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Wie das Leben so spielt






Marius war einfach perfekt. Ein Volltreffer.
Ein überaus gutaussehender Kerl, mit sexy Hintern, einem hinreißenden Lächeln und erfolgreichem Leben. Er hatte einige Zeit gebraucht, um mich für sich zu gewinnen. Wir hatten uns in einem Club kennengelernt und uns auf Anhieb sympathisch gefunden. Danach trafen wir uns noch einige Male im Club, bevor wir uns auch mal tagsüber verabredeten. In einem Café, gingen mal Essen oder auch ins Kino. Es dauerte zwei Monate ehe wir soweit Vertrauen zu einander fanden, zumindest ich zu ihm, so dass ich die Einladung in seine Wohnung annahm, wo wir uns bei einer Flasche Sekt wunderbar vergnügten.
Als ich das erste Mal auf Marius traf, war ich eigentlich nicht auf der Suche nach etwas Festem gewesen. Ich hatte genug Probleme am Hals, um um eine Beziehung einen Bogen zu machen. Nach beinahe einem halben Jahr arbeitslos, ständigem Ärger mit dem Jobcenter und unentwegten Geldsorgen, wollte ich mich nicht auch noch mit den Macken, Tücken und Bedürfnissen eines Partners herumschlagen. Ich musste erst einmal selbst wieder auf die Beine kommen, ehe ich meinen Kopf soweit frei bekam, um mich auch um die Pflege einer solchen Partnerschaft kümmern zu können. Ich nahm eine Partnerschaft sehr ernst. Wenn ich mich mit einem Kerl einließ, dann stets mir vollem Einsatz, das hieß mit Herzschmerz ebenso wie mit Rücksichtnahme, Einfühlvermögen und alles was zu einer guten und funktionierenden Partnerschaft gehörte.
Als ich damals in den Gay-Club ging, war ich eigentlich nur auf der Suche nach etwas Abwechslung. Ich wollte einfach nur einen ganzen Abend lang gute Musik hören, mit anderen Typen quatschen, vielleicht ein wenig flirten, mich ein wenig aufmuntern lassen, aber nichts weiter. Nicht einmal auf einen dieser anonymen Ficks oder Blowjobs, hinten im Darkroom war ich aus. Ich kannte mich dafür viel zu gut, denn dann ging regelmäßig meine Kopfkino-Maschinerie los. Was wäre wenn … wenn dieser Mund, der mir gerade einen blies oder der Schwanz, der sich gerade in meinem Arsch ergoss, Gesicht und Namen besaß und was wäre wenn wir uns näher kennenlernen könnten … Was war er für ein Kerl … ?
Dafür hatte ich derzeit keinen Sinn. Ich wollte absichtlich allein bleiben, solange bis ich wieder einen Job besaß und meine Miete in der WG bezahlen konnte.
Das war nämlich auch so ein Thema.
Keine Ahnung, wie sich die Leute vom Jobcenter so eine WG vorstellten. Offenbar dachten sie, wir wären eine Familie, wo jeder für jeden sorgte. Ein Haushalt - ein Bedarfsgemeinschaft, hatte mir der Vermittler lapidar ins Gesicht gespuckt und meinen Antrag auf Übernahme der Miete abgeschmettert. Ob das so einfach war, wusste ich selbst nicht. Jedenfalls musste ich jeden Monat aufs Neue um meine Miete kämpfen. Und meine Mitbewohner waren schon stinksauer, weil ich nicht regelmäßig meinen Anteil an der Miete bezahlen konnte. Dabei gab es wirklich eine strikte Aufteilung aller Kosten. Jeder hatte sein eigenes Abteil im Kühlschrank und sogar in der Vorratskammer. Jeder sorgte für sich selbst, ein Umstand, den ich immer wieder aufs Neue klar machen musste. Doch die in der Leistungsabteilung des Jobcenters schienen anderer Meinung zu sein.
Oder mich einfach nur auf dem Kieker zu haben.
Verknöcherte Bürokraten.
Jedenfalls war es nervig und ich so manches Mal mit den Nerven am Ende.
Ein ums andere Mal wünschte ich mir, ich hätte das Praktikum nicht angenommen, als ich frisch von der Uni auf Jobsuche gewesen war und mir sich diese Gelegenheit geboten hatte, in einer renommierten Software-Schmiede ein paar Monate auf Probe zu arbeiten. In der Hoffnung auf einen Job bei ART-Can nahm ich das Praktikum natürlich hocherfreut und mit Handkuss entgegen - in Gedanken bereits bei der versprochenen Festanstellung, wenn ich das Praktikum erfolgreich absolviert hatte. Dass mein Boss schwul war und mir an die Wäsche gehen wollte, als er von meiner eigenen sexuellen Gesinnung erfuhr, und ich ihm eine geknallt hatte und dafür postwendend raus flog, das hätte niemand voraussagen können – am allerwenigsten ich.
Natürlich glaubte mir keiner vom Arbeitsamt, denn ART-Can war ein guter Arbeitgeber, bezahlte brav seine Steuern und machte satte Umsätze. Bezweifelte ich ja nicht, doch der Boss war ein Arsch.
Etwas, was auf keinem Firmenprofil als deutlicher Warnhinweis geschrieben stand.
So etwas musste gesetzlich eingeführt werden.
Jedenfalls saß ich an einem jeder Abende, an denen mich der Frust wieder einmal übermannte in diesem Gay-Club, hielt mich in Ermangelung eines ausreichenden Budgets an dem einzigen genehmigten Glas Cola für den Abend fest und genoss die Atmosphäre.
Die Bässe wummerten hart in meinen Ohren. Eine Lightshow zauberte bizarre Lichtmuster an Decke und Wände. Es gab zahlreiche Kerle, die sich mit mir anfreunden wollten – vielleicht auch zu mehr. Mit einigen tanzte ich, ließ mich jedoch nicht zu mehr auffordern. Doch Marius – einer von ihnen – war hartnäckig. Sein Lächeln war so einnehmend, seine Art so unaufdringlich und bestimmt sogleich, dass ich mich den ganzen restlichen Abend mit ihm abgab und wir sogar einige Male miteinander tanzten. Ich ließ mich jedoch weder zu einem Kuss noch zu mehr verführen, denn ich wusste genau, wo das hinführte.
Seit dem Zwischenfall mit ART-Can war ich erst Recht vorsichtig geworden, mich gegenüber Fremden zu öffnen. Armin Ronald Tromwald, mein Boss, war stets freundlich gewesen. Ich hatte begonnen ihn zu mögen, mich schon über meinen tollen, kumpelhaften Boss gefreut – bis zu dem Tag, als ich ihm in einem beiläufigen Gespräch erzählte, dass ich schwul war. Eigentlich hatte er mich gefragt, ob ich die Blonde am Empfangstresen auch so geil fand, wie neunzig Prozent der Männer seiner Firma und ich ihm in meiner Unschuld antwortete: „Nein, steh nicht auf Mädchen.“
Dieser Moment hatte alles verändert. Von dem Moment an, gierten seine Finger ständig nach mir. Sobald er nahe genug an mich herankam, legte er eine Hand auf meine Schulter oder meinen Arm und als er sie mal auf meinen Arsch legte und mir in den Hintern kniff, wirbelte ich herum und knallte ihm eine.
Das war der Moment, indem ich meine außerordentliche Kündigung serviert bekam. Und der Moment, in welchem ich mit hochrotem Kopf und dampfend vor Wut das Gebäude verließ.
Marius war der einzige, der mich an diesem Abend mehr als aufmuntern, sogar beeindrucken konnte. Wir verabredeten uns für den nächsten Freitag-Abend ebenfalls im Club, verbrachten einen weiteren tollen Abend miteinander, kuschelten sogar ein wenig auf der Tanzfläche. Ich ließ mich sogar am späten Abend, irgendwann in der Nacht, zu einem flüchtigen Kuss hinreißen, verhielt mich jedoch zurückhaltend. Ich wollte keinen Freund und eine enge Beziehung schon gar nicht. Meine Telefonnummer rückte ich auch erst bei unserem dritten Treffen heraus. Prompt rief er mich am nächsten Tag an und wir trafen uns in einem Straßen-Café, wo ich mir wegen meines immer noch knappen Budgets nur eine einzige Tasse Kaffee gönnen konnte, während Marius drei trank und wir uns über drei Stunden lang angeregt unterhielten. Dass er mir einen Kaffee spendierte, ließ ich nicht zu, so aufrecht sein Angebot auch war.
Ich mochte es nicht, von jemandem ausgehalten zu werden. Ich war ein Kerl und hatte es bislang ganz gut geschafft, für mich selbst zu sorgen. Doch wenn Marius so weitermachte, könnte ich vielleicht schwach werden.
Er war so nett und blieb beharrlich. Ich wurde fast schwach, wenn er mich aus seinen grünblauen Augen anlächelte und sich die langen, dunkelblonden Haare aus dem Gesicht strich. Er sah einfach umwerfend aus, kleidete sich elegant und geschmackvoll und roch angenehm, nach einem würzigen Parfüm oder auch Rasierwasser. Ich hatte noch nicht den Mut gefunden, ihn danach zu fragen.
Im Kino kamen wir uns dann noch ein Stück näher. Seine Hand lag ständig auf meinem Schenkel und streichelte mich unentwegt. Dabei kam er ein ums andere Mal meinem Schritt gefährlich nahe, doch jedes Mal zuckte ich zusammen und er zog sich wieder zurück.
Soviel Verständnis und Zurückhaltung honorierte ich am Ende des Filmes mit einem zaghaften Kuss, womit ich ein hinreißendes und glückliches Lächeln auf sein Gesicht zauberte.
Nach ungefähr zwei Monaten hatte er mich schließlich so weit, dass ich mich von ihm in sein Zuhause einladen ließ. Ich war beeindruckt von dem großen Haus, das sicherlich viel Geld gekostet hatte, mit einer Einrichtung, die sicherlich nicht aus einem herkömmlichen Möbelhaus stammte. Neugierig hatte ich mir von ihm das ganze Haus zeigen lassen, von dem riesigen Wohnzimmer mit Kamin, ausladender Sitzlandschaft, gigantischem Flat-Fernseher, bis hin zur Wellness-Oase im Keller, die mit allen Schikanen ausgestattet war. Ich war wirklich beeindruckt und wollte natürlich wissen, ob er im Lotto gewonnen hätte, um sich eine solche Hütte leisten zu können.
Er erzählte mir, er wäre Eigentümer einer gutgehenden Firma. Ich fragte nicht nach, womit er seine Brötchen verdiente, war mir auch vollkommen gleichgültig. Ich war an Marius interessiert, nicht an seiner Kohle.
Auf dem Kaminsims entdeckte ich ein Foto, das ihn mit einem anderen Mann zeigte. Das sei sein Ex, erklärte er mir verschämt lächelnd und mit einem Hauch von Wehmut und erklärte mir auch, dass er sich vor einiger Zeit von ihm getrennt hatte. Es sei eine hässliche Trennung gewesen und es sei ihm sehr schwer gefallen. Beinahe feierlich warf er das Bild in eine Schublade und erklärte, dass er dank mir nun darüber hinweg war und er würde zuversichtlich in unsere Zukunft blicken.
Von Hoffnungen und dem Alkohol des Champagners geblendet, glaubte ich ihm jedes seiner Worte und so landeten wir am späten Abend in dem großen, breiten Bett und zerwühlten eine ganze Nacht lang die Satinwäsche. Marius war so gefühlvoll, weitete mich vorsichtig, ehe er langsam eindrang. Es war ein ergreifendes Gefühl, wieder einmal Sex zu haben, und auch noch mit diesem tollen Mann. Er war so glaubwürdig in allem was er tat und sagte, dass ich keinen Augenblick an der Wahrheit seiner Worte zweifelte – bis zu jenem bitteren Erwachen am nächsten Morgen.
Ich wurde von lauten Stimmen wach. Schlaftrunken öffnete ich die Augen und blinzelte gegen die Helligkeit an. Unweit des Bettes, in welchem ich eine unglaubliche Nacht mit dem Mann verbracht hatte, in den ich imstande war, mich zu verlieben, stritten zwei Männer heftig miteinander.
Marius und der andere Typ von dem Foto – sein Ex.
Doch rasch erkannte ich, dass mich Marius die ganze Zeit nur verarscht hatte.
„Das ist nicht zu fassen“, schrie der Ex mit wütend funkelnden Augen und vor Zorn und Schmerz verzerrtem Gesicht und schubste Marius hart an der Brust, so dass dieser einen Schritt rückwärts stolperte. „Da bin ich gerade Mal drei Tage fort und du hurst hier mit einem anderen Kerl rum. In meiner Wohnung? In meinem Bett?“
Schlagartig wurde ich hellwach.
Dessen Wohnung. Dessen Bett.
„Marius?“, keuchte ich voller Entsetzen. „Du … Arsch!“
Ich schwang die Beine aus dem Bett und fiel wieder zurück, als ich erkannte, dass ich gar nichts am Leib trug. Scheiß drauf. Ich musste hier weg. Rasch raffte ich meine Klamotten zusammen, ohne auf die Antwort oder irgendeine Reaktion zu warten, schlüpfte so schnell ich konnte hinein und flüchtete förmlich aus der Wohnung. Die weiterhin streitenden Männer ließ ich zurück und brachte so schnell wie möglich, eine so große Distanz zwischen sie und mich wie ich nur konnte.
Scheiße, war das eine Blamage. Marius hatte mich die ganze Zeit nur verarscht, mir das Blaue vom Himmel gelogen, nur um mich ins Bett zu kriegen. Und ich war voll Stoff darauf hereingefallen, geblendet von seinem Aussehen und seinem Charme. Ich kam mir so elend vor, so ausgenutzt, so missbraucht. Ich hatte eine Beziehung zerstört, sagte ich mir immer wieder und versuchte, verzweifelt die Angelegenheit zu vergessen und nach vorn zu sehen.

Einige Tage später saß ich nach einem frustrierendem Termin beim Jobcenter in einem Straßencafé und dachte darüber nach, was ich in meiner Lage nun unternehmen sollte. In der ganzen näheren Umgebung schien es keinen Laden zu geben, der einen aufstrebenden Software-Ingenieur zu gebrauchen schien. Selbst das Jobcenter gab mir nicht viel Hoffnung, zumal einige der hiesigen Elektronikfirmen selbst in einer Krise steckten und eher Stellen abbauten, anstatt neu anzustellen.
Wenn ich nicht bald etwas fand, würde ich auf den Vorschlag des Vermittlers eingehen müssen und mich in anderen Bereichen umsehen, Kellner, Lagerarbeiter oder dergleichen, was ich nur widerstrebend in Erwägung zog, denn wozu hatte ich Informatik studiert.
Mein gedankenverloren, umherschweifender Blick fiel auf einen Mann, der eben aus dem Innenbereich des Cafés kam. Zunächst erkannte ich nicht mehr von ihm, als seine Statur, da mich die Sonne blendete und er sich noch im Schatten des Vorbaues befand. Ich war angetan von seiner Gestalt, von der hochgewachsenen, schlanken Erscheinung und dem eleganten Gang, mit dem er aus dem Lokal spaziert kam. Doch als er in das Tageslicht trat, traf mich sein Anblick wie ein Schock, wie ein hammermäßiger Faustschlag in die Magengrube. Es war eben jener Typ, mit wessen Freund ich vor wenigen Tagen geschlafen hatte. Marius Ex oder auch nicht, ich wusste es nicht, war auch nicht unbedingt scharf drauf, die weiteren Hintergründe zu erfahren.
Ich drehte mich abrupt auf meinem Stuhl um und hoffte, dass er mich nicht sah, doch auf seinem Weg auf die Straße, musste er geradewegs an mir vorbei. Ich senkte meinen Blick soweit ich konnte, vergrub mich förmlich in meiner Kaffeetasse und hoffte inständig, dass er an mir vorbeiging, ohne mich zu bemerken.
Meine Hoffnungen wurden jedoch jäh zerstört, als er geradewegs neben mir stehen blieb und mich ansprach.
„Hey!“, sagte er freundlich, keine Spur von Argwohn oder Hass.
Ich brummelte nur und machte mich schon auf eine gehörige Standpauke gefasst. Immerhin hatte ich mit seinem Freund geschlafen und womöglich eine Beziehung zerstört.
Unaufgefordert setzte er sich an meinen Tisch und stellte seine Tasche neben den Stuhl.
„Welch ein Zufall“, schnaufte er und lehnte sich bequem zurück. „Aber das trifft sich hervorragend. Hast du ein paar Minuten? Ich würde gerne mit dir reden.“
Ich hob den Kopf und begegnete seinem Blick. Davonlaufen brachte jetzt nichts. Da musste ich durch.
„Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass … „ Ich verstummte und schluckte meine Aufregung hinunter.Der Typ sah aber auch verdammt gut aus. Marius hatte wirklich Geschmack. Sein schmales Gesicht war von einem sorgsam gekämmten und frisierten, dunkelbraunen Haarschopf eingerahmt, so als käme er gerade frisch vom Friseur. Die enge, ausgewaschene blaue Jeans, das eng anliegende weiße Hemd unter dem ebenso taillierten beigen Sakko und den leichten Schatten eines halben-Tage-Bartes ließ ihn so richtig verwegen und interessant aussehen. Wenn die Angelegenheit mit Marius nicht gewesen wäre, wäre er durchaus jemand gewesen, den ich mir näher angesehen hätte – sofern mein Leben nicht gerade ein einziges Fiasko gewesen wäre. „Ich meine, ich hatte keine Ahnung, dass Marius mit dir zusammen ist. Er hat mich die ganze Zeit angelogen. Wenn ich es nur gewusst hätte, dann ...“
Er sah mich nur an, beinahe belustigt, überhaupt nicht sauer oder mit Mordgedanken beseelt. Etwas, was mich extrem stutzig machte.
„Macht dir das nichts aus, dass ich ...?“ Ich biss mir auf die Lippen.
Der Kerl verzog sein Gesicht ein wenig, schob einen Mundwinkel und eine Augenbraue nach oben und sah mich nur weiterhin an. Dann zuckte er mit den Schultern und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Es war ohnehin schon seit einiger Zeit nichts mehr los zwischen uns“, gestand er. „Das mit dir hat nur den ausschlaggebenden Impuls gegeben, diesen Arsch endlich aus meinem Haus zu werfen.“
Diesen Arsch ...?
Ich musste ihm Recht geben. Marius war wirklich ein Arsch.
Der Kerl beugte sich wieder leicht vor. „Mich interessiert nur eines: Wie lange ging das schon mit euch?“
Ich musste hart schlucken. Leugnen oder Lügen half nichts. Marius hatte ihm sicherlich bereits alles erzählt. „Wir haben uns vor zwei Monaten kennengelernt“, gestand ich. „Das letztens, war unsere erste gemeinsame Nacht – kannst du mir glauben.“
„Glaube ich dir“, nickte der Kerl, mir offenbar ohne Zweifel Glauben schenkend. „Ich war das erste Mal seit bestimmt einem dreiviertel Jahr wieder mal auf Geschäftsreise. Dass er das nutzt, um sich einen Fick ins Haus zu holen, dass hat mich schon überrascht.“
Einen Fick ...?
Ich schnaubte empört und wollte schon zu einem lautstarken Protest ansetzen, als er mich unversehens freundlich anlächelte. „Nichts für ungut“, sagte er und musterte mich mit einem abschätzenden Auge. „Marius ist zwar ein Arschloch, aber Geschmack besitzt er trotzdem.“
Ich riss die Augen auf und starrte ihn entsetzt an. Versuchte er mich gerade anzubaggern? Nein, das konnte nicht wahr sein. Ich hatte immerhin mit seinem Ex geschlafen, da brachte er mich eher um, als mich erobern zu wollen.
„So eine gute Partie wie mich, wird er niemals wieder kriegen“, fuhr er fort. „Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt erwähnt hat ... Ich bin Benjamin Zerbreggen.“ Er hielt mir die Hand hin, damit ich einschlagen und mich ihm offiziell vorstellen konnte.
Ich zögerte. Die Freundlichkeit dieses Kerl wurde mir beinahe unheimlich. Außerdem erzeugte dieser Name in mir etwas, was ich zunächst nicht begreifen konnte. Mir war fast, als hätte ich ihn schon einmal gehört. Vielleicht aus Marius Mund? Ich schüttelte innerlich den Kopf. Nein, er hatte ihn niemals erwähnt. Dennoch …
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kerl vor mir. Was zum Teufel hatte er nur vor? Zuckerbrot und dann Peitsche – aus dem Hinterhalt … ?
„Christopher Mair“, antwortete ich und legte zögerlich meine Hand in die seine. Er hielt sie fest, drückte sie kurz und sah mir dabei fest in die Augen. Ich konnte meine Hand nicht zurückziehen, ohne dass ich sie dabei aus seiner herausreißen musste. Es wäre eine heftige Reaktion gewesen, die er mit seiner trotz allem, ungewöhnlichen Freundlichkeit nicht verdient hatte.
Doch endlich ließ er los und legte beide Arme auf dem Tisch ab, um sich darauf abzustützen.
„Und es macht dir nichts aus, dass ich ...?“ Ich konnte es immer noch nicht glauben.
Benjamin schüttelte den Kopf. „Du hast mir sogar einen Gefallen getan. Ich hätte mich vermutlich noch eine ganze Weile mit ihm herum gequält, ehe ich den Mut gefunden hätte, ihn endlich vor die Türe zu setzen.“
Ich schnaufte tief. „Das war ein ganz schöner Hammer.“
„Das glaube ich dir“, nickte er. „Ich habe den Schock in deinem Gesicht gesehen und hätte dir gerne den Schrecken genommen, wenn du nicht so schnell verschwunden wärst.“
„Mich haben da keine zehn Pferde mehr halten können.“
Benjamin lachte leise. „Ich hätte vermutlich auch schnell das Weite gesucht, wenn ich derart erwischt worden wäre. Selten geht es so glimpflich aus.“
„Es tut mir trotzdem leid für dich. So was ist immer Scheiße. Ich meine, ich habe mich auch total mies gefühlt. Immerhin habe ich eure Beziehung zerstört.“
„Du hast nichts zerstört“, versicherte er mir. „Da war nichts mehr, was es zu zerstören gab. Seit Monaten hatten wir schon nichts wirkliches mehr miteinander. Ich vermutete ja schon seit längerem, dass er jemanden anderen hat. Ich denke, ich war einfach zu bequem, ihn danach zu fragen oder wollte es gar nicht wissen.“
„Das tut mir leid für dich“, entkam es mir. Verdammte Kopfkino-Maschinerie. Warum musste sie auch zu den unpassendsten Momenten anspringen. Mitgefühl für diesen Kerl, so nett und freundlich er auch war … Scheiße! Ich hab mit seinem Ex geschlafen.
„Muss es nicht.“ Er lächelte zuversichtlich. „Ich wusste es schon längst, wollte es aber nicht wahrhaben. Erst als ich euch erwischte, wurde wir klar, dass ich dem ein Ende bereiten musste. Ich war nur stocksauer, dass es Marius auf diese Weise drauf ankommen ließ. In meinem Haus und mit einem Kerl wie dir.“
Mit einem Kerl wie mir? Ich riss die Augen auf.
Was war ich denn für ein Kerl?
„Was meinst du damit?“, erkundigte ich mich verwirrt. „Mit einem Kerl wie mir?“
Ein anzügliches Schmunzeln huschte um seine Mundwinkel, während er seinen Blick musternd über mich hinweg gleiten ließ. „Na, ja“, gab er gedehnt von sich, leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen und überzog mich ein weiteres Mal mit einem abschätzenden Blick. Ich fühlte mich unwillkürlich unwohl in meiner Haut und blickte an mir herunter, um mich selbst zu betrachten. Die letzten Wochen hatte ich mich etwas vernachlässigt, da ich mir den monatlichen Haarschnitt nicht mehr leisten konnte. Deswegen hingen mir meine Zotteln nun etwas länger als gewöhnlich ins Gesicht. Meine Klamotten waren auch nur vom Second-Hand-Laden und bereits leicht angeschlissen. Meine Turnschuhe musste ich bald austauschen, da sich in der Sohle bereits ein Loch ankündigte. Da sie jedoch unheimlich bequem waren, trug ich sie noch solange sie einigermaßen hielten. Obwohl er sie bestimmt nicht hatte sehen können, versteckte ich sie tiefer unter meinem Stuhl. Trotz meiner derzeit misslichen finanziellen Lage achtete ich jedoch auf gepflegtes Aussehen und einer sorgsamer Rasur. Immerhin musste ich mich ständig irgendwo vorstellen. Als Gammler würde mich sicherlich niemand haben wollen. Es widerstrebte mir persönlich, mich soweit gehen zu lassen.
Ich fuhr mir drahtig durch die mir persönlich viel zu langen Haare und schnaufte nervös. So direkt gemustert zu werden, war mir unangenehm. Vor allem von einem Kerl, der mich aufgrund unser beider Vorgeschichte wohl eher umbringen sollte, als mich anzüglich zu mustern.
„Ich kann mir gut vorstellen, was Marius an dir gefunden hat“, sagte er und schenkte mir ein vielsagendes Lächeln. „Ich sehe es jedenfalls sehr deutlich. Und was ich sehe, gefällt mir.“
Röte schoss mir ins Gesicht. Ich senkte meinen Kopf und verbarg meine leuchtende Birne unter meinen langen Haaren. Vor Verlegenheit wusste ich nicht, was ich tun sollte und schob daher das Blatt Papier, das letzte Schreiben vom Jobcenter, das noch auf dem Tisch lag und das ich gelesen hatte, bevor mir unversehens Benjamin Zerbreggen über den Weg lief, hin und her und lenkte damit seine Aufmerksamkeit auf das Stückchen Papier. Er hob eine Augenbraue, als er das Logo der Arbeitsvermittlung entdeckte und sog die Luft ein.
„Du suchst einen Job?“, sagte er, mehr feststellend, als als Frage formuliert.
Ich nickte nur. Warum sollte ich ihm das verheimlichen oder gar verleugnen, wenn er es eh schon gesehen hatte? Dennoch faltete ich das Papier zusammen und steckte es in meine Jackentasche.
„Als was?“, wollte er interessiert wissen.
„Programmierer“, antwortete ich mit einem deutlichen Krächzen in der Stimme. „Ich bin Software-Ingenieur.“
„Aha!“, machte Zerbreggen wissend und nickte leicht. „Ist nicht gerade ein gut gesätes Pflaster hier. Es gibt hier nur zwei große Software-Firmen. Für die kleineren ist es kurz vor Weihnachten günstiger.“
Das wusste ich alles selbst. Bis zu Weihnachten waren es noch vier Monate. Bis dahin musste ich einen neuen Job gefunden haben, sonst rutschte ich unwillkürlich eine Stufe tiefer in der Sozialhilfe – und da wollte ich auf gar keinen Fall hin. Aber warum sagte er mir das?
Ich sah hoch und begegnete seinem Blick.
„Warum?“ Ich musste mich räuspern, um meine Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Ähm … Kennst du dich aus?“
Er nickte lächelnd. „Was hast du denn bislang schon programmiert? Kenn ich da was von?“ Er blickte mich an, als wüsste er wovon er sprach.
Was hatte ich schon zu verlieren, wenn ich ihm einige Fachbegriffe und Spielenamen um die Ohren schlug? Ob er es nun verstand oder auch nur eines der vielen Computerspiele kannte, die ich in dem knapp halben Jahr Praktikum programmiert hatte – es war vollkommen gleichgültig, Was konnte er schon tun?
Ich überlegte kurz. „Last Chance … Operation Battlestar … Velotopia …“ Das waren nur einige, die ich selbst entworfen und programmiert hatte. Es gab noch wesentlich mehr, bei denen ich beteiligt war. Diejenigen, die ich genannt hatte, waren inzwischen gute Renner von ART-Can. Im Grunde verdiente Arschloch Armin Ronald Tromwald gutes Geld durch meine billige Arbeitskraft. Denn der Praktikumsjob war nicht besonders gut bezahlt gewesen. Das versprochene gute Gehalt bei Übernahme war ja nun hinfällig.
Als ich die Namen der PC-Spiele nannte, bei denen meine guten Idee eingeflossen waren, hob er anerkennend die Augenbrauen, so als wüsste er wirklich, wovon ich sprach.
Ein Zocker, erkannte ich. Eigentlich einer meiner Kunden. Ich sollte mich glücklich schätzen, einen Bewunderer zu haben – wenn es mir in meiner gegenwärtigen Lage auch nicht viel brachte.
„Spielst du oft?“, fragte ich deshalb.
„Nicht mehr.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Dazu bleibt mir immer weniger Zeit. Last Chance ist wirklich von dir?“
Ich nickte. „Warum? Kennst du es?“
Ein Lächeln war Antwort genug. Doch beinahe gleichzeitig, ging auch ein Handy in seiner Tasche los und er zuckte leicht zusammen. „Entschuldige“, murmelte er, schob eine Hand in seine Sakko-Tasche und brachte eines dieser sündhaft teuren Touch-Dinger zum Vorschein, um es sich ans Ohr zu heben. „Zerbreggen … ?“ Er lauschte dem Anrufer angestrengt, jedoch nicht ohne mich dabei weiterhin interessiert zu mustern. „Okay“, sagte er dann. „Ich bin auf dem Weg. War nur eben auf einen Kaffee. Wir treffen uns in zehn Minuten im Büro.“ Er nickte und lächelte mir zu, während er das Telefongespräch beendete und das Gerät wieder in der Tasche verschwinden ließ.
„Ich muss leider los.“ Er stand auf und warf mir einen Blick zu, als bedauerte er wirklich, dass er sich von mir trennen müsse. „War schön, dich getroffen zu haben. Vielleicht sehen wir uns bald wieder.“
„Vielleicht“, nickte ich. Insgeheim wünschte ich mir jedoch, ihn nie wieder zu sehen. Obwohl der Typ wirklich nett aussah und mich auch entsprechend behandelte, bezweifelte ich, dass er wirklich was von mir wollte. Immerhin hatte ich mit seinem Ex geschlafen. Er konnte gar nichts von mir wollen. Seine Signale waren zwar eindeutig gewesen, dennoch bezweifelte ich, dass er ernsthaftes Interesse an mir besaß.
Wir unterschieden uns schon rein optisch. Seine Klamotten suchte er sich bestimmt nicht auf dem Flohmarkt oder aus zweiter Hand aus. Ich bezweifelte sogar, dass er ein Hemd ein zweites Mal trug und lieber wegwarf, anstatt es zu waschen. Was wollte er also von einem Kerl wie mir.
Erleichtert und doch irgendwie enttäuscht blickte ich ihm hinterher und drehte mich erst um, als er am naheliegenden Taxistand in eines der gelben Wägen stieg und mit ihm weg fuhr. Beinahe im selben Moment hatte ich den Kerl auch schon vergessen. Der war eindeutig eine Nummer zu hoch für mich und außerdem der Exfreund von meinem Exfreund.

Drei Tage später hielt ich fassungslos und mit klopfenden Herzen ein weiteres Schreiben vom Jobcenter in meinen Händen. Mir wurde eine Stelle als Software-Ingenieur vorgeschlagen. An sich eine tolle Sache, über die ich mich freuen sollte. Solche Stellen gab es hier nur wenige und wenn ich schon dafür vorgeschlagen würde, sollte ich wohl eher einen Freudentanz aufführen, als atemlos vor Schreck dastehen und unverständlich vor mich hin zu stammeln. Denn der Inhaber der Firma mit dem wohlklingenden und mir als Insider sehr gut bekannten Namen beze-vision war niemand anderer als Benjamin Zerbreggen.
Ich starrte den Namen so lange an, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen. Und erst in diesem Moment, als ich mir diesen Namen buchstäblich verinnerlicht hatte, wusste ich auch, warum mir der Name so ungewöhnlich bekannt vorkam und warum er so wissend genickt hatte. Er war Inhaber einer der beiden großen Software-Firmen in der Stadt. Die eine ART-Can, die andere beze-vision.
Ich wunderte mich, dass auf einmal eine Stelle dort frei sein sollte. Mein Anruf kurz nachdem ich bei ART-Can gefeuert worden war, hatte nichts ergeben.
Womöglich war inzwischen eine Stelle frei geworden, redete ich mir hektisch ein.
Dennoch … Auch wenn es eine einmalige Chance war, die wahrscheinlich nie wieder kam, konnte ich mich nicht bei beze-vision vorstellen. Der Inhaber der Firma hatte mich mit seinem Freund im Bett erwischt. Eine verdammt verzwickte Situation. Was sollte ich nun tun?
Wenn ich die Stelle ablehnte, kürzte mir das Jobcenter womöglich die Leistung. Wenn ich meine Unterlagen hinschickte, würde ich sie postwendend zurückbekommen. Niemals stellte mich Zerbreggen bei sich ein.
Ich entschloss mich kurzerhand, meinen Arbeitsvermittler anzurufen und ihm die ganze Situation zu erklären. Er wusste ohnehin bereits, dass ich schwul war, weil ich ihm das erzählt hatte – als er mich nach dem wahren Grund fragte, warum ich bei ART-Can rausgeflogen war. Zu meiner Erleichterung sah der Vermittler ein, dass ich mich da nicht zu bewerben hatte und sicherte mir auch zu, dass es keine Auswirkungen auf mich hatte. Zumindest einmal hatte man auf diesem Amt Erbarmen mit mir und ich zerknüllte den Brief erfreut.

Weitere drei Tage später klopfte es an meiner Türe. Ich wollte mich gerade zum Jobcenter aufmachen, um an den öffentlichen Computern nach Stellenangeboten zu suchen. Ich öffnete die Türe, im Glauben, einer meiner Mitbewohner bettelte mal wieder um die Miete, doch als ich genervt die Türe aufschwang, stand niemand anderer davor als Benjamin Zerbreggen. Ebenso adrett gekleidet wie bei unserem ersten wirklichen Zusammentreffen im Café, in ein schickes Hemd und engen Designerjeans gehüllt. Die Jacke lässig über die Schulter geworfen.
„Hi!“, rief er erfreut und lächelte mich an. „Entschuldige, wenn ich so reinplatze. Kann ich dich kurz sprechen?“
Mein Mund blieb offen stehen und ich starrte ihn entgeistert an, unfähig auch nur ein Wort von mir zu geben.
„Hallo!“, grüßte Zerbreggen mich freundlich, als ich weiterhin vor Fassungslosigkeit erstarrt in der Türe stehen blieb. Sein Lächeln wurde so hinreißend, dass mir ganz anders wurde. „Kann ich reinkommen?“
Gewaltsam musste ich mich von seinem Anblick losreißen und konnte nur nicken. Die Stimme war mir irgendwie abhanden gekommen.
Er schob sich an mir vorbei ins Innere des Zimmers, da ich nach wie vor mitten im Weg stehen geblieben war. Erst jetzt bemerkte ich die dicke Skizzenmappe unter seinem Arm und wunderte mich, was er damit bei mir wollte.
Vermutlich nichts, sagte ich mir. Er hatte sie nur in der Hand, als er zufällig bei mir vorbei kam. Gleichzeitig keimte die Frage auf, woher er wissen konnte wo ich wohnte. Der Blick, den er auf das Stück Papier vom Jobcenter werfen konnte, war zu kurz gewesen, um meine Anschrift lesen und sich einprägen zu können – es sei denn, er verfügte über ein fotografisches Gedächtnis.
„Entschuldige bitte, wenn ich so unerwartet bei dir aufkreuze“, begann er sogleich und blickte sich flüchtig im Zimmer um. Ich lief hochrot an, denn ich hatte keinen Besuch erwartet und daher nicht aufgeräumt. Überall lagen meine schmutzigen Klamotten rum und auch der Teller vom gestrigen Abendessen, den ich mir mit vor meinen Minifernseher genommen hatte. Zerbreggen trennte sich mit einem Seufzen vom Anblick meines unaufgeräumten Zimmers und widmete sich wieder mir. „Aber da du mein Job-Angebot abgelehnt hast, musste ich persönlich vorbei kommen.“
„Ich … hab ...was?“ Die Kinnlade fiel mir beinahe herunter. Gleichzeitig fiel es mir wieder ein. „Ich hab nicht … ich meine … Seien wir doch mal ehrlich. Ich kann nicht bei dir arbeiten. Ich hab mit deinem Ex geschlafen.“
Es dauerte einen Moment, ehe Benjamin Zerbreggen lauthals loslachte. Nach einer schier unendlich langen Sekunde, in der er mich entgeistert anstarrte, explodierte er förmlich und brach in schallendes Gelächter aus. „Ach, das war der Grund“, kiekste er, als er sich mühsam wieder unter Kontrolle brachte. „Scheiße!“ Er hielt sich den Bauch und kämpfte verzweifelt um Fassung.
Ich stand total perplex daneben und wusste nicht, was ich tun, lassen oder sagen sollte. Ein wahres Wechselbad der Gefühle schoss in atemberaubendem Tempo durch mich hindurch. Von Beschämung hin bis zur grenzenlosen Wut, mehrmals hin und zurück.
„Und ich hatte schon befürchtet, dass du bereits einen anderen Job hast“, keuchte er, sich allmählich wieder einkriegend. „Nee, das ist jetzt ...“ Er schnaufte tief und blickte mich an. „Hatte ich bei unserem Gespräch im Café wirklich den Eindruck vermittelt, dass ich deswegen etwas gegen dich hätte?“
Jetzt war ich es, der ihn entgeistert anstarrte. „Äh … nein.“ Diesen Eindruck hatte ich wirklich nicht. Dennoch war er mit Marius zusammen gewesen, als ich mit selbigem im Bett gelegen hatte.
„Also, was soll der Scheiß!“ Er schnaufte noch einmal tief durch, dann war er wieder Herr seiner selbst. „Du suchst doch einen Job, oder? Und ich hab dir was anzubieten.“
„Woher … ich meine, als ich bei beze-vision angerufen habe – mehrmals – wurde ich stets schroff abgewimmelt. Wieso soll jetzt auf einmal ein Job frei sein? Ich hoffe nicht, dass du das wegen Marius tust, oder weil du dich an mir rächen willst?“
„Warum sollte ich das wollen?“ Er blickte mich fragend an. Dann nahm er die Notizenmappe unter dem Arm hervor und hielt sie vor sich. „Bei den regulären Stellen ist auch keine Stelle frei“, gestand er. „Aber ich hab was anderes für dich und ich denke, du bist genau der Richtige dafür.“
„Der Richtige für was?“
Benjamin Zerbreggen sah sich flüchtig im Zimmer um, ging dann zu meinem Esstisch und zog den Stuhl etwas heraus. „Setz dich!“, forderte er mich unmissverständlich auf. Nachdem er einen Platz zwischen den auf dem Tisch verteilten Papieren, benutztem Frühstücksgeschirr und einer leeren China-Essen-Packung schaffte, legte er sorgsam die Mappe auf den freigeräumten Platz, zog sich den Schreibtischstuhl von meinem Computerplatz heran und setzte sich. Ich setze mich ebenfalls, neugierig auf das, was er mir zu sagen hatte.
„Ich hab mir Last Chance mal genauer angesehen“, begann er und legte seine Hände leicht zusammengefaltet auf die Mappe. „Die Programmierung und die Quellcodes.“ Als ich hörbar einatmete, lächelte er nur leidlich. „Armin und ich waren mal gute Freunde“, erklärte er sogleich. „Bevor er zum Arschloch mutierte und mir meine Leute und meine Ideen klaute. Ich weiß, wie ich an die Daten ran komme.“ Er zwinkerte vielsagend und deutete dann auf seine Mappe. „Da drin ist mein Schmuckstück. Das habe ich entworfen, lange bevor ich meine Firma gründete, um mit Computerspielen Geld zu machen. Ich bin gut in meinem Job, aber alles kann ich nicht. Als ich mir Last Chance genauer ansah, wusste ich, dass du der Mann dafür bist, mein Schmuckstück zum Leben zu erwecken.“ Er öffnete die Mappe und offenbarte mir den Blick auf bunte Skizzen von Erlebniswelten, wie sie nur im Computer entstehen konnten. Je mehr handskizzierte Szenen er vor mir ausbreitete, desto mehr wurde meine Neugierde geweckt und das besessene Computergenie in mir geweckt. „Das hier ist was ganz besonderes und ich habe bislang noch niemanden gefunden, der in der Lage wäre, das alles so umzusetzen, wie ich es mir ausgedacht habe – nicht einmal ich selbst. Ich habe irgendwann aufgehört und mich eher um mein Geschäft gekümmert. Für die wichtigen Programmierungen suchte ich mir den entsprechenden Experten. Und du bist der absolut richtige Experte für das hier.“ Er fächerte die Bilder noch weiter auseinander und zeigte mir immer mehr von den Ideen, die er mit Buntstift, Bleistift, aber auch mit Aquarellfarben festgehalten hatte. Offenbar war er künstlerisch veranlagt, denn die Skizzen besaßen durchaus Atelier-Niveau.
„Glaubst du, du kannst das in das megageilste Computerspiel umsetzen, das die Welt je gesehen hat?“ Er sah mich herausfordernd an, gebannt auf eine Antwort wartend.
Ich war noch damit beschäftigt, die Informationen aufzuarbeiten, wobei mein Computerhirn bereits schon begonnen hatte, Quellcodes und HTMLs zu entwerfen. Ich musste mich hart räuspern, um wieder runter zu kommen.
„Warum … Ich meine, warum gerade mir? Ich hab ...“
„Vergiss das endlich“, fuhr er mir scharf ins Wort. „Marius ist Geschichte. Ebenso wie Armin. Ich hab davon gehört, was er mit dir gemacht hat. Passt zu ihm. Der war schon zu meiner Zeit ständig im Schritt von anderen Kerlen. Scheint unser beider Schicksal zu sein, ständig an Arschlöcher zu geraten. Was meinst du? Schaffst du es? Dass wir es vielleicht zu Weihnachten in die Läden bekommen?“
„Ich … äh ...“ Ich schielte zu den Skizzen. Liebend gern hätte ich mich sofort darin vertieft. Meine Finger juckten bereits. Doch ich besaß weder das Equipment noch die Software dafür, so etwas Gewaltiges auf die Beine zu stellen. „Ich hab keinen Computer“, gab ich ausweichend von mir. Mein alter Laptop, genügte gerade mal, um meine Bewerbungen darauf zu schreiben. Für so ein Megawerk war er zu schwach auf der Brust.
„Was soll der Quatsch?“, schimpfte er und blickte mich verärgert an. „Das ist die faulste Ausrede, dich ich je gehört habe. Dir steht selbstverständlich meine ganze Entwicklerabteilung zur Verfügung. Ich stampfe eine eigene Abteilung für dich aus dem Boden. Ich besorg dir alles, was du brauchst, Hardware, Software, alles. Du musst mir nur versichern, dass du das kannst und auch willst.“
„Ich ...“ Mein Mund schloss sich wieder.
„Die Umstände unter denen wir uns kennengelernt haben, waren nicht gerade die besten. Geb ich zu. Anders wären wir uns vielleicht auch nicht über den Weg gelaufen.“ Er schnaufte tief durch. „Ich will dieses Ding endlich realisiert haben, und du bist der Mann, der das möglich machen kann.“
Ich sah ihn an, ungläubig und fassungslos. Eine sicherlich einmalige Chance und eine Aufgabe, die mich mehr als reizte.
Dennoch …
Ich habe mit seinem Ex geschlafen.
Benjamin Zerbreggen schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er seufzte tief und lehnte sich zurück. „Ich will dich nicht drängen. Aber bis Weihnachten sind noch vier Monate. Wenn wir das bis dahin auf die Beine gestellt haben wollen, dann solltest du nicht zu lange überlegen.“
Sein Blick musterte mich wieder, so wie er es im Café gemacht hatte, kartographierte jeden einzelnen Quadratzentimeter an mir. Dieser Blick war mehr als eindeutig. Ich gefiel ihm, offensichtlich in mehr als einer Hinsicht.
Als ich nicht reagierte, stand er auf, warf sich seine Jacke wieder über die Schulter und machte ein paar Schritte Richtung Türe.
„Ich bin morgen um Neun im Büro“, sagte er beinahe kalt. Sonderbarerweise versetzte mir der nüchterne Tonfall einen schmerzhaften Stich in die Brust. Er überließ es mir, wie ich die Botschaft in diesem Satz zu deuten hatte, drehte sich wortlos um und verließ mein WG-Zimmer. Die Skizzenmappe blieb aufgeschlagen und dessen Inhalt über den halben Tisch verteilt, blieb zurück.
Mein Kopf sank nach vorn, als die Türe hinter ihm ins Schloss fiel und knallte unsanft auf die Tischplatte. Ich brauchte gefühlte Jahrhunderte, um mich wieder zu beruhigen. Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust. Ich keuchte, wie nach einem Marathonlauf und ich zitterte, als stünde ich ohne einen Fetzen Stoff am Leib am Nordpol.
Verdammt, ich wollte diesen Job. Mehr als alles andere. Das war der Job der Jahrtausend. So etwas würde sich mir kein zweites Mal bieten. Allein schon die Skizzen waren so überzeugend, dass ich ihm am liebsten ein JA ins Gesicht gekreischt hätte.
Dennoch …
Ich habe mit seinem Ex geschlafen.
Meinetwegen war er jetzt Solo.
Auch wenn ich mir noch so entschieden einzureden versuchte, dass ich ihm damit eigentlich nur einen Gefallen getan hatte und dass es den Eindruck hatte, als sähe er es genauso, ich konnte diesen Job nicht annehmen.
Das würde unweigerlich zu bösem Blut führen.
Ich richtete mich wieder auf. Da die kunstfertigen Bilder genau vor mir ausgebreitet waren, fingen sie meine Augen auch sofort wieder ein. Er hatte sich verflucht viel Mühe gemacht, eine derart vielschichtige virtuelle Welt zu erschaffen. Eine Welt, die ich durchaus imstande war, sie wirklich werden zu lassen. Zumindest im Computer und auf den Home-PCs von Millionen von Game-Begeisterten. Im Grunde stand meine Antwort schon fest, dennoch …
Marius war sein Freund gewesen.
Ich hämmerte meinen Kopf noch einmal auf die Tischplatte, direkt in eine glitzernde Schlucht hinein, in der Gestalten mit Schwertern und magischen Gegenständen gegeneinander fochten. Er konnte verdammt gut zeichnen. Und ich verdammt gut programmieren. Wir mussten uns einfach zusammentun. Wir ergänzten uns. Zusammen waren wir unschlagbar.
Zusammen konnten wir Arschloch Armin Ronald Tromwald das Wasser abgraben und seine kleine unbedeutende Software-Firma dem Erdboden gleich machen.
Ich begann zu kichern. So irre wie ein ausgeflippter Professor.
Das war meine Chance. Ergreif sie, schrie ich mir innerlich zu.
Was Benjamin von mir wollte oder auch nicht, war eine andere Angelegenheit, denn sein neuerlicher Blick war mir nicht entgangen.
Ich gefiel ihm – und er gefiel mir.
Dennoch war er der Ex meines Ex.

Am nächsten Morgen, nach einer ziemlich unruhigen, durchgemachten Nacht, stand ich pünktlich um neun vor Zerbreggens Büro. Seine Sekretärin schien mich bereits erwartet zu haben, denn sie lächelte mich freundlich an, nickte mir zu und winkte mich durch.
Ich hatte förmlich die Hosen voll, als ich in das Büro eintrat und er trotz allem überrascht den Kopf hob. Die Skizzenmappe unter den Arm geklemmt, schlich ich näher und blick mit wild klopfendem Herzen stehen.
Benjamin legte den Kopf leicht schief und wartete gebannt, dass ich das Wort ergriff.
„Ich stell dir das in vier Monaten auf die Beine“, presste ich mühsam hervor. Das Ergebnis einer langen Entscheidungsphase, die von dem gestrigen Besuch Zerbreggens in meinem Zimmer, bis in den frühen Morgen angedauert hatte, mit ständig wechselnden Ergebnissen, wie als würde ich die Blütenblätter einer gigantischen Blume abzupfen.
Sein Gesicht erhellte sich schlagartig. Mit einer Bewegung deutete er vor sich auf den Stuhl und schob eine Lage Papier in meine Richtung. Zuoberst konnte ich das dick geschriebene Wort Arbeitsvertrag lesen.
Mir wurde ganz anders.
Mit zitternden Knien setzte ich mich und legte die Mappe auf den Schreibtisch, um den Vertrag zu nehmen und mir durchzulesen.
Beim Gehalt schluckte ich das erste Mal. Soviel hatte ich mir niemals im Leben erträumt. Bei den Bedingungen und der Beschreibung für die angebotene Stelle, hätte ich mich beinahe verschluckt. Ich sollte Projektleiter sein, mitverantwortlich für den Erfolg des Projektes und später auch an den Gewinnen beteiligt werden. Fassungslos sah ich hoch. Das war nicht nur ein Karrieresprung, eher ein Karrierekatapult.
„Standardvertrag für Angestellte in leitenden Positionen“, sagte Benjamin knapp. „Willst du ihn dir nochmal in Ruhe durchlesen?“
Ich nickte. Das musste ich mir wirklich genauer ansehen, worauf ich mich da einließ.
Benjamin erhob sich und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Er sah wieder einfach nur umwerfend aus. In der engen, schwarzen Jeans. Das hellbeige Hemd, das sich perfekt an seinen Körper anschmiegte. Die obersten Knöpfe standen offen und präsentierten mir einen kleinen Ausschnitt von seiner blanken Brust. Ich schluckte hart.
„Eines wollte ich dir noch sagen, bevor ich dir die Firma zeige“, sagte er und stellte sich neben mich. Seine Hand kam auf meiner Schulter zu liegen. Ich zuckte zusammen, als diese Berührung einen heißen Schauer durch mich hindurch jagte. Mein Kopf fuhr hoch und ich starrte ihn beinahe erschrocken an, worauf er seine Hand rasch wieder zurückzog.
Er räusperte sich leise und senkte für einen Moment den Blick. „Ich weiß, dass wir uns unter nicht gerade vorteilhaften Umständen kennengelernt haben, aber ...“ Er suchte meinen Blick, sah mir mit seinen hellen blauen, fast grauen Augen direkt ins Gesicht. „... aber ich würde mich freuen, wenn wir das einfach vergessen könnten, so als sei es nicht geschehen und uns ganz normal kennenlernen, wie sich zwei Kerle eben kennenlernen.“ Er nahm einen tiefen Atemzug. Seine Hand zuckte vor, als wollte sie meine Schulter berühren, traute sich aber nicht so richtig.
Aus unerklärlichen Gründen sehnte ich diese Berührung herbei und wünschte, er würde dem Drang nachgeben und sie wieder auf meine Schulter legen. Doch er tat es nicht.
Wie alt mochte er sein? Höchstens fünfundzwanzig. Gar nicht so viel älter als ich.
Meine Gedanken überschlugen sich. Heute morgen war ich zu dem Entschluss gekommen, den Job anzunehmen, mich jedoch von Benjamin Zerbreggen fern zu halten. Ich wusste wohl, was er von mir wollte. Dies konnte ich ihm jedoch nicht geben.
Noch nicht. Dazu wütete der Schmerz, den mir Marius zugefügt hatte, noch zu sehr in mir.
„Christopher“, sagte er leise. Seine Finger zuckten wieder. „Falls du jemals … das Bedürfnis hast … nicht mehr allein zu sein ...“
Ich sah hoch und blickte geradewegs in sein gequältes Gesicht. Zu gerne hätte ich nachgegeben. Meine Kopfkino-Maschinerie ratterte bereits auf vollen Touren. Er und ich. Wir beide. Zusammen. Ein Team. Unschlagbar.
Ich räusperte mich, erhob mich von meinem Stuhl und brachte einen kleinen Abstand zwischen uns.
„Dann erfährst du es als Erster“, beendete ich seinen Satz. Es war sicherlich nicht das, was er hören wollte, doch zu mehr war ich derzeit nicht imstande.
Er nickte enttäuscht, obwohl er es sicherlich bereits geahnt hatte und deutete in Richtung Türe, um mich durch seine Firma zu führen.

Natürlich habe ich den Vertrag unterschrieben und Benjamins Traum rechtzeitig fertiggestellt, so dass beze-vision zu Weihnachten einen neuen Verkaufsschlager in die Regale stellen konnte. Auf der Firmen-Weihnachtsfeier, die zugleich auch eine Feier für den mehr als erfolgreichen Start von Magic-World darstellte, zog er mich am Arm von den Feierlichkeiten fort und bugsierte mich in sein Büro. Kaum war die Türe hinter uns ins Schloss gefallen, drehte er mich um, fasste mein Gesicht mit beiden Händen und raubte mir einen leidenschaftlichen Kuss.
Durch Glühwein und Champagner leicht alkoholisiert, waren meine Reflexe zu langsam und ich reagierte stark verzögert – doch ich wollte auch gar nicht mehr.
Vier Monate hatte ich mich Nacht für Nacht und Tag für Tag nach ihm verzehrt, mir immer wieder ausgemalt, wie es sein würde, neben ihm im Bett zu liegen und ihn zu verwöhnen, oder mich von ihm verwöhnen zu lassen. Fast jede Nacht träumte ich von ihm. Ein ums andere Mal wachte ich mit von Samenergüssen verklebter Pyjamahose auf und musste mich mit einer eiskalten Dusche davon abhalten, vor Sehnsucht in Tränen auszubrechen.
Vier Monate lang.
Benjamin schien es genauso ergangen zu sein. Sein Kuss war voller Verlangen, wild und ungezügelt. Er schien sich nehmen zu wollen, was er kriegen konnte, ehe ich ihm eine knallte oder ihm entrüstet in die Eier trat. Doch das wollte ich gar nicht mehr.
Ich wollte Benjamin.
Als ich meine Hände hob, um seinen Körper schlang und ihn an mich drückte, kapierte auch er es und unser Glück überschlug sich.

Impressum

Texte: Ashan Delon (C) 2011
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2011

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