EINLEITUNG
Die Geschichte Anas Glückshüter stammt aus den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts und ist befreit vom äußeren Druck, der an den Akteuren außergewöhnlicher Beziehungen, entstanden unter dem Einfluss westlicher Winde, nur selten vorbeizog. Doch durch die Unfähigkeit der Religion, im Sozialismus die traditionell-konservativen Werte zu bewahren, wurde dieser Druck nebensächlich, weshalb die Erzählung sich auf Grenzüberschreitungen innerhalb der Beziehungen konzentriert. Durch einen Epilog, der an den Verstand appelliert sowie an das Verständnis für die Lebendigkeit der Liebe, die stets die Freiheit sucht, öffnet sich die Kontroverse über die Macht der Versiegelung von Gefühlen und ihre Konservierung durch gesellschaftliche Normen.
Die Geschichte An jenem Tag fuhren keine Züge ist authentisch und handelt vom Beginn der Vertreibung aus dem Dorf Dragalovci unter dem Deckmantel der Schaffung ‘ethnisch reiner’ nationaler und religiöser Gemeinschaften in Bosnien und Herzegowina in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts. In der Geschichte ist der Gehorsam der Mehrheit und der ihr aufgedrückte Wille des Regierungsapparates abgebildet, der die Angst in beiden Lagern für die Durchführung seiner monströsen Ideen benutzt, sowie die fehlende Courage der Mehrheit, Widerstand zu leisten. Die Angst, das Wenige was man hat, nicht zu verlieren, die Kopflosigkeit und die komplizierten Beziehungen rauben der Masse die gemeinsame Idee und setzen sie im allgemeinen Gewirr einem Scheitern ohne Widerstand aus, indem sie den Nationalismus verschärfen, der von den materiellen oder ideologischen Interessen der Kriegsgewinnler gesät wurde.
»Hallo Ivan!«
»Hallo Dejan!«, antwortete Ivan, der versonnen vom Rand einer Parkbank aus in die Ferne schaute.
»Kaum ist Ana nicht bei dir, verlierst du dich in deinen Träumen. Der Mensch möchte glatt einen Bogen um dich machen, schon um dich nicht zu stören«, sagte Dejan lächelnd und setzte sich ans andere Ende der Bank.
»Vielleicht, aber wohl nur ein richtiger Mensch, und mit diesem Begriff hast du wahrlich nichts gemeinsam«, entgegnete Ivan breit grinsend, schaute wieder zu Dejan und fuhr fort, indem er durch Schnalzen mit dem Mittelfinger einen Themenwechsel ankündigte:
»Wie dem auch sei, heute brauche dich mal wieder, mein alter Freund. Siehst du, es ist Frühling, alles um uns herum ist betörend schön, strahlt Frische aus und riecht sogar intensiver, wie im Märchen. Doch in mir stürzt gerade alles ein und bricht zusammen, ich verzage vor einer Entscheidung, bin zwischen Wünschen hin- und hergerissen, die wie zum Trotz immer mehr werden. Hätte ich Ana nicht, wäre alles ganz einfach. Weißt du, Ana ist keine Gitarre, die man einfach so im Zimmer abstellt und geht, und wenn man dann eines Tages zurückkommt und sich nach Musik sehnt, schnappt man sie und klimpert zärtlich mit den Fingern auf ihren Saiten herum. Und ich liebe Ana unendlich, sehne mich aber gleichzeitig nach den Schönheiten der fernen, unbekannten Welt und verspüre das Bedürfnis, mich wenigstens eine zeitlang darin zu versuchen, für den Anfang in meinem Heimatdorf ein bescheidenes Einkommen zu erzielen und mich erst dann wie die gewöhnlichen Leute dem Nestbau zu widmen und die Reize eines Heims und eines ruhigen Alltags zu entdecken.
»Na, dann rede doch mit Ana! Nimm sie mit in dein unwiderstehliches gelobtes Land, denn sie liebt dich, und sogar noch ein bisschen mehr als das. Ach Ivan… an deiner Stelle würde mir außer Ana und ihr an meiner Seite nie etwas anderes in den Sinn kommen. Ich würde bei ihr bleiben und dadurch wäre ihre ganze Welt nur die meine. Aber obwohl Ana und ich Stadtkinder sind, hat sie deinetwegen das Land lieb gewonnen, obwohl ich Techniker werde und du Schlosser, ist sie an dir hängen geblieben, obwohl meine Familie viel wohlhabender ist als deine, hat sie sich auch dafür nicht interessiert, und obwohl Ana und ich uns seit der Kindheit kennen und ihr beide erst, seit du mit der Lehre angefangen hast, hat sie sich an dir immer mehr erfreut. Aber so ist das im Leben. Du bist mit der Zeit wie ein Bruder für mich geworden, vielleicht, weil ich keinen habe, und dies begann noch mit unseren ersten Begegnungen bei meiner verstorbenen Oma hier im Dorf, weshalb ich die Schlacht um Ana kampflos aufgegeben habe. Aber wie dem auch sei, das einzige, was ich mir wünsche ist, dass du Ana nicht enttäuschst und in die Verzweiflung stürzt… Wo ist sie überhaupt?«
»Sie ist kurz vor dir in die Schule gegangen. Sie holen heute vor der ersten Stunde irgendwas in Pädiatrie nach. Kinokarten hat sie auch gekauft, aber für die Vorstellung um acht.«
»Das heißt also, du übernachtest bei mir, Ivan?«
»Kann man so sagen, ja. Und wenn du mir in der Sache mit Ana hilfst, wird das eine unvergessliche Nacht. Was meinst du?«
Diesmal durchschaue ich dich nicht, Ivan, das könnte ein Zeichen dafür sein, dass wir langsam auseinanderdriften. Und es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich mit den Jahren sogar von seinen Liebsten zu entfernen. Und all das geht schleichend voran. In der Jugend gäbe man sein Leben für jemanden, dann aber, entlang der Lebensphasen und mit steigendem Alter geht man unmerklich auseinander, ohne eine
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Jozo Garic
Bildmaterialien: Jozo Garic
Übersetzung: Dr. Elvira Veselinovic
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6400-7
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