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Das Cliquentreffen





„ICH WILL DA NICHT HIN!“, bellte ich wütend ins Telefon und betonte jedes einzelne Wort. Mir war es scheiß egal, wenn Monas Ohr nun taub war. Meine Zwillingsschwester Ramona nervte mich seit zwei Wochen mit diesem blöden Cliquentreffen, das sie seit Wochen oder besser gesagt seit fast einem Jahr organisierte. Als sie mir Sommer letzten Jahres davon erzählte, hielt ich es noch für ein Hirngespinst. Ramona hatte ständig irgendwelche wahnwitzige Ideen im Kopf. Die wenigstens kamen in die Ausführung, und nur ganz wenig auserlesene erreichten auch die Endphase. Ich hatte nicht erwartet, dass sie es schaffte, etwas derart aufwändiges, wie ein Cliquentreffen auf die Beine zu stellen. All die seit zehn Jahren in alle Winde verstreuten Typen wieder ausfindig zu machen, bedeutete ein enormer Zeit- und Arbeitsaufwand. Dank Facebook, Stayfriends und was es noch alles für Social-Netzwerke gab, hatte sie es tatsächlich geschafft, den Großteil unserer zeitweise auf über fünfzig Personen angewachsenen Jugendclique ausfindig zu machen und sie auf den Abenteuerspielplatz einzuladen, wo wir bei einem Lagerfeuer alte Erinnerungen auffrischen sollten. Seit Wochen erzählte sie mir Anekdoten aus unserer bewegten Vergangenheit, wie auch die neuesten Neuigkeiten längst verschollen geglaubter Freunde.
Obwohl ich mich damals bei jeder Aktivität der Clique an vorderster Front befand, besaß ich nun keinerlei Lust darauf, mich einen Abend lang mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen. Nicht dass ich nur schlechte Erfahrungen gehabt hatte, oder keinen der alten Freunde mehr zu Gesicht haben wollte. Ich hatte nur gute Erinnerungen. Wir hatten stets einen Riesenspaß. Ich besaß einen anderen Grund, warum ich nicht auf eine Feier gehen wollte.
„Nur weil du schwul und Single bist, heißt das noch lange nicht, dass du nicht mehr leben darfst“, kam es wenig beeindruckt von meinem Wutausbruch aus dem Telefon. „Komm schon, Tommi! Es ist jetzt vier Monate her. Fang endlich an zu leben!“
Vier Monate, dachte ich im Stillen. So lange schon? Meine Wut über Monas Beharrlichkeit verpuffte beinahe urplötzlich. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, dass Henning mit mir Schluss gemacht hatte. Gleichzeitig aber auch, als sei es erst gestern gewesen Nach wie vor wurde ich um viertel nach sechs unruhig. Das war die Zeit, ab der ich mir Sorgen machte, wenn Henning nach der Arbeit noch irgendwo anders hinging und sich verspätete. Die erste Zeit nach unserer Trennung war es nicht auszuhalten, doch allmählich, nachdem nun vier Monate vergangen waren, legte sich meine Unruhe.
Ich ertappte mich dabei, wie ich auf die Uhr schielte. Es war kurz vor fünf, noch keine Zeit für Henning.
„Es wird sicherlich lustig“, plapperte Mona weiter. „Und muntert dich ein wenig auf. Mark kommt. Fred auch. Das waren doch beide deine besten Freunde, oder? Ob Mirko kommen kann, weiß er noch nicht. Er ist in Amerika.“
Mark, Fred. Mirko, dachte ich sehnsüchtig. Ja, wir waren ein echt toller Haufen. Mit den dreien konnte man alles anstellen. Wir vier waren seit dem Sandkasten zusammen und stets unzertrennlich gewesen. Ein Quartett, dass man nur komplett antraf. Mark, der eigentlich Markwart hieß und jeden verdrosch, der seinen richtigen Namen aussprach. Fred, der lange Lullatsch, der schon immer größer als wir anderen waren und Mirko, der kleine Dicke, der immer etwas zu essen dabei hatte, wohin er auch immer ging.
Als wir die Schulen wechselten, verliefen sich unsere Wege und auch die Kommunikation untereinander schlief mehr und mehr ein. Von Mirko hatte ich das letzte Mal etwas vor fünf Jahren gehört, da waren wir uns auf einem Jahrmarkt zufällig über den Weg gelaufen. Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt, denn er hatte gewaltig abgenommen. Aus dem übergewichtigen Jungen war ein schlanker, gutaussehender Kerl geworden.
„Und Axel kommt auch“, berichtete sie weiter. „Du weißt schon, der mit dem Weinlager.“ Sie lachte, als sie sich wie ich an unsere Besäufnisse erinnerte. Axel versorgte uns regelmäßig aus dem Weinkeller seiner Eltern mit erlesenen Tropfen, die wir Jugendlichen wie Wasser hinunter kippten. Weder seine noch meine Eltern hatten jemals etwas mitbekommen. Ich würde vermutlich noch heute gehörig den Hintern versohlt bekommen, wenn sie es erführen.
Ich musste unwillkürlich ebenso kichern, als ich an den schlaksigen Jungen dachte, der stets mit einer gut gefüllten Sporttasche zum Treffen gekommen war. Diese Besäufnisse hatten es echt in sich. Mir fiel unversehens das Zeltlager ein, das wir irgendwann mal am Baggersee abhielten. Am Schluss waren von den gut fünfzig Leuten nur noch eine Handvoll übrig geblieben. Sechs, sieben oder acht, ich konnte mich nicht mehr so richtig daran erinnern. Ich war zu betrunken. Jedenfalls waren es nur noch Jungs. Irgendwann kam jemand auf die Idee einen Wettbewerb im Wichsen abzuhalten. Wer am weitesten und am schnellsten konnte. Der Großteil dieser Nacht war im Alkoholnebel verschwunden. An vieles konnte ich mich nicht mehr erinnern. Das Meiste war dem obligatorischen Filmriss der durchzechten Nacht zum Opfer gefallen. Doch eines flammte unwillkürlich auf, wenn ich an diese Nacht am See dachte: meine Hand am Schwanz eines Jungen, den wir alle wegen seinen langen, blonden Locken und seiner dicklichen Puttengestalt Rauschgoldengel nannten. Wie er aufgrund meiner Bemühungen kam und laut meinen Namen stöhnte und ich mich arg zusammenreißen musste, um nicht lauthals loszulachen. Was weiter passierte, wusste ich nicht mehr. Das ging ebenso unter, wie der Morgen danach, wo ich in meinem Bett aufwachte. Ich wusste beim besten Willen nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen war.
Mein Grinsen wurde von Monas Stimme unterbrochen.
„Er freut sich schon darauf, dich wieder zu sehen“, plauderte sie ungehindert weiter. „Und er bringt deinen Lieblingswein mit.“ Ich konnte ihr kindisches Grinsen beinahe bis zu mir sehen. „Also, kommst du?“
„Ich will nicht“, entgegnete ich, allerdings lange nicht mehr so überzeugt. Es wäre sicherlich schön, all die Typen wieder zu sehen und in alten Erinnerungen zu schwelgen. Und wenn Axel dieses rotes Gesöff mitbrachte, mit dem ich mir bereits in meiner Jugend einen tierischen Rausch angesoffen hatte, würde ich vielleicht Henning endlich vergessen.
„Natürlich willst du“, verfügte sie energisch, wofür ich sie am liebsten sofort wieder angeschrien hätte. Es verflog jedoch augenblicklich, als sie einfach weitersprach. „Ich mach mir Sorgen um dich, Bruderherz. Du musst endlich wieder unter Leute. Du brauchst was zum Kuscheln, sonst trocknest du noch vollständig aus.“
Ich musste unwillkürlich kichern. So nervig wie sie manchmal war, sie konnte auch ziemlich rührend sein.
„Ich spendiere liebend gern etwas von meinem sauer verdienten Geld, um dir einen Callboy zu kaufen, nur damit du wieder mal etwas nettes erfährst. Ich glaube nicht, dass Henning nach den vier Monaten noch so herumhängt wie du. Lass ihn endlich los und kuck dich nach was anderem um.“
Vier Monate, dachte ich abermals und musste aus unerklärlichen Gründen wieder an das Erlebnis von vor zehn Jahren denken, als wir alle sturzbetrunken an uns rummachten und ich irgendwie den Schwanz von Rauschgoldengel in meine Hände bekam. Es hatte mir gefallen, als er laut meinen Namen stöhnte. Das war vermutlich der Anfang allen Übels gewesen. Es hatte etwas in mir ausgelöst. Ein Gefühl, ein Kribbeln, eine Erkenntnis. Einige Zeit später bemerkte ich, dass mir die strammen, harten Ärsche der Kerle besser gefielen, als die wabbeligen, weichen der Mädchen und als ich Henning kennenlernte, war es bereits schon sonnenklar. Ich stand auf Jungs.
„Du schlüpfst jetzt in ein schickes Hemd, kämmst dir die Haare und kommst rüber. Anderenfalls – ich schwöre es dir – komme ich mit der ganzen Bande zu dir.“ Ihre Stimme klang bedrohlich genug, so dass ich endlich nachgab. Ich kannte sie. Sie würde es wagen, ihre Drohung wahr zu machen.
Was hatte ich denn schon zu verlieren, außer einem vergnüglichen Abend, an dem ich alte Freunde wiedersehen konnte.
„Okay“, sagte ich schließlich. Ich hörte noch Monas erleichtertes Aufschnaufen, ehe ich die Verbindung trennte und mich in mein Schlafzimmer begab, um mich in Schale zu werfen.
Eine halbe Stunde später lief ich auf dem Abenteuerspielplatz ein, in welchem wir bereits als Jugendliche am Lagerfeuer Marshmallows und Würstchen grillten und erste Erfahrungen in Sex, Alkohol, Nikotin und – ich muss zu meiner Schande gestehen – auch Drogen machten. Aber mehr als gelegentliche Joints, die irgendjemand mitgebracht hatte, war nicht gewesen. Zum Glück hatte ich nach einer ausgiebigen Kotzorgie aus meinen Fehler gelernt und die Finger davon gelassen.
Das Cliquentreffen war bereits im vollen Gange, als ich eintraf. Ich erkannte auch sogleich einige der Gesichter wieder und begrüßte sie freudig. Bei anderen musste ich scharf nachdenken. Einige haben sich ziemlich verändert, wie Mirko, waren kaum wieder zu erkennen. Da nicht immer alle regelmäßig zu unseren früheren Treffen gekommen waren, fielen mir nicht immer auf Anhieb die Namen ein. Ich musste etliche Male nachfragen, um meinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge zu helfen. Es gab auch welche, die kannte ich nicht, auch wenn ich mir ihre Namen geben ließ. Ramona hatte offensichtlich auch diejenigen eingeladen, die nur gelegentlich gekommen waren. Es dauerte nicht lange, da hatte mich die allgemeine Feier- und Wiedersehenslaune voll gepackt und ich vergaß Henning und meine Einsamkeit.
Mit Mark und Fred unterhielt ich mich ziemlich lange. Wir erzählten uns Anekdoten aus unserem bewegten Leben und lachten, bis uns die Bäuche weh taten. Mirko konnte leider nicht kommen. Er versprach jedoch, sobald er in Deutschland war, sich mit uns in Verbindung zu setzen, damit wir wieder was zu Viert unternahmen. Nun, da ich die anderen beiden des Quartetts wiedergesehen hatte, freute ich mich darauf.
Axel hatte eine ganze Kiste meines Lieblingsweines mitgebracht, von welchem wir gleich eine Flasche köpften und tranken – aber lange nicht mehr so verkannt, wie als Fünfzehnjährige. Inzwischen wusste ich einen guten Tropfen zu schätzen.
Es war bereits kurz vor Mitternacht, als mir ein weiteres unbekanntes Gesicht auffiel – vielleicht auch deswegen, weil er mich ständig beobachtete, als wartete er lauernd darauf, dass ich ihn bemerkte. Auch wenn er sich abseits des großen Lagerfeuers hielt, leuchteten seine hellen Haare im flackernden Licht des Feuers. Und irgendwie schienen da auch leichte Wellen drin zu sein, denn das Licht brach sich manchmal so merkwürdig darin. Das große Feuer in der Mitte des Platzes bot nicht genügend Licht, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Aus der Entfernung von gut zwanzig Meter konnte ich lediglich das helle Hemd und die dunkle Jeans ausmachen. Kurz entschlossen ging ich zu ihm und begrüßte ihn. Der Kerl lächelte schüchtern, als ich näher kam und stieß sich von dem Baum ab, an welchem er eine ganze Zeitlang gelehnt war und mich beobachtet hatte.
„Hey!“, rief ich. Die Geräuschkulisse aus quatschenden Gästen und dröhnenden Lautsprechern, erlaubte keine stimmbandschonende Unterhaltung. „Ich bin Thomas.“ Ich hielt ihm die Hand hin. „Thomas Richter.“
„Hey!“, gab dieser zurück, nickte langsam und reichte zögerlich seine Hand. Sie zitterte nervös. „Weiß ich.“ Sein Kehlkopf hüpfte sichtbar, als er offenbar schlucken musste. „Tommy.“
Ich nickte. „Und wer bist du?“
Er lächelte unsicher. „Tobias … Gratz.“
Der Name sagte mir überhaupt nichts.
„Du bist nicht oft auf den Treffen gewesen, oder?“, erkundigt ich mich neugierig. Ich selbst war beinahe bei jedem dabei und daher ziemlich bekannt bei allen.
„Eigentlich schon“, entgegnete er etwas enttäuscht. „Du erinnerst dich nicht mehr an mich?“
Ich musste den Kopf schütteln. Ein Tobias Gratz war mir gänzlich unbekannt. Allerdings nannten wir uns damals meist bei unseren Spitznamen. „Hattest du einen Spitznamen? Tobi?“, versuchte ich sogleich zu erraten.
Tobias drehte den Kopf zur Seite und schien sich für einen Moment für das Geschehen rund um das Lagerfeuer zu interessieren, ehe er mit seiner Aufmerksamkeit wieder zu mir zurückkehrte. „So in etwa“, gab er ausweichend von sich. „Tolle Party!“
Ich folgte seinem Blick und überflog das bunte Treiben flüchtig. Ja, Ramona hatte da was beachtliches auf die Beine gestellt. Ich war selbst überrascht. Das Cliquentreffen war ein voller Erfolg und jedem hier schien es Spaß zu machen.
„Ja“, gab ich freudig von mir. „Hätte nicht gedacht, dass noch so viele aufzutreiben waren.“ Ich kehrte zu ihm zurück und betrachtete ihn eingehend. Er sah wirklich gut aus, schlank, fast so groß wie ich. Das Hemd elegant, eng und figurbetont geschnitten. Die obersten Knöpfe standen offen, so dass ich einen Blick auf seine haarlose Brust werfen konnte. Die dunkle Jeans schmiegte sich eng an seine langen Beine. Die hellen, leicht welligen Haare schimmerten rötlich im Licht des Feuers. Das leicht vorgezogene Kinn, gab seinem schmalen Gesicht ein trotziges Aussehen. Er presste die Lippen aufeinander und malte offenbar vor Nervosität mit den Zähnen. Seine dunklen Augen hetzten unruhig hin und her und schien die Konfrontation mit meinem Blick zu vermeiden. Unwillkürlich fragte ich mich, warum er so nervös war. Es gab keinerlei Veranlassung dazu.
„Wo hast du damals gewohnt?“, versuchte ich einen weiteren Anhaltspunkt auf seine Identität zu finden.
Er zuckte etwas zusammen, als sei ihm diese Frage unangenehm. „Hinrichgasse“, antwortete er.
Ich überlegte kurz. Ich kannte diese Gasse. Jedoch wollte mir niemand einfallen, den ich je in dieser engen Gasse besucht haben könnte. Offenbar gehörte er doch zu denen, die nur gelegentlich gekommen waren und mit denen ich mich nur flüchtig angefreundet hatte.
„Was machst du jetzt?“, fragte ich weiter, um das Gespräch am Laufen zu halten. Irgendwie interessierte er mich. Etwas in mir begann sich zu regen und seine Fühler auszustrecken. Etwas, was schon seit mindestens vier Monaten im Tiefschlaf versunken war.
Tobias sah mich nervös an. Seine Lippen waren trotz des flackernden roten Lichtes des Feuers blass und blutleer. „Katalog“, antwortete er fast zu leise, als würde es ihm peinlich sein oder sich dafür schämen.
Ich legte den Kopf schief und glaubte mich verhört zu haben. „Du bist … was? Was bedeutet das? Katalog?“
„Für ein Versandhaus“, erklärte er mit verkniffenem Gesicht. Er sah aus, als wünschte er sich, seine Antwort am liebsten wieder zurücknehmen zu können.
Katalog ... Versandhaus … Ich konnte damit nichts anfangen. Machte er Werbung, Fotos oder gar Mode? Ich beäugte ihn eingehender. Vielleicht war er Modell, dachte ich innerlich grinsend. Dass er eine klasse Figur besaß, konnte ich nicht abstreiten. Er sah auf den Hochglanzseiten der Versandhauskataloge sicherlich zum anbeißen aus. In der Unterhosenabteilung war er sicherlich der Renner.
„Echt? Bei welchem?“, ging ich voll auf meine Idee ein. Meine Frage klang auch für mich eine Spur zu gierig – mit dem Modell im Hinterkopf. So als würde ich sofort losrennen und mir die neueste Ausgabe des Kataloges zu holen wollen.
Ein Ruck ging durch ihn, als kämpfte er mit seiner Antwort. „Ich … bei ...“ Er verstummte, als sich von hinten Arme um mich legten. Sein Mund blieb offen stehen. Seine Augen hatten sich geweitet. Ein Ausdruck des Entsetzens und der Enttäuschung huschte über sein Gesicht.
„Hey, ihr beiden!“, hörte ich Monas frohgelaunte Stimme.
Ich knurrte verhalten. Tolles Timing.
Ich widerstand jedoch der Versuchung, sie von mir zu stoßen. Sie war immerhin meine Schwester.
Tobias löste sich aus seiner Starre. Er murmelte ein leises „Entschuldigung.“, drehte sich um und verschwand in die Schatten zwischen den anderen Bäumen.
Prima! Danke Mona!
Ich warf sie von meinen Schultern und wirbelte herum. Eines hatte ich durch Tobias Reaktion erkannt. Ich war der Grund für seine Nervosität gewesen. Er war offenbar an mir interessiert und nun, da Ramona ihre Hände so eng um meinen Körper geschlungen hatte, musste er denken, sie sei meine Freundin.
„Was sollte das?“, schimpfte ich sogleich.
Mona kapierte sofort. „Ach, hab ich dich gerade bei was gestört? Auf der Jagd gewesen?“ Ein verschmitztes Grinsen brachte ihre Augen zum glitzern. „Sorry.“ Sie klimperte mit den Wimpern. „Ich hab dich nicht mehr gesehen und befürchtet, du seist wieder gegangen“, erklärte sie entschuldigend. „Es tut mir leid, wenn ich dir eben was verdorben habe. Wer war der Typ?“
„Tobias Gratz. Kennst du ihn nicht?“
Sie überlegte kurz, kaute dabei auf ihrer Unterlippe herum und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich hab vielen gesagt, wenn sie noch welche von der alten Clique kennen, sollen sie ihnen Bescheid sagen. Direkt eingeladen habe ich ihn nicht, aber das sind die wenigsten. Es ist einfach toll, dass so viele gekommen sind.“
„Ja, toll!“, pflichtete ich ihr etwas abwesend bei. Meine Gedanken kreisten schon wieder um Tobias.
„Na, los!“, rief sie und schubste mich in die Richtung, in die Tobias geflüchtet war. „Schnapp ihn dir, Tiger!“
Das musste sie mir nicht zweimal sagen. Mein Jagdinstinkt war geweckt. Der Kerl, wer auch immer er war, hatte etwas in mir angeworfen, was bereits viel zu lange geschlafen hatte. Ich küsste sie sanft auf die Wange, wirbelte herum und eilte in die Schatten, um Tobias zu suchen. Es dauerte eine Weile, ehe ich ihn zwischen den Hütten für die Geräte entdeckte, sehnsüchtige Blicke zum Lagerfeuer werfend. Er fuhr herum, als er meine Schritte hörte und wich leicht zurück, bis er bereits nach einem halben Schritt an eine Holzwand stieß.
„Auch wenn sie so aussieht, aber meine Schwester beißt niemanden“, stellte ich sogleich die Verhältnisse klar und näherte mich ihm soweit, dass ich annähernd sein Gesicht sehen konnte. Hier weiter fernab des Feuers war es noch dunkler und voller Schatten, beinahe traurig. Das flackernde Licht hinterließ in seinen Augen einen seltsamen Glanz, fast so als ob sich dort zu viel Flüssigkeit befand.
Ich stutzte. Hatte er Tränen in den Augen? Tränen der Enttäuschung? Tränen der Verzweiflung?
„Alles in Ordnung?“, erkundigte ich mich besorgt.
Der Gedanke, dass er meinetwegen heulen könnte, hatte etwas weiteres in mir in Gang gesetzt. Beschützerinstinkt. Den Drang, ihn trösten zu müssen.
Tobias nickte steif. „Schwester“, keuchte er leise, deutlich erleichtert.
„Wenn du zur Clique gehörst, solltest du Mona eigentlich kennen.“ Ich kam noch näher und blieb gerade mal einen Schritt vor ihm stehen. „Gehörst du wirklich zur Clique?“, erkundigte ich mich eindringlich, auch wenn es mir inzwischen gleichgültig war, ob er nun dazu gehörte oder nicht. Irgendwas war an ihm, was mich fesselte. Und auch wenn er sich nur eingeschlichen hatte, so tat er dies offensichtlich nur, um mich zu sehen.
Tobias nickte wieder. „Du erinnerst dich wirklich nicht mehr an mich, oder?“, fragte er heißer.
Ich schüttelte langsam den Kopf. Auch wenn ich mir den Kopf zermarterte, mir kam er gänzlich unbekannt vor.
Traurig senkte Tobias den Kopf und musterte seine Hände, die er vor seinem Schoß gefaltet hatte. „Ist ja auch egal“, seufzte er, einen tiefen Atemzug ausstoßend. „Ich sollte gehen.“ Er zog seine Hände auseinander und stopfte sie in die Vorderseiten seiner Jeans. Mit einem Nicken in meine Richtung wollte er zur Seite ausweichen und entschwinden. Ich hielt ihn jedoch schnell am Arm fest.
„Warte!“, rief ich und zuckte vor der Berührung seines Armes fast erschrocken zurück. Er war heiß und schweißnass. Sein ganzer Leib zitterte vor Anspannung. „Wer bist du?“
„Hab ich doch gesagt“, gab es beinahe trotzig von ihm. Er wagte es nicht, meine Hand abzuschütteln. Seine feuchten Augen funkelten mich nur ausdruckslos an.
„Das hilft mir nicht viel“, schnaufte ich genervt. Ich war nicht gewillt, ihn wieder gehen zu lassen. „Es waren damals so viele die kamen und wieder gingen.“
„Ich hätte erwartet, dass du dich zumindest daran erinnern kannst. Aber obwohl... !“ Er verstummte und biss sich kurz auf die Lippen. „Du warst ziemlich betrunken.“ Er zog sanft aber bestimmt seinen Arm aus meiner Hand. „War schön, dich wieder zu sehen.“ Er wich einen Schritt zurück.
Betrunken ...?
Meine Gehirnzellen rotierten auf Höchstleistung. Bei welcher Gelegenheit hätte ich einen Kerl wie Tobias kennenlernen können? Zumal ich damals zur Cliquenzeit noch der Meinung war, ein ganz normaler Hetero zu sein, der irgendwann in später Zukunft mit einer Frau einen Stall voller Kinder produzierte. Und betrunken war ich mehrmals, beinahe jedes Mal wenn Axel mit seiner Sporttasche auftauchte. Bei welcher Gelegenheit also, sollte ich auf einen so tollen Typen wie Tobias gestoßen sein, vor allem...
Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Blitz und ließ mich einen Schritt zurückweichen.
„Rauschgoldengel?“ Ich starrte ihn entgeistert an.
Tobias verzog sein Gesicht. Ihm hatte dieser Spitzname schon damals nicht gefallen. Doch entgegen zu Mark, der sein Recht mit Fäusten durchzuboxen wusste, besaß der kleine dickliche Kerl keine Chance gegen die Gehässigkeit der Anderen.
„Scheiße!“, entkam mir überrascht. „Das glaube ich jetzt nicht ... Du bist jetzt wirklich ... sexy?“, sprach ich meine heißblütige Vermutung laut aus. Ich sah ihn plötzlich mit anderen Augen.
Wut überflutete das Gesicht von Tobias. Seine Hand zuckte reflexartig hoch und verpasste mir eine Ohrfeige, die mich auch getroffen hätte, wenn ich sie nicht rechtzeitig eingefangen und festgehalten hätte. Ich zog ihn an der Hand näher an mich heran.
„Ich weiß“, keuchte ich überwältigt, von dem was mir da eben offenbar worden war. „Ich bin noch immer dasselbe Arschloch wie damals.“
Tobias nickte zustimmend und hielt meinem Blick stand, entzog mir jedoch seine Hand nicht.
„Sag mir nur eines. Wie bin ich damals nach Hause gekommen?“ Eine Frage, die mich seit zehn Jahren quälte. Meine Erinnerung hörte im Zelt am See auf und begann wieder in meinem Bett. Wie ich die paar Kilometer zwischen See und Elternhaus im Vollrausch hatte zurücklegen können, war mir bis heute schleierhaft.
Scheiß Alkohol! Ich sollte nie wieder Axels Gesöff trinken.
„Du hast mich gebeten, dich nach Hause zu bringen“, berichtete Tobias. Seine Stimme schwankte leicht.
„Was ist da passiert?“, erkundigte ich mich mit bangen Gefühlen.
„Wir haben es getan“, keuchte Tobias leise. „In deinem Zimmer ...“
Mein Herz schlug schneller. Mir wurde die Brust eng.
Ich und Rauschgoldengel, in meinem Bett …
Auf einmal flammte die Erinnerung wieder auf. Den Schwanz, den ich in der Hand hatte, das war nicht im Zelt gewesen, sondern in meinem Zimmer.

Doch Rauschgoldengel war nicht mehr. Aus dem kleinen Dicken war ein absolut gut aussehender Mann geworden, eine wahre Augenweide. Damals schien ich selbst im Vollrausch irgendwas anderes in ihm gesehen zu haben. Etwas, das ihn überaus attraktiv für mich hatte aussehen lassen. Während ich meiner Meinung nach einfach nur älter geworden war, hatte sich Tobias – ähnlich wie Mirko - zu einem Kerl gemausert, der mein Blut ordentlich in Wallung brachte. Und während meine Erinnerung an unser erstes Mal unwiederbringlich im Alkoholnebel versunken war, hatte mich Tobias die ganzen zehn Jahre nicht vergessen. Ich erinnerte mich auch plötzlich wieder daran, dass er bald nach der Nacht am See nicht mehr zu den Treffen kam. Da ich mich damals nicht für ihn interessiert hatte, war es mir auch nicht sonderlich aufgefallen.
Es waren so viele gekommen und wieder gegangen.
Rauschgoldengel war für mich nur einer von ihnen gewesen.
Aber heute nicht mehr.
Heute war er jemand, den der Jagdinstinkt in mir zu erlegen hoffte.
„Und...“, keuchte ich überwältigt und beeindruckt. „... du hast zehn Jahre gewartet? Zehn Jahre nur auf so eine Gelegenheit gewartet? Auf mich?“
Tobias nickte und schluckte hörbar. „Weißt du, was ich mir seit zehn Jahren sehnlichst wünsche?“
Ich schüttelte stumm den Kopf. Selbst meine Gedanken waren vor Fassungslosigkeit sprachlos geworden, auf einmal wie gelähmt. In meinem Kopf befand sich nur knisternde Watte.
Sein Gesicht kam langsam näher. Die dunklen Augen wurden allmählich größer, je näher er mir kam. Und als sich unsere Lippen berührten, schlossen sie sich wie ein Vorhang. Ich tat es ihm gleich und genoss diese Berührung, diese weichen Lippen, die zehn Jahre auf mich gewartet hatten.
Meine erste Liebe. Ich wusste es nur nicht mehr.

Impressum

Texte: Ashan Delon (C) 2011
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2011

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