Cover

1 Smoothie, 1 Tür, 1 Klappe, 1 Tisch und 1 Stuhlbein






„Solltest du nicht schon längst am Bahnhof sein?“
Diese Frage setzte mich augenblicklich in Alarmstimmung und ich zuckte hinter dem Getränkeausschank hoch, wo ich sorgfältig Bier- , Wein-, Cola- und Limoflaschen in eine Kühlschublade geräumt hatte.
Mein Blick wanderte unwillkürlich zu der großen Uhr an der Wand, am Ende des Tresen und ich hielt vor Schreck die Luft an.
Verflucht. Die Zeit hatte mir schon wieder ein Schnippchen geschlagen. Ich sollte seit einer halben Stunde am Bahngleis stehen und André abholen.
„Wenn du Glück hast, wartet er“, kommentierte mein Chef meine plötzliche Aufregung, in der ich hastig die restlichen Flaschen verstaute und die Schublade mit Schwung zuwarf, so dass es in dessen Innerem nur so schepperte und klirrte. Bereits Anfang der Woche hatte ich darum gebeten, am Freitag früher Schluss machen zu dürfen, da André von seiner Geschäftsreise nach London zurückkehrte und anstatt zu sich nach Berlin nach Hause zu fliegen, wollte er das Wochenende hier in München bei mir verbringen. Die ganze Woche hatte ich mich darauf gefreut, doch nun hatte ich es einfach vergessen.
Ich warf meinem Chef ein dankbares Lächeln zu, hastete nach hinten in die Personalumkleide und riss mir meine Kellneruniform vom Leib, um so schnell wie möglich in Jeans, Shirt und Sneakers zu schlüpfen. Binnen zehn Minuten hastete ich auch schon auf die Straße, zum Taxistand vor dem Hotel und sprang in eines der beigefarbenen Wägen.
Natürlich kam ich wieder zu spät. Das war mein angeborenes Schicksal. Ich kam immer zu spät. Schon mein ganzes Leben lang, kam ich irgendwo hin zu spät. Da konnte ich mich anstrengen, vorplanen oder was auch immer, es kam stets etwas Unvorhergesehenes dazwischen und ich kam zu spät.
Selbst in die Arbeit kam ich zu spät, doch mein Chef war äußerst kulant. Dafür musste ich eben abends länger bleiben, oder mal unerwartet Überstunden schieben. Bis vor drei Monaten hatte ich mit dieser Regelung auch keine Probleme, denn auf mich wartete niemand und ich liebte meinen Job. Doch seit drei Monaten war ich mit André zusammen, den ich auf äußerst witzige Weise kennengelernt hatte – witzig im gewissen Sinne für mich, äußerst unangenehm für ihn. Denn ich hatte ihn vier Mal innerhalb von zwei Tagen mit Kaffee überschüttet – unabsichtlich wohlgemerkt.
Zu meinem großen Manko der Unpünktlichkeit, kam leider auch noch dazu, dass mir ständig irgendwelche komischen Dinge passierten, die jedoch nicht mir, sondern meist den unmittelbar daneben befindlichen Leuten zum Verhängnis wurde. So hatte es auch immer wieder André getroffen, auf den ich zu unterschiedlichsten Zeiten und an den verschiedensten Orte getroffen war. Dies hatte dazu geführt, dass wir uns näher gekommen waren und seit drei Monaten waren wir mehr oder weniger zusammen.
André arbeitete als Ingenieur für einen großen Konzern und reiste daher oft durch die Welt. Doch immer, wenn es ihm möglich war, besuchte er mich. In der Zwischenzeit chatteten wir oft per Skype, Facebook oder Videokonferenz, die wir nicht immer dazu benutzten, uns gegenseitig die Neuigkeiten zu erzählen, schrieben uns unzählige SMS oder telefonierten stundenlang.
An diesem Wochenende wollte er wieder zu mir kommen. Wie immer wollte ich ihn am Bahnhof abholen, wobei ich auch dabei stets einige Minuten nach ihm dort eintraf, so dass er immer auf mich warten musste.
Doch André kannte das inzwischen von mir und lächelte nur glücklich, wenn ich es dann doch irgendwie geschafft hatte zu ihm zu kommen, auch wenn er schon mehrere Minuten oder gar eine halbe Stunde vor mir eingetroffen war.
Ich warf dem Taxifahrer das Geld auf den Schoss und hetzte in das Gebäude. Auf dem Weg und durch den schnellen Lauf bedingt, fiel mir ein, dass ich heute noch nicht dazugekommen war, etwas zu trinken. Meine Kehle fühlte sich extrem trocken an und ich wollte André auf keinen Fall mit einem Krächzen begrüßen. Auf meinen Weg in die Bahnhofshalle begegnete ich einem Stand für frisch gepresste Obstsäfte. Eigentlich war es mir egal, welchen von den bunten Säften, sie mir in den Becher kippte und tippte einfach auf den Vordersten, einen knallroten Erdbeer-Irgendwas-Trunk. Ich warf das Kleingeld auf den Teller und hastete auch schon weiter, den Strohhalm in meinem Mund und süße Flüssigkeit in mich schlürfend.
In der Bahnhofshalle angekommen, wollte mir nicht mehr einfallen, auf welchem Gleis der Zug vom Flughafen eintreffen sollte. Soweit ich mich erinnerte, war es eine der S-Bahnen, doch um ganz sicher zu sein, ging ich zur Anzeigetafel und überflog sie, auf der Suche nach dem richtigen Zug oder der Bahn.
Es war ein verwirrendes Durcheinander von Zahlen, Bezeichnungen und Uhrzeiten und ich hatte meine liebe Müh und Not, irgend eine Erkenntnis daraus zu gewinnen.
Eine Hand legte sich von hinten um meine Taille und ich fuhr erschrocken herum.
Die freudige Begrüßung blieb André in Hals stecken, als mein Drink, der nach wie vor an einem Strohhalm verbunden in meinem Mundwinkel hing, an seine Schulter prallte, aufplatzte und roter Saft über seinem weißen Hemd verteilte.
„Verdammt, Florian!“, schimpfte er sofort, machte einen Schritt rückwärts und beugte sich vor, damit der vergossene rote Saft von seinem Hemd auf den Boden tropfen konnte. „Fängst du damit schon wieder an?“
Ich presste die Lippen aufeinander, um ein irres Kichern zu unterdrücken. Das hatte jedoch auch zur Folge, dass ich nicht antworten konnte.
„Hatten wir nicht etwas vereinbart?“, rief er erbost, ließ seinen Trolley stehen und fischte in den Taschen seiner Jacke, die er über dem Arm getragen hatte, nach einem Päckchen Taschentüchern. Er riss eines heraus und begann damit, die Flecken aufzutupfen. Da in dem Saft jedoch auch Fruchtfasern enthalten waren, hatte dieses Unterfangen keinen Erfolg. Ganz im Gegenteil. Er sah mit einem Seufzer der Verzweiflung hoch. „Keine stark Farbstoffhaltigen Getränke“, sagte er streng.
„Du hast nur von Kaffee gesprochen“, wand ich ein.
Er verzog seine Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. „Das ist doch vollkommen egal. Wie man sieht, kommt es auf dasselbe raus.“
„Entschuldige“, brachte ich endlich fertig und blickte ihn auch entsprechend an. „Ich hatte Durst und ...“ Ich brach ab, als er mich so streng wie mein alter Mathelehrer ansah. „Es tut mir echt leid.“ Ich versuchte, so viel Aufrichtigkeit, wie es ging hineinzulegen.
André seufzte leise. „Zu deinem Glück kenne ich dich inzwischen ein wenig. Ich will für dich hoffen, dass seine Waschmaschine funktioniert. Wenn nicht, wirst du als Waschbrett herhalten müssen.“
Ich grinste breit. „Keine schlechte Idee.“
Sein Gesicht kam näher. Er beugte sein Kinn vor und küsste mich zu einem raschen Begrüßungskuss auf den Mund. „Es freut mich auch, dich wieder zu sehen. Ich hatte nur gehofft, dass wir nicht wieder ganz von vorn anfangen würden.“
„Dann hätte ich wohl einen Becher Kaffee in der Hand gehalten“, gab ich spitz zurück.
Mit einem Knurren stopfte André das feuchte Taschentuch, mit dem er vergeblich versucht hatte, größeren Schaden von sich abzuwenden, in seine Jackentasche zu dem Päckchen, warf sich die Jacke wieder über den Arm und schnappte sich den Trolley. „Was ist? Wollen wir noch länger hier rum stehen? Ich müsste mich mal frisch machen.“
Grinsend nahm ich ihm die Jacke ab und holte mir die Hand, um meine Finger in seine zu verschränken und mit ihm zusammen, Hand in Hand, aus dem Bahnhof zu gehen.
München war eine Großstadt und an allen Ecken und Enden der Stadt sah man die merkwürdigsten Typen. Ein schwules Pärchen, das Händchen haltend aus dem Bahnhof marschierte, war nichts merkwürdiges. Selbst die verwahrlosten Penner, die am Eingang saßen und um Kleingeld bettelten, beachtete niemand wirklich. Hier war jeder anynom. So hatte ich nichts dagegen gehabt, als André mich irgendwann einmal bei der Hand nahm und mit mir über den Stachus spazierte. Mittlerweile war dies bei uns Gang und Gäbe.
Wir steuerten auf den Ausgang zu. Der Trolley ratterte hinter und her. Während dessen hatte André begonnen, mir ausgiebig von seiner Reise nach London zu erzählen und berichtete mir beinahe detailliert über das, was er dort erlebt hatte. Er war soeben bei Madame Tussauds angekommen, als ich durch die Sicherheitsglasscheiben des Ausganges eine ganze Schulgruppe auf uns zukommen sah. Wir hatten uns offenbar dieselbe Türe ausgesucht. Nur dass die Gruppe Jugendlicher einen Tick früher an der Türe war und diese mit jugendlichem Elan aufschwang.
Meine Reflexe waren in meinem Job ziemlich gut trainiert. Es kam beinahe jeden Tag vor, dass ich einem übereifrigen Gast ausweichen musste und mit dem Tablett wahre Jonglierkunststücke vollführte. Ich beherrschte aber nicht nur das Ausweichen mit dem Tablett, sondern wusste bereits instinktiv wann ich meinen Schritt beschleunigen, und wann ich einen Schritt zur Seite ausweichen musste, um einer Kollision zu entgegen. So hatte ich den Seitenschritt gemacht, noch ehe mein Verstand einen Befehl dazu hätte geben können. Es passierte einfach so. Das war in vielen Jahren Erfahrung antrainiert.
André jedoch nicht.
Er war so in seine Erzählung vertieft, dass er nicht auf seinen Weg achtete, auch nicht darauf, was dort alles auf ihn zukommen würde. Er schien blind darauf zu vertrauen, dass er an meiner Hand unbehelligt durch den Bahnhofsdschungel geleitet werden würde. Dies wurde ihm jedoch zum Verhängnis.
Er bekam die Türe voll vor den Latz geknallt.
Und als ob dies nicht genügte, stolperte er durch den Aufprall rückwärts, blieb an seinem Trolley hängen und wenn ich ihn nicht an der Hand gehalten hätte, wäre er sicherlich rücklings zu Boden gefallen und womöglich noch mit dem Kopf aufgekommen.
So saß er auf seinem Koffer und keuchte vor Schmerz, sich die vom langen Türgriff geprellten Rippen reibend.
Ich wusste nicht, wie ich anders hätte reagieren können, denn es war alles so schnell gegangen, gerade mal einen Gedankenblitz lang. In einem Moment war ich gebannt Andrés Erzählung gefolgt, selbst kaum auf den Weg achtend. Im nächsten war es schon passiert. Mein Instinkt hatte mich rechtzeitig gewarnt. Es war jedoch nicht genug Zeit geblieben, auch ihn in Sicherheit zu bringen. Dennoch stand ich beschämt daneben, funkelte die überschwänglichen Jugendliche strafend an, die sich murmelnd entschuldigten, jedoch mit einem schadenfrohen Glitzern in den Augen.
Als die Gruppe an uns vorübergezogen war, ging ich vor André in die Hocke.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte ich mich besorgt und kuckte ihn von herauf unten an.
Er schnaufte einige Male tief durch und sah mich dann an. „Du hast mir doch mal irgendwann von deinem Idiotenglück erzählt“, erinnerte er sich und sein Lächeln wurde auch schon wieder schief. Seine eisblauen Augen glitzerten frech. „Kann ich ein Stück davon haben?“
Ich kicherte amüsiert. „Das hat sicherlich nichts damit zu tun. Ein unglücklicher Zufall. Nichts weiter.“
„Ja“, gab er wenig überzeugt von sich. „Das war die Angelegenheit mit den Kaffeebädern auch.“
„Das war wirklich keine Absicht gewesen!“, rief ich entrüstet. Dies hatte ich ihm bereits mehrmals versichert und eigentlich gedacht, dass es sich längst geklärt hatte. Offenbar unterlag ich da einer Täuschung.
André nahm meine Hand in seine und drückte sie. „Das weiß ich doch.“ Er zog sie an mich und mich damit ebenfalls. Seine hellen blauen Augen begannen zu leuchten, als er mir tief in meine Augen blickte. „Das was da passiert ist, ist … „ Er verstummte, als müsse er nach den richtigen Worten suchen. „... als ob eine höhere Macht ihre Finger im Spiel hatte. Amor vielleicht, der seine Pfeile verlegt hatte und sich daher eine andere Möglichkeit ausdachte, uns beide zusammen zu bringen. Ungewöhnlich und eklig, aber effektiv.“
Ich kicherte erleichtert und ließ mich in dieses helle Blau seiner Augen hineinfallen. Manchmal, wenn ich ihm so in die Augen starrte, erschien er mir, wie für die Hochglanzseiten eines Magazins gemacht, mit Photoshop bearbeitet, so dass die Farbe seiner Iris im schönsten Blau leuchtete und aus seinem Gesicht heraus strahlte und zum Mittelpunkt der Seite machte. Auch ansonsten war er fast makellos – vielleicht kam es mir in meinem Liebestaumel auch nur so vor. André anzusehen und ihn zu mustern, war für mich wie in das Antlitz eines speziell aus meinen feuchten Träumen produzierten Mannes zu blicken. Alles an ihm war irgendwie perfekt, sein spitzes Kinn, das stets von einem leichten Bartschatten überzogen war, da wir uns meist erst am Abend oder am Wochenende trafen, wo er es mit der Rasur nicht so genau nahm. Das wohlgeformte, schlanke Gesicht mit den hervortretenden Wangenknochen und den zwei dunklen Augenbrauen, die aussahen, als hätte man zwei Tropfen schwarzen Espressos mit grazil geschwungener Linienführung von der Nasenwurzel bis zur Schläfe gezogen. Wobei die rechte von einer kaum sichtbaren Narbe abgegrenzt einen Hauch höher als die linke endete. Und diese Lippen, die lächeln konnten, dass mein Herz zerschmolz, wie Schokolade in der Sonne.
Immer wenn er mich so anlächelte, setzte es diese Reaktion in Gang. Was auch immer davor geschehen sein mochte, es war hinfällig und ich hatte nur noch Augen für diese lächelnden Lippen. Lippen, die auch so herrlich leidenschaftlich und wild küssen konnten, die heißblütig und verlangend nach mir schnappten und mich regelrecht verschlangen. Wann immer diese Lippen auf meine Haut trafen, hinterließen sie brennende Male, die noch lange Zeit nachwirkten und brannten und mich noch Stunden danach erinnerten, wo genau er mich geküsst hatte.
Er zog mich näher an sich heran. Sein Gesicht war nur noch eine Handbreit von mir entfernt, beugte sich langsam tiefer. Unsere Lippen berührten sich zart. Er legte leicht seinen Kopf schief, damit er meine Lippen besser erreichen konnte, ohne dass sich unsere Nasen im Weg standen. Meine Augenlider flatterten, wollten sich schließen, um diesen Kuss voll und ganz zu genießen, mit der ganzen Bandbreite des Tastsinnes, der sich nur entfaltete, wenn man die Augen schloss und damit einen der anderen Sinne abschaltete.
Sanft zog er mich noch näher an sich heran. Unsere Lippen drückten sich noch ein wenig fester aufeinander, wollten das in ihnen pulsierende Blut spüren, den gleichmäßigen, jedoch immer heftiger durch die Adern gepumpte Puls fühlen. Die Schokolade in mir schmolz dahin und bildete eine weitläufige Pfütze unter mir. Fast zwei Wochen lagen zwischen diesem Kuss und dem Abschiedskuss, den ich ihm auf demselben Gelände, auf einen der Bahnhofsgleise gegeben hatte. Zwei Wochen mussten aufgeholt werden – jetzt, sofort, an diesem Ort und in dieser Minute.
„Nehmt euch ein Hotel!“, brummte eine äußerst missgelaunte Stimme hinter mir und rempelte unsanft gegen meine Ferse, so dass ich leicht das Gleichgewicht verlor und damit auch unwillkürlich den Kontakt zu seinen Lippen.
Ich blinzelte verwirrt, trunken von dem Kuss, krallte mich innerlich an diese Berührung, an die Erinnerung und keuchte leise, als mir klar wurde, dass wir nicht nur den ganzen Verkehr aufhielten, sondern auch eine äußerst öffentliche Peepshow boten. In unmittelbarer Nähe hatte sich eine Gruppe von älteren Frauen zusammengetan, die leise tuschelten und immer wieder verärgerte Blicke in unsere Richtung schickten. Der Kerl, der mich angerempelt hatte, drehte sich noch einmal um und schien mich mit seinem Blick erdolchen zu wollen, bevor er sich an uns vorbei schob, die Glastüre aufschwang und auf das Außengelände verschwand. Mir war irgendeine entsprechende Antwort auf den homophoben Tonfalles des Mannes auf der Zunge gelegen, doch ehe ich sie in der richtigen Reihenfolge zurechtlegen konnte, war auch schon die Glastüre hinter ihm zugefallen und er aus meinem Sichtfeld verschwunden.
Ich räusperte und richtete mich auf. Wir hielten uns immer noch an der Hand. Ich zog André auf die Beine. Willig ließ er sich aufhelfen und rieb noch einmal mit der flachen Hand über seine Brust. Sein Lächeln war geblieben. Er sah mich damit an und die Welt war wieder in Ordnung.
Wir nahmen uns ein Taxi zu meiner Wohnung.
Meine Behausung war zwar klein, nur ein Wohn/Schlafzimmer mit Küche und Bad. Für mich genügte es. Wenn André bei mir gastierte, lagen wir eh die ganze Zeit eng beieinander. Durch seine vielen Geschäftsreisen blieben uns stets nur wenige Tage oder auch nur Stunden, um uns zu genießen. Wir wussten diese jedoch ausgiebig zu nutzen.
Das Taxi hielt vor dem Coffee-Shop an, über welchem sich meine Wohnung befand. André und ich hatten uns während der ganzen Strecke an der Hand gehalten und uns immer wieder verliebte Blicke zugeworfen. Unser beider Gedanken waren bereits in unserer Wohnung, wo wir auf meiner weit ausgebreiteten Schlafcouch ganze zwei Wochen nachzuholen wussten.
André hievte seinen schweren Trolley aus dem Kofferraum und stellte ihn neben mir ab. Ich drehte mich flüchtig nach meiner Wohnung um, überflog die Fenster, die zur Straßenseite zeigten, eine Angewohnheit, die mir immer erst auffiel, wenn ich mich selbst daran erinnerte, wie bescheuert das war. Auch wenn ich von der Bushaltestelle nach Hause lief, sah ich hoch und ließ meinen Blick über die drei Fenster gleiten. Warum ich das tat, wusste ich selbst nicht. Es passierte einfach so.
Gleichzeitig hatte ich die Hand auf den Kofferraumdeckel gelegt und warf ihn zu.
Was ich allerdings nicht bemerkt hatte, war, dass sich André an der Kante zum Kofferraum abstützte, einen Schuh hob und dort irgendwas richtete. Beinahe gleichzeitig, wie ich im Augenwinkel erkannte, wie er sich leicht zu seinem Schuh beugte, die linke Hand auf der Kante, sah ich auch den Kofferraumdeckel zufliegen. Es blieb jedoch keine Zeit mehr, den von mir verursachten Schwung aufzuhalten.
Andrés Schrei ging mir durch Mark und Bein.
Nach der obligatorischen Schrecksekunde beeilte ich mich, den Kofferraumdeckel wieder zu öffnen. André sank mit einem schmerzerfüllten Stöhnen in die Knie, seine linke Hand an die Brust gepresst.
Drei Mal, flüsterte mir ein äußerst gehässiges Teufelchen in mein Ohr.
Nein, sagte ich mir. Das durfte nicht sein. Nicht schon wieder.
Ich ließ mich zu André auf den Boden nieder. „Tut mir leid!“, rief ich immer wieder. Brennende Scham und verzehrende Sorge wechselten sich in rascher Folge in mir ab. Mein Herz raste wie wild. Glühende Angst stülpte sich über mich und drohte mich zu vernichten.
„Scheiße, Florian!“, zischte André, stöhnte laut, presste seine Finger hart gegen seine mit Erdbeersaft besudelte Brust und wiegte immer wieder mit seinem Oberkörper vor und zurück.
„Entschuldige, ich hab nicht gesehen, dass du ...“ Ich verstummte, als er seinen Kopf hob und mich wieder mit diesem stechenden, hasserfüllten Blick ansah, wie damals, als ich ihm zum wiederholten Male heißen Kaffee verpasst hatte.
Meine Wangen waren bereits rot vor Scham. Nun füllten sie sich auch noch mit Sorge und Panik. Ich schluckte hart und hob eine Hand, um sie tröstend auf seine Schulter zu legen. Ich verfehlte sie jedoch. Ganz sicher war ich mich nicht, ob sich mir André absichtlich entzogen hatte, oder ob dies rein zufällig geschah, weil er seinen Körper immer wieder vor und zurück wiegte, um den Schmerz besser zu bewältigen zu können.
Er nahm seine rechte Hand weg und besaß sich die Bescherung.
Ich sog erschrocken die Luft ein. Seine Finger waren in einer ungesunden blauen Farbe angelaufen. „Wir fahren sofort ins Krankenhaus“, entschied ich.
Der Taxifahrer war wieder aus seinem Wagen gestiegen, als er bemerkt hatte, dass an seinem Heck etwas nicht stimmte. Als ich ihm zunickte, warf er den Koffer wieder in das Heck. Ich half André auf und führte ihn zum Wagen zurück. Er stöhnte noch immer vor Schmerz und presste die Hand an seine Brust. Mir war das so unsagbar peinlich. Am liebsten würde ich das rückgängig machen, oder gar seine Finger gegen meine austauschen. Auch wenn ich dadurch nicht arbeiten konnte und wahrscheinlich verrückt wurde, wenn ich untätig zuhause rumsitzen musste. André hatte an diesem Tag schon genug durchgemacht und eigentlich wollten wir das Wochenende genießen.
Scheiße nochmal. Warum musste das auch passieren? Hätte ich nicht besser aufpassen können? Warum musste ich mich auch einmischen und die Klappe des Kofferraumes zuschlagen? Warum hatte ich mich vorher nicht vergewissert, dass nichts im Weg war, bevor ich der Klappe einen Schlag verpasste?
André hatte den Kopf gegen die Seitenscheibe gelehnt, die Augen geschlossen und beide Hände noch immer auf das rot verfärbte Hemd gepresst. Dieser Anblick ließ mein Blut gefrieren. Es erweckte im ersten Moment den Eindruck eines Blutbades. Ich hatte ihn verletzt. Seine Hand war womöglich nicht mehr zu retten. Ich machte mir schwere Vorwürfe und wurde immer nervöser, je näher wir der Notaufnahme kamen. Als der Wagen vor dem Portal anhielt, war ich ein Nervenbündel. Ich sprang aus dem Wagen, beeilte mich Andrés Sachen aus dem Kofferraum zu holen, während er stöhnend auf der anderen Wagenseite rauskletterte und schon Richtung Eingang marschierte. Rasch bezahlte ich den Taxifahrer und trottete schuldbewusst hinterher.
Wir sprachen nicht viel, während ein blaubekittelter Pfleger Andrés gequetschte Finger untersuchte, röntgte und mit einem Schienenverband versah. Zum Glück war nichts gebrochen. Hauptsächlich beobachtete ich André, wie er offenbar verzweifelt darum bemüht war, die Fassung zu bewahren und mich nicht anzusehen.
Er war sauer auf mich.
Vollkommen verständlich.
Ich hatte ihm eben die Finger zerquetscht. Unabsichtlich oder nicht. Es war passiert und würde unserem Wochenende und seine nächsten drei oder vier Wochen nicht gerade angenehm machen. Am Montag wollte er direkt von München aus zu seinem nächsten Termin nach Oslo fliegen. Womöglich hatte ich ihm diesen Plan vermasselt. Womöglich bekam er nun mit seinem Arbeitgeber Schwierigkeiten.
Ich seufzte leise und ließ mein Kinn auf die Brust sinken.
Ich war aber auch ein Idiot. Ständig passierten mir irgendwelche saublöden Dinge, die Menschen in meiner Umgebung arg in Mitleidenschaft zogen. Ich wünschte, dies würde endlich ein Ende haben. Ich wünschte es für mich und André. Denn er war der Erste, der es länger mit mir aushielt. Das lag vielleicht auch an den vielen Pausen dazwischen, die wir machen musste, weil er ständig unterwegs war. Wenn man die Stunden und Tage zusammenzählte, die wir bereits miteinander genießen durften – und in denen wohlgemerkt kein einziges Mal etwas passiert war – dann kam ich auf fast dieselbe Zeit, die auch andere brauchten, um zu erkennen, dass sie um ihre Gesundheit zu schützen, lieber Reißaus nehmen sollten.
„Florian.“ Seine Stimme war sanft, beinahe nachsichtig.
Ich hob den Kopf und begegnete einem zaghaften Lächeln. Seine hellen Augen glitzerten im leicht flackernden Schein der Neonröhre über unseren Köpfen. Hoffnung überkam mich, als er seine Lippen zu einem Kussmund zusammenzog und mir per Luftpost zukommen ließ.
„Es tut mir so leid“, formte ich lautlos mit meinen Lippen. Der Pfleger legte eben die letzten Bandagen an und klebte die Enden mit einem Pflaster fest.
André schüttelte leicht den Kopf und lächelte milde. Er schien den ersten Schock und die Bestürzung über das, was passierte, überwunden zu haben. Oder aber die Schmerzmittel, die er vor ein paar Minuten bekommen hatten, wirkten endlich. Was auch immer. Ich war froh, ihn wieder lächeln zu sehen, auch wenn es noch etwas gequält aussah. Er würde mich sicherlich keinen einzigen Kofferraum mehr anfassen lassen, so wie er mir nahelegte, auf Kaffee zu verzichten. Ich hatte ihm diesen Gefallen gern getan, wobei … heute hatte sich herausgestellt, dass es nicht am Kaffee selbst gelegen hatte. Wenn er Kakao, Tee oder auch Erdbeersaft in der Hand gehalten hätte, als ich ihn bei unserem ersten Aufeinandertreffen umgerannt hatte, wäre es auf dasselbe herausgekommen.
Später als vorgesehen, kamen wir endlich in meiner Wohnung an. Ich trug ihm seinen Koffer in den ersten Stock, bestellte für uns beide Pizza und wenig später saßen wir in der Küche, verputzten unsere Pizzen und lachten über das Missgeschick. Die Schmerzmittel schienen noch immer zu wirken, denn er gestikulierte mit beiden Händen, während er mir ausführlich von seinen Reisen berichtete. André war schon fast überall gewesen, stellte ich lächelnd fest und lauschte seiner Erzählung von einer Safari in Afrika, wo er Auge in Auge mit einem leibhaftigen Löwen gewesen war, nur durch die Scheibe eines Geländewagens getrennt. Ich wünschte, ich könnte ihn auf seinen Reisen begleiten, dieselben Erlebnisse haben – mit ihm und dann später, wenn wir Zeit hatten, im Hotelzimmer vergnügen.
Mit André zusammen zu sein, war irgendwie Erholung für mich. Ich verspürte keinen solchen unbändigen Drang, irgendwas tun, sagen oder unternehmen zu müssen. In seiner Anwesenheit konnte ich still sitzen bleiben und ihm entspannt zuhören. Ich sah die Bilder direkt vor mir, wie ihm das Adrenalin überflutete Blut durch die Adern rauschte, als der Löwe nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, sein Maul öffnete und die Glasscheibe ableckte. Es war angenehm, einfach dazusitzen, sich fette Salamipizza in den Mund zu schieben und ihm zu lauschen. Er verstand es auch, seinen Bericht treffend umzusetzen, formte mit seinen Händen die Größe des gigantischen Maules und den noch gigantischeren Reißzähnen, die sich da vor ihm aufgetan hatten. Ich lächelte glücklich, denn mich überkam plötzlich das Gefühl, gefunden zu haben, wonach ich unbewusst mein ganzes Leben lang gesucht hatte. André war wie ein Ruhepol für mich. Umso unangenehmer war mir mein Missgeschick. Ich hoffte inständig, dass er mir das nicht übel nahm.
Lächelnd senkte ich den Kopf, um mir dabei zuzusehen, wie ich ein weiteres Viertel meiner Pizza auf die Finger nahm. Als es plötzlich krachte, einen dumpfen Aufprall gab und ich Andrés wütendes Aufschreien vernahm.
Erschrocken hob ich den Kopf. André war verschwunden, genauer gesagt, er hockte auf dem Boden und fluchte ungehemmt wie ein Bauarbeiter, der den falschen Nagel getroffen hatte. An dieser Stelle wiederhole ich jetzt mal nicht den genauen Wortlaut, mit dem André seinen Schmerz und seine Wut laut werden ließ. Ich hatte ohnehin schon rote Ohren, von dem was eben passiert sein musste.
Ich sprang von meinem Stuhl und umrundete schnell den Tisch, um ihm zur Hilfe zu eilen. Doch er hob blitzschnell seine Hände, als wollte er von mir nicht berührt werden, als sei ich für ihn ätzende Säure, die hässliche Wunden hinterließ, wenn ich ihn berührte.
„Fass mich nicht an!“, zischte er hasserfüllt, hievte sich umständlich auf die Beine und starrte mich einen Moment wieder so jähzornig und überreizt an, wie in der Banketthalle des Hotels, als ich ihm fünf frisch bis an den Rand mit dampfenden Kaffee aufgefüllte Tassen über den Kopf geschüttet hatte. Ein kleines, rotes Rinnsal rann ihm aus dem Mundwinkel. Unter seinem Kinn hatte sich eine kleine Stelle blau gefärbt. Er musste mit dem Kinn an der Kante aufgeschlagen sein, als der Stuhl unter ihm zusammengebrochen war.
Unsagbarer Schmerz machte sich in mir breit. Wehmütig sah ich ihm hinterher, als er aus der Küche eilte. Ich ließ den Kopf sinken und starrte entgeistert auf den Stuhl.
Er war unter ihm zusammengebrochen. Einfach so. Dabei war er der stabilere der einzigen beiden Stühle meiner Wohnung. Beide bestanden aus massivem Kiefernholz und standen so fest und stabil auf ihren vier Beinen, dass ich sie als Leiterersatz nahm, wenn ich eine Glühlampe auszuwechseln hatte. Ich konnte mir nicht erklären, warum auf einmal die Leimstellen nachgaben, eines der Beine an der zusammenleimten Stelle regelrecht zersplitterte und den Stuhl mitsamt der Person, die auf ihm saß, kippen ließ. So schwer war André doch gar nicht. Siebzig oder fünfundsiebzig, allerhöchstens achtzig Kilo – was ich jedoch nicht glaubte. Der Stuhl hatte schon wesentlich mehr Gewicht ausgehalten. Also davon konnte er nicht zusammengebrochen sein.
Vier Mal, hörte ich die kleine gehässige Stimme in meinem Ohr wieder.
Nein, das durfte einfach nicht sein.
Fast erschien es mir, dass nicht eine höhere Macht, sondern ein kleines Teufelchen seine Finger im Spiel hatte. Sie gönnte uns einige Monate Glückseligkeit und nun tat es alles, um uns wieder auseinander zu bringen.
Denn … ich war mir sicher, dass dieses Unglück das Fass zum überlaufen gebracht hatte. Wenn André wieder zurückkam – vermutlich war er ins Badezimmer geflüchtet, um die aufgeschlagene Stelle zu kühlen – würde er seinen Trolley nehmen und schleunigst das Weite suchen. Es war ungesund, mit mir zusammen zu sein. Ich musste jedoch eingestehen, dass es noch nie so schlimm war, wie jetzt mit André. Die Trennungsgründe meiner vorherigen Beziehungen handelten allesamt von meiner Unpünktlichkeit und meiner Unruhe. Sie wurden nervös in meiner Nähe oder hatten die Schnauze voll, wenn sie zum dritten Mal eine Wartezeit von einer halben Stunde oder länger auf sich nehmen mussten.
Das mit André war schon heftig.
Er schien das Pech anzuziehen, wie ein Stück verrottendes Fleisch die Schmeißfliegen. Vier Unglücksfälle an einem Tag, das hatten wir nicht einmal zu unserer Anfangszeit geschafft. Da hatte sich das Ganze auf zwei Tage verteilt.
Aber soviel Pech auf einen Haufen, konnte wirklich nicht sein. Das ging schon nicht mehr mit rechten Dingen zu. Ein böses Omen, ein Fluch, ungünstige Sternenkonstellation. Irgendwas oder irgendjemand musste etwas gegen uns haben. Das konnte einfach nicht wahr sein.
Ich konnte es wahrlich verstehen, wenn er mir jetzt den Laufpass gab oder mich gar zum Teufel schickte. Er musste einfach denken, dass seine Pechsträhne an mir lag und dass es für seinen Leib und für die Beiträge seiner Krankenversicherung besser wäre, wenn er sich von mir trennte.
Fluchend stellte ich mich wieder auf die Beine und gab dem blöden Stuhl einen harten Tritt, worauf er an den Küchenschrank flog.
Verflucht nochmal, welcher Vodoo-Zauber auch immer dafür verantwortlich war, dass André heute schon zum viertem Mal, und das relativ kurz hintereinander, in Mitleidenschaft gezogen wurde, es musste aufhören.
Ich mochte ihn. Ich wollte nicht auf ihn verzichten. André tat mir so gut. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe, und wenn er sich so an mich presste und ich seinen harten, wilden Körper direkt auf mir spürte, vergaß ich einfach alles um mich herum. Es war ein schönes Gefühl, dann nicht mehr Florian Peters, der ewig zu spät kommende Chaot zu sein, sondern nur noch Florian, einfach ein Mann, der geliebt wurde und einen Mann liebte, der bereit gewesen war, sein ganzes Leben umzukrempeln, um mit ihm zusammen sein zu können.
Als wir das letzte Mal miteinander via Skype gechattet hatten, gestand er mir, dass er mit dem Gedanken liebäugelte, seine Wohnung in Berlin aufzugeben und nach München zu ziehen, dass es vollkommen gleichgültig war, von wo aus, er seine Reise in die Welt startete. Ich war so gerührt gewesen, dass sich meine Augen mit Tränen gefüllt hatten und ich schnell die Kamera an meinem Laptop verstellen musste, damit er es nicht sah.
Natürlich war das nach den drei Monaten, in denen wir schon zusammen war, ein gewagter Gedanken, zumal wir noch nicht wirklich viel Zeit miteinander verbringen konnten. Aber allein schon die Tatsache, dass er über ein später nachdachte, darüber wie es mit uns beiden in Zukunft laufen könnte, hatte mich vor Glück übersprudeln lassen und ich musste mir nach diesem Gespräch erst einmal kaltes Wasser ins Gesicht schütten.
Doch nun war alles vorbei.
André würde sicherlich nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Nicht nach dem heutigen Tag und nachdem was alles passiert war. Er würde seines Lebens nicht mehr sicher sein. Wenn es so weiterging, würde er irgendwann mit seinem Leben bezahlen müssen.
Dieser Gedanke versetzte mich in schiere Panik und ich lief hypernervös in der Küche auf und ab.
Das wollte ich alles nicht. Das war alles nur ein verdammter Zufall.
Ich wollte nicht, dass er zu Schaden kam. Wer auch immer dafür verantwortlich war, musste unbedingt damit aufhören.
Wo war mein Rettungsengel, der stets im entscheidenden Augenblick zur Stelle war und alles wieder ins rechte Lot rückte? Diesmal schien er auf Urlaub zu sein und mich kläglich im Stich zu lassen. Ich hatte gehofft, ihm für das Geschenk André ausreichend gedankt zu haben. Oder war das nicht genug gewesen?
Was hätte ich denn sonst noch tun können?
Mit einem tiefen Seufzten ließ ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen, setzte die Ellbogen auf die Tischkante und stützte mein Gesicht in meine Handflächen.
Noch immer befand sich André im Badezimmer. Ich spielte mit dem Gedanken, zu ihm zu gehen, nachzufragen, ob er Hilfe brauchte, ihn irgendwie zu unterstützen. Doch als sein hasserfüllter Blick in meine Erinnerung zurückkehrte, das wütende Zischen, mit dem er mich abgewehrt hatte und die unmissverständliche Aufforderung, tunlichst meine Finger von ihm zu lassen, verwarf ich diese Idee wieder.
André war für mich verloren. Er würde mir das nie verzeihen können. Er war lebensmüde, wenn er bei mir blieb.
Resigniert, traurig und hoffnungslos vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. Ein Geräusch ließ mich wieder aufhorchen und ich hob den Kopf.
Noch bevor ich es richtig realisieren konnte, schnellte ein breites Grinsen auf mein Gesicht.
Dort, im Türstock zum Flur stand André. Er hatte sämtliche Handtücher aus dem Schrank im Bad gerissen und sie sich als Schutzpanzer um Arme, Beine, Rumpf und sogar den Kopf geschlungen, so dass nur noch sein Gesicht heraus spitzelte. Wie er das mit verbundener Hand schaffen konnte, war mir schleierhaft – war auch scheißegal. Mit dieser Handtuchpolsterung sah er aus wie ein quietschbuntes Michelinmännchen, das mich trotzig und herausfordernd ansah und das war einfach zum anbeißen süß.
„Ich weiß nicht, was dieser ganze Scheiß heute sollte, doch ich bin nicht gewillt, aufzugeben“, gab er entschlossen von sich.
Vor Freunde überquellend, sprang ich von meinem Stuhl. Ich wollte ihn umarmen, mich ihm an den Hals werfen, ihn an mich drücken, mich vor Dankbarkeit windend, an ihm reiben – doch weit kam ich nicht.
Als ich mich vorhin auf den Stuhl gesetzt hatte, hatte ich meine Füße um die Stuhlbeine gehakt. Bei meiner übereilten Reaktion, blieb ich mit einem Schuh an einem der Stuhlbeine hängen. Der Stuhl schnellte unter mir heraus und polterte mir in den Weg. Ich stolperte unweigerlich über ihn. Er drehte sich unter mir und ich versuchte, in einem Anflug von geistesgegenwärtigem Reflex über ihn hinweg zu springen – was mir jedoch vereitelt wurde, da mein Sprung aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sich der Stuhl fortbewegte, nicht weit genug ausfiel. Noch während die Stuhllehne an der Innenseite meines Beines nach oben schrammte, wurde mir mehr und mehr bewusst, dass dieser Weg unweigerlich in eine Sackgasse führte – im wahrsten Sinne des Wortes.
Unbarmherzig von der Schwerkraft in mein Verderben geschleudert, prallte ich beinahe ungebremst auf dem Boden auf und die Stuhllehne erreichte ihr Reiseziel genau zwischen meinen Beinen. Mit einem ziemlich ungewöhnlichen Laut klappte ich auf dem Boden zusammen, presste sofort beide Hände in meinen Schritt und rollte mit angezogenen Knien und laut vor Schmerz stöhnend von einer Seite zur anderen.
Das schallende Lachen über mir versuchte ich rigoros auszublenden. In diesem Moment gab es wichtigeres, als ihm seine Schadenfreude zu verbieten.
Viele quälende Sekunden lang glaubte ich, dass der Schmerz nie wieder aufhörte. Mein ganzer Unterleib brannte lichterloh. Ein Brennen, dass sich jäh und brutal in meinem Unterleib fortsetzte und dort alles niederschmetterte, was sich ihm in den Weg stellte.
Plötzlich fühlte ich etwas Eiskaltes auf meiner Hand, die sich nach wie vor fest auf meinen Schritt presste. Ich öffnete keuchend die Augen. André hatte die angebrochene Packung Vanilleeis aus meinen Gefrierschrank geholt, mehr war auch nicht dort drinnen gewesen, und drückte sie mir nun auf die schmerzende Stelle. In seinem Gesicht lag noch immer das Lachen, dass ich vorhin so vehement weggeklickt hatte, um mich voll und ganz auf den Schmerz zu konzentrieren. Seine Augen leuchteten, strahlten mich förmlich an. Wenn ich nicht vor Schmerz vergangen wäre, dann hätte mich dieses Leuchten sicherlich berühren können, doch immer noch kämpfte ich gegen die reißenden Wellen gleißenden Schmerzes an.
„Weißt du was?“, kicherte André an meinem Ohr und küsste es sanft. „Ich hab keine Ahnung, was je aus uns beiden werden wird, aber ich denke mal, es wird lustig.“
Lustig … ?!
Ich stöhnte ungehalten, presste das Vanilleeis zwischen meine Beine und versuchte es mir wahrlich vorzustellen. Wir beide, der notorische Zuspätkommer und Chaot und der Pechvogel, das konnte wahrlich lustig werden – zumindest für das Personal der Notaufnahme und für die Versicherungsvertreter.
Lippen fingen mich ein, atmeten mein schmerzerfülltes Keuchen ein und verschlangen mich regelrecht. Auch wenn mein brennendes Inneres anderer Auffassung war, wem ich meine Aufmerksamkeit gönnen sollte, ich konzentrierte mich nur noch auf diese Lippen und die Zunge, die sich zwischen meine Zähne zwängte. Und auf die Hände, die mir unter das Hemd fuhren und meinen Körper einnahmen. Und auf die verlangende Hitze, mit der sich Andrés harter, betörender Körper an mich presste und mich von meinem Leid ablenkte.

Impressum

Texte: Ashan Delon (C) 2011
Bildmaterialien: www.morguefile.com
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2011

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