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Last Christmas





„Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day, you gave it away …“



Ben drehte das Radio leiser. In den letzten drei Stunden, in denen sie schon unterwegs waren, lief dieses Lied nun schon zum fünften Mal. Der Moderator beugte sich ein ums andere Mal den flehenden Wünschen der Hörer und ließ es immer wieder über den Äther laufen. Auch in den davor liegenden Sendern, deren Senderegionen sie auf ihrer Reise passiert hatten, dudelte dieser einmalige Klassiker stets aufs Neue aus den Sendeanlagen.
„Weißt du, dass dieses Lied eigentlich mal für Ostern geschrieben worden war?“, fragte Ben seine Beifahrerin und riss sie damit aus ihrem spannenden Krimi, den sie neben ihm auf dem Beifahrersitz las, während Ben den Audi-Kombi durch das verschneite Allgäu schipperte.
„Hm?“ Anna, seine ein Jahre ältere Schwester sah verwirrt hoch und blickte sich um.
„Last Christmas“, half Ben ihr auf die Sprünge und drehte die Musik ein Quäntchen lauter. „Georg Michael hat das eigentlich für Ostern geschrieben. Die Plattenfirma wollte jedoch ein Weihnachtslied und daher schrieb er es einfach um.“
„Echt?“ Anna seufzte wenig beeindruckt von dieser Neuigkeit, legte ihr Lesezeichen – den Kassenzettel für das Buch – zwischen die Seiten und klappte es leise zu. „Wo sind wir eigentlich?“ Sie gähnte herzhaft, reckte und streckte sich und räkelte ihre steifen Glieder in alle Richtungen. Anschließend schüttelte sie ihre lange dunkelbraune Lockenmähne auf und strich sie hinter die Ohren, um mit großen dunklen Augen die Umgebung zu mustern.
„Irgendwo hinter Kempten.“
„Wie lange dauert es noch?“
„So lange wie es dauert“, gab Ben genervt zurück. „Vertief dich lieber wieder in dein Buch und lass mich fahren.“
Anna verzog ihr Gesicht und streckte ihre vom langen Sitzen verkrampften Glieder abermals, bevor sie sich in das Sitzpolster zurück sinken ließ und gedankenverloren aus dem Fenster die verschneite Voralpenlandschaft betrachtete.
„Wer kommt eigentlich alles auf die Hütte?“, wollte er wissen.
Anna zuckte mit den Schultern. „Ein paar aus der alten Clique: Gabi, Tina, Robert und Martin.“ Sie legte das Buch auf die Ablage unter der Windschutzscheibe. „Gabi hat Gott und die Welt eingeladen. Keine Ahnung, wer alles kommt. Wird sicherlich lustig.“
Ben nickte. Kurz nach dem Abi hatten sie schon einmal ein Weihnachten auf der Adelharz-Hütte verbracht. Das war jetzt beinahe fünf Jahre her – eine Ewigkeit. Es würde sicherlich schön sein, all die weit verstreuten Typen wieder zu sehen. Nach dem Abi hatte sich ihre Clique weitgehend aufgelöst und in alle Windrichtungen verschlagen. Ben freute sich richtig darauf. Wenn Robert dabei war, würden sie immer was zu lachen haben. Er kannte mehr Witze als ein Stand-up-Comedian und Martin war sicherlich für den kulinarischen Teil ihres Weihnachtswochenendes zuständig. Sie hatten sich nach dem Abi noch einige Male getroffen. Daher wusste Ben, dass es sich Martin als Koch sicherlich nicht nehmen lassen würde, für das leibliche Wohl zu sorgen.
„Hoffentlich platzt die Hütte dann nicht aus allen Nähten.“ Ben kicherte kurz. „Solange ich mein Bett nicht mit jemandem teilen muss …“ Er erinnerte sich an das letzte Mal, als er am Morgen erwachte und Norbert neben sich in dem engen Bett liegen sah. Norbert hatte sich am Abend so zugedröhnt, dass er sich kurzerhand in irgendein Bett gelegt hatte. Da Ben selbst ebenso nicht gerade nüchtern ins Bett gekrabbelt war, wurde er dadurch nicht wach und so pennten die beiden Jungs eine Nacht gemeinsam in einem Bett, was natürlich Gesprächsstoff für den Rest des Wochenendes darstellte.
Wäre Norbert nicht Norbert gewesen, sondern irgendwer anderer, hätte sich Ben nicht an dieser Geschichte gestört, doch Norbert war im wahrsten Sinne des Wortes widerlich. Er duschte selten, benutzte kaum Deos und schien auch die Bedeutung einer Waschmaschine nicht zu kennen. Das war jetzt fünf Jahre her und er fragte sich, was wohl aus diesem Chaot geworden war. Denn abgesehen von seinen unappetitlichen Angewohnheiten war Norbert ein echt netter Kerl. Er hoffte, dass dieser inzwischen dazugelernt hatte und ebenso eine Dusche wohl zu nutzen wusste. Sollte sich daran nichts geändert haben, und er war ebenfalls an diesem Weihnachtswochenende auf der Hütte, würde es ein sehr würziges Wochenende werden.
Sehnsüchtig dachte er daran, dass es ihm gefallen hätte, wenn Jaron sich so hätte volllaufen lassen, dass er nicht mehr den Weg in sein eigenes Bett gefunden hätte. Jaron war sein heimlicher Schwarm gewesen – war es eigentlich immer noch, wenn er sich das selbst zugeben musste. Und das, obwohl ihm Jaron ein Weihnachten ziemlich vermiest hatte. Zwei Jahre nach seinem Abi traf er Jaron zufällig am Weihnachtsmorgen beim Bäcker, um noch schnell Brot für sein Käsefondue zu besorgen. Er nahm sich ein Herz und erfüllte sich einen sehnlichen Wunsch, indem er Jaron seine Gefühle für ihn offenbarte. Dieser dankte es mit höhnischem Gelächter und herablassenden Sprüchen, die er seither für Ben übrig hatte, sobald sie sich zufällig über den Weg liefen. Sie wohnten nach wie vor in derselben Kleinstadt, in der es nicht viele Möglichkeiten gab, um sich frische Brötchen zu organisieren.
Inzwischen hatte Ben schon etliche Bekanntschaften gehabt, ebenso einige festere, die über mehrere Monate oder auch ein Jahr hielten, jedoch konnte er Jaron nicht ohne weiteres vergessen. Wenn der ihn aus seinen bernsteinfarbenen Augen anguckte, selbst wenn dessen Blick von Spott und Verachtung nur so triefte, wurden ihm die Knie weich und wenn er seinen Mund öffnete, lächelte und sich dabei die kleinen Grübchen auf den Wangen bildeten, hätte Jaron lediglich ein Wort sagen müssen und er wäre mit ihm in die Kiste gehüpft. Leider hatte Jaron seit diesem Geständnis einzig Hohn für ihn übrig, was seiner geschundenen Seele wenig schmeichelte.
Sofern er ihn überhaupt beachtete, geschweige denn bemerkte, außer um ihn mit derben, homophoben Sprüchen zu überschütten. Er konnte wetten, wenn ihn jemand auf ihn - Ben, Benjamin Böttcher, der stets ein Jahrgang unter ihm zur Schule ging, ansprach, würde er nicht einmal wissen, wer das war. Jaron Lorenz war ständig mit einem Mädchen zusammen und als solches mit Leib und Seele Hetero. Eine Tatsache, die Ben an diesem Weihnachtsmorgen schmerzlich zu spüren bekam.
Ebenso wie die Tatsache, dass Jaron einfach nur zum anbeißen aussah: durchtrainierter Sportlerkörper, goldbraune Locken, die ihm keck ins Gesicht fielen und die er mit einer lasziven Geste zurück strich, volle dunkelrote Lippen. Ben wurde jedes Mal neidisch, wenn er ein Mädchen an diesen sinnlichen Lippen hängen sah und wünschte sich eine Geschlechtsumwandlung, damit er ebenso seine Finger in diese kleinen Wangengrübchen bohren konnte. Und dann erst diese Bernsteinaugen …
Für Jaron existierte er jedoch nicht, oder lediglich als dankbares Objekt, um sein Macho-Gehabe an ihm auszulassen und so blieb er für ihn eine unerfüllte Sehnsucht. Für Ben war der Filius eines großen Sportgeschäfts stets unerreichbar gewesen, ein Traum, der sich für ihn niemals erfüllen würde.
„Gehst du Skifahren?“, erkundigte sich Anna bei ihrem Bruder und riss ihn damit aus seinen Erinnerungen.
Ben zuckte mit den Achseln. Skifahren gehörte nicht zu seinen Lieblingssportarten. Das letzte Mal hatte er sich beinahe ein Bein gebrochen, als er versucht hatte mit einem Snow-Board den Hügel hinunter zu rutschen. „Mal sehen“, gab er knapp von sich. Im schlimmsten Fall konnte er ja noch rodeln oder Schneemänner bauen, von denen vermutlich jeder einzelne wie Jaron aussah.
„Soll ich es dir beibringen?“, bot sich Anna an. Sie war eine ausgesprochene Sportskanone und probierte immer wieder mal eine neue Sportart aus, um sie bis ins Exzess auszuüben. Bis der erste Schnee fiel und die Straßen zu glatt wurden, war Jogging, Walking und sogar Roller Skating angesagt gewesen. Ben hatte sie einige Male begleitet, denn in seiner Jugend war er viel auf Rollschuhen, Skateboards und dergleichen unterwegs gewesen.
Ben schüttelte den Kopf. „Ich glaube, dass muss ich mir auf meine alten Tagen nicht mehr antun. Das letzte Erlebnis reicht mir.“
Anna kicherte und boxte ihm liebevoll in die Schulter. „Komm schon, du Feigling. Außerdem bist du nicht alt. Kuck mich an, ich bin ein Jahr älter.“
„Um genau zu sagen, 359 Tage“, sagte er grinsend und deutete mit dem Finger auf ein Straßenschild. „Ich glaube, da muss ich abbiegen nach …“ Ben verkniff sich wohlweislich den Rest seines Satzes, als er den Blinker setzte, um von der Autobahn abzufahren. Er wusste, was passieren würde, wenn er den Namen der Ortschaft aussprach. Der Winterdienst hatte sich alle Mühe gegeben, den unermüdlichen, winterlichen Niederschlag in weichen Schneematsch zu verwandeln. Die Straße war rutschig und entsprechend gemütlich lenkte Ben den Kombi in Richtung Autobahnausfahrt.
Er erschrak, als ein Wagen an ihm vorbeirauschte, ungeachtet der widrigen Straßenverhältnisse, sich wenige Meter vor ihn setzte und ihm den ganzen schwarzen Schneematsch von der Straße auf die Windschutzscheibe spritzte. Ben konnte noch den roten Mercedes SL Marke protziges Statussymbol erkennen, ehe sich seine Scheibe mit undurchlässigem Matsch füllte. Er fluchte ungehemmt, schaltete den Scheibenwischer eine Stufe höher und drückte die Taste für die Spritzdüsen.
„Was für ein Arsch!“, kommentierte Anna den ungehobelten Fahrer und kicherte im selben Moment los. „Oy, wie lustig.“
„Das hast du beim letzten Mal auch gesagt“, erinnerte sich Ben noch genau und musste schon wieder grinsen. Anna hatte sich bis beinahe vor der Hütte nicht mehr eingekriegt und kicherte stets aufs Neue los.
„Welche Stadt heißt schon Oy?“, feixte sie.
„Ich weiß nicht, was du hast“, gab Ben achselzuckend zurück. „Klingt doch besser als Waiblingen, wo all die albern kichernden Weiber herkommen.“ Ben zwinkerte ihr frech zu, bevor er einen Gang tiefer schaltete und von der Autobahn abfuhr.
Anna beruhigte sich mühsam und rutschte in ihrem Sitz höher. „Wird Zeit, dass wir ankommen. Mein Hintern schläft ein.“
Diesmal war Ben derjenige, der kicherte. „Soll ich ihn auflockern.“ Er ließ mit einer Hand das Lenkrad los und schob sie auf den Beifahrersitz, um ihr in den Po zu kneifen. Anna quietschte auf und stieß die Hand von sich.
Lachend nahm Ben seine freche Hand zu sich und legte sie brav ans Lenkrad, um den Rest des Weges zu absolvieren. Seine Schwester war eigentlich wie ein Zwilling. Sie waren stets in die gleiche Klasse gegangen, da Anna aufgrund einer Krankheit mit Sechs ein Jahr zurückgestuft worden war und sie verbrachten zudem beinahe jede freie Minute zusammen. Sie waren sich sehr ähnlich, hatten sich zu ihrer Belustigung oft als Zwillinge ausgegeben und waren sich sogar in Punkto Liebesleben ziemlich einig. Beide bevorzugten knackige Männer und schnappten sich auch schon mal die lukrativen Opfer gegenseitig weg, wobei Ben oft das Nachsehen hatte, denn nicht jeder gut aussehende Kerl stand auf Jungs.
Einige Zeit später stellten sie ihren Wagen auf dem Parkplatz der Adelharz-Hütte in der Nähe des Grünten ab. Die restlichen 250 Meter mussten sie notgedrungen zu Fuß gehen, denn die Schneeberge türmten sich zu hohen Wällen links und rechts des Parkplatzes und verdeckten beinahe den Blick auf die kleine Almhütte. Ben schnaufte tief durch, als er den Motor abstellte und aus dem Seitenfenster sah. Ihm stockte der Atem, als er zwei Autos weiter etwas Knallrotes aufblitzen sah.
„Das gibt’s jetzt nicht.“ Neben einem bulligen, schwarzen Pajero parkte der leuchtend rote Mercedes SL, der ihnen auf der Autobahn den Weg geschnitten hatte.
Anna drehte den Kopf und blickte über Bens Schulter hinweg zu dem auffälligen Wagen. „Na, dann erfahren wir ja bald, wer der Straßenrowdy ist.“ Sie zuckte mit den Achseln, angelte auf dem Rücksitz nach ihrer Jacke, schlüpfte umständlich hinein und öffnete die Türe. Ein Schwall eisige Kälte drang in den wohlig beheizten Innenraum des Wagens, mit ihm Schneeflocken und ein unbestimmtes frostiges Gefühl.
Wer immer der Fahrer des protzigen Wagens war, er war ihm bereits jetzt unsympathisch. Außerdem schien sich der Besitzer dieser Protzkarre einen Dreck um sein Vermögen zu scheren, denn einen solchen Wagen mottete man bei Schneematsch und Eis eher in einer beheizten Garage ein, anstatt ihn eine zugeschneite Bergstraße hinaufzuquälen.
Seufzend trennte sich Ben von dem roten Fleck und widmete sich seinem Gepäck. Eine Reisetasche für ein verlängertes Wochenende musste irgendwie die 250 Meter bis zur Hütte transportiert werden. Zudem ließ Anna ihre Tasche neben die von Ben fallen und befreite ihre Skier von dem Dachträger des Kombi. Ben knurrte missmutig, nahm jedoch die dicke Tasche seiner Schwester mit auf und schleppte sie durch den von Schnee geräumten Gang bis hin zur Hütte.
250 Meter konnten ziemlich lang werden, wenn man zwei dicke Reisetaschen durch einen engen fast eineinhalb Meter hohen Schneegang schleppen musste, während einem die Kälte den Atem einfror und die Anstrengung die Schweißporen öffnete. Als Ben hinter Anna, die lässig die Skier auf ihrer Schulter balancierte, an der Hütte ankam, stand er bereits in Schweiß und keuchte dicke, weiße Wolken aus.
Er streckte kurz seinen schmerzenden Rücken durch und blickte hoch. Die Hütte sah noch beinahe genauso aus, wie er sie in seinen Erinnerungen besaß. Das lang gestreckte Dach, das er vor fünf Jahren in einem Anfall von Übermut und zu viel Jägertee mit dem Snow-Board heruntergerutscht war und unten ziemlich unsanft aufgekommen war. Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen gehabt, sondern lediglich ordentlich verstaucht. Sein feuchtfröhliches Wochenende war nicht mehr ganz so fröhlich geworden, nur noch feucht, denn er versüßte sich die Zeit, in der er untätig in der Hütte herumsitzen musste, mit Glühwein, Jägertee und der schönen Aussicht auf den Grünten.
Die Türe öffnete sich und Martins Gesicht schob sich nach draußen.
„Hey!“, rief er erfreut, breitete die Arme aus und riss Anna an sich, um sie an sich zu drücken. Ben wurde ebenso kurz umarmt und freute sich, dass er zumindest nicht verhungert würde, denn aus der geöffneten Türe drang der appetitliche Duft von Gebackenem. Wenig später tauchte auch Robert auf und schloss sich der allgemeinen Begrüßung an. Als sie es schafften, ins Innere des Hauses zu gelangen, kam ihnen Norbert entgegen – ohne fettige Haarpracht und angenehm nach Seife und Deo duftend, was darauf schließen ließ, dass er einiges dazugelernt hatte. Ben drückte ihn erfreut an sich. Im Hintergrund tauchte Miriam auf. Sofort fiel ihm der kleine rote Punkt zwischen ihren Augenbrauen auf und Ben wusste, dass sie noch immer mit Rahul, einem Inder zusammen war. Ein Aufblitzen an ihrer rechten Hand sagte ihm noch mehr. Er drückte sie ebenso freudig an sich und begrüßte auch Rahul, der wenig später ebenfalls aus dem Aufenthaltsraum gekommen war.
Mit jedem „alten“ Freund aus vergangenen Tagen freute er sich mehr auf dieses Wochenende. Es hatte wirklich etwas von Last Christmas, sagte er sich. Die verschneite Almhütte, die Freunde aus seiner Jugend, die ihn allesamt erfreut begrüßten. Die heitere Atmosphäre …
Jetzt fehlte nur noch, dass eine verflossene Liebe auftauchte, dachte Ben im Überschwang der Wiedersehensfreude, und drückte ebenso Gabi und Tina herzig an sich, als sie ihm mit einem Kreischen entgegen geflogen kamen. Hinter Tina erschien Selma, ihrer kleinere Schwester und die hatte niemand anderen im Schlepptau als … Jaron.
Ben fiel die Kinnlade herunter. Er konnte nicht anders, als ihn fassungslos anzustarren.
Jaron hatte sich in den paar Jahren, in denen er ihn nicht mehr gesehen hatte, nicht viel verändert. Er war etwas maskuliner und drahtiger geworden, als damals als Zwanzigjähriger, trug seine goldenen Locken etwas kürzer, so dass sie sich in seichten Wellen um seinen Kopf schmeichelten. Er trug noch immer seine vollen Lippen zur Schau, die er nun in ein gefälliges Grinsen zog. Seine bernsteinfarbenen Augen musterten ihn interessiert und schenkten ihm daraufhin einen gewohnt abfälligen Blick.
„Hey, Benny-Boy“, begrüßte er ihn, mit arrogantem Grinsen. Er hängte sich von hinten an Selma, drückte sie an sich und hielt sie davon ab, Ben zu begrüßen.
Ben war noch immer perplex, und jetzt erst Recht, denn erstens waren dies die ersten Worte gewesen, die Jaron je bewusst zu ihm gesprochen hatte und zweitens, war er mehr als überrascht, dass er überhaupt den Namen von ihm wusste. Bislang waren sie sich, bis auf sein Geständnis vor dem Bäcker, wo hauptsächlich Ben geredet hatte und Jaron nichts anderes als ein hämisches Lachen und höchst unschöne Bezeichnungen für den vor Verlegenheit und Nervosität stammelnden Jungen, erwiderte, kaum so nahe gekommen, dass sie Namen, geschweige denn andere Dinge austauschen konnten. Bis zu diesem denkwürdigen Weihnachten, hatte Ben für Jaron gar nicht existiert. Seine Fassungslosigkeit verflog sogleich, als er sich wieder des abschätzigen Blickes und überheblichen Tonfalles bewusst wurde. Und überhaupt, wie kam er dazu, ihn Benny-Boy zu nennen? So hatte ihn noch niemand genannt. Fast so, als wollte er ihn absichtlich beleidigen.
„Hast du ein Problem?“, fragte er daher herausfordernd. Er war gewillt, sich von diesem Kerl nicht unterkriegen zu lassen, so sehr ihn seine Anwesenheit auch verunsicherte.
Jaron grinste selbstgefällig. „Nein. Wieso? Sollte ich?“
Bevor Ben antworten konnte, schob sich Anna in den Vordergrund und baute sich vor Jaron auf. Sie war fast genauso groß wie er, blickte ihm direkt in die Augen und zeigte keinerlei Angst oder Zurückhaltung. Anna war schon immer unerschrocken gewesen. Wenn sie etwas nervte, dann ging sie sofort in Angriffsstellung. „Ich nehme mal stark an, dass diese knallrote Schwanzverlängerung da draußen die deine ist“, gab sie scharf von sich. „Du hast uns einen großen Gefallen getan und dich als ausgemachtes Arschloch erwiesen, bevor irgendjemand etwas Falsches denken konnte. Und auf so was hab ich mal gestanden. Ich fasse es nicht.“
Sie wand sich kopfschüttelnd um, schnappte sich ihre dicke Tasche und kletterte die Treppe hoch zu den Schlafräumen im oberen Stockwerk. Ben blieb stehen, blickte zum zweiten Mal seit seiner Ankunft absolut fassungslos hinter ihr her. Er hatte nicht gewusst, dass seine Schwester ebenfalls auf den Kerl stand. Dass er Gefühle für Jaron Lorenz besaß, hatte er ihr bislang verschwiegen, denn er wollte sich die Genugtuung nicht antun, dass sie ihn ihm wegschnappte.
Jaron schlenderte lachend in den Wohnraum zurück, schleppte Selma mit sich und warf die Türe hinter sich zu. Dankbar dafür, dass er ihm jeden weiteren Blick auf ihn ersparte, seufzte Ben tief, schnappte sich seine Reisetasche und folgte seiner Schwester in das obere Stockwerk. Das würden wirklich unangenehme Weihnachten werden, sagte er sich, als er die alte, knarrende Holztreppe hochkletterte. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit Jaron. Am liebsten würde er postwendend Kehrt machen und nach Hause fahren, denn auf ein verlängertes Wochenende voller Spott, Beleidigungen und womöglich noch mehr, besaß er nicht die geringste Lust. Da saß er lieber ganz allein in seiner Wohnung herum und zerfloss vor Selbstmitleid.
Er wünschte sich, dass er sich niemals vor Jaron geoutet und ihn weiterhin aus der Ferne angehimmelt hätte. Andererseits hatte dieses Ereignis jedoch auch etwas Gutes: Er wusste nun, wie es um Jaron stand und was der für ein oberflächliches, selbstverliebtes und arrogantes Arschloch war. Er sollte sich eigentlich selbst gratulieren und die Sache endlich abhaken.
Wenn das nur so einfach wäre …
Wie gewohnt war ihm beinahe das Herz stehen geblieben, als er Jaron sah. Nach der anfänglichen Schrecksekunde, polterte es schneller denn je los. Ihm wurde heiß und kalt und tief unten in seinem Unterleib, geradewegs zwischen seinen Beinen begann etwas die Kohlen anzuschüren und ihn mit wohligen Schauern zu überrollen.
Ben schüttelte heftig den Kopf und sah sich im Zimmer um. Zwei Betten waren bereits belegt. Auf einer thronte eine dicke Reisetasche, ähnlich seiner eigenen und neben dem anderen stand ein silbern, glänzender Koffer. Auch wenn ihn kein in Neon-Gelb leuchtendes Hinweisschild darauf hinwies, wessen Samsonite das war, wusste es Ben instinktiv, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in das andere Zimmer. Er nahm sich das rechte, obere der beiden Stockbetten und warf seine Reisetasche auf die sorgsam zusammengelegte Zudecke. Schließlich ließ er sich mit einem weiteren Seufzen auf das untere Bett fallen, auf welchem bereits ein alter, schwarzer, dick ausgestopfter Lederkoffer lag.
Eigentlich verspürte er gar keine Lust mehr auf das Hüttenwochenende. Insgeheim liebäugelte er bereits damit, sich seine Tasche zu schnappen und das Weite zu suchen. Dass Jaron ebenfalls hier war, ließ ein weiteres Weihnachten zu einem Fiasko werden. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie er nach Hause gelaufen war, sich ins Bad eingeschlossen und stundenlang geheult hatte. Sein Vater musste die Türe aufbrechen und zog ihm die Kosten für das neue Schloss vom Taschengeld ab. Ein Weihnachten, auf das er getrost hätte verzichten können.
„Ach, da bist du?“, riss ihn Anna aus seinen finsteren Gedanken und ließ sich neben ihn auf das Bett fallen. Sie schob den alten Koffer in die Ecke des Bettes und legte eine Hand auf das Knie ihrer Bruders. „Kein Angst“, sagte sie besänftigend. „Wenn dir dieser Arsch krumm kommt, bekommt er es mit mir zu tun.“
Unwillkürlich musste Ben lächeln und legte seine Hand auf die seiner Schwester.
„Du hast wirklich mal auf ihn gestanden?“, fragte er, einzig um sich von seinen Gedanken abzulenken.
„Ja“, nickte sie. „So eine lukrative Partie lass ich mir doch nicht entgehen?“ Sie wurde schnell ernst. „Genauso wie du“, fügte sie sanft hinzu und zwinkerte ihm schelmisch zu.
„Woher …?“ Ben blieb der Mund offen stehen.
Sie lächelte breiter. „Glaubst du wirklich, ich merk das nicht? In der Schule hast du ihn regelrecht angeschmachtet und außerdem sprichst du im Schlaf.“ Sie nahm die Hand von seinem Knie und legte sie ihm um die Schulter. „Ignoriere ihn einfach und genieße dieses Wochenende. Du weißt, wie ich auf kitschige Weihnachten stehe. Trauermienen mag ich nicht. Vergiss ihn und konzentriere dich auf mich.“ Sie beugte sich näher zu ihm und küsste ihn auf die Wange.
Ben konnte nicht anders, als sie an sich zu ziehen und den liebevollen Geschwisterkuss zu erwidern. Er liebte seine Schwester. Sie kannte ihn so gut wie kein anderer. Mit ihrer Hilfe würde er es überstehen. Es würde vielleicht nicht ein ganz so glückliches Weihnachten geben, dafür ein lustiges und ein liebevolles.
„Ich möchte noch ein wenig die Pisten unsicher machen“, eröffnete sie ihm fröhlich. „Kommst du mit?“
Alles war ihm recht, um so weit wie möglich von Jaron wegzukommen. Daher nickte er ergeben und schlüpfte wenig später in seinen Ski-Anzug, um den Rest des angebrochenen Tages im eleganten, wenn auch ein klein wenig eingerostetem Wedelschwung über Tiefschneehänge zu brettern. Während Anna gekonnt auf dem Snowboard die Hänge hinunter sauste, blieb Ben bei seinen altbewährten Carving-Skis. Sein letztes Erlebnis mit dem breiten Brett, auf dem Dach der Hütte, war ihm noch sehr gut in Erinnerung.
Am Abend tischte Martin erwartungsgemäß ordentlich auf. Es gab landestypische Kässpatzen mit gerösteten Zwiebeln und Ben vergaß mit seinem prall gefüllten Bauch beinahe, dass sich ein unliebsamer Gast im Raum befand. Neben Martin, Rahul und Norbert waren noch ein paar weitere Altbekannte aus fernen Schultagen gekommen. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gelang es ihm relativ gut, Jaron kurzerhand zu ignorieren, sich lediglich um sein Essen und um die Neuankömmlinge zu kümmern und so zu tun, als existierte dieser einfach nicht. Kaum hatte sich Jaron den letzten Bissen des üppigen Abendessens in den Mund gestopft, wischte er sich mit seiner Serviette den Mund ab, knüllte sie zusammen und warf sie vor Ben auf den Tisch.
„Vielleicht brauchst du das“, feixte er mit kehligem Kichern und zwinkerte ihm vielsagend zu. „Viel Auswahl gibt es hier ja nicht.“
Ben hatte erst überrascht dem Serviettenknäuel nachgesehen, der erst auf den Tisch geflogen, anschließend an seiner Brust abgeprallt und auf seinen Schoß gefallen war. Schließlich sah er hoch und begegnete direkt Jarons spöttischem Blick. Wut kochte augenblicklich in ihm hoch.
„Was hast du für ein Problem, Arschloch“, gab Ben unwirsch zurück. Seine Hände ballten sich ganz automatisch zu Fäusten.
Jaron zuckte unschuldig die Schultern hoch. „Absolut keine, Benny-Boy. Aber ich schätze du. Denn so wie es hier aussieht …“ Er ließ seinen Blick über die muntere Runde gleiten. Fürwahr gab es kaum Single im Raum. Pärchenweise saßen sie um den Tisch herum. Einzig Anna war solo. „… wirst du heute Nacht allein …“
„Halts Maul, Lorenz!“, fuhr ihm Martin barsch über den Mund und brachte ihn damit zum Schweigen. „Sonst fliegst du hier raus!“
Martins Einmischen rührte und ehrte Ben und er nickte ihm dankbar zu, dennoch war es ihm nicht recht, dass sich einer der anderen einmischte. Das war eine Angelegenheit, die einzig Jaron und ihn betraf. Jede weitere Einmischung würde den Hohn unweigerlich auch auf sie übertragen. Fürwahr packte Jaron sogleich die Gelegenheit beim Schopfe und entgegnete eine entsprechende Antwort: „Weiß es deine Freundin?“ Das hämische Grinsen war mehr als eine Provokation.
Martin plusterte sich sofort auf und erhob sich von seinem Sitz.
„Lass ihn, Martin“, hielt Anna ihn zurück, legte ihre Hand auf seinen Arm und zog ihn auf den Stuhl zurück. „Kein noch so großer Mistkerl ist die Aufregung wert.“
Martin schnaufte genervt. „Der geht mir mit seinem blöden Sprüchen schon lange auf den Keks“, gab er etwas gequält von sich. Man konnte ihm deutlich ansehen, wie gerne er sich auf Jaron gestürzt hätte.
„Er bekommt schon noch seine gerechte Strafe“, erwiderte sie und lächelte mir zuversichtlich zu. „Wir wollen morgen den Grünten unsicher machen“, plauderte sie munter in ihrem ursprünglichen Thema weiter, so als sei nichts geschehen „Denkst du, du traust dich morgen auf ein Snowboard? Da gibt es ein paar tolle Pisten, die man mit dem Board besser runter kommt, als mit den Carvings. Ich möchte unbedingt auf den Fun-Park mit dem Board.“
Jarons hämisches Kichern war nicht zu überhören. „Da hat er sicherlich viel mehr Spaß, als hier. Bei all den Hügeln und Löchern …“
Erst als ein Stuhl krachend auf den Boden fiel und Martin um den Tisch herum hechtete, registrierte Ben erst, was eigentlich passierte. Er hatte es vorhin erfolgreich geschafft, Jaron sogleich wieder aus seiner Wahrnehmung zu knipsen und daher kein Wort von dem mitbekommen, was dieser von sich gegeben hatte. Auch, dass Martin sogleich vier weitere Männer folgten und sich auf Jaron stürzten und ihn kurzerhand vor die Türe setzten, realisierte sich in ihm erst, als das Knäuel an Männern bereits an der Haustüre waren.
Etwas verwirrt konnte ihnen Ben nur dabei zusehen, wie sie den heftig protestierenden und um sich schlagenden Jaron aus der Hütte warfen. Gegen die fünf zu allem entschlossenen Männer besaß er allerdings nicht die geringste Chance. Verlegene Röte schoss Ben ins Gesicht.
„Äh … Danke, Martin“, stammelte er noch immer verwirrt und überwältigt davon, was seine Freunde eben für ihn getan hatten, als sie an den Tisch zurückkehrten. „Aber du hättest nicht … Ihr hättet nicht …“
Martin hob die Hand und brachte Ben damit zum Verstummen. „Ich hab das nicht nur wegen dir getan, Ben“, versicherte er ihm und lächelte glücklich und erleichtert, während sich die anderen ebenso auf ihre Plätze zurück setzten. „Auch wegen meines Cousins. Der wollte sich wegen eines solchen homophoben Vollidioten, das ihn ständig gegängelt hat, das Leben nehmen. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. Ich kann solche Typen nicht ausstehen.“ Er schnaufte tief durch, stellte mit einem mehr als zufriedenen Grinsen im Gesicht seinen Stuhl zurück auf die Beine, setzte sich, und wandte sich an Anna. „Und was war das nun mit dem Fun-Park?“
Ben war es trotzdem peinlich. In den nächsten Minuten, während die anderen ihren morgigen Ausflug auf die Ski-Piste bis ins Detail planten, ertappte er sich stets aufs Neue dabei, wie er verstohlen in Richtung Haustüre schielte, in der Hoffnung, dass sie aufging und Jaron hereinkam. Warum er das hoffte, konnte er selbst nicht sagen. Irgendwie tat ihm Jaron leid, selbst wenn er sich dieses Süppchen selbst eingebrockt hatte und sich Ben ziemlich sicher zeigte, dass dieser auch durch eine solche Aktion nicht zu läutern war.
Selma war sitzen geblieben, so als ginge sie das alles nichts an. Sie hielt es nicht für nötig, sich um ihren hinauskomplimentierten Freund zu kümmern und plauderte stattdessen munter mit ihrer Sitznachbarin weiter. Ben fragte sich, ob sie wirklich seine Freundin war und tat diesen Gedanken sogleich mit einem Kopfschütteln ab. Es ging ihn nichts an. Außerdem brauchte er sich keinen Kopf deswegen zu zerbrechen. Jaron war es wirklich nicht wert. Daher widmete er sich wieder seiner Schwester und ihrer Planung für den Ablauf des nächsten Tages.
In der Nacht erwachte Ben von lautem Gepolter. Müde drehte er sich in Richtung Türe. Es war stockdunkel, dennoch erkannte er die Gestalt, die ins Zimmer gekommen war, an den mitten im Zimmer stehenden Tisch rempelte und leise fluchte – Jaron.
Was um alles in der Welt machte er hier?, schoss es Ben sogleich durch den Kopf. War er betrunken und aus Versehen im falschen Schlafzimmer gelandet?
Das Stockbett wankte leicht, als sich Jaron in das untere Bett fallen ließ und den alten Lederkoffer mit einem leisen Zischen von der Zudecke schubste, so dass er mit einem dumpfen Aufprall auf dem kahlen Holzboden aufkam. Wenig später öffnete er die Schnallen und wühlte darin herum.
Siedend heiße Ahnung schoss durch Ben und er drehte sich so leise wie möglich wieder um. Jaron hatte sich nicht verirrt. Der alte zerschlissene Koffer gehörte ihm. Da blieb lediglich die Frage offen, zu wem der glänzende Samsonite gehörte? Zu Norbert? Wundern würde es ihn nicht.
Schlaf konnte er in der restlichen Nacht nicht mehr finden. Mit dem Wissen, dass Jaron im Bett unter ihm schlief, versetzte ihn mit jedem leisen Schnarcher, der von unten kam, in gewisse, prickelnde Erregung. Wie oft er sich in dieser Nacht wünschte, dass er den Mut aufbrächte, aus dem Bett zu klettern und sich ein anderes freies Bett zu suchen, konnte er nach einiger Zeit nicht mehr nachvollziehen. Er zählte nahezu die Minuten und Stunden, die vergingen, ehe die Sonne aufging und er es endlich wagte, so leise und so erschütterungsfrei wie möglich vom oberen Bett herunterzuklettern und ins Badezimmer zu flüchten.
Als er frohen Mutes, sich sämtliche finsteren Gedanken vom Körper gespült und mit guter Laune aus der Dusche stieg, stand eine Person mit dem Rücken zu ihm, trotz des kühlen Zimmers und Fußbodens barfuß und außer einer eng anliegenden schwarzen Pants, an einem der beiden Waschbecken. Mit Ben quoll auch eine heiße Dampfwolke aus der Duschkabine in das kalte Bad und vernebelte kurz seine Sicht, Ben erkannte die Person jedoch sofort.
Derjenige, der sich so genüsslich rasierte, war niemand anderer als Jaron.
Ben verharrte vor Schreck augenblicklich und starrte den Rücken des Mannes entgeistert an. Jaron schien nach wie vor Sport zu treiben, denn an seiner durchtrainierten Statur hatte sich nichts geändert. Ganz im Gegenteil. Die Muskelpartien an seinem Körper waren etwas mehr ausgeprägt, als damals, als er ihm schmachtend im Freibad hinterher gestarrt hatte. Zudem kam es ihm vor, dass dessen Hintern noch knackiger geworden war und die enge Hose noch mehr ausfüllte als er in Erinnerung besaß. Jaron war bereits in der Schule der Star jeder Sportmannschaft gewesen und es gab keine einzige Schulveranstaltung, in der der Spross eines bekannten und gut gehenden Sportgeschäfts, das einige der Schulmannschaften sponserte, nicht durch herausragende Leistungen glänzte.
Ben hingegen, besaß schon seit je her seine Probleme mit diesen sportlichen Zwangsbetätigungen. Abgesehen davon, dass es ihm stets peinlich war, sich vor den anderen Jungs auszuziehen, glänzte er nicht gerade mit vorzeigbaren Leistungen, geschweige denn mit dem entsprechenden Körperbau. Seine Noten pendelten daher eher im oberen Bereich. Erst später, als er älter war und ihn Anna zu allen möglichen körperlichen Herausforderungen drängte, erlangte er eine gewisse Sicherheit, wie auch Spaß an der Sache.
So leise er konnte, versuchte er, hinter Jarons Rücken vorbeizuschleichen und das Badezimmer zu verlassen. Seine Klamotten lagen in einem Haufen auf einem Schemel, der sich einen knappen Meter von Jaron entfernt befand. Der Weg dorthin führte geradewegs über eiskalten Fliesenboden und direkt zu Jaron.
Für einen Moment überlegte Ben, die Sachen dort liegen zu lassen und sich neue aus seiner Reisetasche zu nehmen. Schließlich verwarf er diesen Gedanken. Er musste endlich seinen Mann stehen und über Jaron hinweg kommen. Selbst wenn dieser ihn bemerkte und ihn ein weiteres Mal mit Hohn und Spott überschüttete, es wurde Zeit, dass er lernte, seine Ohren zu verschließen und den Kerl endlich zu vergessen. Also trat er neben Jaron, das Handtuch fest um seine Hüften gewickelt und zog sich an.
Es ging nicht anders. Jaron musste ihn einfach bemerken.
Er hielt in seiner Rasur inne und ließ seinen Blick kurz über Bens halb nackten Körper gleiten. Ben hatte ihm demonstrativ den Rücken zugewandt, als er sich leicht über den Schemel beugte und seine Ski-Unterwäsche aus dem Kleiderstapel fischte. Als er in seine Unterhose schlüpfte drehte er sich in die andere Richtung, denn was war er auf keinen Fall wollte, war, Jaron seinen gebeugten Hintern zuzuwenden. Dabei huschte sein Blick zufällig über den großen Spiegel, der über den zwei Waschbecken hing und hätte beinahe vor Erstaunen das Gleichgewicht verloren.
Jaron begutachtete ihn mit großen Augen. Sein Gesicht war leicht gerötet, die Lippen einen kleinen Spalt offen. Er konnte sehen, wie sich dessen Brustkorb heftig auf und ab bewegte, und als Jaron bemerkte, dass Ben sein Starren registriert hatte, fuhr er schnell herum und wandte ihm den Rücken zu. Dennoch war deutlich die einschießende Röte in dessen Gesicht zu erkennen gewesen.
Ben musste sich gewaltsam dazu zwingen, sich weiter anzuziehen, diesen Zwischenfall als nichtig anzusehen und sich ans Waschbecken zu stellen, um seine Zähne zu putzen und sich zu rasieren – so als sei nichts geschehen. Innerlich war jedoch total aufgewühlt und schaffte es kaum, das Brodeln in ihm im Zaum zu halten. Dieser glasige, beinahe verklärte Blick von Jaron hatte ihm einen gewaltigen heißen Schauer verpasst, der sich nun in brennender Begierde seine Wirbelsäule entlang fraß.
Unter normalen Umständen wäre Ben nun genau über die Absicht des Anderen informiert. Dieser gierige, alles verschlingende Blick war mehr als eindeutig.
Jedoch von Jaron?
Dies verwirrte ihn absolut und er konzentrierte sich mehr denn je darauf, die letzten Minuten aus seinem Gedächtnis zu löschen.
Seine Hände begannen zu zittern, während er sich hastig die Zähne putzte und sich überlegte, ob er heute vielleicht ausnahmsweise auf das Rasieren verzichtete.
Jaron nahm ihm die Entscheidung ab, indem er den Stecker seines Rasierers kurzerhand aus der Steckdose riss und das Badezimmer ohne ein weiteres Wort verließ.
Ben musste erst einmal tief durchschnaufen, ehe er so etwas wie Erleichterung in ihm zustande bringen konnte. Was hatte dieser Blick zu bedeuten gehabt, fragte er sich noch immer absolut irritiert und ließ die Zahnbürste sinken. Wieso bekam Jaron beim Anblick eines halb nackten Bens glasige Augen und lief knallrot an, wenn man ihn dabei ertappte?
Eigentlich konnte dies lediglich eines bedeuten.
Doch genau dies war Ben nicht gewillt zuzulassen. Mit einem Kopfschütteln tat er diesen Gedanken ab und konzentrierte sich stärker auf seine morgendliche Hygienezeremonie.
Den Zwischenfall tat er als nicht geschehen ab. Es war absurd, dass Jaron je etwas für ihn empfand. Jaron stand auf alles andere, nur nicht auf Jungs.

Am Nachmittag hatte Ben den Vorfall bereits vergessen. Anna war es gelungen, ihn auf ein Snow-Board zu schnallen und ein paar Mal durch den Fun-Park zu jagen. Anfänglich stellte er sich sehr zur Belustigung seiner älteren Schwester etwas ungeschickt an, allmählich bekam er jedoch den Dreh raus und er wagte sich sogar über eine der Roller-Schanzen. Die ersten Male bretterte es ihn nach der Landung noch voll in den Schnee und als er einige der Sprünge durchstand, strahlte er voller Stolz.
Sein Strahlen verging ihm jedoch, als unversehens Jaron auftauchte, ihm mit einem eleganten Schwung eine Ladung Schnee ins Gesicht spritzte und laut lachend wieder davonbrauste. Ben ärgerte sich nicht über den Schnee, den er sich nun aus dem Kragen herauspulen musste, sondern über den Spruch, den Jaron im Vorbeifahren noch losgeworden war. Viel hatte er davon nicht verstanden, einzig ein paar Fetzen, die jedoch stark dem blöden Spruch ähnelten, den er am Abend zuvor herausgelassen hatte und wofür er von Martin und den anderen vor die Türe gesetzt worden war.
Wenn in Ben durch das Erlebnis am Morgen im Badezimmer irgendwelche Hoffnungen oder Gedanken aufgekeimt waren, so hatte dieser Zwischenfall sie jäh dem Erdboden gleich gemacht. Er war sich nun sicher, dass Jaron nichts weiter war, als ein Macho mit einem gewaltigen Problem.
Er schüttelte den restlichen Schnee aus seinem Kragen, wie auch den Ärger, der sich in ihm aufgebaut hatte und machte sich auf in Richtung Tal.
Auf halbem Wege zur Talstation erkannte er in einiger Entfernung Jaron mitten auf der Piste stehen. Offenbar war seine Begleitung gestürzt und er wartete geduldig ab, ehe sie sich aufraffen und weiterfahren konnte. Ben sah eine ungeahnte und überaus willkommene Gelegenheit, beschleunigte seine Fahrt und hielt geradewegs auf Jaron zu, um ihn ebenfalls mit einer gewaltigen Schneedusche zu überschütten.
Jaron hatte seine Aufmerksamkeit der Person gewidmet, die auf dem Boden mit Skistöcken und störrischen Bindungen kämpfte und bemerkte daher Bens Heranbrausen nicht. Zudem befanden sich zahlreiche andere Leute auf der Piste, in deren Hin- und Herbewegungen er als einzelne Person nahezu verschmolz.
Ben ging leicht in die Hocke, um seine Fahrt noch mehr zu beschleunigen und suchte sich bereits die passende Stelle auf dem Boden vor Jaron aus, drehte nur wenige Meter vor ihm zur Seite ab und gedachte ihn mit einer vollen Ladung Schnee abzuduschen. Zu spät bemerkte er jedoch, dass unter der Stelle, die er sich ausgesucht hatte, eine dicke Eisplatte saß, über die seine Snow-Board-Kanten unaufhaltsam hinweg rutschten und ihn unweigerlich auf Jaron zupreschen ließ.
Ben war sich nicht sicher, ob man das Brechen eines Knochens wirklich hören konnte. Er war sich jedoch sicher, dass er es gehört hatte. Und das trotz des allgemeinen Geräuschpegels auf der Piste.
Der dumpfe Knall, mit welchem Jarons Schienbein nachgab, als ihm Bens Snow-Board mit ungebremster Wucht in die Beine fuhr, ging ihm durch Mark und Bein.

Selma rief per Handy den Notarzt. Wenig später tauchte Anna auf und gesellte sich zu ihnen. Nach und nach kamen auch die anderen der Clique und versammelten sich um sie, während sich Jaron unter Schmerzen wand. Ben hockte starr und stumm im Schnee, ließ sich von Anna in den Arm nehmen und trösten. Er registrierte zwar, dass er irgendwie unter Schock stand, es kam ihm jedoch nicht so vor. Er war vollkommen ruhig. Kein Zittern, kein erhöhter Pulsschlag, keine Panikwellen. Sein Kopf war wie leergefegt. Jeder Gedanke spazierte gemächlich durch seinen Kopf und ließ sich viel Zeit dabei, ihn wieder zu verlassen. Dabei konnte er ihn genauestens betrachten und abwägen.
Mit jedem einzelnen Gedanken, wechselte seine Stimmung von Genugtuung süßer Rache bis abgrundtief, schlechtes Gewissen. Immerhin hatte er Jaron mit dieser Aktion ein Bein gebrochen – wenn dies auch eher unabsichtlich geschah.
Seine Freunde hockten um ihn herum, legten freundschaftlich oder tröstend die Hand auf seine Schulter oder sprachen ihm beruhigende Worte zu. In all dem Durcheinander und in der Aufregung registrierte Ben trotz allem, dass sich kein einziger von ihnen bereit erklärte, Jaron beizustehen – selbst Selma nicht. Er wusste zwar, dass es seine Freunde waren, die er schon von der Schulzeit her kannte und auf die er sich seit diesen turbulenten Zeiten stets verlassen konnte. Er wunderte sich dennoch, dass ihn keiner dafür verurteilte, dass er Jaron ernsthaft verletzt hatte. Es war ihm sogar peinlich, so von seinen Freunden bemuttert und versorgt zu werden, während Jaron vor Schmerz knurrte, als ihn die Bergwacht auf ihren Rettungsschlitten verfrachtete. Vor allem Selmas Verhalten verwirrte ihn.
War sie nun seine Freundin oder nicht?
Warum hielt sie ihm nicht die Hand oder sprach ihm Trost zu, um ihm ein klein wenig seiner Schmerzen zu nehmen?
Er hätte es getan. Er hätte Jarons Hand nicht mehr losgelassen und ihn sogar ins Krankenhaus begleitet. Selma hingegen blieb zurück und blickte der Bergwacht nicht einmal hinterher, als diese mit dem verletzten Jaron den Hang hinunter rutschten.
Stattdessen begann sie mit Tina, ihrer älteren Schwester und Gabi darüber zu diskutieren, welche der Pisten hier am Grünten die besseren waren.
War sie am Ende gar nicht seine Freundin?
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und er zuckte erschrocken zusammen.
„Soll ich dich zur Hütte begleiten?“, bot sich Anna bereitwillig an und schenkte ihm ein besänftigendes Lächeln.
Ben schüttelte den Kopf. Das Letzte was er jetzt wollte, war, allein in der Hütte herumzusitzen und ins Grübeln zu kommen. Er raffte sich auf und machte sich für die Abfahrt fertig. Wenn die anderen es schafften, diesen Vorfall als nicht weltbewegend anzusehen, sollte er es ebenso können, sagte er sich entschlossen und kontrollierte die Schnallen seiner Skischuhe.

Jaron blieb die Nacht über im Krankenhaus. Ben sollte sich eigentlich glücklich schätzen, das Stockbett für sich allein zu haben und nicht vom betörenden Schnarchen des Anderen abgelenkt und von seinem erholsamen Schlaf abgehalten zu werden. Trotzdem konnte er in dieser Nacht kein Auge zu tun. Seine Gedanken drehten sich fortwährend um Jaron und um das, was er ihm angetan hatte und wie es ihm nun erging.
Es war wirklich keine Absicht gewesen, ihn derart zu verletzen. Die Schneedusche allerdings schon, es hätte seiner beleidigten Seele wirklich gut getan, wenn es geklappt hätte. Und obwohl ihm keiner seiner Freunde eine Schuld zusprach und ihn sogar aufbaute und tröstete, fühlte er sich absolut mies.
Am frühen Morgen ertappte er sich sogar dabei, wie er bedächtig über das zerschlissene Leder des alten Koffers streichelte und konnte sich gerade noch davon abhalten, sich die Anziehsachen, die Jaron auf dem Bett liegen gelassen hatte, in die Hand zu nehmen und sich an die Nase zu halten.
Wie es Jaron wohl jetzt ging? Hatte er Schmerzen?, überlegte er und musste die heiße Welle unterdrücken, die ihm allein beim Klang des Namens durch seinen Körper rollte. Lag er jetzt fluchend im Krankenhausbett und verwünschte er Ben?
Als von dem anderen Stockbett ein leiser Seufzen kam, zuckte Bens Hand erschrocken zurück. Ertappt wirbelte er herum und flüchtete ins noch unbeheizte Badezimmer unter die kalte Dusche.

Der Großteil des Tages war mit den Vorbereitungen für den Abend vollgestopft, wo die Freunde einen besinnlichen heiligen Abend verbringen wollten. Norbert und Rahul schleppten eine Tanne ins Innere des Wohnraumes und stellten ihn unter Beaufsichtigung und der mehr oder weniger spöttischen Ratschläge einiger der Frauen auf. Anschließend wurde er von den Frauen mit Strohsternen, bunten Christbaumkugeln, Lametta und jeder Menge Glitter geschmückt, worauf die Männer den Spieß umdrehten und ihrerseits nicht minder höhnische Ratschläge zum Besten gaben. Die Stimmung war ausgelassen und heiter und bereits am Nachmittag wurde der eine oder andere Glühwein ausgeschenkt.
Am späten Nachmittag erhielt Selma einen Anruf und bat daraufhin ihre Schwester, gemeinsam mit ihr Jaron vom Krankenhaus abzuholen.
Ben hatte bis zu diesem Moment nicht mehr an Jaron gedacht und sich ausgelassen an den Vorbereitungen beteiligt. Als Selma und Tina die Hütte verließen, keimte abermals jenes eisige Gefühl in ihm auf, gegen das er die ganze Nacht lang angekämpft hatte.
Insgeheim hatte er nichts dagegen gehabt, wenn Jaron den Weihnachtsabend allein im Krankenhaus verbrachte. Andererseits überkam ihm eine gewisse Wärme, wenn er daran dachte, dass der den beinahe wichtigsten Abend im Jahr in unmittelbarer Nähe dieses Mannes verbringen würde. Selbst wenn ihn dieser abermals mit Hohn und Spott überschüttete und sich seiner zweideutigen und homophoben Kommentare nicht erwehren konnte, irgendwie erfüllte es ihn mit merkwürdiger, wohliger Behaglichkeit. Solche Gefühle sollte er eigentlich nicht haben, sagte er sich selbst. Abgesehen davon, dass er Jaron verletzt hatte, würde dieser ihn vermutlich eher umbringen oder mit seiner Verachtung erniedrigen, als sich mit ihm einzulassen.
Ein paar Stunden später kehrten Selma und Tina zurück. Die Haustüre ging auf und die beiden Frauen traten ein, sich die Schneeflocken aus den Haaren schüttelnd, denn inzwischen hatte es begonnen zu schneien. Einige wenige Schritte hinter ihnen, sich mühsam auf Krücken durch den Schneegang kämpfend, befand sich Jaron.
Sogleich als Ben ihn sah, jagte ein heißer Blitz durch seinen Körper und er musste sich verkrampfen, um das in seinem Unterleib aufkeimende Gefühl zu unterdrücken. So vehement er dieses Gefühl auch bekämpfte und versuchte, abzustreiten, Jaron bedeutete ihm nach wie vor etwas. Eine ziemlich katastrophale Konstellation, wusste er selbst. Gegen sein Herz kam er jedoch schlichtweg nicht an.
Tina lachte über einen Scherz ihrer jüngeren Schwester, während sie ihre Jacke über die Schultern gleiten ließ, drehte sich um und knallte Jaron die Türe vor der Nase zu – ein paar Schritte, bevor dieser die Türschwelle erreichen konnte. Noch immer kichernd begab sie sich mit ihrer Schwester an den Ofen und wärmte ihre Hände. Jaron war absolut vergessen.
Ben blickte zur Türe, wartete beinahe sehnsüchtig darauf, dass die Türe wieder aufging und sich Jaron herein kämpfte. Es dauerte viele schier unendliche lange Minuten, ehe sie sich tatsächlich öffnete und er ins Innere trat oder besser gesagt humpelte. Sein rechtes Bein steckte bis zum Knie in einem dicken Gips. Auf einem Bein hüpfend, während er die Krücken durch die Türe schob und sich selbst hinterher, trat er in den Innenraum. Er hielt seinen Blick gesenkt, seine Miene versteinert und schien jeglichen Augenkontakt, wie auch jeden direkten Kontakt mit den anderen zu vermeiden. Mit verbissener Miene kämpfte er sich sogleich die Stufen hoch, keuchte und schnaufte, denn das Gipsbein und die Krücken behinderten ihn ziemlich, und blieb für die nächsten Stunden oben in seinem Zimmer.
Ben widerstand mehrmals der Versuchung, nach oben zu gehen und nach ihm zu sehen, denn er war sich sicher, dass Jaron jeden anderen sehen wollte, nur nicht ihn. Erst zum Essen stand dieser plötzlich im Raum und gesellte sich schweigend, als gehörte er eigentlich nicht zu ihnen, an den Tisch. Tatsächlich waren es nicht seine Freunde. Jaron hatte noch nie zu dieser Clique gehört. Schon zu Schulzeiten bedeuteten Ben und die Anderen für den Liebling des gesamten Gymnasiums nichts, weniger als ein Putzlappen. Jemand wie Jaron Lorenz, der sogar von der Schulleitung in den höchsten Tönen gelobt wurde, hatte nichts für die Loser übrig gehabt, geschweige denn war gewillt auch nur ein Wort mit ihnen zu wechseln.
So wie Jaron sie früher vehement ignorierte, existierte er an diesem Abend für die Freunde nicht. Kein einziger von ihnen schloss ihn mit in die Gespräche ein. Jaron existierte schlichtweg nicht. Selbst für Selma schien er nur Luft zu sein. Sie unterhielt sich während des ganzen Essens angestrengt mit ihrer Schwester, Tina, Miriam und dessen Mann und ließ ihren Begleiter links liegen.
Ben konnte sich hin und wieder eines schielenden Seitenblickes nicht erwehren. Jaron verhielt sich schweigsam und zurückhaltend, als besaß er nicht die geringste Lust dazu, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Sein Blick war stoisch auf seinen Teller gerichtet. Zudem schien er keinen richtigen Hunger zu haben, denn er schob den köstlichen Braten lustlos auf dem Teller hin und her. Offenbar hatte der seine Lektion gelernt, dachte Ben und riss sich gewaltsam von dessen Anblick weg.
Er musste ihn sich endlich aus dem Kopf schlagen, sagte er sich stetig wie ein wiederkehrendes Mantra vor. Jaron wollte ihn nicht – ganz im Gegenteil. Er würde ihm die Zähne einschlagen, wenn dieser es wagte, diese blassen, zusammengepressten Lippen zu küssen, um ihnen ein wenig Trost zu spenden.
Nach dem Essen verzog sich Jaron in eine Ecke des Raumes auf eine Holzeckbank, legte sein Gipsbein auf die Bank, lehnte sich an die Wand und schloss die Augen, als würde er schlafen wollen. Ben erkannte Schweißtropfen auf dessen Stirn, die sicherlich nicht von der Hitze im Raum herrührte, die der Ofen und die vielen Personen verursachten, die sich im Wohnraum aufhielten. Ben erkannte deutlich, dass Jaron Schmerzen hatte und als er einmal sein Bein leicht verlagerte und dabei sein Gesicht verzog, bestätigte sich seine Vermutung.
Abermals keimte schlechtes Gewissen in ihm auf und er haderte mit sich. Als er sich soweit hatte, zu Jaron zu gehen und sich für seine Tat zu entschuldigen, rettete ihn gerade noch rechtzeitig Anna, indem sie ihn zu den anderen zog, die sich zu einem Scharade-Spiel zu einer Runde gefunden hatten.
Für ein paar Stunden geriet Jaron tatsächlich in Vergessenheit, während sie über die Schauspielkunst der Anderen lachten und höhnische Bemerkungen vom Stapel ließen. Als Bens Blick einmal zufällig in die Ecke abglitt, kehrte das unbestimmte, eisige Gefühl in aller Härte zurück.
„Ich muss mal an die frische Luft“, verabschiedete er sich schnell von seiner Schwester, schnappte sich seine dicke Skijacke und flüchtete regelrecht nach draußen in die kalte Nacht. Anna folgte ihm sogleich auf dem Fuß und gesellte sich zu ihm auf eine vereiste Bank, die zwischen der Haustüre und dem angrenzenden Stall stand, welcher zu Winterzeiten ebenso kalt und leer blieb, wie sich Bens Herz in diesem Moment anfühlte.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Anna sogleich besorgt und legte einen Arm um ihn. „Es war nicht deine Schuld.“
Ben schüttelte leicht den Kopf und legte kurz den Kopf auf ihrer Schulter ab. „Das ist es nicht“, gab er leise von sich.
Anna schwieg einige Minuten, ehe sie ein tiefes Seufzen von sich gab. „Du bist immer noch in diesen Kerl verknallt“, schien sie Bens Nöte erraten zu haben. „Warum tust du dir das an?“
Ben sog seine Lungen voller eisiger Nachtluft und ließ seinen Blick über den mit zarten Schäfchenwolken betupften Sternenhimmel gleiten. Für einen gedankenverlorenen Moment beobachtete er die wenigen Schneeflocken, wie sie lautlos zu Boden taumelten, so schwerelos und fernab jeglicher Bindung. Sich gewaltsam davon losreißend, stieß er die Atemluft wieder aus und beobachtete die Nebelwolke, die sein heißer Atem vor seinen Lippen verursachte. „Ich kann nichts dagegen tun“, gestand er sich selbst ein. „Ich krieg es einfach nicht aus mir heraus.“
„Du weißt, dass dies eine hervorragende Voraussetzung für ein gebrochenes Herz ist“, bedachte sie, zog ihren Bruder näher an sich und drückte ihn an ihre Seite. „Brüderchen! Der Kerl ist pures Gift. Er wird dich unter seinen Schuhen zertreten.“
„Ich weiß“, seufzte Ben und streckte eine Hand nach einer besonders dicken Schneeflocke aus, die behäbig vom Himmel schwebte. Er beobachtete wie sie auf seiner warmen Hand landete und sogleich zu einem kleinen Wassertropfen zerschmolz. „Das weiß ich selbst. Trotzdem …“
Er wischte sich die feuchte Hand an seiner Hose ab und begegnete dem Blick seiner Schwester. „Es ist trotzdem schwer. Ich liebe ihn, seit ich ihn im Gymnasium das erste Mal gesehen habe. Ich komme einfach nicht von ihm los.“
„Du brauchst eine Gewaltkur“, entschied sie und lächelte zuversichtlich. „So wie ich damals, als er mir ins Gesicht sagte, dass ich nicht für ihn in Frage käme. Ich habe mich in andere Abenteuer gestürzt. Du bist schon zu lange allein. Geh endlich mal wieder aus, amüsier dich, schlepp dir einen knackigen Kerl ab und habe heißen, schmutzigen Sex. Du wirst sehen, du hast ihn bald vergessen.“
Er lächelte gequält. „So leicht ist das nicht.“
„Es ist leicht. Jaron ist ein Arsch und ein homophobes dazu. Er wird dich zerschmettern, wenn du ihm gestehst, dass du ihn liebst.“
„Das hab ich bereits“, gestand Ben und dachte an den fatalen Weihnachtsmorgen zurück. Noch heute begann sein Zahnfleisch prickelnd zu jucken, wenn er an das hämische Gelächter und die beleidigenden Sprüche dachte.
Anna zog ihre Augenbrauen hoch. „Du hast ihm gesagt, dass du …? Und?“
Ben verzog das Gesicht. „Nichts und. Du kennst ihn ja.“
„Er hat dich nieder gemacht.“ Sie nickte verstehend. „Ich sagte doch, ein Arsch.“ Sie drückte ihn fester an sich. „Wir werden auf dich aufpassen. Wenn er es nochmal wagen sollte, dann werden wir ihm kollektiv ins andere Bein treten. Der kommt hier nur noch kriechend weg.“ Sie kicherte über ihre Androhung. „He, es ist Weihnachten. Genieße es und vergiss den Kerl endlich.“
Ein dezentes Räuspern ließ die beiden herumfahren. Sogleich, als Anna erkannte, wer sich da unbemerkt hinter sie geschlichen hatte, sprang sie auf ihre Beine und baute sich provokativ vor ihm auf. Wie Jaron es geschafft hatte, sich auf seinen Krücken lautlos an sie heranzupirschen, war für Ben ein Rätsel. Vermutlich waren sie aber auch zu abgelenkt gewesen.
„Was willst du?“, fuhr Anna ihn sogleich an. „Verzieh dich! Hier will dich keiner.“
„Kann ich mit Ben allein sprechen?“, bat Jaron und schob ein aufrichtiges „Bitte!“ hinterher. Seine Stimme zitterte, höchstwahrscheinlich wegen der Kälte. Sofort strich ein merkwürdiges Gefühl durch Ben. Er konnte es nicht beschreiben. Es hatte von jedem etwas. Sorge, Verlangen, unerfüllte Liebe, Angst, Ungeduld, als könne es sich nicht für eine Seite entscheiden. Zudem wunderte er sich darüber, dass Jaron auf sein übliches Benny-Boy und sein sarkastisches Grinsen verzichtete.
„Bitte!“, wiederholte Jaron und schielte an Anna vorbei zu Ben.
Dieser widerstand der Versuchung, zustimmend zu nicken. Einerseits war ihm nichts so recht, als mit Jaron allein zu sein. Andererseits wusste er genau, dass er das bereuen würde.
„Damit du ihn wieder mit deinen blöden Sprüchen niedermachst. Nein, mein Freund.“ Anna plusterte sich vor ihm auf und stellte sich in dessen Blick in den Weg. „Hat dir das eine Mal nicht gereicht? Willst du auch noch dein gesundes Bein riskieren?“
„Bitte!“, flehte Jaron beinahe inständig, ließ sich von dieser Drohung nicht beeindrucken.
„Es ist in Ordnung“, schaltete sich Ben ein. „Lass ihn. Ich will hören, was er zu sagen hat.“
„Ben!“, schnaufte Anna genervt und wirbelte zu ihm herum. „Das ist keine gute Idee. Er wird dich fertig machen. Das traue ich ihm zu.“
„Ich schreie laut, wenn er das versucht“, entgegnete Ben und setzte ein entschiedenes Lächeln auf. Er brannte darauf, zu erfahren, was Jaron mit ihm unter vier Augen zu besprechen hatte. Selbst wenn es lediglich eine weitere Kanonade an Beleidigungen war, er wollte es hören. Vielleicht half es ihm besser über den Schmerz hinweg. Womöglich brauchte er das sogar, um sich den Kerl endlich aus dem Kopf zu schlagen. Eine anständige Aussprache würde das angespannte Verhältnis zwischen ihnen beiden hoffentlich klären oder ein für alle Mal zerstören.
Anna schnaufte tief und schüttelte langsam den Kopf. „Keine gute Idee“, wiederholte sie wenig begeistert.
„Ich überstehe das schon“, versicherte Ben und nickte ihr zu.
„Bist du dir sicher?“
Ben nickte abermals, entschlossen, dies durchzustehen, was auch immer auf ihn zukommen sollte.
Mit einem tiefen Seufzen gab Anna schließlich nach und schob sich an Jaron vorbei, jedoch nicht ohne ihn mit der Schulter heftig anzurempeln, worauf er auf seinen Krücken arg ins Wanken geriet. Er fing sich jedoch rechtzeitig und biss die Lippen zusammen, als Anna ihn noch einmal warnend anknurrte und schließlich im Hausinneren verschwand.
Mit einem tiefen Atemzug humpelte Jaron zu der Bank und ließ sich neben Ben niederplumpsen. Seine Krücken lehnte er neben sich an die Bank und starrte einige Augenblicke lang stumm in den glitzernden Nachthimmel.
„Ich …“, begann er so plötzlich, dass Ben erschrocken zusammenzuckte. „Ich möchte mich entschuldigen“, presste Jaron schließlich mühsam hervor und schielte noch einmal kurz in Richtung Haustüre, um sich zu vergewissern, dass sie nicht belauscht wurden. Er schnaufte tief, als müsse er sich erst noch Mut beschaffen, ehe er weitersprechen konnte. „Für all das, was ich dir angetan habe. Es war nicht richtig. Es tut mir leid.“
Späte Einsicht war besser als gar keine, schoss Ben in diesem Moment durch den Kopf und musste innerlich schmunzeln.
„Es ist für mich nicht leicht“, fuhr er mit deutlichem Zittern in der Stimme fort. „Ich weiß nicht … Es ist schwer …“ Er legte seine Hände in seinen Schoß und rieb sie aneinander, so als sei ihm kalt. Tatsächlich war es eisig kalt hier draußen. Die Kälte ließ die Eiszapfen an der Regenrinne klirren und knistern. Jeder Schritt auf dem Schnee verursachte ein kristallines Knirschen.
Es war bitterkalt. Dennoch konnte Ben auf der Stirn des Anderen Schweißperlen ausmachen. Er schwitzte. Es war sicherlich nicht leicht für ihn, dachte Ben verständnisvoll.
„Oh, Mann!“, stöhnte Jaron verzweifelt und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch sein goldblondes Haar und brachte die sanften Wellen in Unordnung. Die glitzernden Schneeflocken, die sich vorher darauf niedergelassen hatten, waren verschwunden. Bedauernd blickte Ben den Händen hinterher, die sich beinahe sittsam in Jargons Schoß legten. „Das ist verdammt schwer. Mein Vater schlägt mich tot für das, was ich gleich tun werde.“ Er sah hoch und schenkte ihm ein gequältes Lächeln.
Ben zog die Augenbrauen zusammen und suchte in dessen Gesicht nach einer Antwort. Warum sollte er für eine Entschuldigung derart bestraft werden, fragte er sich verwirrt. Und was gab es noch zu sagen? Ben wartete jedoch geduldig ab.
„Ich … ähm …“, fuhr Jaron stammelnd fort. „Das ist so neu für mich. Aber … ich muss es dir sagen …“ Er räusperte sich und knetete abermals nervös seine Hände. „Ich wollte das bis vor kurzem nicht wahrhaben, aber … ich … ich denke … ich … steh schon seit der Schule auf dich.“ Jaron schnaufte tief und laut, als es endlich raus war.
Durch Ben ging ein gleißend heller Blitz. Er musste sich plötzlich irgendwo festhalten und krallte sich beinahe panisch an der Holzbank fest.
„Ich …“, fuhr Jaron stammelnd fort. „Immer wenn ich dich sah, wurde mir ganz anders. Mir wurde heiß und kalt. Ich begann zu schwitzen und bekam kalte Hände … Ein eindeutiges Zeichen. Aber das war unmöglich. Du bist ein Kerl, genauso wie ich. Und es war einfach unmöglich. Deswegen habe ich es immer gemieden, mit dir irgendwie zusammen zu kommen. Und als du mir gesagt hast, dass du mich liebst, bin ich regelrecht in Panik geraten. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als dich niederzumachen. Es war ein Panikreflex. Ich konnte mit diesen Gefühlen nicht umgehen. Es war … Ach, Scheiße!“ Er fuhr sich abermals mit den Fingern durchs Haar, brachte die Locken noch mehr durcheinander. Die Schneeflocken, die sich inzwischen auf seinem Haar niedergelassen hatten, zogen sich als kleine feuchte Schleier durch die Locken und verliehen ihnen einen seltsamen Glanz. Das Licht aus dem Fenster in ihrer beider Rücken verstärkte den Effekt und Ben musste seinen Unterleib verkrampfen, um das aufkeimende Gefühl zu unterdrücken. Wie gerne hätte er die feuchten Strähnen berührt.
„Es ist so neu für mich“, gab Jaron mit einem tiefen Schnaufen von sich. „Diese Welt, deine Freunde … Du hast wundervolle Freunde. Ich wünschte, meine wären so großartig. Ich bezweifle, dass es auch nur einen von ihnen gibt, der das für mich getan hätte, was sie für dich taten. Ich stand bislang immer auf der anderen Seite und dachte mir, dass mein Leben vermutlich die Hölle wäre, wenn ich dem nachgäbe, daher ließ ich die Gefühle, die ich für dich habe, nicht zu. Als ich Selma im Geschäft traf und sie mir von diesem Wochenende erzählte und wer alles dabei sein würde, konnte ich nicht anders. Ich musste dich einfach sehen. Ich überredete sie, mich mitzunehmen, und … als ich so vor dir stand und … ich hab es mir fest vorgenommen … es ging nicht.“ Er musste erneut tief durchschnaufen.
Ben hatte ihn die ganze Zeit fassungslos angestarrt. Sein Herz hämmerte ihm bis zum Hals. In ihm brodelte und kochte es. Eine heiße Welle nach der anderen rollte über ihn hinweg.
„Entschuldige, dass ich so gemein zu dir war … die ganze Zeit … aber ich …“ Sein Mund klappte zu und er drehte den Kopf in Bens Richtung, um ihn anzusehen. Für einen Moment blickten sie sich stumm in die Augen. Ben erkannte dasselbe Glitzern in den Augen, das er am Morgen über den Spiegel wahrgenommen hatte und musste hart schlucken. In diesen wunderschönen bernsteinfarbenen Augen …
„Ich weiß nicht, ob ich das kann, oder ob es für das alles schon zu spät ist. Ich meine, ich war überhaupt nicht nett zu dir und ich kann durchaus verstehen, wenn du mir eine scheuerst, oder …“ Sein Blick wanderte flüchtig zu seinem eingegipsten Bein. „Ich würde es gerne ausprobieren.“
Ben schluckte. „Was ausprobieren?“, keuchte er noch immer fassungslos. Seine Stimme war nur noch ein seidener Hauch, ohne Kraft und Energie.
„Das … ausprobieren. Das mit der anderen Seite. Das mit dir und mir … wenn du mich noch willst“, fügte er rasch hinzu und blickte den Anderen abwartend an. Als Ben nicht gleich antwortete, sog er zischend die Luft ein und schien seine schmerzvollen Schlüsse daraus zu ziehen. „Es ist in Ordnung, wenn du nicht …“
„Nein“, unterbrach ihn Ben rasch.
Jaron starrte ihn voller Qual an. „Nein was?“, flüsterte er. In seinen Augen glitzerte es seltsam.
„Nein, ich …“ Ben keuchte. Er musste noch einen dicken Kloß hinunterschlucken, der sich beharrlich in seiner Kehle hielt, so oft und so hart er auch schluckte. „Nein, ich will.“
Jarons Gesicht hellte sich allmählich auf, je stärker die Erkenntnis in ihm aufkeimte. Das Glitzern in seinen Augen wurde stärker. „Du willst?“ Fassungslos starrte er den Anderen an, unfähig etwas zu sagen.
„Ich will“, versicherte ihm Ben. „Schon immer. Jetzt mehr denn je.“
Jaron schnaufte tief. Die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen. Seine Finger knoteten sich nervös ineinander. „Ich habe keine Ahnung davon“, keuchte er. „Ich weiß nicht, ob ich das kann, ich gebe jedoch mein Bestes.“ Er riss kurz den Blick von Ben und betrachtete für einen Moment seine ineinander verknoteten Finger. „Wenn das meine Familie erfährt … Ich werde vermutlich enterbt oder muss fortan als Ausgestoßener leben, aber das ist es mir wert.“
„Deine Familie muss es ja nicht wissen.“
Jarons Kopf kam ruckartig hoch. „Doch müssen sie. Ich muss es ihnen sagen. Ich war mir bei einer Sache noch nie so sicher wie bei dieser. Ich will dich und ich will, dass es alle wissen. Ich will mich nicht mehr verstellen müssen. Das habe ich viele Jahre lang getan. Damit ist jetzt Schluss.“
Ihre Blicke trafen sich und hielten aneinander fest. Sie wussten nicht mehr, was sie sagen sollten und starrten sich lediglich stumm an.
Das bernsteinfarbene Glitzern in Jarons Augen, ließ alles in Ben dahinschmelzen. „Verzeih mir, dass ich dich verletzt habe“, entkam es ihm, ehe er aufrichtig darüber nachdenken konnte.
Jaron schüttelte langsam den Kopf. „Das war nichts, im Vergleich dazu, was ich dir angetan habe. Ich nahm es mir jeden Tag aufs Neue vor, es dir zu sagen, ich hatte jedoch nicht den Mut. Das was du an diesem Morgen getan hast, war das mutigste, was je ein Mann tun konnte. Ich schäme mich über mich selbst, weil ich nicht dazu imstande war. Dich so zu behandeln, schmerzte mich sehr. Ich musste jedoch ständig daran denken, was mein Vater und meine Familie dazu sagen, wenn ich das zuließ. Ich geriet schlichtweg in Panik. Damit ist jetzt definitiv Schluss. Ich will mich nicht mehr länger quälen müssen.“ Er streckte seine Hände auf seinen Oberschenkeln aus und strich zitternd darüber. Mit einem gequälten Lächeln kam sein Kopf wieder hoch. Die Grübchen auf seinen Wangen zeichneten sich deutlich ab. Bens Hand zuckte und wollte sie berühren, konnte sich jedoch beherrschen.
„Ich fühle mich erleichtert und so gut wie noch nie“, gab Jaron mit einem tiefen Seufzen von sich, kniff kurz die Lippen zusammen, ehe er sie erneut öffnete, hektisch mit der Zungenspitze über seine Lippen strich und weitersprach. „Und du willst es wirklich mit mir, einem absoluten Vollidioten, probieren?“
Ein Grinsen stahl sich um Bens Mundwinkel. „Zur Not muss ich dir eben in dein gesundes Bein springen.“
Jaron verzog sein Gesicht. „Autsch!“
Bens Grinsen wurde breiter. „Aber nur zur Not, falls du es jemals wieder wagen solltest, mich Benny-Boy zu nennen.“
„Ich geb mir Mühe.“ Jaron nahm eine Hand von seinem Oberschenkel und führte sie zögerlich in Richtung Bens Bein. Kurz vorher schien ihn jedoch der Mut zu verlassen und er senkte sie rasch auf seinem eigenen Oberschenkel ab. „Wie ist das so?“, erkundigte er sich neugierig. „Einen anderen Mann zu küssen?“
Ein prickelnder Schauer raste durch Ben. „Ich kann es dir gerne zeigen.“
Jaron nickte stumm und kniff seine Lippen zusammen. Ben konnte deutlich sehen, wie sich alles in ihm verkrampfte bei dem Gedanken, gleich von einem Mann geküsst zu werden. Er beugte sich dennoch näher und verharrte, als Jaron dem übermächtigen Drang nicht widerstehen konnte, zurück zu weichen.
„Schließe deine Augen“, befahl er flüsternd.
Jaron gehorchte. Sein Kehlkopf hob und senkte sich hastig, als dieser schluckte.
Ben beugte sich langsam herüber und legte seine Lippen vorsichtig auf die von Jaron. Erst blieben die Lippen bewegungslos und starr, kalt von der Kälte und hart, weil sich dessen gesamter Körper verspannte. Allmählich, ganz langsam, lockerte sich die Verkrampfung und die Lippen wurden weicher. Es dauerte einen weiteren Moment, ehe sie ihm entgegen kamen und sich an ihn schmiegten. Ben zuckte vor Schreck zusammen, als sich eiskalte Finger zögerlich und zaghaft in seinen Nacken legten und ihn schließlich sanft an sich zogen. Er erlag jedoch sogleich der Welle aus purem, gleißenden Glück, die über ihn hinweg rollte und ihn unbarmherzig mit sich riss.
Er ließ sich in diesen Kuss fallen, den er sich seit dem Gymnasium gewünscht hatte, seit er Jaron zum ersten Mal über den Schulflur laufen sah. Die Szene erhob sich aus seiner Erinnerung und schob sich in sein Bewusstsein, so deutlich und klar, als sei es erst vor wenigen Minuten geschehen und nicht weit mehr als fünf Jahre her. Er zerfloss in diesem Kuss, in dieser zarten Berührung, in dieser Liebe und dieses sehnsüchtige Verlangen, das auf ihn überging.
Mit allem hätte er gerechnet, nur nicht mit dieser Entwicklung.
„Das ist jetzt nicht wahr!“, hörte er die laute Stimme seiner Schwester und die beiden fuhren erschrocken auseinander.
Es gab wenige Momente, in denen er Anna am liebsten den Hals umdrehen würde. Einer davon, war der eben verstrichene. Er knurrte missmutig und wünschte, er würde über die Fähigkeit verfügen, sie schlichtweg in Luft auflösen zu lassen.
„Wie ist das denn passiert!“, rief sie erstaunt und kam näher. „Kaum lässt man euch beide mal allein, macht ihr Dummheiten.“
„Anna!“, stöhnte Ben. „Verzieh dich. Du störst!“
„Wir wollten gerade mit der Bescherung anfangen“, ließ sie sich nicht beirren und musste tief durch atmen. Sie konnte es offenkundig kaum fassen, was sie da eben gesehen hatte. „Ich dachte mir, du wolltest dabei sein.“
„Ich habe mein Geschenk schon bekommen“, gab Ben mit einem Lächeln in Richtung Jaron von sich. Diesem saß noch immer die leuchtende Schamröte im Gesicht. Er drehte seinen Kopf so, dass Anna es nicht mitbekam.
„Ja, das habe ich gesehen.“ Sie kam näher und stellte sich neben Ben. „Ich hoffe, ich bekomme recht bald eine Erklärung für das ganze.“
„Bekommst du, Anna. Und jetzt verzieh dich. Bitte“, fügte er rasch an.
„Drin knutscht es sich gemütlicher“, erwiderte sie mit einem Augenzwinkern. „Kommt rein.“
„Geh schon mal vor. Wir kommen gleich.“ Ben schob sie sanft von sich.
„Beeilt euch“, gab sie schließlich nach, drehte sich mit einem Kopfschütteln um und stapfte zum Haus zurück.
„Wir sollten wirklich reingehen. Hier draußen ist es eiskalt.“ Ben rieb seine Hände aneinander.
Jaron senkte seinen sichtlich geröteten Kopf auf die Brust. „Ich würde lieber hier draußen bleiben. Wenn ich reingehe, wird die Atmosphäre frostiger als hier draußen. Sie können mich nicht ausstehen – was ich ihnen auch nicht verübeln kann.“ Er hob den Kopf und sah ihn an. „Außerdem ist es mir im Moment äußerst warm. Ich würde lieber dort weitermachen, wo wir eben unterbrochen wurden.“
Ben musste grinsen. Nichts täte er lieber, als abermals in einen Kuss mit Jaron zu versinken. Auch wenn in ihm ebenfalls die Hitze wütete und von innen heraus wie ein glühender Ofen erwärmte, war ihm mittlerweile die Eiseskälte dieses Weihnachtsabend in die Glieder gefahren. Dass es etliche Grade unter Null hatte, sollte nicht unterschätzt werden.
„Es sind meine Freunde“, erklärte er. „Sie werden es verstehen, wenn wir jetzt reingehen und ihnen zeigen, was sich zwischen uns verändert hat. Aber eines kann ich dir schon mal vorab sagen. Diese Seite des Ufers ist nicht gerade ein Zuckerschlecken. Es gibt genug Vollidioten, die einem das Leben schwer machen.“
Jaron nickte mit einem gequälten Lächeln.
„Ich helfe dir“, erklärte sich Ben bereit.
Eine Hand legte sich auf seinen Schenkel. Diesmal war Jaron mutig genug dazu.
„Ich würde wirklich gerne dort weitermachen, wo wir …“ Ein Kuss brachte ihn zum Schweigen. Wie beim ersten Mal legten sich erneut eiskalte Finger in Bens Nacken und zogen ihn an sich. Zaghaft legte sich die andere Hand auf seine Hüfte, zuckte noch einmal erschrocken zurück, ehe sie sich wieder vorwagte und endlich liegen blieb. Ben floss dahin.
Er würde Jaron alles zeigen, was es zu zeigen gab. Er würde ihm diesen mehr als schwierigen Schritt so sehr versüßen, dass er ihn niemals mehr bereute.
„He, ihr Turteltäubchen! Kommt ihr endlich?“, riss sie abermals Annas Stimme auseinander. Diesmal ließ es Jaron nicht zu, dass sie sich weiter als eine Handbreit voneinander trennten.
„Frohe Weihnachten“, flüsterte er ergriffen.
„Frohe Weihnachten“, gab Ben ebenso zurück und fiel ein drittes Mal in einen langen, leidenschaftlichen Kuss mit Jaron.

„Maybe next year I'll give it to someone … I'll give it to someone special.“




Impressum

Texte: Ashan Delon (C) 2011
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2011

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