ließ ihn verstummen. Kurz darauf spürte er kalte, zitternde Fingerspitzen an seinem nackten Bauch. Sie berührten liebevoll die Strahlen seiner Sonne um seinen Bauchnabel, so vorsichtig, als befürchteten sie, ihnen weh zu tun.
Er sah hoch und begegnete direkt Thores Blick. In dessen Augen glitzerte es. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Das kleine Grübchen an dessen Kinn bebte, als sich die Kiefer aufeinander pressten.
„Keine blöde Idee“, hauchte Thore ergriffen und kam ein kleines Stückchen näher. Zwischen ihnen blinkten die kleinen bunten LEDs, als wollten sie die beiden Männer dazu auffordern, sich endlich einen Ruck zu geben. Thore drängte sich noch näher an ihn heran, drückte die kleinen Lichter an die nackte Haut, worauf Connor leise seufzte. „Das Schönste, was mir jemals jemand geschenkt hat“, flüsterte Thore. Sein Gesicht kam noch näher. Sie waren sich nun so nahe, dass man kaum eine Hand dazwischen schieben konnte. Ihrer beider Blicke hefteten sich aneinander, bohrten sich tief in den Anderen hinein.
Es dauerte eine quälend lange Ewigkeit, ehe sich ihre Lippen endlich fanden und sich in einem langen leidenschaftlichen Kuss verbanden. Die erste Berührung fiel noch wie ein Hauch aus, zaghaft und zögernd, als trauten sie sich nicht, zu tun, wonach es sie sehnte. Ihre zweite Berührung war schon gewagter. Sanft schmiegten sich ihre Lippen aneinander, schmeichelten sich an das andere Paar wie eine liebevolle Streicheleinheit, befühlten die Konturen und kosteten die Fülle und das Übermaß an Verlangen vollends aus. Bis Thore den nächsten Schritt wagte, seinen Mund öffnete, vorsichtig an Connors vollen, wild pulsierenden Lippen knabberte und mit seiner Zungenspitze die Mundwinkel liebkoste.
Connor zögerte, die Geste zu erwidert. Er konnte sein Glück und den Fortgang der Geschehnisse kaum begreifen. Thores Schweigen hatte ihn sämtlicher Hoffnung beraubt und grenzenlose Enttäuschung in ihm breit werden lassen. Er brauchte erst einen weiteren Schritt von Thore – dessen Leib, der sich fest an den seinen presste und rieb, die glitzernden LED's zwischen ihnen – ehe er wieder Zuversicht empfinden konnte, endlich seine Lippen öffnete und ihm Einlass gewährte.
Er zuckte vor Schreck zusammen, als sich plötzlich kalte, zitternde Hände auf seinen nackten Rücken legten, das Kabel der Lichterkette sanft an ihm rieb und sich genussvoll höher arbeiteten, bis hinauf in den Nacken, wo sie sich in den Haaransatz vergruben und ihn noch fester an den Anderen drückte.
Seine eigenen Hände trauten sich nicht so recht, den Körper zu umschlingen, der sich hart und bebend an ihn drückte. Er fühlte die Anspannung in ihm, den vor Ungeduld bebenden Körper und die Hitze, die von ihm ausging. Eine Hitze, die bestimmt nicht vom gut geheizten Raum herrührte, und die seinem nackten Oberkörper warm und wohlig begegnete, wie auch die Erregung, die sich in seinen eigenen Schritt presste. Er hatte absichtlich auf ein Oberteil verzichtet, weil er wusste, wie sehr Thore die Tattoos mochte, besonders die Sonne um seinen Bauchnabel. Er wollte den Überraschungsmoment nicht erst mit langwierigem Ausziehen eines Hemdes oder Pullovers in die Länge ziehen und damit die Wirkung womöglich zunichte machen. Außerdem befürchtete er, Thore würde es in den falschen Hals bekommen, wenn er sich vor ihm auszog.
Glück schwappte wie eine Welle über ihn und drohte ihn hinweg zu spülen. Alle Zurückhaltung und Beklemmung fiel von ihm ab. Er schlang seine Arme um Thore, drückte ihn an sich und an die inzwischen warm gewordenen LED-Lichter, die sich wie kleine Miniöfen auf seiner kühlen Haut anfühlten und hätte um nichts in der Welt losgelassen. Er war froh, eine Batterievariante gewählt zu haben, deren Lichter durch die geringere Spannung nicht heiß wurden. Bei seinem Glück hätte er sich noch verbrannt, oder gar einen Stromschlag bekommen.
Connor konnte nicht genug davon bekommen, wie Thore sich an ihn presste und seine Erregung an der dicken Lederjeans rieb. Er schaffte es in seinem Überschwang an Glück selbst nicht, sich zu beherrschen, schob ungeduldig das Hemd nach oben und eroberte sich wild und unbarmherzig die nackte Haut darunter. Nur für einen flüchtigen Moment erwartete er, dass sich Thore gemäß seiner Gewohnheit entzog, doch diesmal hielt er still, ließ sich das Hemd über den Kopf ziehen und schmiegte sich wieder an ihn und die leuchtende Girlande.
Auf einmal gab es auch für Connor kein Halten mehr.
Er bugsierte Thore in Richtung Sofa, ließ ihn sanft darauf niedersinken und bedeckte die bebende Brust mit heißen Küssen, vom Brustbein bis hinunter zum Bund der Hose. Das Becken streckte sich ihm bereitwillig entgegen und so entfernte er in Windeseile die letzten Fetzen Stoff, die ihn von den Köstlichkeiten fernhielten, die ihm Thores Zurückhaltung bislang vorenthalten hatte. Doch bevor er sich ihnen widmen konnte, drehte ihn dieser zur Seite, drapierte ihn auf das Polster und drängte ihn unter sich auf das Sofa. Sein hungriger Blick gebot ihm Bewegungslosigkeit. Er beugte sich nieder, nahm eine der im LED-Licht glitzernden Ringe in Connors Brustwarzen zwischen die Lippen und ließ sie langsam wieder herausgleiten. Ein heißer Schauer rann durch Connor und er beugte sich mit einem glückseligen Seufzen bereitwillig der Willkür des Mannes über ihm. Mit einem zweiten ebensolchen Kuss auf eine der untersten Strahlen des Sonnentattoos, den er genüsslich zwischen die Lippen saugte und widerwillig wieder freigab, deutete Thore sein weiteres Vorhaben an und bald verlor auch Connor sämtliche Hüllen.
Ergeben ließ er sich in den Willen der Hände fallen, die ihn nun vereinnahmten und sich nahmen, was sie sich seit ihrer ersten Begegnung verboten hatten.
Worte waren nicht mehr notwendig. Die Art und Weise, wie Thore sich für dieses Geschenk bedankte, war ihm Beweis dafür, dass er das Richtige tat. Er war zuversichtlich, dass sie es noch gebührend zu schätzen wissen würden, während im Hintergrund Power of Love lief und sie beide vollends einhüllte.
Einzig das Surren des Backofentimers aus der Küche brachte die beiden dazu, sich gerade mal für die Zeit von einander zu trennen, die sie benötigten, um den Braten aus der Röhre zu holen, auf eine Platte zu drapieren und auf den Tisch zu stellen.
Aber auch nur, um sogleich wieder übereinander herzufallen, mit Küssen, Streicheln und Liebkosungen auf das Sofa zurückzusinken und an dem anzuknüpfen, wo sie, des wohlriechenden Weihnachtsessens zuliebe, von einem warnenden Piepen des Timers unterbrochen worden waren.
Er, Connor, ein Herumtreiber und Vagabund, ein Tunichtgut und Taschendieb, war imstande gewesen, den sonst so fröhlichen Kerl sprachlos zu machen und vor Rührung die Tränen in die Augen zu treiben.
Tränen des Glücks.
Hervorgerufen durch den Zauber der Weihnachtslichter, in die er sich für Thore gehüllt hatte und die er ihm zuliebe den ganzen Abend lang nicht ablegte.
Es machte ihn unendlich glücklich, zu wissen, dass er für Thore das schönste Geschenk war, dass dieser je erhalten hatte.
Und wenn er ganz ehrlich zu sich war, dann musste er zugeben, dass der Schleier vor seinen Augen, der das Kerzenlicht im Wohnzimmer zu einem einzigen goldenen Sternenkranz mutieren ließ, nicht nur ein Nebenprodukt seiner Ekstase war, in die ihn Thore bei den Klägen von Mariah Carey und „All I want for Christmas is you“ getrieben hatte.
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Frohe Weihnachten und möge der Zauber der glitzernden Weihnachtslichter auch euch mit dem schönsten Geschenk bescheren, das ihr je erhalten habt.
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Texte: Ashan Delon (C) 2011
Bildmaterialien: www.morguefile.com
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2011
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