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Heiße Mittagssonne ...

 

... brütete über dem Kastenberg. Nur ein paar schottische Zwergfichten spendeten überaus spärlichen Schatten, der so senkrecht fiel, daß sich Leonidas Boone, um Zuflucht vor der Hitze zu finden, dicht unter einem von den Bäumchen ausstrecken mußte, als wäre es ein Regenschirm. In einer Anwandlung von kindischer Querköpfigkeit erlaubte er gelegentlich einem von seinen bloßen Füßen, den scharfabgezeichneten Schattenkreis zu überragen, bis ihn die brennende Sonnenglut nötigte, den Verirrten mit einem Schauer der Befriedigung wieder einzuziehen. Weshalb er sich nicht den weit beträchtlicheren Schatten der Tannen ausgesucht hatte, die unten am Abhang aufragten, dafür war kein ersichtlicher Grund vorhanden, als daß er eben ein Junge war und vielleicht noch mehr Grillen und Eigenheiten hatte, als die meisten seiner Gattung. Als er sich aufs sorgfältigste unter der Zwergfichte gelagert hatte, faßte er den Entschluß, nicht eher wieder aufzustehen, als bis ihr Schatten einen bestimmten Stein des Fußwegs erreicht und berührt haben würde! Warum er sich das vornahm, das wußte er zwar selbst nicht, aber er hielt mit dem Mut und der Beharrlichkeit eines jungen Casablanca an seinem erhabenen Vorsatz fest. Seine Glieder schliefen ihm in der unbequemen Lage ein, die bestaubten Tannenzweige kitzelten ihn, er lag so schlecht, als man nur liegen kann, aber er blieb! Ein Specht arbeitete mit eintönigem Picken in einem benachbarten Baum und machte so gleichmäßige Pausen in seiner Arbeit, daß der Knabe fest überzeugt war, er gebrauche seinen Schnabel als Telegraphenapparat eigener Erfindung: eine grün und golden schimmernde Eidechse schoß über Leonidas hin, um gleich darauf ebenso starr und steif zu liegen wie er, und noch immer rührte er sich nicht. Allmählich kroch der Schatten näher und näher an den mystischen Stein heran – jetzt berührte er ihn, und der Junge sprang auf, reckte sich, schüttelte sich und machte sich bereit, wieder seinem Geschäft nachzugehen. Dieses bestand einfach in einem Gang zum Postamt, das kaum einen Kilometer von seines Vaters Haus an der Straßenkreuzung lag. Er war schon halbwegs am Ziel und hatte nur den größern Teil einer Stunde auf diese Bummelreise verwendet!

Jetzt setzte er sich immerhin ernstlich in Bewegung und schweifte höchstens einmal ein paar hundert Schritte ab, um eine frische Kaninchenspur zu verfolgen, wobei er bemerkte, daß das Tier zweimal gegen den Wind gewechselt hatte, was ihn dann natürlich nötigte, nach andern Spuren zu suchen, um die Art der Verfolger bestimmen zu können. Einmal blieb er auch stehen, aber nur einen Augenblick, um dreimal an den Stamm der Fichte zu klopfen, worin der Specht sein Geschäft betrieb. Er wußte, daß sein Anklopfen eine Arbeitseinstellung herbeiführen würde, wie es auch geschah. Nachdem er auf diese Weise seine Beziehungen zur Natur aufgefrischt hatte, machte er die Entdeckung, daß einer von den Briefen, die er zur Post befördern sollte, auf geheimnisvolle Weise von der Hemdenbrust, unter der er sie trug, durch den Hosenbund ins Hosenbein geschlüpft sein mußte und sich nun wohl aufs Geratewohl selbst weiterbeförderte. Das veranlasste ihn, die Briefe herauszunehmen und zu zählen. Richtig, es fehlte einer! Vier Briefe hatte man ihm mitgegeben, jetzt aber waren's nur noch drei: ein großer, dicker mit deutlicher Aufschrift von des Vaters Hand, zwei mit schwer leserlicher in der Mutter Handschrift und ein kleinerer von der Schwester – gerade der war fort! Ohne die Fassung zu verlieren, machte er einfach kehrt und verfolgte mit ernsthaftem Gesicht und hochbefriedigt die eigene Fährte, um dabei so obenhin auch nach dem Brief zu sehen. Da kam ihm plötzlich ein leuchtender Gedanke. Er kehrte wieder um, ging zu der Fichte zurück, in deren Schatten er gerastet hatte, und fand dort das Schriftstück. Es war herausgefallen, als er sich gereckt und geschüttelt hatte. Der Fund machte ihn übrigens nicht sehr glücklich, wußte er ja doch, daß niemand an die Mühe, die er sich um den Brief gegeben, glauben, niemand den Scharfsinn würdigen würde, womit er den Fundort vorausbestimmt hatte. Der Seufzer des unverstandenen Genies hob seine Brust, dann machte er sich wieder auf den Weg nach dem Postamt, und zwar trug er dieses Mal die Briefe so recht offensichtlich in der Hand.

Plötzlich hörte er eine Stimme rufen: »He, du!« Es war eine sanfte, melodische, weibliche Stimme, und es mußte wohl die Stimme einer Fremden sein, die ihn nicht kannte und folglich weder »Leonidas!« noch »He, du Bengel!« rufen konnte.

Seitlich von ihm befand sich eine kleine, von niederen ungeschälten Pfählen eingefaßte Lichtung, in deren Mitte ein kleines weißes Wohnhaus stand. Leonidas wußte ganz genau Bescheid darum: das Haus gehörte dem Inspektor eines Bergwerks, und dieser hatte es kürzlich an Fremde aus San Franzisko vermietet. Davon hatte er daheim sprechen hören, ohne daß es ihm interessant gewesen wäre, denn er verachtete, wie jeder richtige Bergbewohner, die ›Stadtfräcke‹. Bei dem Anruf beschlich ihn ein leises Schuldbewußtsein. Möglicherweise hatte er bei der Verfolgung der Kaninchenspur fremdes Gebiet betreten, vielleicht hatte jemand beobachtet, wie er den Brief verloren und gesucht hatte; alle Erwachsenen waren ja so gerne bereit, Zeugnis gegen ihn abzulegen! Er blickte etwas mürrisch um sich, dann entdeckte er die Ruferin jenseits der Zaunpfähle.

Zu seiner Überraschung war es eine Frau, ein zartes, zerbrechliches Wesen, das ganz aus Spitzen und weichem Mull zu bestehen schien, und das im Schatten eines Kastanienbaums beide Ellbogen auf die Einfriedigung gestützt und die Hände ineinander verschränkt hielt.

»Willst du nicht so gut sein, herzukommen?« sagte sie liebenswürdig.

Selbst wenn er gewollt hätte, würde Leonidas dieser Stimme nicht widerstanden haben. Er wollte es aber gar nicht, trat vielmehr zutraulich an den Zaun. Die Dame war wirklich sehr hübsch; ihre Augen erinnerten ihn an die seines Hühnerhunds und blickten ihn ebenso zärtlich an. Um die zarten Nasenflügel und den Mund entstand, wenn sie sprach, ein Gekräusel weicher Linien und Grübchen, das für Leonidas den Inbegriff von ›Ausdruck‹ bedeutete.

»Ich ... ich ...« begann sie mit bezaubernder Zaghaftigkeit, um dann plötzlich zu fragen: »Wie heißt du denn?«

»Leonidas.«

»Leonidas! Was für ein hübscher Name!«

Er fand ihn selbst sehr hübsch, als sie ihn aussprach.

»Willst du wohl ein guter Junge sein und mir einen Gefallen, einen sehr großen Gefallen tun?«

Leonidas machte ein langes Gesicht. Die Formel dieser Einleitung war ihm sehr geläufig. In der Regel folgte darauf etwas wie: »Versprich mir, nicht mehr zu fluchen«, oder: »Daß du mir geradeswegs heimgehst und dich wäschst!« oder sonst eine unangenehme Zumutung. Bis jetzt aber hatte noch niemand mit solchen Augen diese Anrede gebraucht, und so erwiderte er ein wenig scheu, aber mit aufrichtigem gutem Willen: »Jawohl ...«

»Du bist auf dem Wege nach dem Postamt?«

Das war eine echt weibliche, überflüssige Frage, da er ja doch die Briefe in der Hand hielt, er sagte aber wiederum: »Jawohl.«

»Ich möchte, daß du einen Brief von mir unter die deinigen stecktest und sie alle zusammen einwürfest,« versetzte die Dame, mit der kleinen Hand in die Falten ihres Kleides greifend und einen Brief hervorziehend.

Es entging Leonidas nicht, daß sie die Seite mit der Aufschrift absichtlich so hielt, daß er die Adresse nicht lesen konnte, aber ebensowenig entging ihm, wie klein, zart, weiß, fast bläulich diese Hand war, so ganz anders als die Hände der Mutter und der Schwester, ganz anders als alle Hände, die er je gesehen hatte.

»Kannst du lesen?« fragte sie, den Brief plötzlich wieder zurückziehend.

»Versteht sich,« erwiderte er stolz, doch nicht ohne über den kränkenden Zweifel zu erröten.

»Das habe ich mir wohl gedacht, aber jetzt darfst du einmal nicht lesen können,« sagte sie mit einem neckischen Lächeln. »Versprich mir's! Versprich mir, daß du diesen Brief mit den deinigen in den Briefkasten stecken wirst, ohne die Aufschrift zu lesen!«

Leonidas gab bereitwillig sein Wort. Die Sache schien ihm gar nicht dieses Aufhebens wert zu sein, aber vielleicht handelte sich's um einen Witz oder eine Wette. Er streckte ihr die sonnengebräunte Hand samt den Briefen hin, und sie schob den ihrigen mit der Aufschrift nach unten dazwischen. Dabei streifte ihre weiche Hand seine Finger und schien eine wohlige Wärme zu hinterlassen.

»Nun mußt du mir noch etwas versprechen,« sagte sie, »nämlich, daß du niemand von der Sache erzählst!«

»Versteht sich!« sagte Leonidas kurz und bündig.

»So ist's recht, mein Junge, und ich weiß, daß du Wort halten wirst ...« Sie zögerte, verführerisch lächelnd, ein Weilchen, dann hielt sie ihm ein blitzblankes Halbdollarstück hin.

»Lieber nicht,« sagte Leonidas, scheu zurückprallend.

»Aber als ein Geschenk von mir

Leonidas wurde rot. Er war stolzer Natur und auch aufgeweckt genug, um sofort zu überlegen, daß der Besitz solch grenzenlosen Reichtums daheim gefährliche Nachfragen hervorrufen würde. Das wollte er indes nicht sagen, und darum versetzte er nur: »Ich kann nicht.«

»Dann ... danke ich dir schön,« sagte sie, ihm mit einem forschenden Blick die weiße Hand hinreichend, die sich wie ein junges Vögelchen in die seinige schmiegte. »Jetzt geh nur schnell – ich darf dich nicht länger aufhalten.«

Mit diesen Worten trat sie vom Zaun zurück und winkte ihm mit der hübschen Hand zum Abschied. Halb erleichtert, halb widerstrebend machte sich Leonidas auf die Socken. Er rannte heute spornstreichs zum Postamt, was noch nie vorgekommen war. Als ein Ehrenmann warf er nicht einen einzigen Blick auf ihren Brief, den er mit den seinigen in der weit ausgestreckten Hand hielt. Ungesäumt ging er ins Postamt hinein, trat unverzüglich an den Briefkasten und beförderte die geheimnisvolle Botschaft samt den andern Briefen in dessen Tiefe. Das Postamt war gleichzeitig »gemischte Warenhandlung«, und Leonidas' Briefbestellungen pflegten sonst viel Zeit in Anspruch zu nehmen, weil der anregende Duft von Zucker, Kaffee und Käse ihn in der Regel lange fesselte. Heute aber hielt er sich nur kurz, ja so flüchtig auf, daß der Postmeister vernehmlich vor sich hinbrummte, der alte Boone müsse dem »Leo« gehörig das Fell gegerbt haben. Der einfache Grund dieser Eile war, daß Leonidas möglichst rasch zu dem Zaun und der schönen Fremden zurückstrebte – falls sie zufällig noch dort stehen sollte. Es war eine schmerzliche Enttäuschung, als er, atemlos, in ungewohnter Hast an der Lichtung anlangend, den Schatten der Kastanien leer fand. Langsam, mit trotziger Wehmut schlenderte er längs der verödeten Umzäunung hin, bis sein scharfes Auge plötzlich zwischen dem Lorbeergebüsch in der Nähe des Hauses etwas Weißes schimmern sah. Sie war's, und sie schritt anscheinend gleichgültig nach der Ecke ihres Gartens, die an die Landstraße stieß. Wenn sie in dieser Richtung weiterging, mußte sie wieder an den Zaun kommen, an dem er vorüberkam – und so geschah's. Mit gut gespielter Überraschung sah sie ihn lächelnd an.

»Was! Du bist ja so schnellfüßig wie Merkur!«

Leonidas verstand sie vollkommen. Merkur war ja der andre Name für Quecksilber, und das war freilich schnellfüßig! Er hatte oft Quecksilber auf den Boden geschüttet, um die Kügelchen herumrennen zu sehen. Wie gescheit sie sein mußte, um das auch bemerkt zu haben, viel gescheiter als seine Schwestern! Die Freude darüber benahm ihm ordentlich den Atem.

»Ich habe Ihren Brief richtig eingeworfen,« sagte er endlich.

»Und niemand hat's gesehen?« fragte sie.

»Keine Menschenseel' nicht! Der Postmeister streckte die Hand danach aus, aber ich tat, als ob ich's nicht merkte, und schob ihn selbst hinein.«

»Du bist ebenso klug als gut,« sagte sie lächelnd. »Jetzt habe ich aber noch eine Bitte an dich. Vergiß die ganze Sache ... willst du?«

Ihre Stimme klang zärtlich, liebkosend, und das machte ihn vielleicht so kühn, ihr zur Antwort zu geben: »Die ganze Geschichte, bis auf Sie

»Himmel, wie schmeichelhaft! Wie alt bist du denn?«

»Ich gehe ins fünfzehnte,« sagte Leonidas zutraulich.

»Und zwar mit Siebenmeilenstiefeln,« bemerkte die Dame neckisch. »Gut, du brauchst mich also nicht zu vergessen ... es ist mir im Gegenteil lieb, wenn du dich meiner erinnerst,« setzte sie mit einem prüfenden Blick in sein Gesicht hinzu. »Adieu, oder vielmehr auf Wiedersehen, Leon ... wenn du mich schon einmal im Gedächtnis behalten willst.«

»Auf Wiedersehen ... gnädige Frau.«

Sie entfernte sich nun und verschwand zwischen den Lorbeeren, aber ihre letzten Worte klangen ihm noch im Ohr. »Leon« hatte sie gesagt. Sonst kürzte man seinen Namen in »Leo« ab, aber Leon hatte viel hübscher geklungen. Er drehte sich um. Der Zufall wollte, daß die Abschiedsszene nicht unbemerkt geblieben war, denn als er am Berg hinauf sah, entdeckte Leonidas seine ältere Schwester und seinen kleinen Bruder, die gerade herunterkamen. Sie mußten ihn von oben schon länger beobachtet haben. Das sah ihnen ja ähnlich, sie mußten doch alles ausschnüffeln!

Hastig kamen sie ihm entgegengelaufen.

»Du hast mit der Fremden gesprochen?« rief die Schwester, brennend vor Neugier.

»Sie hat zuerst mit mir gesprochen,« erwiderte Leonidas kampfbereit.

»Was hat sie denn gesagt?«

»Wollte wissen, wie die Wahlen ausgefallen seien,« log Leonidas kaltblütig, »und das hab' ich ihr gesagt.«

So unwahrscheinlich diese Behauptung auch war, sie befriedigte seine Zuhörer.

»Wie sieht sie denn aus? So erzähle doch!« drängte die Schwester.

Nichts wäre ihm willkommener gewesen, als sich aussprechen zu können über ihre Lieblichkeit, die Schönheit der weichen weißen Hand, die zarten Grübchen um ihren Mund, die leuchtenden, zärtlichen Augen, das »Engelskleid«, das sie trug, den süßen Klang ihrer Stimme, aber Leonidas hatte keinen Vertrauten, und welcher normale Junge würde je seiner Schwester in derlei Angelegenheiten getraut haben!

»Du hast sie ja sehen können,« versetzte er mit ausweichender Barschheit.

»Aber Leo ...«

Doch Leo war widerborstig.

»Geh hin und frag sie,« sagte er.

»Sieht dir ganz gleich, daß du recht unverschämt warst, und daß sie dir sagen mußte, du sollest dein Maul halten,« warf die Schwester arglistig hin, aber selbst diese grausame Unterstellung, die er so leicht hätte widerlegen können, entlockte ihm kein Wort, und so wandten sich seine scharfsinnigen Angehörigen ärgerlich von ihm ab.

Leonidas sollte indes weiteren Gesprächen über die blonde Fremde nicht entrinnen, denn die Tatsache, daß sie mit ihm gesprochen hatte, wurde daheim gebührend gemeldet, und beim Mittagessen hatte seine Verschwiegenheit eine weitere harte Probe zu bestehen.

»Trotz all der Vornehmtuerei und dem Aufputz am Zaun herumstehen wie ein Dienstmädchen und mit jedem anbinden, der auf der Landstraße daherkommt, das sieht ihr ähnlich,« bemerkte die Mutter.

Leonidas wußte schon, daß ihr die neuen Nachbarn ein Dorn im Auge waren, so kam ihm diese Bemerkung nicht überraschend, und sie schmerzte ihn auch nicht weiter. Ebensowenig störten ihn die prosaischen Tatsachen, die ihm jetzt erst klargemacht wurden. Seine Gottheit war eine Frau Burroughs, deren Mann eine Reihe von bergmännischen Unternehmungen leitete und eben mit einem Trupp von Arbeitern in ihren Bergen Mutungen vornahm. Da diese Arbeit seine beständige Anwesenheit erheischte, war Frau Burroughs gezwungen, die vergnügliche Zivilisation San Franziskos mit einem Kolonistenleben zu vertauschen, wofür sie schlecht geeignet war, und das ihr nicht das geringste Interesse einflößte. All dies war in Leonidas' Augen höchst unwesentlich; ihm war sie eine Göttin in Weiß, die vertraulich und gütig mit ihm gesprochen hatte, und mit der ihn die wonnige Freude verband, ein Geheimnis zu teilen und ihr einen besonderen Dienst erwiesen zu haben. Gesunde Jugend hält an ihren eigenen Eindrücken fest, mögen auch Vernunft, Lebenserfahrung, ja selbst Tatsachen für das Gegenteil sprechen.

So hielt er das ihm anvertraute Geheimnis heilig, und er wurde dafür belohnt, indem er die Dame ein paar Tage darauf aus der Ferne in ihrem Garten spazierengehen sah. Den Herrn neben ihr erkannte er als den Gatten. Es braucht kaum ausgesprochen zu werden, daß dieser Mann in Leonidas' Wertung durch die Nähe der Göttin zu kurz kam und ihm ohne jeden Nebengedanken als ein Wesen untergeordneter Art erschien.

Noch ein besserer Lohn ward seiner Treue zu teil, als sie in einem Augenblick, wo der Mann nach einer andern Seite hinsah, dem Knaben mit der Hand zuwinkte. Leonidas trat nicht an den Zaun heran, halb aus Schüchternheit, halb aus dem dunkeln Gefühl heraus, daß dieser Mann nicht eingeweiht sei. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht, denn schon am Tag darauf rief sie ihn an, als er wieder zur Post ging.

»Hast du gesehen, daß ich dir gestern zugewinkt habe?« fragte sie freundlich.

»Jawohl, aber ...« er stockte ein wenig ... »ich kam nicht her, weil ich dachte, es wäre Ihnen nicht recht, wenn sonst jemand da ist ...«

Sie lachte lustig und fuhr ihm, seinen Strohhut lüftend, mit den Fingern der andern Hand durch das leichte Kraushaar auf der Stirne.

»Du bist der aufgeweckteste, artigste Junge, den ich je getroffen habe, Leon,« sagte sie, ihr hübsches Gesicht dicht zum seinigen neigend, »deshalb hätte ich mir gar keine Sorgen machen sollen. Aber ich will dir's nur gestehen, ich hatte schrecklich Angst, du könntest mich mißverstanden haben und herkommen, um nach einem Brief zu fragen – vor ihm

Als sie das persönliche Fürwort mit starker Betonung hervorstieß, schien ihr ganzes Gesicht verwandelt, die leuchtenden blauen Augen wurden zu kleinen glitzernden Punkten, die Nasenflügel wurden weiß und verzerrt, und ihr hübscher kleiner Mund schien sich zu einem geraden, harten Strich zu verengern wie bei einer Katze.

»Niemals ein Wort zu ihm, zu ihm am wenigsten von allen Menschen ... hörst du?« sagte sie beinah barsch. Dann den verblüfften Ausdruck des Knaben wahrnehmend, lachte sie abermals und setzte erklärend hinzu: »Er ist ein böser, böser Mensch, Leon. Merke dir das.«

Daß sie in der Weise von ihrem Mann sprach, verletzte des Jungen sittliches Gefühl nicht im geringsten. Die Heiligkeit der Beziehungen zwischen Mann und Frau, ja sogar der Blutsverwandtschaft ist leider jugendlichen Gemütern nicht immer so klar, als wir uns in unserer Zärtlichkeit einbilden. Daß Herr Burroughs schlecht sein mußte, um das Wesen der reizenden Frau dermaßen zu verändern, war die einzige Folgerung, die Leonidas aus ihren Worten zog. Es fiel ihm dabei ein, wie seiner Schwester sanftes, hübsches Kätzchen, wenn es schnurrend auf ihrem Schoß lag, einen Buckel zu machen und zu fauchen pflegte, sobald es des Postmeisters gelben Wolfshund sah.

»Es fiel mir nicht im Traum ein, zu kommen, ohne daß Sie mich gerufen hätten,« erklärte er offen.

»Was?« erwiderte sie, halb neckisch, halb vorwurfsvoll in ihrem liebkosenden Ton. »Du willst mich nie besuchen, ohne daß ich dich rufen ließe? O Leon! So willst du mich im Stich lassen?«

Aber Leonidas hatte seine eigenen knabenhaften Grundsätze.

»Ich werde immer froh sein, wenn Sie mich rufen lassen, Frau Burroughs, und ich bin immer zu finden, wann's auch sei,« sagte er, halb schüchtern, halb eigensinnig, »aber ...«

»Was für ein starrsinniger junger Herr! Ich sehe schon, ich muß das Hofmachen allein besorgen! Nimm also an, daß ich heute früh nach dir geschickt hätte ... ich habe nämlich wieder einen Brief, den du mir besorgen sollst.«

Damit hob sie die Hand zur Brust und zog wie damals unter den hübschen Falbeln ihres Kleides einen Brief wie den ersten hervor, dem auch der nämliche zarte Veilchenduft entströmte. Er war aber noch nicht geschlossen.

»Jetzt, höre mich an, Leon: wir beide müssen gute Freunde werden ...« Leonidas spürte, wie ihm die Wangen glühten.

»Du mußt mir noch einen Gefallen tun, und dann werden wir einigen Spaß haben und ein großes Geheimnis miteinander teilen. Nun sag mir einmal, stehst du mit irgend jemand in Briefwechsel? Ich meine, kennst du jemand in San Franzisko, irgend einen Jungen oder ein Mädchen, der dir schriebe?«

Leonidas' Wangen färbten sich noch röter, doch dieses Mal leider nicht vor Freude. Er bekam nie Briefe, kein Mensch schrieb an ihn, und er war genötigt, diese beschämende Tatsache zu bekennen.

»Aber du hast doch Bekannte in San Franzisko,« sagte die Dame mit nachdenklichem Gesicht. »Du kennst doch irgend jemand, der dir schreiben könnte

»Ich habe einen Jungen gekannt, der nach San Franzisko gegangen ist,« sagte Leonidas unsicher. »Wenigstens hat er so getan, als ob er hinginge ...«

»Das genügt,« erklärte Frau Burroughs. »Vermutlich kennen ihn deine Eltern auch oder wissen wenigstens von ihm?«

»Versteht sich. Er hat ja hier gewohnt.«

»Um so besser, denn siehst du, es wäre gar nicht merkwürdig, wenn er dir schriebe! Wie heißt denn der junge Herr?«

»Jim Belcher,« versetzte Leonidas zögernd, denn er war durchaus nicht sicher, daß der abwesende Belcher des Schreibens kundig sei.

Frau Burroughs aber zog einen winzigen Bleistift aus ihrem Gürtel, nahm ihren Brief aus dem Umschlag, und schrieb offenbar den Namen hinein. Dann faltete sie das Briefblatt, schob es wieder hinein, schloß den Umschlag und reichte ihn dem verblüfften Leonidas mit einem reizenden Lächeln.

»Nun höre, Leon, was für einen Gefallen du mir tun sollst. Herr Jim Belcher« – sie sprach den Namen mit dem größten Ernst aus – »wird in wenigen Tagen an dich schreiben. In seinem Brief wird ein kleines Briefchen an mich eingeschlossen sein, das du mir bringst. Wenn deine Leute wissen wollen, von wem du einen Brief bekommen hast, kannst du den deinigen zeigen, den an mich aber darf niemand sehen. Kannst du das fertig kriegen?«

»Ja,« sagte Leonidas, und da er mit seinem raschen Begriffsvermögen auf einmal den ganzen Plan durchschaute, lächelte er, daß auch auf seinen Wangen Grübchen sichtbar wurden.

Frau Burroughs beugte sich über den Zaun, lüftete seinen zerrissenen Strohhut und drückte einen flüchtigen Kuß auf seine Stirn. Dem Jungen, der dabei rot wurde wie ein Jüngferlein, war's, als ob ein leuchtender, für alle sichtbarer Stern zurückbliebe.

»Lächle nur nicht so, Leon. Du bist tatsächlich unwiderstehlich! Das wird doch ein hübsches kleines Spiel werden, nicht? Und niemand darf mitspielen als du und ich – und Jim Belcher! Wir wollen die andern an der Nase herumführen! Wie du siehst, wirst du dich aber doch entschließen müssen, ungerufen zu mir zu kommen!«

Beide lachten. Es war ein helläugiges, rosiges, unschuldiges Pärchen, wenn auch Leonidas der jungfräulichere Teil sein mochte.

»Und ich kann dann auch manchmal an Jim Belcher schreiben,« rief der Junge, atemlos vor Diensteifer, »und Ihren Brief einschließen!«

»Engel der Weisheit, gewiß! Aber nun sag einmal, hast du heute keine Briefe zur Post zu tragen?«

Er wurde wieder rot, denn in freudiger Erwartung dieser Begegnung hatte er heute früh die Familie gedrängt, ihre Korrespondenz zu erledigen. Er hielt ihr die Briefe hin und sie schob den ihrigen dazwischen.

»So,« sagte sie, die kühle, weiche Hand an seine heiße Wange legend, »nun lauf aber, Lieber! Man darf dich nicht hier herumstehen sehen!«

Leonidas sauste davon, die Luft durchschneidend wie ein Vogel. Alles war wie ein Märchen. Er, der Vertraute des holdseligsten Geschöpfs, das seine Augen je gesehen hatten, er, Leonidas, würde einen geheimnisvollen Brief erhalten, und niemand durfte wissen, warum! Und nun hatte er Veranlassung, sie oft zu sehen, sie würde ihn nicht vergessen, er hatte es nicht mehr nötig an dem Zaunpfosten zu lauern, ob sie ihn nicht brauche, was seinem knabenhaften Stolz und seiner Schüchternheit gleichmäßig zuwider war. Moralische Bedenken stiegen nicht in ihm aus. Er wußte ja, daß es nicht der wirkliche Jim Belcher war, der an ihn schreiben würde, oder das machte die Aussicht nur noch anziehender, und auch kein andrer Umstand störte seine Gewissensruhe.

Als er am Postamt anlangte, fand er zu seiner Überraschung den Herrn, der ihm als ihr Gatte bekannt war, im Gespräch mit dem Postmeister. Leonidas drängte sich an den Männern vorüber und schob in heimlichem Triumph seine Briefe in den Schalter. Der Postmeister war offenbar von Amts wegen gekränkt über den Vorwurf einer Nachlässigkeit und schloß seine Verteidigung mit den Worten: »Nein, nein, mein Herr, da können Sie Ihre Stiefel drauf wetten, daß wenn ein Brief verloren ging an Sie oder Ihre Frau ... Sie sagten doch Ihre Frau, nicht?«

»Ja,« sagte Burroughs, mit einem raschen Blick den Laden überfliegend.

»Nun, ob an die Frau oder sonst jemand in Ihrem Haus, hier ist der Brief jedenfalls nicht! Meine Schuld ist's nicht, sag' ich Ihnen! Ich weiß von jedem Brief, der ins Haus kommt oder hinausgeht, denn sie gehen alle durch meine Hand« – Leonidas spitzte die Ohren – »und wenn jemand was davon wissen müßte, wäre ich's! Darauf können Sie Gift nehmen, Herr Burroughs.«

Burroughs, den die Anwesenheit eines Dritten, und wenn's auch nur ein Junge war, sichtlich in seiner vertraulichen Anfrage gestört hatte, brummte etwas in den Bart und ging. Leonidas aber machte sich seine Gedanken. – Der dicke Mann schien entschieden zu »schnüffeln«! Daß er den Postsack nicht anrühren durfte, wußte er – Leonidas hatte irgendwo einmal gehört, daß es bei Todesstrafe verboten sei, einen Brief anzurühren, nachdem die Regierung ihn einmal in die Gewalt bekommen, deshalb machte er sich keine Sorgen um die Sicherheit des ihrigen. Aber sollte er nicht spornstreichs zurückkehren und ihr über des Gatten Besuch beim Postmeister berichten, ihr die beunruhigende Tatsache mitteilen, daß der Postmeister jeden Brief persönlich kenne? Jetzt begriff er mit einem Male, wie klug es war, daß sie von jetzt an ihre Briefe unter einer andern Adresse mit einschließen wollte. Schließlich kam er aber zu dem Vorsatz, ihr heute lieber nichts zu sagen. Es würde ja aussehen, als ob er wieder »am Zaun herumlungre«, und insgeheim bestimmte ihn noch ein andrer Grund zum Schweigen: er hatte Angst, daß jede Andeutung über ihres Mannes »Schnüffeln« das schöne Gesicht wieder so entstellen würde, wie er's nicht sehen mochte. Um der Versuchung sicherer zu widerstehen, ging er auf einem andern Weg nach Hause.

Man darf sich nicht vorstellen, daß Leonidas' geheime Leidenschaft für die holdselige Fremde seine knabenhaften Liebhabereien ausgeschlossen hätte. Sie füllte nur sein geistiges Leben aus und trat an Stelle der Lesewut – er trug jetzt beim müßigen Umherschweifen keine Bücher mehr in der Tasche, denn was waren mittelalterliche Legenden von hochgeborenen Frauen und treuen Knappen neben dem wahrhaftigen Roman, dessen Helden Frau Burroughs und er waren? Was wollten die Taten von jugendlichen Häuptlingen und Schlingenstellern, Indianermädchen und spanischen Senoritas besagen neben den Möglichkeiten, die sich ihm und seiner Gottheit nun in Casket Ridge selbst boten! Der Boden, den sie betrat, war ja der Romantik, dem Abenteuer geweiht! Folglich konnte er ruhig auf dem Heimweg nach einigen Fallen sehen, die er den dummen Kaninchen und Wildkatzen gestellt hatte. An den letzteren nahm er Rache für eine verwaiste Bergwachtelbrut, die unter seinem Schutz stand, denn des Knaben wilde Jagdlust wurde durch ein tiefes Verständnis der Natur gezügelt, ein pantheistisches Mitgefühl für Mensch und Tier und Pflanzen machte ihn empfindlich für die unerklärlichen Grausamkeiten der Schöpfung, ließ ihn wunderliche tierische Fehden entdecken und rief ritterliche Parteinahme für den schwächeren Teil in ihm wach. Er hatte schon weite Umwege gemacht, um durch scharfsinnige selbsterfundene Maßregeln die Vorratskammer eines goldhaarigen Eichhörnchens oder die Reichtümer wilder Bienen gegen einen raubsüchtigen Bären zu verteidigen, was ihn dann freilich nicht abhielt, das Eichhörnchen auf ebenso sinnreiche Weise zu fangen und gelegentlich selbst von dem Honig zu naschen.

Heute abend kam er spät nach Hause, aber es waren Ferien, die Bezirksschule war geschlossen, und wenn er seine häuslichen Pflichten am frühen Morgen erledigt hatte, so war jeder lange Sommertag ein Feiertag für ihn. Es verstrichen ihrer zwei oder drei, und als er dann eines Morgens wieder einmal aufs Postamt kam, legte der Postmeister einen wirklichen, ziemlich dickleibigen Brief auf den Ladentisch, der mit Marken versehen, abgestempelt und an »Herrn Leonidas Boone« adressiert war!

Leonidas war zu zartfühlend, um seinen Brief vor Zeugen zu öffnen, aber auf dem einsamen Heimweg erbrach er das Siegel. Der Umschlag enthielt einen zweiten ohne Aufschrift, jedenfalls den Brief, den sie erwartete, und was noch wunderbarer war, ein Bündelchen Forellenangeln mit zarten Darmsaiten, wie Leonidas sie nur im Traum zu begehren gewagt hatte. Der Brief an ihn selbst war mit deutlicher, bestimmter Schrift geschrieben und lautete:

»Lieber Leo!

Was treibst Du denn im alten Casket Ridge? Kommt mir vor, als ob's eine Ewigkeit her wäre, seit wir beisammen waren, und manchmal mein' ich, ich müßte zu Dir hinüberlaufen! In Frisko muß man sich gehörig herumschlagen, sag' ich Dir, wenn's auch kein Wild gibt, das der Mühe wert wäre anzugucken, bis auf die Seebären beim Klippenhaus! Die sind famos, sag' ich Dir, so groß wie ein Bär und noch größer, klettern über einen Felsblock oder schwimmen im Wasser wie eine Otter oder eine Moschusratte. Ich schicke Dir hier ein paar Angelhaken und Darmsaiten, wie man sie in Casket nicht kriegt. Gebrauche die kleinen in Tümpeln, und die größeren im laufenden Wasser oder den Fällen. Schreib mir, daß Du sie bekommen hast. Adressiere an Lock, Schalter Nr. 1290. So kriegt mein Alter alle seine Briefe. Für heute weiß ich nichts mehr.

Dein getreuer Jim Belcher.«

Leonidas wußte nicht nur, daß dieser Brief nicht von dem wirklichen Jim herrührte, sondern er fühlte auch, daß er mit einer neuen liebenswürdigen, originellen Persönlichkeit in Berührung trat, die ihn bezauberte. Es war ja nur natürlich, daß ihr Freund – und das mußte der Schreiber ja sein – ebenso entzückend war wie sie. Leonidas' Hingebung kannte die Eifersucht nicht; ihm tat es nur wohl, einen Genossen seiner Bewunderung zu haben, die den andern Jungen ebenso erfüllen mußte wie ihn. Und nur ein richtiger Junge konnte ja wissen, welchen Wert dieses entzückende Geschenk für ihn hatte. Ja, ja, dieser Jim konnte keine Schlafmütze sein! In all seiner Glückseligkeit vergaß er aber sie nicht! Er rannte zurück nach der Umzäunung und schlenderte auf der Straße hin und her, wo man ihn vom Hause aus sehen mußte, aber sie erschien nicht.

Leonidas trieb sich dann noch längere Zeit oben auf dem Hügel herum, prüfte auch zufällig die Zweige eines jungen Nußbaumes auf ihre Brauchbarkeit als Gerten, aber er erreichte nichts damit. Dann kam ihm plötzlich der Gedanke, sie könnte absichtlich unsichtbar bleiben, und er lief, etwas ärgerlich über ihre Gleichgültigkeit weiter. Ganz in der Nähe war ein Wildbach, der jetzt im Sommer nur noch eine dünne Wasserrinne bildete, doch kannte Leonidas seit Urzeiten einen Tümpel darin, der einer phänomenalen Lachsforelle als Schlupfwinkel diente. Diese Forelle war ein in der Umgegend beinahe historisch gewordener Fisch, der seit lange den Nachstellungen so plumper Sportsleute wie die Minenarbeiter und sogar seinen eigenen kunstgerechten getrotzt hatte. Wenige hatten mehr von dem Tier zu sehen bekommen, als eine dunkle, schwer zu unterscheidende Masse in dem vier Fuß tiefen beschatteten Wasserloch, worin es sich verborgen hielt, nur ein einziges Mal hatten Leonidas' scharfe Augen seinen schönen Umfang ganz ermessen können. Dieser denkwürdige Anblick war ihm auf eigentümliche Weise zu teil geworden. Nachdem Leonidas eines Tags Köder aller Art, künstliche und lebendige Fliegen vergebens an ihm versucht hatte, war ihm, als er sich am Rand des Lochs von den Knieen erhob, eine rosenfarbene neue Briefmarke aus der Tasche gefallen, die ein Weilchen in der Luft flatterte und dann langsam in den stillen Tümpel hinabfiel. Entsetzt über seinen Verlust, hatte sich Leonidas darübergebeugt, um der Marke wieder habhaft zu werden, als es in der dunkeln Tiefe leuchtend aufblitzte, Licht und Schatten in bunten Tönen auf der Oberfläche wechselten, ein kleiner Wasserwirbel an die Steine des Ufers schlug und die Briefmarke verschwunden war. Mehr als das – eine Sekunde lang blieb die erwartungsvolle Forelle sichtbar an der Oberfläche! Ob es Jagdlust war, oder ob der Fisch in dem gummierten Papier einen reizvollen neuen Geschmack entdeckt hatte, wußte Leonidas nicht. Leider hatte er keine zweite Marke zur Hand und mußte darum den Fisch lassen, wo er war, aber einen leuchtenden Gedanken hatte er mit fortgenommen und seither in sich getragen – samt einer neuen Briefmarke in der Tasche! Und nun sollte mit diesen starken Darmsaiten, die doch so dünn waren wie Marienfäden, dieser neuen Angel und der frischgeschnittenen Gerte der Versuch gemacht werden!

Aber das Schicksal hatte es anders bestimmt. Kaum war er den schmalen Fußweg zu dem tannenumsäumten Flußbett hinuntergeklettert, als er in dem Unterholz ein ganz ungewohntes Rascheln hörte und eine Stimme vernahm, bei deren Klang er zusammenfuhr: es war ihre Stimme! Im Nu war ihm der Fischfang völlig aus dem Sinn. Klopfenden Herzens, mit halbgeöffneten Lippen und weitoffenen Augen erwartete Leonidas das Nahen seiner Gottheit, furchtsam wie ein Jüngferlein beim ersten Stelldichein. Aber Frau Burroughs war entschieden nicht in der entsprechenden Stimmung. Nicht nur, daß ihr hübsches Gesicht von der Sonne gerötet war, daß feuchte Strähne der gelösten Frisur auf ihre Stirn hingen, und ihre zierlichen roten Hausschuhe mit Staub überzogen waren, in ihren Augen und noch mehr in den zusammengezogenen Nasenflügeln zitterte der Zorn, als sie jetzt keuchend vor ihm stand.

»Du unausstehlicher Junge!« rief sie heftig atmend, die eine kleine Hand an ihre Seite gedrückt, während sie mit der andern den Rock des Dorngestrüpps wegen um die Knöchel zusammenhielt. »Warum hast du nicht gewartet? Warum hast du mich den ganzen Weg hinter dir drein laufen lassen?«

Leonidas verteidigte sich schüchtern, aber bestimmt. Er hatte vor dem Haus und oben am Hügel gewartet und dann angenommen, sie könne ihn nicht brauchen.

»Hast du dir denn nicht denken können, daß dieser Mensch mich aufgehalten hat?« fuhr sie mit derselben Gereiztheit fort. »Merkst du denn nicht, daß er Verdacht hat und mir um die Zeit, wo die Post kommt, immer nachläuft, jeden meiner Schritte bewacht, und sogar selbst aufs Postamt geht, um sich zu überzeugen, daß er all meine Briefe zu sehen kriegt? – Nun, hast du etwas für mich?« rief sie voll Ungeduld. »Kannst du nicht reden heut?«

Zerknirscht und schuldbewußt zog Leonidas den Brief aus der Tasche. Sie riß ihm den Umschlag aus der Hand, machte ihn auf und las ein paar Zeilen. Dabei verwandelte sich ihr Gesicht, ein Lächeln stahl sich aus den Augen nach den Lippen und wieder zurück. Leonidas fühlte sich im Herzen erleichtert: sie war so bereit zu vergeben und so schön!

»Ist er ein Junge, Frau Burroughs?« fragte er schüchtern.

»Nein, das gerade nicht,« erwiderte sie mit strahlendem Lächeln. »Er ist älter als du. – Was hat er dir denn geschrieben?«

Leonidas gab ihr statt aller Antwort den Brief.

»Wissen Sie, ich möchte ihn wohl einmal sehen,« bemerkte er verlegen. »Der Brief ist doch ganz famos! Ich mag ihn riesig gern.«

Frau Burroughs hatte den Brief überflogen, ohne sich sehr dafür zu interessieren.

»Lieber als mich darfst du ihn aber nicht haben,« sagte sie lachend, indem sie ihn mit Stimme und Augen, ja sogar mit der Hand liebkoste.

»Das könnte ich gar nicht! Ich könnte niemand so gern haben wie Sie,« versicherte Leonidas ernst.

In des Knaben Stimme und seinen ehrlichen Augen lag eine so ergreifende Wahrhaftigkeit, daß die Frau sich deren Eindruck nicht entziehen konnte und etwas außer Fassung kam. Mit einem Male aber fuhr sie mit einem ärgerlichen Schrei zusammen.

»Ich glaube, der Elende verfolgt mich abermals,« sagte sie, am Berg hinaufspähend. »Jawohl! Sieh nur, Leon, er schlägt den Pfad ein, der hierherführt. Was ist da zu machen? Er darf mich hier nicht sehen!«

Leonidas hielt Umschau. Ja, es war Herr Burroughs, der aber offenbar nur den Weg nach der Bergkuppe, wo seine Leute arbeiteten, abkürzen wollte. Leonidas hatte es ihn des öftern so machen sehen, aber an dem steilen Abfall des Hügels gab es allerdings keinen andern Fußpfad als diesen, und die Begegnung war unvermeidlich. Ein Mann hätte ja durchs Unterholz schlüpfen und einen tiefer liegenden noch steileren Pfad erreichen können, aber eine Frau niemals! Doch Leonidas ersann einen Ausweg.

»Ich kann ihn aufhalten,« sagte er zuversichtlich. »Ducken Sie sich hier hinter dem Felsen zusammen, bis ich wiederkomme. Bis jetzt hat er Sie noch nicht gesehen.«

Sie hatte kaum Zeit, sich zu verkriechen, als Leonidas auch schon davonstürmte, ihrem Gatten entgegen. Die Neugier war noch stärker in ihr als die Vorsicht, und sie mußte sich vorbeugen, um ihm nachzuspähen. Was hatte er nur vor? Ihr Mann kam langsam näher, bis er plötzlich stehen blieb. Im selben Augenblick hörte sie beider Stimmen aufgeregt Worte tauschen, dann sah sie zu ihrem Erstaunen Burroughs hastig durchs Dickicht brechen und, gelegentlich einen Blick zurückwerfend, davoneilen, bis er aus ihrem Gesichtskreis verschwand. Kaum war sie sich bewußt geworden, daß die Gefahr vorüber war, als Leonidas schon neben ihr stand.

»Wie hast du das gemacht?« fragte sie gespannt.

»Mittels einer Klapperschlange,« versetzte der Junge ernsthaft.

»Mittels ... was?«

»Einer Klapperschlange. Die sind giftig, wie Sie wissen.«

»Einer Klapperschlange?« wiederholte sie, Leonidas anstarrend und unwillkürlich ihre Röcke zusammenfassend.

Der Junge, der sie über seinem abenteuerlichen Rettungswerk fast vergessen zu haben schien, sah ihr voll Hingebung mit einem beruhigenden Lächeln ins Gesicht.

»Ja, aber Ihnen darf sie nichts tun,« sagte er sanft.

»Aber was hast du denn gemacht?«

Er sah sie prüfend an.

»Werden Sie auch nicht Angst kriegen, wenn ich's Ihnen zeige?« fragte er überlegend. »Sie brauchen gar keine Angst zu haben, wenn ich dabei bin,« setzte er selbstbewußt hinzu.

»Ja, das heißt ...« stammelte sie furchtsam, aber die Neugier gewann wieder die Oberhand und sie flüsterte: »Ja, zeig mir's schnell!«

Er ging ihr voran den steilen Pfad hinauf bis zu der Stelle, wo er vorhin gekniet hatte. Es war ein enger sonnbeschienener Durchlaß zwischen Felsbrocken, wo der Pfad kaum für eine Person breit genug war. Schweigend deutete er auf eine Spalte im Gestein und begann, wiederum niederknieend, sanft und einschmeichelnd zu pfeifen. Ein Augenblick gespannter Erwartung folgte, dann entdeckte Frau Burroughs ein unheimlich gleitendes Etwas – eine so gemessene und dabei so erlesen anmutige Bewegung, daß sie wie verzückt dastand. Einem schmalen, flachen, ausdruckslosen Kopf folgte ein fußlanger Streifen gelbgeränderter Schuppen, dann hielt das Tier still, und der Kopf drehte sich in wundervoll symmetrischem Halbkreis dem Pfeifer zu. Das Pfeifen hörte auf, doch die Schlange blieb, den halben Leib noch im Felsspalt, hochaufgerichtet, wie zu Stein erstarrt, stehen.

»So,« sagte Leonidas gelassen, »das hat Herr Burroughs zu sehen bekommen, und deshalb hat er sich in die Büsche geschlagen. Ich habe ganz einfach Marie-Anna gerufen – so hab' ich sie getauft, und sie geht auf ihren Namen – und dann Herrn Burroughs zugeschrieen was in seinem Weg war. Es war ein Glück, daß ich's tat, denn im nächsten Augenblick hätte er den Fuß über sie gesetzt und wäre gebissen worden, denn Klapperschlangen weichen vor niemand zurück.«

»O, warum ließest du nicht ...« sie gebot ihrer Zunge Einhalt, aber das wilde Funkeln ihrer Augen, die grausame Linie um den Mund ließen sich nicht so schnell verwischen.

Zum Glück sah Leonidas nichts davon, da er mit seiner andern anmutigen Hexe, Marie-Anna, beschäftigt war.

»Aber woher wußtest du, daß sie hier war?« fragte Frau Burroughs.

»Hab' sie selbst hergebracht,« sagte Leonidas kurz.

»Was? In der Hand?« rief sie schaudernd.

»Nein! Nachgelockt! In der Hand habe ich sie auch schon gehabt, aber erst nachdem ich sie ihr Gift an einem Stock hatte ausbeißen lassen. Sie wissen ja, wenn sie viermal gebissen hat, ist das Gift alle, dann kann man mit ihr machen, was man will, und das weiß sie auch. Mich kennt sie, sag' ich Ihnen! Drei Monate lang hab' ich sie abgerichtet. Sehen Sie her, wie sie mir folgt ... Haben Sie nur keine Angst,« rief er, als Frau Burroughs zurückwich. »Mach, daß du heimkommst, Marie-Anna.«

Er begleitete den Befehl mit einer langsamen gebieterischen Bewegung der Gerte, die er in der Hand trug. Die Schlange senkte den Kopf, kroch lautlos aus der Felsspalte heraus und den Pfad hinunter.

»Hält meine Gerte für einen Zauberstab, gegen den Klappern nichts ausrichten,« sagte Leonidas in seine abgerissene jungenhafte Sprechweise verfallend. »Wohnt drunten bei Ihnen, gerade hinter Ihrer Farm. Will's Ihnen einmal zeigen. Sonnt sich alle Tage auf einem flachen Stein, friert immer, wird nie warm ...«

Die Erstaunte hatte nichts gesagt; sie starrte nur hochaufgerichtet, regungslos und unverwandt ins Weite und ihre Augen waren den bewegungslosen Pupillen der Schlange, die geräuschlos davongeglitten war, nicht unähnlich.

»Weiß sonst jemand von deiner Schlange?« fragte sie.

»Niemand. Ich hab' sie noch niemand gezeigt, als Ihnen,« versetzte der Junge.

»Tu's auch nicht! Morgen mußt du mir aber ihre Wohnung zeigen,« sagte sie in ihrem alten scherzhaften Ton. »Und jetzt muß ich nach Hause, Leon.«

»Darf ich ihm schreiben – dem Jim Belcher, meine ich, Frau Burroughs?« fragte der Knabe schüchtern.

»Versteht sich. Komm morgen mit deinem Brief zu mir. Ich werde den meinigen bereit halten. Leb wohl.«

Sie blieb stehen und blickte den Pfad entlang.

»Und du sagst, die Schlange würde ihn gebissen haben, wenn er weitergegangen wäre?«

»Das will ich meinen! Wenn er sie nämlich getreten hätte, was sicher geschehen wäre. Das ist ja auch ganz natürlich,« setzte Leonidas hinzu, eifrig die Partei der abwesenden Marie-Anna ergreifend, »Sie würden sich auch nicht treten lassen, Frau Burroughs!«

»Nein! Ich würde mich wehren!« sagte sie, die niedre Stirn und den flachen Kopf rasch vorneigend und dann steif aufrichtend, so daß es ihn ganz an seine Schlange erinnerte.

Er lachte darüber, und sie lachte auch. Dann trippelte sie davon.

Leonidas ging zurück und fing seine Forelle, aber selbst dieser Triumph verscheuchte die gedrückte Stimmung, die über ihn gekommen war, nicht vollständig. Er hatte sich oft eine Begegnung mit seinem Ideal im Wald als ein Himmelsgeschenk ausgemalt – wie er allein mit ihr herumstreifen, ihr die seltensten Blumen und Gräser pflücken, ihr all seine Waldfreunde zeigen würde, und nun war es so abgelaufen, hatte mit der Vorführung Marie-Annas geendigt! Sie hätte er retten mögen aus irgend einer Gefahr, nicht ihren Mann. Er empfand übrigens kein Übelwollen gegen Burroughs, nur das Verlangen, ihn der Schutzlosen zu Liebe zu überlisten, wie er eine Wildkatze oder einen Habicht überlistet haben würde. Verdrießlich ging er nach Hause, am späten Abend aber verfaßte er einen knabenhaften Dankbrief an den apokryphen Jim Belcher, worin er ihm alles mitteilte – über die Forelle!

Am andern Tag ging er mit dem Brief zu der Dame und nahm ihre Einlage in Empfang. Sie war liebenswürdig, ganz so bezaubernd wie sonst, nur schienen ihr andre Dinge mehr am Herzen zu liegen, als er selbst, zum Beispiel die gezähmte Marie-Anna, deren Schlupfwinkel er ihr zeigen mußte und deren Kunststückchen sie sich vorführen ließ, was Leonidas mit Befriedigung als seine Schmeichelei für sich selbst auffaßte. Aber sein unschuldiges, sehnsüchtiges Gemüt empfand doch einen gewissen Mangel, den sich selbst einzugestehen er zu stolz war. Es war ja seine Schuld: er hätte gestern auf sie warten und nicht auf den Forellenfang gehen sollen!

So verstrichen vierzehn Tage mit dem Austausch von Pseudobriefen und kurzen Zusammenkünften, die für Leonidas bald hoffnungsfroh, bald enttäuschend waren. Was ihn vollends unglücklich machte, war, daß er daheim in der Familie höhnische Verunglimpfungen seiner Göttin zu hören bekam, und Bemerkungen, die er zum Glück in seiner Harmlosigkeit gar nicht begriff. Seine eigene Mutter klagte sie an, am letzten Sonntag in der Kirche schamlos mit dem hübschen Telegraphenboten kokettiert zu haben, und bemerkte dazu, Burroughs täte wohl daran, der Frau aufzupassen; zwei Behauptungen, die Leonidas in seiner Einfalt nicht zusammenreimen konnte. Er hatte sie in der Kirche auch beobachtet und reizender gefunden als je. Weshalb sollte der Telegraphenbote nicht derselben Meinung sein? Und trotz alledem war der Junge nicht glücklich, denn es hatte sich etwas in sein Leben gedrängt, das ihm Spiel, Jagd und Bücher schal und öde erscheinen ließ, und dieses Etwas war doch sie! Er wurde bleich, verdrossen und zerstreut. Wenn er doch jemand gehabt hätte, dem er sein Herz ausschütten, seine Hoffnungen und Sorgen hätte anvertrauen können! Ein solcher Mensch war ihm übrigens näher, als er dachte.

Seit der Vorführung seiner Klapperschlange waren drei Wochen vergangen, als er eines Tags trübselig über den »Kastenberg« wanderte. Er war ganz in der Nähe des eigentlichen »Kastens«, eines würfelförmigen, jäh aufsteigenden Quarz- und Gneißhügels, von dem der Bergzug seinen Namen erhalten hatte. Leonidas strich mit Vorliebe darauf herum, denn er vermutete in kindischem Aberglauben, daß der »Kasten« einen Schatz von Gold enthalte, und es zählte zu seinen schönsten Träumen, daß er diesen Schatz noch entdecken werde. Das geschah zwar auch heute nicht, aber als er von dem Gestein aufblickte, das er schweigend geprüft hatte, machte er die kaum weniger aufregende Entdeckung, daß sich ein vornehm aussehender Fremder in seiner nächsten Nähe auf dem Fußweg befand.

Er ritt einen stattlichen Mustang, der seinem hübschen Gesicht und seiner schlanken biegsamen Gestalt wohl anstand, und er sah Leonidas mit belustigender Neugierde und einer gewissen leichtlebigen Selbstgewißheit an, der schwer zu widerstehen war. Mit dem nämlichen bezaubernden Selbstvertrauen in Lächeln, Stimme und Benehmen ritt er dicht zu dem Knaben hin und sagte, sich aus dem Sattel beugend, mit übertriebener Höflichkeit: »Ich glaube das Vergnügen zu haben, Herrn Leonidas Boone vor mir zu sehen?«

Leonidas' Erröten gab dem Fremden offenbar genügende Auskunft, denn er fuhr lächelnd fort: »Dann gestatten Sie mir, mich als Jim Belcher vorzustellen. Wie Ihnen schon aufgefallen sein wird, bin ich bedeutend gewachsen, seit wir uns zuletzt sahen: tatsächlich habe ich mich nur mit Wachsen beschäftigt, und es ist merkwürdig, was der Mensch zu stande bringt, wenn er sich ausschließlich auf eine Sache verlegt. Und dann heißt es auch immer, San Franzisko sei ein ›aufstrebender Platz‹. Das wird wohl schuld daran sein!«

Ganz verblüfft und geblendet, aber im Innersten entzückt, zeigte Leonidas all seine blanken Zähne bei einem schüchternen Lachen, worauf der bezaubernde Fremde wie ein richtiger Junge vom Pferd sprang und, den Zügel um den Arm schlingend, zu ihm herkam, dem Jungen den Strohhut vom Kopfe nahm und ihm mit den Fingern durch das lockige Haar fuhr. Das war für Leonidas nichts Besonderes, denn jedermann pflegte in der Weise die Unterhaltung mit ihm einzuleiten: als aber nun dieser kluge, vornehme Herr seinen eigenen Panamahut auf Leos Krauskopf drückte und sich dessen zerrissenen Strohhut aufstülpte, seinen Arm durch den des Knaben schob und sich anschickte, ihn zu begleiten, da schlug ihm Leonidas' Herz entgegen.

»Und nun, Leon,« sagte der entzückende Fremde, »wollen wir miteinander plaudern. Unter den Lorbeeren dort ist ein prächtig kühles Plätzchen, dort werde ich Pepita anpflöcken und wir wollen uns ins Gras strecken und schwatzen, einerlei ob wir zur Schule sollten oder nicht.«

»Aber Sie wissen doch, daß Sie nicht der wirkliche Jim Belcher sind,« bemerkte der Junge zaghaft.

»Ich bin so viel wert als er, wer ich auch sein mag,« versetzte der Fremde mit humoristischem Trotz, »und kann ihn alleweil aus dem Sattel heben, wer er auch sein mag. Das sollte Ihnen genügen. Wenn ich mich aber des weiteren ausweisen soll, so ist hier Ihr eigener Brief, mein Alterchen!«

Damit zog er Leonidas' letzte Kritzelei aus der Tasche.

»Und ihr Brief?« fragte der vorsichtige Junge.

Das Gesicht des Fremden zeigte eine leichte Veränderung.

»Und ihr Brief,« wiederholte er ernsthaft, indem er ein kleines rosenfarbenes Billett hervorzog, das Leonidas als eine seiner Einlagen erkannte.

Der Knabe schwieg, bis sie die Lorbeerbäume erreicht hatten, wo der Fremde sein Pferd festband und sich dann die Hände hinterm Kopf verschränkend der Länge nach ins Gras warf. Leonidas konnte von der Seite die aufgebogenen Enden des braunen Schnurrbarts und die seidigen Wimpern sehen, die fast ebenso lang waren als diese, und mußte sich gestehen, daß er noch nie einen so hübschen Mann gesehen hatte.

»Nun, Leon,« sagte der Fremde, seine Lage noch verbessernd und den Jungen neben sich niederziehend, »wie steht's denn in Casket Ridge? Heiterer Himmel, was?«

Diese Frage brachte dem Knaben alle Stimmungen der letzten Zeit in Erinnerung, worauf sein Gesicht sich umwölkte und er unwillkürlich einen Seufzer ausstieß. Der Fremde hob sofort den Kopf und sah seinen jungen Freund neugierig an, griff nach dessen sonngebräunter Hand und hielt sie eine Weile in der seinigen.

»Nun, so erzähle mir doch,« sagte er.

»Nein, das kann ich nicht ... ich will nicht, Herr ...« erklärte Leonidas in einer plötzlichen Anwandlung von Halsstarrigkeit. »Ich weiß ja nicht einmal, wie ich Sie anreden soll.«

»So nenne mich Jack, oder wenn du gerade keine Eile hast, Jack Hamlin. – Je von mir gehört?« setzte er plötzlich, den Kopf hebend, hinzu.

Der Junge schüttelte den Kopf.

Jack Hamlin schlug die Augen anklagend gen Himmel.

»Und das nennt man Ruhm!« murmelte er vernehmlich.

Leonidas verstand nicht, was er damit meinte, und er begriff auch nicht, daß der Fremde, der doch gekommen war, sie zu sehen, nicht nach ihr fragte, nicht zu ihr hineilte, statt hier die ganze Zeit so gemütsruhig im Gras zu liegen. Das würde er anders gemacht haben, und er nahm's ihm halb übel, bis er auf den Gedanken kam, der vornehme Mann werde am Ende gleich ihm – schüchtern sein. Wer sollte es auch nicht sein, angesichts eines solchen Engels? Es war also an ihm, dem Fremden zu helfen, und so begann er, anfangs scheu und zaghaft, dann ermutigt durch dies oder jenes Wort, das Jack dazwischenwarf, von ihr zu sprechen, von ihrer Schönheit, ihrer Güte, seiner eigenen Unwürdigkeit, von allem, was sie gesagt und getan hatte, bis er, in diesem huldvollen Fremden das Ventil findend, wonach seine lang zurückgestauten Gefühle begehrten, die Idylle seines Knabenlebens sang. Er erzählte ihm von der Abnahme ihrer Zuneigung, nachdem er die unverzeihliche Sünde begangen hatte, sie warten zu lassen und der Forelle nachzugehen, und auch von der verfehlten Sache mit der Klapperschlange.

»Das war sehr verfehlt, Herr Hamlin. Ich hätte einer Dame wie sie nie etwas von Schlangen erzählen sollen, gerade weil ich diese Tierart zufällig kenne.«

»Ja, das war ein Mißgriff, Leo,« stimmte Hamlin ernsthaft bei. »Ein Weib und eine Schlange zusammenbringen – was wird dann aus uns? Denke doch nur an Adam und Eva mit der Schlange!«

»So war's ja aber nicht,« entgegnete der Knabe ernsthaft. »Und ich möchte Ihnen noch etwas sagen, Herr Hamlin, was mich ganz krank macht. Ich habe Ihnen ja erzählt, daß die Marie-Anna unterhalb Burroughs' Garten lebt, und daß ich Frau Burroughs ihre Kunststückchen gezeigt habe – nun, und vor zwei Tagen war ich unten, um nach Marie-Anna zu sehen, fand sie aber nirgends. Es führt eine Art Fußpfad vom Garten nach dem Hügel, auf dem man viel schneller hinaufkommt, als wenn man durchs Tor geht, und so wird jeder, der Eile hat oder von der Straße aus nicht gesehen werden will, diesen Weg einschlagen. Nun, ich hab' da und dort nach der Marie-Anna gesehen, hab' ihr gepfiffen und ging dann nach dem Fußweg. Da lag mittendrin ein umgestürzter alter Wassereimer, gerade so, daß ein Mann ihn aus dem Weg stoßen oder eine Frau ihn aufheben würde! Nun, Herr Hamlin, ich, ich stieß ihn weg und -« der Knabe hielt mit runden Augen und hastigen Atemzügen inne, ehe er hinzusetzte: »ich hatte gerade noch Zeit, beiseite zu springen, um mich zu retten! Denn unter dem Eimer, dessen Rand in den Boden gedrückt war, daß sie nicht entwischen konnte, lag Marie-Anna, vor Wut schäumend und am Zerplatzen vor Gift. Wenn irgend jemand den Eimer weggestoßen hätte, der weniger schnellfüßig wäre als ich, so würde er unfehlbar gebissen worden sein – und das wußte der Schurke, der ihn hingesetzt hat!«

Hamlin stieß einen dumpfen Laut aus und sprang auf.

»Was haben Sie gesagt?« fragte der Junge.

»Nichts,« versetzte Hamlin.

Aber Leonidas glaubte doch einen Fluch gehört zu haben.

Hamlin machte ein paar Schritte, als wolle er sich die Füße vertreten, und dann sagte er: »Du meinst also, Burroughs hätte gebissen werden können?«

»Um das handelt sich's doch nicht,« entgegnete Leonidas in ehrlicher Entrüstung. »Burroughs? Nein ... die arme Frau Burroughs hätte es treffen können. Denn das versteht sich ja, daß er ihr die Falle gestellt hat – begreifen Sie denn das nicht? Wer sonst hätte so etwas tun können?«

»Natürlich, natürlich,« sagte Hamlin kühl. »Natürlich, wie du sagst, hat er die Falle gestellt – jawohl – daran hältst du nun einmal fest.«

Irgend etwas in Hamlins Benehmen, ein eigentümlicher Ausdruck in seinen Augen, wollte Leonidas nicht recht gefallen.

»Gehen Sie jetzt zu ihr?« fragte er ungestüm. »Ich kann Ihnen das Haus zeigen, und dann geh' ich hinein und sage ihr, daß Sie draußen sind unter den Lorbeeren.«

»Jetzt noch nicht,« erwiderte Hamlin, dem Knaben die Hand auf den Kopf legend, nachdem er seinen eigenen Hut wieder aufgesetzt hatte. »Weißt du, ich möchte sie überraschen ... es soll eine große Überraschung werden,« setzte er langsam hinzu, um erst nach einer Pause fortzufahren: »Hast du ihr gesagt, wie du die Schlange gefunden hast?«

»Selbstverständlich,« versicherte Leonidas vorwurfsvoll. »Trauen Sie mir zu, daß ich sie hätte beißen lassen können? Sie hätte ja daran sterben können ...«

»Und für Marie-Anna wäre es wohl auch kein ungeteiltes Vergnügen geworden ... ich meine,« sagte Hamlin, sich verbessernd, »du würdest es deiner Schlange nie verziehen haben! Was sagte Frau Burroughs darauf?«

Das Gesicht des Jungen bewölkte sich.

»Sie dankte mir, und sagte, es sei gut von mir, mich so um sie zu sorgen, obwohl alles vielleicht nur ein Zufall sei, und ...« er geriet ins Stottern ... »und dann ... dann sagte sie, ich hätte mich vielleicht zu viel um ihr Haus herumgetrieben, und da Burroughs so mißtrauisch sei, wäre es vielleicht besser, ich bliebe ein paar Tage ganz weg.«

Tränen traten dem Knaben in die Augen, aber indem er die geballten Fäuste in die Hosentaschen steckte, wußte er sie zurückzuhalten, vielleicht daß auch Hamlins Hand, die mit sanftem Druck auf seinem Kopf ruhte, ihm dabei behilflich war. Hamlin zog jetzt ein Notizbuch aus der Tasche, riß ein Blatt heraus und begann, sich wieder setzend, auf dem Knie zu schreiben.

Nach einer Weile sagte Leonidas: »Waren Sie je verliebt, Herr Hamlin?«

»Niemals,« versetzte Hamlin, gelassen weiter schreibend. »Aber da du davon sprichst, wird mir klar, daß es ein längst gefühlter Mangel in meiner Natur ist, den ich bei Gelegenheit zu ergänzen gedenke, aber nicht, ehe ich mein Schäfchen im Trockenen habe. Das mach' du nur auch so!«

Er schrieb dabei immer weiter, denn es war eine Eigentümlichkeit dieses Herrn zu reden, ohne scheinbar die geringste Rücksicht darauf zu nehmen, ob vielleicht ein andrer sprach, ob man ihm zuhörte oder ob seine Äußerungen in irgend welchem Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall standen. Gerade aus diesem Grund fanden sie aber immer Beachtung. Als er mit Schreiben fertig war, faltete er das Blatt, steckte es in einen Umschlag und schrieb die Adresse darauf.

»Soll ich's ihr bringen?« fragte Leonidas eifrig.

»Der Brief ist nicht an sie, sondern an ihn, an Burroughs,« erklärte Hamlin ruhig.

Der Knabe prallte zurück.

»Um ihn aus dem Weg zu räumen,« setzte Hamlin erklärend hinzu. »Wenn er das bekommt, würden ihn keine zehn Pferde zurückhalten. Aber wie soll man's ihm zustellen?«

»Sie könnten den Brief auf dem Postamt abgeben,« schlug Leonidas schüchtern vor. »Er kommt alle Tage hin, um die Briefe an seine Frau auszuspionieren.«

Zum ersten Male während ihres Beisammenseins lachte Hamlin herzhaft.

»Du hast einen hellen Kopf, Leo, und ich werde deinen Rat befolgen. Du aber kannst nichts Besseres tun, als was Frau Burroughs befohlen hat: bleibe ein paar Tage ganz weg von ihrem Haus.«

Damit ging er auf sein Pferd zu. Der Junge machte ein betrübtes Gesicht, nahm sich aber zusammen.

»Und werde ich Sie wiedersehen?« fragte er wehmütig.

Hamlin beugte sein Gesicht so dicht zu dem des Knaben herab, daß Leonidas sein eigenes Bild in den braunen Augen des Fremden erblicken konnte.

»Ich hoffe es,« sagte er ernst.

Dann stieg er auf, schüttelte dem Jungen die Hand und ritt in dem länger gewordenen Schatten davon, Leonidas aber ging schweren Herzens nach Hause.

Leonidas kam nicht in die Lage, sein Versprechen zu halten, denn schon am nächsten Morgen versetzte die Nachricht, daß Herr und Frau Burroughs heute nacht Casket Ridge verlassen hätten, um mit der Frühpost nach Sakramento zu fahren, und daß ihr Haus abgeschlossen sei, seine ganze Familie in Aufregung. Verschiedene Gerüchte bildeten sich über den Grund dieses plötzlichen Aufbruchs, aber nur eins davon fand dauernd Glauben, weil der Postmeister sein Urheber war. Es hieß, daß Burroughs am Nachmittag einen anonymen Brief erhalten habe mit der Mitteilung, daß seine Frau im Begriff stehe, mit Jack Hamlin, dem berüchtigten Spieler aus San Franzisko, durchzubrennen.

Obwohl er die Sache halbwegs durchschaute, bewahrte Leonidas Boone sein unglückliches Geheimnis in immer noch hoffnungsvollem, vertrauendem Herzen. Es betrübte ihn ein wenig, daß Marie-Anna ein paar Tage darauf mit zerschmettertem Kopf tot gefunden wurde, aber erst nach Jahren, als er selbst in Casket Ridge Minenbesitzer geworden war, traf er Herrn Hamlin in San Franzisko und erfuhr durch ihn, in welcher Weise er auf den »Himmelküssenden Hügeln« die Rolle des Merkur gespielt hatte.

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Impressum

Texte: Bret Hart
Bildmaterialien: Walter Brunhuber
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2017

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