Da durch der Gräfin Bolz Tod Posinsky im Leben alleinsteht, bleibt für den gründlichen Chronisten manches von ihm zu sagen, das späteren Geschlechtern von den im Weltkrieg zu Haus gebliebenen Wesentliches an einem üppigen Exemplar der Gattung zu zeigen vermag.
Aus der wohlhabenden Geliebten Mittel hatte bei ihren Lebzeiten so reichlich Proviant er in die gemeinsame Wohnung gestaut, daß leibliche Verlegenheit, die im vierten Kriegsjahr rings schon peinlich wurde, zu rascher Tat, überstürzten Ruderschlägen ihn nicht zwang. Vielmehr paddelte wochenlang er flacher Fahrt in den nun stillen Stubenteichen, angenehm von der Rücksicht auf das doch schließlich hochgeborene Fräulein befreit, das er beherrscht, vor dem manch Elementares in ihm sich nackt nicht ans Licht gestellt hatte. Jetzt aber spreizte entfesselt aus Liegegelegenheiten er Glieder und war beschämt, nur ein Arm- und Beinpaar zu haben. Schamlos schweifte Instinkt durch freies All, und wie Kröten schleiften Gedanken Schleim auf alles mögliche.
Bestimmtes wollte er zuerst nicht. Mit Inbrunst wußte er nur wieder: Posinsky hieß er, und aus dem ihm innewohnenden Motor setzte Atmosphäre er in ihm genehme Schwingung. An und für sich gab es kein Gebiet, auf dem zu glücklichem Ziel er sich nicht finden würde. Aus Ulrikes Kissen und Fellen spürte mehr und mehr er als wichtigste Erkenntnis: Welt hinter den Fronten war jetzt männerleer, und der vor den Ereignissen störende Wettkampf der Gehirne so gut wie aufgehoben.
Wären also einmal Vorräte, die Küche und Keller ihm füllten, vertilgt, müsse ein leichtes es werden, sich aufzumachen und in eine Stelle zu schwingen, die ferneren Unterhalt in jeder Hinsicht gab. Inzwischen wollte in seinen vier Wänden er Zeit dazu brauchen, den Leib für die später vielleicht notwendigen Bemühungen zu stählen, mit einem Maximum von Zweckmäßigkeit seinen Gefäßen den ganzen vorhandenen Lebstoff zuzuführen.
Denn er verhehlte sich nicht: bei aller persönlichen Bescheidenheit hatte die verehrte Tote durch doppelter Art auf seiner Weide mitgefressen. Einmal, weil mit den wenigen genossenen Bissen sie trotzdem seine tägliche Ration verringert und dann, weil an manches Tun und Entschluß aus Repräsentationsrücksichten er mehr inneren Anteil gewandt hatte, als ohne sie unbedingt notwendig gewesen war. Denn vor sich selbst, das spürte er gerührten Entzückens, machte seelischen und geistigen Aufwand er nicht mehr mit. Er war in des Kriegs Verlauf fähig geworden, sich ohne Umschweif in nuce zu sehen.
Und dazu fähig, vorläufig satt zu werden. Ihm gegenüber aber stand im großen und ganzen hungrig die Welt. Natürlich hatte sie noch immer andere Bedürfnisse, aber während früher Beziehungen von ihm zu Menschen mannigfaltig und heikel gewesen waren, durfte er jetzt damit rechnen, hatte des ungestillten Appetits in einem Gegenüber er gedacht, war das Dringende in dem überwunden; und er brauchte weitere Berechnungen nach dessen Individualnenner nicht mehr anzustellen. Zweifellos hatte der Krieg ein Unmaß überflüssigen Aufruhrs im Menschen gebändigt, als durchschnittlichen Organismen die Kraft zu geistigen Turnkunststücken und sittlichen Forderungen er nahm und sie auf ursprünglicher Notdurft Stillung zurückschnitt. Freudig empfand Posinsky, wie seit langem schon niemand mehr jene innere Regsamkeit von ihm forderte, die im Grund stets ungern er geleistet hatte.
Nichts schien ihm schließlich wie das Schöpfungsprinzip schlicht: immer von neuem werden ohne Ursache Menschen geboren, die, im wesentlichen wie ein Ei dem andern sich gleichend, nach unveränderlichen Bedingungen ein kurzes Dasein hinbringen, das dem irdischen Leib heiter zu gestalten, ihre verständige Sorge sein müßte. Aber durch zu große Freiheit und Unabhängigkeit von Gemeinschaftsforderungen wird in Friedenszeiten die bemittelte Kreatur vorzüglich dahin geführt, mit der Kenntnisse übermäßiger Vermehrung auch die Sorgen zu vergrößern. Eine Aufklärungswut ohne gleichen entdeckt füglich mehr Leere als Fülle um sich, und indem durch angenehmer Irrtümer Entlarvung Phantasie verarmt, macht sogenannter Werte Aufstellung das Dasein nur noch trauriger. Durch Erziehung, begriff er, wird das natürliche Talent, sich auf Erden zu amüsieren, dem Menschen amputiert und macht in ihm Pflichten Platz. Aus Wille und Vorstellung wird endlich er eine Funktion, die zu Zielen denkt und sich eher zu Tod galoppiert, als mit des eigenen Temperamentes Gangart man ans Ende käme.
Wie hatte auch die verstorbene Geliebte zu eigenem Nachteil an ihm sich übernommen! Hätte mit sachtem Schmelzen auf sanftem Feuer sie ihr Verbrennen nicht hindern oder auf späteren Termin verschieben, mit natürlichem Schwung nicht jenseits seelischer Exzesse ihn wirksam aber taktisch gestuft lieben können? Wo war Zwang gewesen, durch das Idyll mit ihm dritter, rasender Übersetzung zu fahren, während sie ihm eine Summe hinterlassen hatte, die behagliches Leben für mindestens zwei Jahre verbürgte? Aber noch hinterher hätte Gott Leben gegönnt.
Oft hatte mit Gründen in die Liebesraserei, der Erschütterungen Taumel er ihr fahren, aus Verkrampfungen sie schonend lösen wollen, doch bis in Skelett und Eingeweide wollte durchaus sie sich versengen und keine Minute mehr aufgespart sein. Nicht daß leidenschaftlich lichterloh für ihn sie gebrannt, doch daß vor seinen Augen sie sich körperlich verschwendet und völlig verzehrt hatte, schien Posinsky närrisch. Man könne lieben und bei richtiger Einschätzung der in Betracht kommenden Umstände wenn nicht Fett ansetzen, doch gut bei Leibe bleiben, war er überzeugt.
Ein heilsames Regulativ war also bisher schon in ihm wirksam gewesen, doch nicht methodisch genug, merkte er, als daß mit sich er schon zufrieden sein durfte. In zuviel Tat und unnützes Ereignis war auch mit dem distinguierten Mädchen er noch verstrickt gewesen, als daß die seiner Veranlagung wirklich genehmen Lebensregeln mit Gründlichkeit in ihm schon hätten festgestellt werden können. Jetzt aber mit Proviant, gefüllter Brieftasche und einem infolge seiner gründlichen Erschöpfung ihm bewilligten langen Urlaub lagen seines Lebens erste Ferien vor ihm, und feurigen Ernstes war er gewillt, zwischen sich und der Welt jenes Reibungsminimum zu schaffen, das am Zünglein der Apothekerwage immer von neuem ihn entzückte, und aus dem heraus zwei Schalen so schwank und bequem im Äther hingen, wie auch er zu tun es wünschte.
* * *
Mild strich der Jahreszeit Luft, und es gab mit ihr keine störenden Kämpfe. Seidenes Hemd und Hose vermittelten ihren leichten Einfall in Posinsky und seine Ausdünstung auf vollkommene Art. Von seinen Poren, der Niere und ihrer Tätigkeit hatte er den besten Eindruck, und auch sein Atem ging zierlich und leicht. Hier war nichts zu bessern; erhalten sollten gutbemessene und bereitete Speisen des Körpers Wohlbefinden. Da gab aus schwellenden Vorräten es erst ein Zuteilen und Indiewegeleiten. Die Kriegsdauer berechnete er auf höchstens noch zwei Jahre, und maß siebenhundertunddreißig Tagen ihre Portion aus hundertundzwanzig Pfund Reis, hundert Pfund Zucker, zweiundfünfzig Pfund Kakao, zehn Kilo Tee, achtzig Pfund in Steintöpfe eingemachter Butter und vielem anderen zu. Da konnte es ihm, vorausgesetzt, Feuer zerstört nichts, und er teilte unter keinen Umständen mit einem Lebendigen, bis zum Herbst neunzehnhundertundneunzehn, an nichts fehlen. Schnell bildete Fähigkeit, zu kochen er vollends bei sich aus und nahm alsbald die Mahlzeiten so, daß ihre Zurichtung kaum zu übertreffen war.
Bitter dringliche Klagen über die Ernährung, die allenthalben schallten, nahm er also wie den übrigen Krieg nur mehr als Panorama, und sie kosteten ihn kein Gramm Teilnahme. Das atemlose Interesse, das eine Welt an Viktualien wandte, veranlaßte ihn nur, auf Reserven gestützt, das ängstlichste Gewissen für deren beste Verwendung zu haben und sich auf die Geheimnisse der zur menschlichen Ernährung bestimmten Stoffe einzulassen. Alsbald kannte des Roggenmehls Nährwert er mit sechzig, den des Zuckers mit vierzig, mit hundertneunundsechzig Einheiten dagegen den des Käses, als mit fünfzig den des Fleisches sogar übertreffend, und sorgte dafür, daß zumindest hundertfünfundzwanzig Eiweiß- und an vierhundert Kohlenstoffteile zum notwendigen Fett ihm täglich zugeführt wurden. Aller Mahlzeit widmete er priesterlichen Eifer und verzehrte jede schmatzend in Adams Kostüm auf dem Sofa, an der Magenmuskeln Arbeit das Auge noch einmal zu ergötzen. Auch schien, es glänze Gehär ihm augenblicklich in fetterem Glanz. Nach dem letzten Bissen aber schlich mit eigentümlich lahmen Schritten er auf die bereitstehende Wage und blieb, bis von den Zehntelstrichen die Gewichtszunahme er abgelesen hatte.
Bei aller Teilnahme an Stoffwechselvorgängen vergaß er aber nicht, sie sollten ihn nur darum fesseln, daß leibliche Kraft jenen Seelenzustand ein für allemal in ihm festmachte, den als seines irdischen Glücks Spitze er schon länger instinkthaft wußte, den jetzt aber eindeutig sich in die Erkenntnis er rammen wollte. Achtzig Kilo netto Körpergewicht hielt er für die körperliche Voraussetzung restlosen Gelingens seiner Pläne und, ohne das große Ziel zu überhasten, kroch, hundertzweiundfünfzig Pfund schwer, er gemächlich erst dem kleineren zu.
Alsbald merkte er, Tun, und sei es das unscheinbarste, vermindert augenblicklich der Glieder festgerolltes Wohlbefinden. Zwar mochte an sich der Muskeln Bewegung von Vorteil sein. Durch geistige Arbeit, die vorausging, des Gehirns Räder zu einem Ziel in Bewegung zu setzen, wurde sie aber mehr als aufgehoben. Ohne weiteres war doch klar: des Gehirns Inanspruchnahme für irgendeine Bewegung, sei es zu einfachem Greifen, wurde durch den Effekt aus diesem Geschehen selten kompensiert. Wohl: er hielt dann etwas in der Hand, das vorher nicht dagewesen war. Aber der Nutzen, den von dem neuen Gegenstand er hatte, war gering oder oft nichtig im Verhältnis zu dem molekularen Derangement, das in ihm stattfand. Machte zum Beispiel eine Fliege auf seinem Gesicht halt, er aber lag in jene wonnige, pflanzliche Hingabe ans All und eins mit ihm hingestreckt, hätte, das Insekt zu verjagen, er den innigen Kontakt erst völlig lösen, dann aber den Begriff »Fliege« bis in des Leibes letzte Zelle leiten müssen, ehe überhaupt jener logische Komplex in ihm gerundet war, der die Hand zum Schlag an die betreffende Stelle befähigte. Womöglich aber entstünden nachträglich noch lange an das Einzelwesen einer Fliege sich knüpfende Vorstellungsreihen, die das einmal angeregte Denkzentrum erst mühsam aufnehmen und später umständlich wieder vergessen müßte. Demgegenüber könnte der Handlung höchste Folge das zerschmetterte Geschmeiß sein.
Im allgemeinen galt binnen kurzem für ihn: zu seinem Nachteil ist der Mensch zu beweglich. Gewiß soll er auf dem Sprung sein. Lohnt der Satz, bis in den Himmel ihn machen. Aber fortwährendes Hin und Her für nichts und wieder nichts ist außerhalb der Vernunft. Wieviel Rucke des Kopfes, der Glieder, wieviel unnötige Schritte kann man tagsüber nicht nur unterlassen, sondern den Nerven auch noch ihre Kontrolle sparen. Doch selbst bei unumgänglichen Bewegungen käme mit der Hälfte gewöhnlich aufgewandter Kraft man aus.
Auf ein Klingeln öffnete die Tür er nicht mehr. Denn was stand durch sein Unterlassen zu befürchten? Würde eine Abordnung er versäumen, die wie Heinrich dem Vogler Deutschlands Krone ihm anbot? War der Mensch zu erwarten, der ihm sein Vermögen schenkend brachte, ein Brief, der eine jauchzende Kritik seines neuen Bildes enthielt? Abends nahm er, was der Tag vor die Tür gehäuft hatte, herein und fand, der Zuschuß, den das Außen zu seinem Leben schickte, lohnte einen Gang nicht einmal. Entschieden hatten seine Voreltern, arme Juden, Generationen hindurch bis zur Erschöpfung gearbeitet, daß Durst nach Ruhe so vor jeder anderen Sehnsucht in ihm stark sein konnte, solche Genußfähigkeit unbewegter Stille gegenüber. Lag mitten im Zimmer im Lichtkegel er auf dem Teppich, und Sonne tanzte auf seines Bauches Bombe, sah im Halbschlag schmunzelnd er zu, wieviel Zeit die Strahlen brauchten, von seinem Nabel nur bis zur Scham zu kriechen, ohne daß ferner noch das Geringste geschah.
Aus der Natur erinnerte er sich keines einzigen Beispiels, wo mit Feuerwerk und Kraftmeierei ein Ziel besser erreicht worden war als in der betreffenden Teile ursprünglichem Vermögen gelegen hatte. Warum wurden also Menschen zu Zielen überanstrengt, deren Erreichung kein Vernünftiger von ihnen verlangte, während Erreichbares übersehen und vernachlässigt wurde? Ihm, wie oft Fata Morgana auch abseits gelockt hatte, war einzig sein natürliches Müssen zu kennen wichtig gewesen, auf daß, sich richtig in den Weltenplan zu hängen, gelänge. Was konnte es ihm zu glauben nützen, edler sei es, sich immer schaffend zu bemühen, sah zum Nichtstun seine Natur er doch leidenschaftlich gewillt? Nahm Arbeitseifer er für Tugend, mußte seine Faulheit gleich Laster sein. Welch vollkommener Mangel an Selbstbewußtsein aber war Voraussetzung für solche Hinnahme! Kannte er sich zu fortwährendem Essen entschlossen, wo sollte Sinn und Vorteil liegen, Eßgier für menschlichen Mangel zu halten? Wächst im letzten der Mensch nicht aus Vertrauen auf sich, und gilt es also nicht, das mit allen Mitteln immer zu stärken? Habe ich in meine Eigenschaften Zutrauen, sehe ihnen ins Gesicht und füttere sie tüchtig, müssen sie mich, welch Zeugnis nach willkürlicher Skala die Gesellschaft ihnen auch gibt, an mein Ziel tragen. Willkürlich! Denn war, was einen Stamm und eine Epoche Verdienst dünkte, andern nicht schimpflichstes Verbrechen? Hatten durch ihres Gewissens statisches Vermögen Neger sich nicht wolkenloser Paradiese Märchenruhe Jahrtausende länger erhalten als die moralischen Sensationen nachhetzenden Asiaten und Europäer? War das Beispiel vom Sündenfall nicht die früheste und dringlichste Warnung, neugierig auf nichts als nur sich selbst zu sein? Posinsky war gewiß, die Paradiesausstoßung bedeutete ein Strafsymbol nicht für die vollzogene Begattung, sondern für das moralische Raffinement, mit dem man einen grandios natürlichen Akt in das kleinliche Getriebe menschlicher Spekulation gezogen hatte. Wo eine Absicht energiesparend schließlich natürlich erreicht werden kann, soll man, Zeit zu gewinnen, nicht logisch oder ethisch tiftelnd ihr zu Leib. Zeit spielt im Weltenhaushaltplan die geringste Rolle; auf eine Jahrmilliarde kommt es der Zentralgewalt nicht an.
So genoß seinen Tag er aus breitestem Verharren. Schon mit keinem Ruck wachte um bestimmte Zeit er auf. Sondern vom ersten zufälligen Blinzeln ins Licht ließ Gewißheit, es sei Morgen, nicht durch sein Urteil, sondern ganz allmählich von außen er in sich ein. Anfangs wollte das nicht leicht gelingen. Denn immer, schlug er Augen auf, wollte der gemeine Verstand gleich apportieren: Zeit ist es, aufzustehen. Aber durch sorgfältiges Bemühen, krampfhaftes inneres Weghören von dieser Stimme, setzte allmählich er ihren Mechanismus außer Gang, und der Tag dämmerte ihm wie einer Pflanze. Dann ließ von der Müdigkeit Nachwehen noch gehörig er sich und nun schon vom ersten Hunger schütteln und genoß Triebe und ihre Befriedigung elementar und umständlich. Nicht die leiseste leibliche Regung unterdrückte er, sondern steigerte sie in allen Stationen, und in jeder monumentete schließlich natürlicher Transformismus. Der Mensch, mit kräftiger Nahrung Hilfe, vollzieht nichts als primitive Funktionen, die zu ständigem Wohlbefinden genügen, ihn aber häufig auch in rauschartige Seligkeit heben. Dankbarkeit für Ulrike, die zu solcher Einkehr und solchem Genuß an ihm selbst die Mittel verschafft hatte, war oft in ihm lebendig. Was hatte früher vom Meisterstück der Schöpfung »Mensch« aus Mangel an Zeit, sich mit ihm beschäftigen zu können, er gewußt? Selbst seine vor dem Krieg geübte Porträtmalerei hatte vom Nächsten ihm doch nur das nahgebracht, was im Sinn ästhetischen Übereinkommens doch nicht an und für sich wertvoll war. Aber gerade nicht Entwickelung aus des Menschen höheren Absichten mit sich selbst, sondern die Feststellung physikalisch-chemischer Kräfte in ihm als der bewunderten Erscheinungen Ursache schufen in Posinsky das unvergleichliche Gefühl souveräner Unabhängigkeit von sogenannter Kultur.
Ihm war ausgemacht: Materie allein sei unvergänglich und ewig. Denn nie und nirgends ist das Verschwinden auch nur des kleinsten ihrer Teilchen nachgewiesen oder, daß ein einziges zur vorhandenen Masse hinzugekommen wäre. Wie kostbar war also jedes Atom dieses von Anfang an gewollten Weltstoffs und wie heilig! Und da Erfahrung seine ewige Umformung und Entwickelung ganz aus sich selbst beweist, wozu dienen noch Theorien und Systeme menschlicher Erkenntnis, die den Lebenszweck aller bedeutenden Geister von jeher ausmachten, und denen die Völker blindlings nachlaufen, während alle Vernünftigkeit sich vielmehr der Düngung und dem Begießen vorhandenen menschlichen Urstoffs durch sämtliche dazu tauglichen Elemente hingeben sollte.
An dieser Einsicht ergrimmte Posinsky bis zur Weißglut: Ganz von oben gesehen verschlingen riesige Quanten täglicher Nahrung die Menschenmassen, nicht um des Körpers funktionelle Abgänge, sondern hauptsächlich die durch die Nerven an Wahnbilder kulturellen Unsinnes fortgegebenen Energien zu ergänzen und halten so natürliches Wachstum auf.
Und dabei wird aus dieser Kulturen Geschichte klar, daß niemals des Menschenhirns genialer Einfall, sondern Notwendigkeiten und banale Zufälle von außen her auch dort alles Geschehen lenkten. Posinsky feierte also seiner Teile Unvergänglichkeit in wirklich religiösen Andachten und neigte ihrer Verehrung sich tief. Worin bestand der herrschenden Klassen Überlegenheit durch Jahrhunderte hin, als daß durch ausgewählte Lage und Vorrechte sie fähig gewesen waren, ihre Leiblichkeit blühender als die armen Teufel zu gestalten, die Hunger litten und schnellem Untergang durch Ideologien und Nahrungsersatzmittel preisgegeben waren. Was waren der erste und zweite Stand? Satt, Herr Abbé Sieyès. Voilà tout. Und der dritte wurde es siebzehnhundertsechsundneunzig.
Dies aber war das Jahrhundert, in dem von mystischen und mythologischen Nebeln fort, denen nach der Herrschenden raffinierten Plänen mit leerem Magen bisher er nachgelaufen war, der vierte Stand breit und entschlossen sich zu Tisch setzte. Und er, Posinsky, mit des Tuns Bewußtsein ein wenig voraus an der Spitze. Hier lag die viel größere und folgenschwerere Umwälzung als durch aufgeblasene Schlagworte: den eigenen Leib ehren, seine fernere Verelendung durch mangelnde Pflege nicht mehr leiden!
Es war also kein naives Fressen, das viermal am Tag mit Festlichkeit für sich er anrichtete. Sondern den Ernährungsvorgängen war sein gesamtes geistiges und sittliches Bedürfnis vermählt, wenn wie die tüchtigsten Zeitgenossen und besser er verpflegt sein wollte. Alles hatte auf die eine Karte er gesetzt: aus der durch Generationen mißhandelter Voreltern in ihm bereiteten Stoff- und Blutarmut durch die umfassendste und sogar gigantische Mast sich zu erheben. Sieg und Niederlage lagen in des Plans Gelingen oder Mißlingen für ihn. Keine andere Ehre und Schande gab es. Daß bei den aus äußeren Gründen gerade jetzt entgegenstehenden Widerständen besondere Klugheit, Geringschätzung aller angedrohten Strafen nötig war, erhöhte ihm Selbstbewußtsein und Stolz.
Mit Gips und Sparren hatte, einen Meter ins Schlafzimmer vorspringend, vom Plafond zum Boden zwischen drei Wänden er einen Raum abtrennen lassen, der, von außen gleich den übrigen Zimmerseiten tapeziert und mit unsichtbarem, herauszunehmendem Türchen versehen, einen der Volkswut und Polizeineugierde unfindbaren Geheimschrank von über einem Dutzend Raummetern Inhalt bildete. In dem auf Regalen standen in Tüten, Säcken und Büchsen als in den mannigfaltigsten Aggregatzuständen rund sechzehn Zentner späterer Posinskyscher Körpereinheiten. Aufrecht vor dem offenen Arsenal sagte er sich, aus Zucker, Butter, Reis, Schinken und Kakao müsse binnen zwei Jahren genau zehnmal sein Leib auferstehen. Denn auch nicht eine Krume, kein Fettröpfchen aus dem Schrank würde nach dieser Frist nicht durch seine Gurgel gejagt sein. Das war zur Verlogenheit der großen Geistesleitsätze wieder einmal eine glänzende Illustration! Nicht »cogito ergo sum«, sondern »bibo et edo, ergo sum« mußte es heißen, wäre nicht auch ohne Descartes, Pascal und Kant einfache Wahrhaftigkeit im Menschen durch absichtsvolle Phrasen erstickt. Aber es bedürfe doch für den saftigen Organismus keiner bombastisch-übersinnlichen Begriffe, um von irdischer Großartigkeit bis ins Mark gepackt zu werden. Gewolkte Vokabeln machen nur unfähig, im Kosmos sinnlich Vorhandenes bis in den Kern zu greifen und zu schätzen.
Posinsky, schnaufend und schmausend aber begriff es. Bunte Schilderungen der Brotaufstände, turbulenter, kilometerlanger Kartoffelpolonäsen las er zu seinen Mahlzeiten und genoß, seines chemischen Aufstiegs gewiß, der Nachbarn Verlegenheit auch durch Hinausschauen aus dem Fenster auf des Quartiers umliegende Konsumläden. Das allgemeine begeisterte europäische Darben dünkte ihn treffliche Erziehung zu seinen Grundsätzen hin. Endlich schien an der Metaphervergötterung Stelle des Leibes krasse Notdurft überall das erste Kredo menschlicher Natur. Selbst eine von knatternden Phrasen bis zum Bersten sonst aufgeblasene Presse mußte ihres Raumes Dreiviertel Fragen des hungrigen Magens einräumen. Wichtiger als »Rätsel der Weltenseele« und »Kritik aller Offenbarung« blieb jetzt wohl ein Rezept, aus Brennesseln und Unkräutern schmackhaftes Gemüse zu machen. Der Frömmigkeit, edler Sitten und der Bildung Ansehen, ja Geldes und des Reichtums Geltung ging nun eines greifbaren Lebensmittels Wert voran, und immer weniger scherte die über sich selbst erleuchtete Welt sich um den läppischen, ja verbrecherischen Luxus aufgepfropfter geistiger Bedürfnisse.
So wenig endlich, daß Posinsky, war er reichlich satt, dieser hin und wieder gönnerisch dachte und meinte, einiges Vernünftige möchte in der Zeiten Lauf aus geistigem Bemühen immerhin angerichtet sein. Um von neuem zuzugeben, hätte der Menschen schwitzende Anstrengung es nicht entdeckt, müßte allmählich es auch aus sich selbst manifestiert haben. Gegen den menschlichen Spürsinn aber lasse sich überdies einwenden: war Elektrizität so, Dampfkraft aber so verwendbar, und ist motorischer Kraft der Luftraum zu durchfliegen – warum in Teufels Namen sind durch Finder und Erfinder diese Errungenschaften nicht ein paar Jahrtausende früher bereitgestellt worden, wenn anders es überhaupt Errungenschaften zu unserem wahren Heil sind?
Was letzten Endes er dann verneinte.
* * *
Sah aus jenem Fenster seines Wohnzimmers, das in einen dunklen Hof ging, er hinaus, prallte über kaum drei Meter Raum das Auge an einen Vorhang, den des benachbarten Logis Mieterin ein für allemal herabgelassen hatte, nachdem sein zu wenig bekleideter Leib den Scheiben zu nah gekommen war. Tagsüber blieb ihm, was jene trieb, also verborgen. Brannte abends aber die Lampe, führte die mit optischem Gesetz nicht Vertraute ihm wie Film ihre plastische Mimik auf der Leinwand vor, hatte er Lust, bei sich im dunkeln zu sitzen und zuzusehen. Seiner nicht zu unterbrechenden Mast hingegeben, hatte anfangs nur ihre außerordentliche Jugend er festgestellt, die sie durch die knapp unters Knie reichende Silhouette des Rocksaums verriet. Auch bestätigte die den Kopf umflatternde Mähne, der Wohnung Inhaberin sei kaum mehr als ein Kind.
Als nach einiger Zeit aber an Wohlfahrt und satter Lust ein gehäuftes Maß in ihm war, freute aus kontrapunktischem Behagen es ihn, der eigenen Unbeweglichkeit den auf dem Tuch heftig turnenden, schlanken Körper zu vergleichen. Auf das zum Fenster senkrecht gestellte Sofa gerekelt, empfand, Tatzen in des Leibes Fettfalten, des zierlichen Schattens Hüpfen im aufgehängten Quadrat er schließlich als ein Menetekel, das ihn verstimmte. Denn nicht er mußte vor zu hastiger Beweglichkeit gewarnt sein. Vielmehr hätte das Quecksilber drüben er zum Stillstand bringen mögen, wäre fremdes Los ihm noch irgendwie wichtig gewesen.
So ließ auch er von seiner Seite den Stor nieder und, zappelte der Nachbarin Kontur von Zeit zu Zeit noch auf dem doppelten Transparent, gab Posinsky ihrer nicht mehr acht, da unerwartete Gefahr seinen Lebensmitteln drohte. Durch ein Rascheln in der Wand war nachts zuerst er wach geworden. Zu gut aber schien ihm gegen alles Außen seine Welt durch Riegel und Schlösser gedichtet, als daß anderes als eine Sinnesstörung er annehmen konnte. Endlich verriet in der Schrankrichtung sich aber zu deutlich Leben, und Feststellung durfte nicht länger unterbleiben.
Ratten waren in sein Allerheiligstes durchzustoßen bereit, und mancher Anstrengung bedurfte es, sie gründlich abzuschrecken. Auch gegen anderes Ungeziefer und chemische Prozesse, die des Proviants Gewicht zu mindern drohten, hatte er zu kämpfen, bis zu erhabener Ruhe er zurückkehren durfte, die erst viele Wochen später von jenem Fenster her von neuem gestört wurde.
Inzwischen aber war von des Körpers nur inwendiger Pflege, die erst mittelbar auf seinen äußeren Glanz wirken sollte, zu dessen unmittelbarer, auswendiger Behandlung er fortgeschritten. Salben, Seifen und Kreme, Pasten, Öle und Toilettenwässer waren in großen Posten angeschafft und neben dem Eßbaren aufgestapelt worden. Und obwohl ihm früher, als mit kleinem Aufwand es möglich gewesen war, peinliche Reinlichkeit an seiner Oberfläche ferngelegen hatte, schien ihm jetzt ihr Handinhandgehen mit der Aufpäppelung von innen her unabweisbar. Denn keine Chance durfte außer acht gelassen werden, wollte wirklich sein Ziel, der Kaste der Überernährten sich einzugliedern, er erreichen.
So knetete, schönen Verhältnisses zwischen Arbeitsleistung und möglichem Erfolg immer eingedenk, er seine Epidermis. Beglückt sah Ströme Fetts er die Poren trinken, die mit der durch den Magen zugeführten Butter rationell und delikat zugleich die Moleküle ihm ölen mußten. Denn auf dem Herd, über dem eine Spruchreihe stand, kam jetzt nur noch eine wahrhaft transzendentale Gastronomie zustande. In Rundschrift aber unter Glas und Rahmen war an der Wand von seiner Hand zu lesen:
I. Leben nur ist im Universum. Was lebt, ißt.
II. Pflichten garantiert der Staat.
III. Die Kirche Christentum.
IV. Kraft und Gesundheit aber Ernährung!
Drauf und dran war er eines Abends, die fünfte Sentenz behäbig zu gebären, als im Vorhang plötzlich ein Umriß hing, flatternd wie der selige Herr von La Mancha, und eine so ungeheure Gebärde ins Bild hieb, daß verschluckten Atems Posinsky Sekunden auf ihre Wirkung wartete, zum Schutz gegen eine Katastrophe die Hand vors Gesicht gehalten. Nichts aber kam. Sondern eine Salve gehackter Gesten folgte noch. Die letzte völlig überlebensgroß: ein sausender Schwertschlag fuhr aus erhobenen Händen jäh zu Boden, kraftstrotzend genug, vom Schwanz zur Stirn in zwei mächtige Chateaubriands einen Ochsen zu spalten. Der aber war nicht da; nichts überhaupt, auf das sinngemäß sich so kolossale Dynamik beziehen konnte. Sondern von einem Verrückten schien ins Leere sie verschwendet.
Da fuhr aus Kissen Posinsky hoch, als hätten zum Kampf Fanfaren geschmettert. Monate schwelgte er, Gesetzen vom kleinsten Aufwand größtem Nutzen gegenüber hingegeben, daß unter seinen Augen so phantastische Laterna magica anhub? Mochte am Horizont die uralte menschliche Narrheit weiter wetterleuchten, daß zu des Weltbilds Abrundung mit dem Fernstecher er sie gerade noch erwischen konnte; in seines Atems Dunstkreis aber, reine Vorstellung befleckend, werde unter keinen Umständen er einen Firlefanz dulden, von dem Genaues er noch nicht wußte, dessen ekelerregende Tendenz ihm aber schnell feststand.
Was hatte das Zerrbild eines Mannes, das neben dem jungen Mädchen mit mimischem Schmiß im Licht schwirrte, der für Cäsars oder Napoleons lebenslänglichen Anstieg genügt hätte, so nah bei ihm vor? Posinsky faßte den Plan nicht, riesig genug, des erlebten Films Gewalt zu rechtfertigen. Einem Sozialisten stand solche Raserei nicht im entferntesten an. Auf der Reichstagstribüne und in Volksversammlungen hätte sie katastrophal gewirkt. War der Kerl ein Königsmörder, und wurden hier Freiübungen gemacht, die auf ein Attentat, glatten Totschlag zielten?
Nun klebte Posinskys Nase an den Scheiben, und er gierte, die geheimnisvolle Tat, die drüben gestartet wurde, von der Empfängnis an mitzuerleben. Denn der Gesten Hoheit und Inbrunst verbürgte, hier war mit einem Comble historischen Akts der Mensch schwanger, und der Zuschauer könne, sei alles vollbracht, aus der Tat ungeheuerlicher Anrichtung und dem schmalen Effekt aus eigener Erfahrung alsdann für seine Überzeugung letzte Schlüsse ziehen. Denn selbst eines ganz großen Reiches Herrscher sei mit einem Zehntel seelischen Apparates nicht nur theoretisch, sondern an Ort und Stelle praktisch erlegt.
Immerhin blieb, da aus dem Geflüster drüben Erläuterndes nicht hinzukam, und gleich darauf Licht erlosch, schon an diesem Abend Posinsky verwirrt und in Spannung leicht schwitzend zurück und vergaß beim Einschlafen, das Praline zu lutschen, das ein für allemal auf dem Nachttisch lag.
Anderntags mit einbrechender Dunkelheit war er wieder auf Posten. Denn es blieb gewiß, das Spiel, mit solchen Kosten unternommen, hatte Fortgang und grandiosen Schluß. Doch saß der Kleinen Umriß lange allein auf des Bettes Kante, unbeweglich den Kopf in die Hände gestützt. Ihre immer zunehmende Starre fand Posinsky in anbetracht des bestimmt aus bescheidenen Brocken bestehenden letzten Mahles korrekt und verwirkte sich schließlich so in ihr Anschauen, daß ursprüngliche Absicht er vergessen hatte, als die Tür senkrecht ins Rechteck flog, und der Gewaltmensch von gestern Abend mit tollem Hut- und Mantelschwung im Tuch wieder erschien. Doch jetzt, wie aus tiefem Schlaf taumelnd, begann bei ihm mit Rumpf und Armen rhythmisch auch das Mädchen zu rudern. Immer auf der Voraussetzung, es handle sich um Pläne wilder Großartigkeit, mußte der Beobachter zugeben, der aufgeführte Wahnsinn zeige fast Methode. Denn die gedoppelten Schwingungen hatten Reiz, und er war nachträglich bereit, die Genüsse zu begreifen, die das gut aufgezogene historische fait allemal dem bequem untergebrachten Zuschauern verschafft hatte. Und hing gespannter an des Geschehens Aufklärung.
Da aber wieder kein Text zu den Posen kam – lautgesprochenes Wort mußte ihn erreichen, wußte er – strengte wie seit Ewigkeit nicht er Auge und Fühlen an, sich mehr und mehr über die dabei seinen Grundsätzen zuwider ausgegebenen Energien erbosend. Als schließlich einen saftigen Fluch gegen das pantomimsche Paar er gerade schleudern wollte, rollten baritonalen Donners die ersten Worte zu ihm her:
»Von meinen Händen stirbt er. Ich ermorde ihn!« Wozu des Jünglings Faust einen nicht mißzuverstehenden, herrlichen Stoß ins Freie stieß, der Posinsky im Bewußtsein eigener Sicherheit wollüstigen Schauer über den Rücken jagte. Gleichzeitig aber stand für ihn fest, selbst für einen Mord sei das Ganze zu anmaßend aufgebauscht, bedenke man, dem Verbrecher habe wohl schon geraume Zeit nur kärgliche Nahrung zur Verfügung gestanden.
In des jungen Mädchens Antwort: »O blutiger Frevel!« schwunglos gesagt, lag für den Hörer zwar an sich keine so alberne Übertreibung, doch schien sie überflüssig. Denn auch ohne Worte wäre klar gewesen, ein Kind schlicht bürgerlicher Herkunft könne nicht einfach einer Missetat zustimmen. Nur den gleichen Einwand hatte Posinsky auch gegen des Mannes weitere Worte: »Alle Frevel sind vergeben im voraus. Ich kann das Ärgste begehen und ich will's!« Da der Sprechende sich mimisch beherrschte. Die Satzstellung in der Phrase erstem Teil fand er zwar übel. Man hätte fast des Redenden jüdische Herkunft aus ihr schließen können. Höhe des Banalen war dann noch der Kleinen Replik: »O schrecklich, schrecklich!« Wie überhaupt nach Rede und Ausdruck der männliche Part als der geistig Befähigtere der beiden sich erwies, soweit bei den zugrunde liegenden Tatsachen von Intelligenz gesprochen werden konnte.
Da aber des Mannes hingezischte Worte: »Und müßte ich auch die Königin durchbohren, ich habe es auf die Hostie geschworen,« hoben unter Ablehnung des zufälligen und geschmacklosen Reims die Angelegenheit endlich auf das Niveau, wo zwar ihre Rechtfertigung nicht versucht, doch die Verblödung der mit Millionen anderer Lebender verblendeten Kinder als ein widriges Phänomen von ihm angeschaut werden konnte.
Es war nun klar, um was es sich handelte: der unterernährte Lümmel verstieg sich trotzdem zum Fürstenmord! Oder gerade weil aus seiner Zellkerne Verwelkung die eigene Existenz nicht einmal mehr für Wochen feststand, gebar Körperschwäche und der Chromosomen Verfall krankhaften Rausch in ihm, den Eitelkeit für heldischen Aufschwung nahm und von einer unzurechnungsfähigen Hörerin beklatschen ließ. Neun Zehntel aller geschichtlichen Heldentat, leuchtete Posinsky plötzlich ein, waren Folge von Unterernährungszuständen gewesen. Des Magens krasse Leere bläst, wie das hochgeschossene Unkraut ihm gerade bewies, eine Art giftiges Gas ins Gehirn und treibt den der Bremskraft Beraubten wo immerhin.
Sekunden dachte er wohl auch an des beabsichtigten Totschlags Opfer und ließ Europas Monarchen an seinem Geist vorbeiziehen. Stärker aber ward gleich darauf er von dem Einfall gepackt: drohte von den durch Hunger Enthemmten ihm nicht zuallererst Gefahr? Fest stand, sie wußten von ihm. Manches war trotz aller Vorsicht drüben bestimmt auf gleichem Weg beobachtet worden, dem er Erfahrung verdankte. Und schien für seine Person vielleicht auch nichts zu fürchten, unter allen Umständen kannte seine reichlichen Mahlzeiten man. Von denen sprachen die köstlichen Wrasen und Fettschwaden, die dreimal täglich über den Hof abzogen, zu deutliche und reizende Sprache. Ja, augenblicklich lag noch über allem Umkreis des zuletzt gebratenen Hähnchens Duft.
Hatte dort vielleicht man ihn gerade abermals bemerkt? Darum Geflüster und blitzschnelles Auslöschen des Lichtes an beiden aufeinanderfolgenden Abenden? Wußten die sich belauscht und wisperten just von ihm und seinen Umständen?
Was aber liegt Hungrigen näher als sich zu sättigen? Und daß, wer vor Kapitalverbrechen nicht zurückschreckt, Einbrüche nicht scheut, bedurfte keines Schlusses; und als Posinsky sich noch hervorhob, nur durch die Mauer mäßiger Stärke sei der Vorratsschrank von der Nachbarwohnung getrennt, war er auf dem Sprung, zur Polizei zu laufen und alles Gehörte zu Protokoll zu geben.
Instinktive Scheu, Behörden jetzt mit seinen Umständen zu behelligen, hielt ihn ab. Am gleichen Abend aber untersuchte gründlich er noch des Verstecks Sicherheit von jener Seite her. Fürchtend, die zu ihm hin geschlossene Schranktür möchte Diebsarbeit vom Nachbarn her ihm unhörbar machen, hob er das Viereck aus und schob sein Bett näher an die Verkleidung. Blieb er so sicher, ein Einbruch mußte zur Verteidigung ihn bereit finden, war, trotz des Revolvers auf dem Nachttisch, an traumlosen Schlaf wie bisher in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Lag er nicht wach, unter dem kleinsten Geräusch bis in jeden Nerv bebend, träumte er gräßlichen Traum. Gegen Tagesanbruch: der Rasende in schwarzer Maske hält seinen Kopf in den Kakaosack gestoßen, und Posinsky fühlt in braunem Staub sich röchelnd ersticken.
Jene drei Tage und Nächte, da im Feindeslager nichts sich rührte, waren für ihn grauenvolle Marter. Warme Speise wagte aus Angst vor Küchendünsten er nicht anzurichten und, ganz aus dem leiblichen Takt, hatte an des dritten Tages Abend er elfhundertzwanzig Gramm an das Abenteuer schon zugesetzt. Am zwölften März betrug sein genaues Gewicht nur noch hundertzweiundsiebenzig Pfund. Tränen der Wut standen ihm im Auge, und schon gebar sich seinen Tiefen in gehässige Rache.
Als um die vierte Dämmerung er entschlossen war, die vertrakte Nachbarin aufzusuchen, sie brüsk nach Name, Art und Absichten zu fragen, begann unerwartet drüben des Spukes Fortsetzung. Die Gestalten standen, hochatmend darf man sagen, kaum auf dem Plan, als mit formidablem Ruck der Abwehr gegen den Jüngling – das aber hätte im kühnsten Traum Posinsky nicht vorausgesehen – das Mädchen schrie, nein brüllte:
»O, wer errettet mich vor seiner Wut?«
Der Kerl – ein Rasender, daran war nicht mehr zu zweifeln – wandte sich, eh eigentliche Tat noch geschehen (denn von ihr hätte man durch die Zeitungen gewußt), durch beharrliche Magenleere verwirkt, gegen die Komplizin. Drei Schritt von Posinsky konnte jeden Augenblick das neue Verbrechen geschehen. Wie spuckende Gischt aber sprudelten erst noch die Worte das arme Mädchen an: »Verwegener Dienst belohnt sich auch verwegen!«
Also war die Kleine Anstifterin der üblen Unternehmung, der Mann wie stets nur das erotische Opfer. Jetzt fragte er die offenen Abscheu vor ihm zum Ausdruck Bringende in erstickten Tönen:
»Warum verspritzt der Tapfere sein Blut?«
Mitten in der Situation grausigem Ernst mußte Posinsky doch lächeln. Jener ließ zur Antwort aber dem Gegenüber gar keine Zeit, sondern ergänzte selbst:
»Ist Leben doch des Lebens höchstes Gut.«
Posinsky, dem der neue Reim auffiel, beschlich wegen der Sentenz zu offensichtlicher Dummheit schon Mitleid mit dem Redenden, und ein wenig besänftigt hörte noch folgendes er von ihm mit an:
»Ein Rasender, der es umsonst verschleudert; erst will ich ruhen an seiner wärmsten Brust.«
Als wie ein Tiger hierauf die gelähmt Drehende er an sich riß, war trotz der Handlung Verfänglichkeit der Zuschauer fast froh, daß endlich aus Phrasenschwall der unsachliche Täter zur Sache zu kommen schien. Ein während der letzten Tiraden an der Wirklichkeit der Vorgänge in Posinsky schon aufgetauchter Verdacht wurde allzu prompt und fast schmerzlich bestätigt, als mit jähem Ruck beide Spieler ihre nicht mehr zu steigernde Erregung abbrachen, und in gänzlich verändertem Tonfall es wieder herüberrief:
»Von meinen Händen stirbt er. Ich ermord' ihn.« Und: »O blutiger Frevel!« seitens des Mädchens folgte. Da, bevor der letzte Schluß, es handle sich um Schauspieler und eine Szenenprobe, in ihm noch reif war, brach Posinsky in so donnerndes Lachen, ein brüllendes Jauchzen aus, zu dem die Tischplatte vor ihm mit Faustschlägen er wie ein Irrer behieb, daß auf der anderen Seite die Ertappten augenblicklich alle Handlung einstellten, ihre Schatten sich vergrößerten, den Rahmen überflossen, und das Rouleau von unten her gehoben wurde. Zwei ganz junge Antlitze erschienen vor Posinsky, der ihnen, die Nager entblößt, frech entgegengrinste, daß schnell sie den Vorhang wieder senkten.
* * *
Angst vor den Nachbarn war nun allerdings gleich tot. Von hintenher stellte er sich ihre Auftritte wieder vor, gestelzte Ritterschläge, Dolchstöße und Herzbeteuerungen; das geschwollene Gewäsch in schlechtem Deutsch und kicherte noch lange vor sich hin, um befreit endlich eine Mahlzeit aufzusetzen, die sich gewaschen hatte. Den Dichter, den die beiden gemimt, kannte er nicht; doch erschien ihm, je länger er quirlend und rührend nachdachte, die Tatsache um so widerwärtiger, jemand solle ein Recht haben, an sich ausgesucht albernes Zeug in so hochtrabender Sprache noch unter heutigen Umständen dem Publikum vorzutragen und es von dringenden Dingen zu seinem Schwachsinn hinzulenken. Über der Komödianten Strafbarkeit, die sich zu solcher Verrücktheiten Verkündern machten, gab es keinen Zweifel. Ihre Naivität und Kritiklosigkeit war im Gegenteil strafverschärfend. Schuldig mit ihnen aber waren auch Obrigkeit und Bühnenvorstände, die den romantischen Daseinsfälschern eine Existenz ermöglichten, statt, daß durch Hunger sie schneller verreckten, Sorge zu tragen. Unwiderstehlich reizte ihn der angehörten Versreihen Verlogenheit, ein paar saftige Gemeinheiten in die Luft zu sprengen. Doch wie er Zunge und Lippen wölbte, die Nase vorkrümmte, Augen auf Stiele schob, das Wort kam ihm nicht zu Hilfe, brutal genug, quellendem Ekel in ihm zu entsprechen.
Seit Jahrhunderten wurden so Völker verblödet. Dem Pöbel stand vor größtem Nonsens die Schnauze still, wurde er nur gereimt und gebundener Sprache vorgetragen. Gierig, diesen Gallimathias zu schlucken, wissenschaftliches und historisches Blech, Entstelltes, Erlogenes, Hypothetisches aus tausend Vorstellungsgebieten mit allen Rüsseln zu schlürfen, übersah er seine körperliche Aufzucht.
War es nicht ästhetisches Vergnügen, demgegenüber in Ställen Kühe, Ziegen, ja das Schwein methodisch gemanschten Brei schmatzen zu sehen, mit welch gliederfrischendem Behagen die Zunge Tränke durchfischte, Lippenwülste lefzten, wobei im Blick den Tieren mystische Wollust stand? Und welch Verdauen hub nach dem Fressen an! Zurück in die Maulhöhle spie das Genossene sich das Rind, inbrünstiger bereit, Materie zu des eigenen Leibes dort und später im Pansen, in der Haube, in Psalter und Labmagen viermal nacheinander noch nach letzten Möglichkeiten zu durchwühlen.
Über dieser Einbildung vergaß einen Augenblick ganz seinen frischen Grimm Posinsky und, des Wiederkäuens Vorstellung hingesunken, vergewaltigte Neid ihn mit dem bevorzugten Rindvieh. Aber aus solcher Bilder innig geschauter Wirklichkeit erstand Haß gegen des Lebens schminkende Prinzipien am Ende nur noch größer.
Über alle Hemmungen griff auch dies Urgefühl in sich er jetzt sicher durch: Rache an den Mördern triebhafter Ursprünglichkeit im Menschen! Auf gegen der Begriffsklempner Gezücht, den homo sapiens und die spekulativ transzendentalen Geister. Auf den Mist, zum Kehricht mit ihnen! Hier ist Erde, hier Paradies! Aus Sonnenwärme und reichlicher Speise hüpfen Blutzellen und gebären sich der Chromosomen Wunder. Ganze Völker gibt es, die liegen im Sand und pfeifen auf Bambusrohr.
Aus solchen Gründen waren die Nachbarn ihm keine persönlichen Feinde mehr, doch Glaubensgegner, auf die mit tiefster Überzeugung seines Grolls Unmaß er richten konnte. Drangen jetzt Verse zu ihm herüber, mit denen triebfrisch der Jüngling nach dem vor ihm aufgebauten jungen Weib griff, und verbot mit Hinblick auf allgemeine Vorschriften oder Sonderwünsche ihm dies seine leiseste Berührung – rief es etwa:
»Elisabeth war ihre erste Liebe. Ihre zweite
Sei Spanien. Wie gerne, guter Karl,
Will ich der besseren Geliebten weichen.«
und der gute Karl erwiderte spornstreichs und (von Empfindung überwältigt, zu ihren Füßen) ohne auch nur den Versuch zu machen, die Akte hindurch Angeschwärmte zu seinen plausiblen Wünschen zu zwingen:
»Wie groß sind Sie, o Himmlische. Ja, alles,
Was Sie verlangen, will ich tun. Es sei!«
kochte Posinsky den Wunsch in sich gar, die zwei Schmachtenden mit der Dampfwalze platt zu walzen. Und während alsbald neuer Gesten Pomp über das Rouleau raste, las, bis zur Tollheit sich wütend siedend, er Berge papierner Heilsprüche sich vor, unter denen von des achtzehnten Jahrhunderts Ausgang bis zum heutigen Tag seines Volks kernige Lebendigkeit versickerte. Von Schillers genialem Gefühlsdonner über lauter Schleiermacherisches bis zu eines Rathenaus Brandenburger Renaissancetraktätchen spürte wie keiner vor ihm er die hypokritische Absicht.
Schon war gegen die ihm zunächst erreichbaren Vertreter dieser Weltauffassung zu irgendwie offener Feindseligkeit er entschlossen, als auf der anderen Seite gewohntes Leben sich wiederum unterbrach, und eines finsteren Vorgangs kalter Atem ihn von dorther anblies. Da Dunkel und Stille ihm sonst nichts verrieten, brach durch des Geheimschranks Rückwand mit einem Meißel er nun vorsichtig ein Loch zur Flurnachbarin, und des Zugwinds, der ihn anblies, ungeachtet, preßte das Auge er an die Öffnung. Drüben im Bett, ganz wie ein gutbegriffenes Stilleben aufgemacht, kauerte das Mädchen. Im einzig repräsentablen Lehnstuhl saß zwei Schritt von ihr der Ritter ohne Furcht und Tadel. Beide hatten hohe Mienen aufgesetzt und hielten die Extremitäten bildmäßig. Das Ganze nach bewährten Vorlagen machte sich wie jene Interieurs in Glaspalastausstellungen. Dabei sah mit dem ersten Blick Posinsky, um einer wirklichen Tragödie letzte Auftritte handle es sich diesmal von der Jungfrau Leiblichkeit her. Nach einer Stunde sorgfältiger Betrachtung hatte von den beiden er noch keine andere Bewegung wahrgenommen, als daß von Zeit zu Zeit sie sich des aufzuckenden Auges Strahl wie einen Pfeil zuschossen. Sonst gingen nur Atemzüge monumental.
Endlich trat ein Fremder ins Zimmer, nahm der Leidenden Puls und prüfte. Es hatte ins Leere sich der Jüngling abgewandt. Manches sprach der Arzt, betonte aber immer wieder, zum Erfolg müsse sofort der Kranken Ernährung auf außerordentliche Höhe gebracht werden. Bei diesen Worten bezog reine Heiterkeit des Mädchens Gesicht, Trauer das des Mannes. Noch einmal machte der Arzt des kräftigen Essens Gebärde, sagte von Schokolade und Portwein etwas, und als lächelnd die Liegende sich vollends verklärte, zuckte er Achseln und ging.
Ruckhaft auf seiner Seite senkte Posinsky geballte Fäuste und murmelte mit Urteil: unterernährt! Das war dieses seelischen Mummenschanzes Schluß. Bestimmt aß heute kein Mittelloser zu reichlich, doch konnte bei des gereichten Futters rationeller Auswringung und sorgfältiger Beherrschung in Gefühl und Verstand er sicher bestehen. Hier fiel ein Opfer ererbter Zwangsvorstellungen, das Paradebeispiel der Todesgefahr beim Umgang mit dem gleißend Gleichnishaften.
Das aber kam von Homer her. Dort war schon nichts schlechtweg es selbst, sondern »wie wenn«. Plato machte vollends kurzen Prozeß mit der Wirklichkeit und setzte an ihre Stelle die vorteilhaft frisierte Idee von den Dingen. Die Tote dort – atmete sie noch, war in negativem Sinn sie für Posinsky schon erledigt – war durch zu riesige Dosen platonischen Eidos schließlich entseelt worden.
Drüben kam man sich noch lange denkmalhaft. In Bronze formten Jungfrau und Jüngling, was auf Erden sie noch mitteilen wollten. Träne selbst quoll wie aus Metall. Der knirschende Zuschauer hatte Gelegenheit, die ganze von Standbildern her gängige Symbolik wiederzuerkennen. Wie gedrängte Übersicht aus Galerien aller Länder zogen Liebe, Glaube, Hoffnung, Furcht, Schmerz und endlich Verzweiflung an ihm vorüber. Jedes in der Jahrtausende Lauf im Mimus festgelegte Abstrakte kam richtig. Es kam das mimische Element der Philosophen, der Märchen, das religiöse und das bukolische. Und am stärksten und häufigsten das der dramatischen Weltliteratur. Der Kleinen letzter Seufzer war Klischee nach Shakespeare.
Erst recht des Trabanten Gebärde: Er fällt auf einen Stuhl und verhüllt sich! Clavigo fünfter Akt, erster Auftritt. So hatte jahrelang Marien Beaumarchais Heimgang Kainz mimisch beklagt.
Als alles vorbei war, und bei freundlicheren Bildern im gewohnten Geleis Posinsky neben der verlassenen Nachbarwohnung schon wieder bessere Tage lebte, benutzte das Andenken an die beiden er, in ihre Vorstellung allen symbolischen und metaphorischen Kram auf Erden zusammenzufassen und bei Bedarf mit ihrer Verurteilung jedesmal auch das ganze Begriffsgebiet abzulehnen. Nicht mehr die einzelne Ekstase im Historischen mußte umständlich er verdammen, sondern angewidert vergegenwärtigte er sich nur der jungen Schauspielerin Hinscheiden. Da war denkbar größter Mimus auf der einen Seite, auf der anderen kläglichste Wirklichkeit gewesen; eine vorgemachte buntselige Himmelfahrt und gleich einem Hund ein wirklich gräuliches Verrecken.
Als sei seines Lebens klassische Erfahrung gemacht, war Ruhe und Jubel in ihm ausgesprengt. Die letzte Büchse junger Rebhühner öffnete er, entkorkte das einzige Fläschchen echten alten Likörs. Zu seiner völligen Genugtuung wurde von einem hungrigen, entschlossenen Volkshaufen auch gerade noch der Metzgerladen ihm gegenüber still gestürmt, sachgemäß geplündert und gründlich zerstört. Das Metzgerehepaar durch Prügel aber nicht unwesentlich entstellt.
Vor ihm in rosiger Dämmerung lag nun Welt wie eine einzige prangende Wiese, in der nur noch saftiger Gräser Dunst hyazintisch zum Himmel roch. Er aber, ein gewaltiges und sicheres Stück Vieh, würde bis an einen seligen letzten Tag seine hindernisfreien Steppen durchweiden.
In der verklärten Ruh, das überirdische Licht entzündete eines Abends sich der nachbarlichen Wohnung schlichte Lampe wieder. Posinsky ließ den Umstand eines neuen Mieters ärgerlich gerade allmählich in seine Wahrnehmung, als ohne Ursache Schmerz plötzlich so heftig an ihm riß, daß bis in die Knochen er klappte. Ohne das Geringste zu wissen, war aus profundem Glück jäh in Verzweiflung er gestürzt.
Gleich darauf aber begab sich wirklich das: Wie der Riese Roland, ein Golem saß jenes aus seinem Leben schon verschwunden geglaubten Mannes Schatten wieder an der Verstorbenen Bett und hielt vom ersten Augenblick an sich standbildhaft. Es stieg ein Knoten Posinsky in den Hals, der ihn zu erwürgen drohte, und Schweiß brach über seine Oberfläche. Dann aber wankten Eingeweide in grausiger Erwartung.
Und drüben blieb Marmor der Mann. Nichts, trotz gelockerten Gerippes, an ihm wich, sondern in eherne Form wurde alles zusammengenommen, bis schließlich der Mensch eine Bronzeglocke war, in der der fortgespreizte Klöppel zu tönendem Schlag ausholte.
Posinskys Maul stand auf, und Zunge bleckte ins Freie.
Stunden und Aberstunden rollten. Grabgelegt, hatte des Jünglings Figur funktionelles Leben verloren und blieb, bis Tagesanbruch seinen Umriß vom Vorhang löschte, Skulptur. Um so aufgelöster in schwitzende Materie war Posinsky. Jetzt wußte er, stand aufs neue und entscheidend bedroht das Ganze auf dem Spiel. Jetzt war von jenem der Hebebaum an des Alls Gewinde gelegt, und ein zum Höchsten angespanntes Herz suchte ihn aus allen Verzahnungen zu brechen. Hier bäumte wider den Seinen ein nicht minder begeisterter Wille. Nun mußte für seine Überzeugung lebendiges Zeugnis er ablegen. Erweisen sollte sich, wie der Gutgespeiste den Schlechternährten bei Glaubens gleicher Inbrunst immer leicht abschmettert und im Hui vernichtet.
Schon früh am Morgen sott und briet am offenen Fenster in vielen Töpfen Posinsky leckeres Allerlei. Ein feiner Zwiebelduft, strenges Gewürz roch eindringlich zu dem Fastenden hinüber. Dann aber schwebte eines Topfkuchens berauschender Wrasen auf. Dem Koch selbst lief aus tausend Warzen Wasser in Stürzen über den Gaumen; des Zuriechenden Zunge aber dachte er sich bis zum Nabel heraushängend. In nicht zu weiten Abständen schwängerte bis zum Abend mit immer unwiderstehlicheren Dämpfen er die Luft, um beim ersten Schein künstlichen Lichts seines fast entseelten Opfers Anblick zu genießen.
Doch als auf hellem Tuch endlich das dunkle Antlitz wieder stand, nah diesmal und rund und groß, war wie illuminierte Botschaft in den Zügen nur zu lesen:
»Dein geschmortes Glück stoße ich zurück und weiß mich unsterblich!«
Weit aus dem Fenster würgte Posinsky den Rumpf, in des Widersachers Gesicht hinter affichierter evangelischer Wollust dessen wirkliches, menschliches Leid zu finden. Aber je näher dem schwarzen Bild er kam, um so wuchtiger packten ihn dessen dichte Ausstrahlungen, die, rosenrote Schlangen, den Kopf umwirbelten und rufend diese Flammenbänder in die Atmosphäre stickten: »O Heil! In mir gebiert wahres Leben sich! In buntem Irrsinn schlägt vor Glück sich Blut tot und sprengt Wände! Zu heulen, zu bellen habe ich vor Wollust Mut, ich möchte fliegen, aufrauchen der Geliebten nach! Überall will ich mich öffnen, mich teilen; als Duft in Pflanzen, Licht in die Sonne fahren; mir selbst, o endlich mir selbst verloren!«
Da klaffte mit blutigen Streifen Posinskys Hirn. Auf der einen Seite sah den heiligen Antonius er in eine feurige Ecke knien. Von wallenden Fahnen umbraust erschien auf der andern Seite er selbst, Posinsky, überlebensgroß.
Er hörte mit gellem Schrei die eigene Stimme allen Laut übertönen und seine Worte noch: »Zum Dung den Modder! Weideplatz der Materie! Morgenrot!«
Dann kam eines Schusses Detonation, der Scheiben krachendes Geprassel, und vor Posinskys brennendem Rächerblick kippte des Todfeinds Haupt wie eine geköpfte Distel vom Tuch.
* * *
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2020
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